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Ein schreiend komisches Krimidebüt über eine schwangere Journalistin, die nichts so sehr hasst wie 'Urlaub' im Zelt. Frieda, ehemals engagierte Journalistin, die in einer Redaktion von langweiligen Frauenzeitschriften gelandet ist, wird von ihrem Mann mit einem Camping-Wochenende überrascht. Dumm nur, dass sie Campen hasst. Die Lage wird nicht besser, als direkt vor ihrem Zelt ein Toter in einer Hängematte baumelt Friedas Spürnase kitzelt, und sie stürzt sich in einen Schlamassel aus Lokalpolitik, Fremdgeherei, Ranger-Nationalpark-Gezoffe und einer historischen Seidenraupenzucht – solange es ihre Übelkeit zulässt, ist sie doch zum Schrecken ihres Mannes zum dritten Mal schwanger.
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Seitenzahl: 443
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Charly von Feyerabend hat eine Hotelfachausbildung absolviert und ein Studium der Literaturwissenschaft abgeschlossen. Danach hat sie in verschiedenen Verlagen und im PR- und Marketingbereich gearbeitet. 2007 zog es sie nach Oslo, wo sie ihre ersten Buch- und Spieleverträge abschloss. Nun ist Berlin die neue Heimat, wo sie mit Mann und drei Kindern lebt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befinden sich Campingplatz-Rezepte.
©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: suze/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Campingplatzkarte: Hannah Metten Lektorat: Susanne George eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-387-5 Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
Wir reisen um die Welt,
verleben unser Geld.
Was sollen wir im Altersheim
bei Magerquark und Haferschleim?
Aufschrift auf einem Wohnmobil
Camping ist der Zustand,
seine eigene Verwahrlosung
als Erholung zu bezeichnen.
Camper-Weisheit
Back to nature
Frieda schlug die Augen auf und spürte das Stechen von spontanen Kopfschmerzen. Das konnte doch nicht wahr sein. Heißt es nicht, dass frische Waldluft wahre Wunder bewirkt? Von wegen…
Gnadenlos durchdrang das knatternde Schnarchen ihres Mannes Georg die nächtliche Stille. Verwebte sich mit dem Schnorcheln aus dem Nachbarzelt, das grunzend daherrumpelte, zu einer Melange aus rhythmischem Vier-Achtel-Takt und Bauernhoflauten. Unter Back to nature hatte Frieda sich etwas anderes vorgestellt.
Die Dämmerung zuckte schwerfällig mit den Lidern. Noch war es für ein Hahnenkrähen zu früh. Doch gab es einige Streber-Frühaufsteher unter den Vögeln, die sich in einem Zwitscherkanon gegenseitig überboten. Vielleicht versuchten sie auch nur genervt, den Menschenlärm zu übertönen– klappte leider nicht.
Wie auch so einiges andere nicht klappte. Warum hatte sie sich überhaupt aufs Campen eingelassen? Ihre ganze Jugend hindurch hatte sie sich erfolgreich geweigert, einem Zeltplatz auch nur näher als einige Kilometer zu kommen. Selbst das »Dschungelcamp« im Fernsehen guckte sie nicht, der bloße Gedanke, mit fremden Menschen in nächster Nähe zu nächtigen, verursachte bei ihr Pickel. Und jetzt? Jetzt lag sie selbst in einem Zelt. In einem riesigen Tipi-Zelt. Es war ein Geschenk von Georg, quasi als Einstieg in die Sommerferien, bevor es zu ihren Eltern nach Süddeutschland gehen sollte. Er wollte ihr damit eine Freude machen, zeigte aber nur, wie schlecht er sie nach über zwanzig Jahren Beziehung kannte.
Georg selbst verband mit dem Zelten glückliche Kindheitserinnerungen und zitierte immer wieder den Lieblingsspruch seines verstorbenen Vaters: »Mehr back to nature geht nicht.«
Als Kind hatte Georg wohl nicht geschnarcht.
Frieda richtete sich auf und brachte damit das Feldbett zum Knarzen. Immerhin hatte Georg eine Campingausrüstung der Mittelklasse besorgt und anstelle von Isomatten Feldbetten gekauft. Diese vermieden den direkten Bodenkontakt beim Schlafen. Damit auch den direkten Kontakt zu Krabbeltierchen jedweder acht- und sechsbeinigen Gattung. Iiiih!
Frieda kratzte sich an der Stirn und warf einen Blick in die Runde, Georg und ihre beiden Kinder schliefen tief und fest. Unter den Feldbetten lagen die Koffer mit den Klamotten und blaue Ikea-Tüten mit dem restlichen Kram wie Handtücher, Sonnencreme, Spiele, Wasserball und Bücher. Am Zeltausgang hing ein weißer Leinenbeutel mit den wichtigsten Utensilien für nachts: Taschenlampe, Klopapier, ein Stück Seife sowie ein Handtuch. Wenn man schon den steilen Weg bis zu den Sanitäranlagen im Schein einer Taschenlampe zurücklegen musste, dann wollte man nicht auch noch eventuell heruntergefallene Klopapierrollen zwischen den Nachbarzelten suchen. Deshalb alles Nötige praktisch verstaut im Leinenbeutel. Ja, hier musste jeder sein eigenes Papier zum Toilettengang mitbringen. Es roch auch nicht unbedingt nach Veilchen auf den Klos, und der Boden des Waschhäuschens sah abends eher so aus, als hätte man hier eine Horde Wildschweine durchgetrieben. Erst gestern Abend hatte eine Mutter ihr einjähriges Balg direkt in eins der Waschbecken gehoben und es dort komplett gewaschen. Mitsamt Poritzen-Polieren. Frieda konnte gerade noch ihre Zahnbürste aus dem Spritzbereich retten. Ihr angeekelter Blick wurde von der Mutter missdeutet, die erfreut ein »Ist er nicht süß?« zu ihr rüberwarf. Nein, das war er nicht. Er war ein plärrendes, stinkendes Kind. Frieda hatte ja selbst zwei. Gott sei Dank waren die allerdings längst aus dem Popo-Polier-Alter heraus. Diese beiden zumindest.
Frieda strampelte sich aus dem Schlafsack und zog sich eine weite türkisfarbene Fleecejacke über den gestreiften Pyjama. Sie strich ihre langen dunkelblonden Haare nach hinten, zog ein paar Grimassen, um die Gesichtsmuskeln zu aktivieren, und ließ dabei die Sommersprossen tanzen. Mit einem Ratschgeräusch öffnete sie den Reißverschluss des Zeltes und steckte den Kopf in die frische Luft.
Das war schon besser!
Man durfte nicht unterschätzen, wie viel Mief vier Menschen in einem Zelt produzieren konnten. Mit einem Seufzer, der von ganz tief unten kam, schob sie sich komplett nach draußen und stand unter dem Sonnensegel. Das Segel war über dem Zelteingang am Gestänge befestigt und spannte sich fünf Schritt weit bis zu den gegenüberliegenden Bäumen. Ein Schutz vor Regen, obwohl es Sonnensegel hieß, denn Sonne kam zwischen den vielen Bäumen nur selten hier unten an. Gestützt von zwei dünnen metallenen Stangen, bildete das Segel ein windschiefes Konstrukt, das bestimmt keiner kräftigen Windböe standhalten würde. Das Aufbauen hatte Georg einige Schweißperlen und Flüche gekostet, was Frieda recht unterhaltsam gefunden hatte. Darunter standen ein großer Klapptisch und vier Campingstühle mit Armlehnen. Drei Schritte abseits war ein zweiter, kleinerer Tisch, auf dem der Kocher thronte und Campinggeschirr auf seinen Einsatz wartete. Im Urlaub auch noch selber kochen. Tolle Idee von Georg. Echt!
Frieda setzte sich hin, schwang ihre Füße auf einen zweiten Stuhl und legte den Kopf in den Nacken, um den Vögeln zuzuschauen, die auf den Zweigen der Kiefern umherhüpften. Die Bäume wuchsen hier zahlreich und umzingelten die Zelte und Wohnwagen wie ein Palisadenzaun. Schlank und die ersten drei bis vier Meter unbeastet, ragten sie steil in die Höhe und zeigten mit ihren Wipfelspitzen gen Himmel. Als ob es erstrebenswert wäre, so hoch wie möglich hinaufzukommen.
Das Campingareal zog sich über zwei Hügel, die sich an einen netten naturbelassenen See schmiegten. In Ufernähe wuchsen breite Schilfgürtel, die für brütende Wasservögel einen idealen Schutz boten. Zwischen unzähligen Seerosenblättern lugten gelbe, weiße und pinkfarbene Blüten heraus und wurden von Libellen umschwirrt.
Für die Gäste gab es eine Sandstrand-Badestelle, einen Kanuverleih, einen mit Holzlatten verkleideten Kiosk inklusive Rezeption, wo man morgens die vorbestellten Brötchen abholen konnte, ein Pony, Esel, Schweinchen und ein paar frei laufende Hühner, die sich um einen sehr stolzen Hahn scharten. »Hexenwäldchen« hieß der Campingplatz und war ziemlich ausgebucht. Wohnmobile, Wohnwagen, Campingbusse und viele, viele Zelte drängten sich bunt und laut auf dem Gelände. Pippi Langstrumpf hätte ihre Freude gehabt.
Seitlich von Friedas Zelt standen einige Wohnwagen von Dauercampern. Seltsame Wesen, die regelmäßig am Wochenende hier auftauchten, die Kiefernnadeln von den Dächern ihrer Unterkunft pflückten und sich so aufführten, als ob ihnen der Laden hier gehörte. Alle anderen, die hier nur vorübergehend ihre Zelte aufschlugen, waren für sie so etwas wie Störfaktoren und wurden einfach ignoriert oder geduldet.
Als sie vor zwei Tagen angereist waren, bezeichnete Georg den Platz als »höchst idyllisch«, während Frieda beim Anblick des roten, graslosen Untergrunds bereits die erste Krise schob. Hier konnte kein Gras wachsen, bei dem ganzen Gezelte. Obendrein stampften zu viele Menschen in Büffelmanier herum und erstickten die Graskeimlinge im Ansatz. Traurig und staubig, dachte Frieda. Während Georg glücklich »back to nature« murmelte.
Ein Vogel, den Frieda als mutmaßlichen Stieglitz ausmachte, flog dicht an ihrem Kopf vorbei. Landete zu ihrer Rechten ein paar Schritte weiter auf dem Boden. Unter Georgs Hängematte, die zwischen zwei Kiefern gespannt war. Der Vogel sprang auf das Seil, das sich um den Stamm schlang, hüpfte auf den bunt karierten Stoff und flatterte mit einem Zwitschern weiter.
Lag da nicht einer drin? In der neu gekauften, noch ungewaschenen, nach Chemie duftenden Hängematte? Frechheit! Ein Rausch-Ausschlafer oder ein Spanner?
Friedas Augen weiteten sich, und ihre Nasenflügel bebten. Wehe, da würde es einer wagen, ihrer Familie zu nahe zu kommen! Sie merkte, wie ihr Blut anfing zu kochen und sich bereits üble Beschimpfungsmöglichkeiten in ihrem Kopf bereit machten. Das hier war doch ein Familien-Campingplatz. Nach zweiundzwanzig Uhr musste man ruhig sein. Musste! Hier drehten sogar die Zeltplatzchefs ihre abendlichen Runden und ermahnten zu laute Kinder oder quatschende Erwachsene. Hier war nix mit Grölen bis in die Puppen oder Saufen, bis der Arzt kommt. Hier war um zehne Schicht im Schacht.
Sie kratzte sich erneut an der Stirn, wurde aber von einem Bollern in ihrem Bauch abgelenkt. Erst zu der einen Seite, dann zur anderen. Friedas Mundwinkel zuckten bogenförmig aufwärts. Sie tätschelte die beachtliche Wölbung um ihren Bauchnabel und dachte kurz an den Zwerg, der nun seit rund sieben Monaten darin herumspukte. Doch nur für einen kurzen Moment, denn es galt, für etwas einzutreten. Für das Recht auf die eigene Zeltparzelle– für die man ja immerhin gezahlt hatte.
Kurz schwankte Frieda, ob sie vielleicht nicht doch, ganz kurz nur, ihren Mann aufwecken sollte, aber sie war ja Journalistin. Vor einundzwanzig Jahren hatte sie den Mumm gehabt, als Schülerin bei der Lokalpresse anzufangen, und sich von Berichten über Vereinstreffen zu umfangreichen Reportagen hochgearbeitet, für die sie teilweise tief in die Ortsgeschichte und die Politik eingedrungen war. Sie arbeitete sich immer weiter hoch, studierte, hospitierte, korrespondierte, transpirierte, bis sie für die »Welt«, die »FAZ« und den »Spiegel« schrieb. Als sie von einem renommierten Reisemagazin den Auftrag erhielt, nach Kambodscha zu reisen, um über die noch relativ unbekannten Bergvölker in der Annamitischen Kordillere zu berichten, die sich den Lebensraum mit teilweise endemisch vorkommenden Reptilien und Amphibien teilen, wie den Phong-Nha-Ke-Bang-Bogenfingergecko, lernte sie Georg kennen.
Es hatte sofort Zoing gemacht.
Damals in der Eingangshalle eines Hotels. Stolperte sie doch über seinen Rucksack, blieb dabei mit dem Röckchen an der Schnalle hängen und– Zoing– riss der Gummibund, und sie stand im mintfarbenen Slip vor ihm. Georg hielt ganz Gentleman den Blick auf ihr Gesicht gerichtet, riss einen schokoladenfarbenen Ziervorhang von der Wand und überreichte ihr das Stück Stoff mit einem angedeuteten Diener. Danach gingen sie Kaffee trinken. Frieda verbrachte wohl drei Stunden in dem zum Wickelrock umfunktionierten Staubfänger und fühlte sich seit langer Zeit beseelt. In diesen drei Stunden verpasste sie das Treffen mit einem Wissenschaftsjournalisten, der sie in das Kambodscha-Thema einführen sollte, und verlor so den Auftrag. War ihr aber egal.
Manchmal spielte auch das Leben Schnick, Schnack, Schnuck.
Biss, den hatte sie schon immer gehabt. Biss und Durchhaltevermögen. Auch wenn sie nach der Geburt der Kinder in der Redaktion einer langweiligen Frauenzeitschrift gelandet war. Pizza-Trenddiäten und Promiklatsch wie »Ist Heidi Klum eigentlich ein Mann?« waren nun die Themen, mit denen sie sich herumschlug. Das war jedoch Georgs Schuld. Er hätte sich für seinen Anspruch auf Elternzeit starkmachen müssen. Er konnte nicht, behauptete er. Er will nicht, dachte sie.
Frieda stand auf und schritt zur Hängematte.
Ein Mann lag darin.
Frieda hüstelte, doch der Mann hielt die Augen geschlossen. Er war bestimmt ein Meter achtzig, hatte dichtes schwarzes Haar, das ihm bis über die Ohrläppchen hing, trug Jeans, einen roten Pulli und war blass. Sehr blass. Um nicht zu sagen, verdammt blass. So blass, dass Frieda das tat, was Frauen in solch einer Situation oft taten. Ob sie wollte oder nicht: Sie schrie!
***
»Was?« Frieda saß auf der Holzbank vor dem Kiosk und trank die dritte heiße Schokolade. »Ihr wollt mit dem Kanu paddeln gehen?« Überrascht schaute sie ihre beiden Kinder an. Jonni, zwölf Jahre alt, trug seine Pickel mit großer Gleichmut, kippte sich dafür aber täglich eine halbe Tube Gel in die Haare, und Lea, acht, die vor einigen Wochen die Schminke entdeckt hatte und seitdem rumlief, als sei sie in einen Farbtopf geplumpst. Jeden Tag obsiegte eine andere Grundfarbe.
»Seid ihr gar nicht… ähm… geschockt?«
Jonni schaute sie verwundert an. »Warum?«
»Na ja, für mich ist das der erste… Tote.«
»Ach so… ach nee, die sieht man doch ständig.«
»Äh… hä?«, wandte Frieda ein.
Lea grinste schief und sagte: »Ach, Mama. Glotze, Computerspiele, weißte. Jonni hat sogar ein paar Fotos gemacht. Und, was ist jetzt? Das Wetter ist doch echt prima! Und die anderen wollen gleich los.«
Frieda schaute ihren Mann an, der neben ihr saß und nur mit den Schultern zuckte. »Ihre Aussage haben se ja zu Protokoll gegeben: durchgeschlafen bis zu deinem Geschrei. Paddeln? Warum nich. Aber Kinners, dann paddelt ihr nur bis zur Fischbrötchen-Kaffeeklappe und kommt danach gleich wieder. Das sind rund vier Stunden. Okay?« An Jonni gewandt fügte er hinzu: »Und pass mer auf die Lütte auf, ja!«
Frieda schnaufte hörbar. »Aber Georg, hier rennt irgendwo ein Mörder rum.«
»Mörder? Das ist doch noch gar nicht bewiesen. Und selbst wenn… die Wahrscheinlichkeit, dass er am helllichten Tag eine Gruppe von minderjährigen Paddlern«, Georg blickte zu Lea, »…Verzeihung… oder Paddlerinnen abmurkst, ist sehr gering. Also, immer schön den Ball flach halten!«
Und unter dem schwachen Protest von Frieda verließen die beiden Kinder, mit Handy, Bargeld, Sonnencreme und Wasserflaschen ausgerüstet, den Zeltplatz.
»Ist doch besser so. Du hast da übrigens was«, meinte Georg und zeigte auf ihre Haare. »Haben die wenigstens Spaß. Ich vermute mal, dass wir den hier nicht haben werden. Im Gegenteil. Da der Tote bei uns gefunden wurde, macht uns das automatisch zu Verdächtigen. Also, im Falle von…«
Frieda knirschte mit den Zähnen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Manchmal hasste sie es, mit einem analytisch denkenden Wissenschaftler verheiratet zu sein.
»Mien Leeve«, sagte Georg in einem Ton, der Friedas Puls gleich um vierzig Prozent beschleunigte. »Da wir doch gerade so schnacken, wollen wir uns nicht mal über die Elternzeitplanung, die Auszeit und deinen Job unterhalten?«
Ruckartig wandte sich Frieda ihm zu. Betrachtete sein FC-St.-Pauli-Shirt, das er als Schlafhemd nutzte und immer noch anhatte. Doch, der meinte das ernst. Seine Augenpartie hatte die Lachfältchen nicht ausgefahren. Mit einem »Spinnst du?« stand sie auf, streifte die Decke ab, in die sie die schwarzhaarige, drahtige Campingplatzchefin gewickelt hatte, und streckte sich. Sie merkte, wie ihr Herz wummerte. Lag das an der Aufregung oder an der ganzen Schokolade? Wohl an beidem. Bewegung war eine gute Idee. Sie ließ ihren Mann sitzen, der gerade die Vor- und Nachteile abwägte, sich zuerst eine Bockwurst oder aber ein Eis zu holen. Der erste Schock war ausgeschwitzt, und die Gehirnzellen arbeiteten wieder. Um sie herum summte es wie in einem Bienenstock. Die ganze Zeltplatzfraktion war aus ihren Nestern gekrochen und hatte sich zu kleineren und größeren Gruppen zusammengerottet. Während Frieda in Richtung Zelt lief, drangen ein paar Satzbrocken an ihr Ohr. »Erstickt… an einer Fischgräte?«, »Eine richtige Plage dieses Jahr«, »Ich wusste ja, dass so etwas früher oder später mal…«, »Meine Frau hat noch gestern…«, »Ob wir da wohl Schadensersatz…«
Frieda schauderte es. Brauchte man spezielle Gene, um Campen regelmäßig freiwillig auf sich zu nehmen? Sie lief an der Badestelle entlang, bewunderte neidvoll die Unbeschwertheit der Sandburgen bauenden Kinder und stiefelte seitlich einen Weg zur Kuppe des Hügels hoch.
Puuhh, dachte sie. Ihr Zelt war eingekreist von einem rot-weißen Band, neben der Hängematte stand ein dicklicher Polizist und rauchte einen Zigarillo.
Zeltnachbarn saßen auf ihren Faltstühlen und nickten ihr zu, als sie vorbeiging.
Frieda blieb am Absperrband stehen. »Entschuldigen Sie bitte, Herr… Herr?«
Der Polizist drehte sich zu ihr. Er stand neben der Hängematte, über die eine braune Decke ausgebreitet lag. »Ja? Pfifferling mein Name. Und Sie sind… Sie sind doch die Finderin der Leiche! Jaja, die Stechviecher sind richtig aggressiv dieses Jahr. Wie kann ich Ihnen helfen?« Er steuerte zwischen den Campingstühlen auf sie zu, wobei er wie ein Bär mehr von rechts nach links schwankte, als dass er richtig ging. Die Spitze seines Zigarillos war nur noch Asche und beugte sich der Schwerkraft, fiel zu Boden. Na ja, fast, so ganz schaffte es die Asche nicht, ihren Fall zu steuern, sie landete in einem von Georgs Schuhen, die zwischen den Stühlen standen. Der würzige Geruch würgte Frieda. Boah, wer konnte schon frühmorgens Zigarillos rauchen?
»Ich brauche meine Kosmetiktasche, könnte ich die… die bitte haben? Sie liegt drinnen auf dem–«
»Nein, das ist nicht möglich. Hier darf nichts entfernt werden. Fragen Sie doch noch mal heute Mittag. Nu? Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich noch um Herrn Schreiner, also die Leiche, kümmern.«
»Herrn Schreiner? Woher wissen Sie…?«
»Der Tote stammt hier aus der Gegend… Ist so eine Art Lokalpolitiker. Na ja, war trifft’s wohl eher. Verheiratet, gutbürgerlich, Mitglied im Stadtrat und im Heimatverein.« Damit pustete er einen nach Harz duftenden Rauchschwall aus und stapfte zurück zur Hängematte. Frieda fasste an ihren Bauch und krümmte sich. Das konnte doch jetzt… Mit schnellen Schritten stolperte sie den Hügel zur anderen Seite hinunter in Richtung Toiletten und schaffte es gerade noch, sich über eine Schüssel zu beugen, als es schon aus ihr herausschoss. Schokolade, Kartoffelsalat, Würstchen und Magensäure. Jede Menge Magensäure. Wäre ihr nicht schon schlecht gewesen, wäre es spätestens jetzt passiert.
***
»Alles gut, Schatz?« Georgs Stimme ertönte hinter ihr.
»Mrmmphffffs«, erwiderte Frieda. Nicht nur, dass sie ein neues Übelkeitslevel erreicht hatte, auf ihrer Stirn prangte auch ein Mückenstich der Extraklasse. Fett, rot, und sie hatte das Gefühl, dass er gerade erst angefangen hatte, anzuschwellen.
»Komm, ich helf dir.« Georg griff unter ihren Arm und schleppte sie den Hügel wieder hoch, lieh sich einen Stuhl von den Zeltnachbarn und setzte Frieda neben das Absperrband. »Wir können bestimmt gleich wieder an unsere Sachen. Aber weißt du was? Die Campingplatzchefin hat uns angeboten, in einem Wohnwagen zu übernachten. Eigentlich vermieten sie den, aber wir dürfen ihn kostenlos nutzen. Ist doch klasse, oder? Sind auf jeden Fall keine Halsafsnieder.«
»Mmpfhl«, machte Frieda, sah zu ihrem hochgewachsenen Ehemann auf und dann runter auf ihr Smartphone, das gerade gebiiingt hatte. Sie las: Heisan Frieda– gratuliere zum siebten Schwangerschaftsmonat plus einen Tag. Dein Baby kann jetzt die Augen öffnen und legt sich eine Fettschicht zu– also pass auf, was du isst, nicht dass es als Michelinmännchen geboren wird. Haha. Obst heißt auf Norwegisch: Frukt. Ha det bra!
Dazu eine Art Comiczeichnung von einem Bauch mit einem Embryo zur Veranschaulichung der aktuellen Größenverhältnisse.
Puuh, dachte Frieda, diese App war mehr anstrengend als praktisch. Sie versprach zwar Schwangerschaftsinformationen, gepaart mit der Möglichkeit, seinen norwegischen Wortschatz aufzufrischen, aber es fühlte sich mehr nach Schlechtes-Gewissen-Machen an– funktionierte quasi wie eine Mischung aus Frauenarzt und Schwiegermutter, die Norwegisch an der VHS unterrichtet.
Unten bei den Toiletten rührte sich etwas. Ein roter VW-Käfer hielt, und ein älterer Mann in Jeans, weißem Hemd und dunkelbraunem Kordsakko trottete den staubigen Weg zu ihnen hoch. Er hatte eine schwarze Ledertasche unter den Arm geklemmt, blickte müde vor sich hin und schüttelte dem Polizisten, der ihm entgegengekommen war, die Hand. »Hallo, Gerd, wo ist denn unser Freund?«
»Hallo, Kurt, hier entlang.« Der Polizist trat einen Schritt zur Seite und ließ den Mann zur Hängematte durch.
Während Georg zum Kiosk lief, um für Frieda einen Kamillentee zu holen, konzentrierte sie sich auf ihre Atmung und verfolgte unter halb geschlossenen Augenlidern das Geschehen vor ihrem Zelt. Der Fremde entpuppte sich als Arzt. Er musterte kurz den Toten, schloss die Finger um dessen Handgelenk, legte sie dann an seine Halsschlagader, schaute ihm in die Augen und verkündete anschließend: »Der ist tot. Wahrscheinlich letzte Nacht gestorben. Vor drei bis sieben Stunden. Keine auffälligen äußeren Merkmale, ich vermute, dass es sein Herz war. Klagte ja seit ein paar Wochen über Stresssymptome. Übrigens ist sein Vater vor zehn Jahren an Herzversagen gestorben. So was ist erblich.«
Die beiden Männer beugten sich über ein Blatt Papier, Gerd Pfifferling telefonierte, und der Arzt düste wieder weg. Anscheinend nach Hause zum Schlafen, da ihm der Polizist ein ironisches »Gute Nacht« hinterherschickte.
Während Frieda wenig später den Kamillentee schlürfte, hielt ein zweites Auto, ein langes schwarzes, direkt neben den Toiletten. Zwei mit schwarzen Anzügen und weißen Hemden bekleidete Männer stiegen aus, trugen unter Ächzen einen Kunststoffsarg nach oben und wuchteten den Toten hinein. Deckel zu, Toter weg.
Auf dem steilen Weg nach unten hatten sie Mühe, nicht auszurutschen, was den Älteren der beiden zu einem herzhaften »Sakramoscht« verleitete. Vielleicht sollte man dem Anlass gebührendes Fluchen in die Ausbildung mit aufnehmen.
Pfifferling begann das Absperrband flink aufzurollen, wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn und rief Frieda zu: »Sie können wieder in das Zelt.«
»Und die Spurensicherung?« Frieda war aufgestanden und trat unter das Sonnensegel. »Was ist denn mit der Spurensicherung? Hier…« Sie zeigte auf den Campingtisch, auf dem noch Gläser und Flaschen vom Vortag standen. »Ist das überhaupt alles von uns? Und was…?«
»Kein Stress, werte Frau. Wir machen unseren Job, und Sie… Sie zelten weiter. Ich kann Ihnen übrigens gegen Mückenstiche eine aufgeschnittene Zwiebel empfehlen.«
»Äh? Aber wer sichert den Mordplatz?«
»Mordplatz?« Der Polizist zwinkerte vergnügt. »Das ist ja mal eine nette Bezeichnung, aber Sie müssen nichts befürchten. Der Hausarzt des Verstorbenen war gerade da und hat ein natürliches Ableben bestätigt. Das ist dann so sicher wie das Amen in der Kirche.«
Gerd Pfifferling hatte das Band fertig aufgerollt und blieb neben der Hängematte stehen, wo er mit dem Fuß aus Versehen gegen eine Bierflasche stieß, die in Richtung Campingtisch rollte. Er wollte sich gerade danach bücken, doch Frieda kam ihm zuvor. Sie war trotz größerer Wampe gelenkiger. »Danke, das kommt zum Pfand. Was ist das überhaupt für ’ne Marke?«, fragte sie und schaute vom Etikett hoch zu Pfifferling, der bereits davontrottete.
»Der Arzt, der hat sich die Leiche doch gar nicht richtig angesehen!«, rief Frieda ihm hinterher, doch der Polizist ging einfach weiter.
»Was, wenn es nicht natürlich war?« Friedas Stimme überschlug sich und drehte Purzelbäume. Die Köpfe der anderen Camper ruckten in ihre Richtung. Doch Pfifferling hob nur die Hand und winkte einmal. Ohne sich umzudrehen.
Georg kam kurz darauf von den Klos zurück und zuckte mit den Schultern, als ihn Frieda mit Fragen bestürmte. »Was is? Der Hausarzt des Verstorbenen hat ein natürliches Ableben bestätigt– das passt doch.«
»Aber… aber es war überhaupt keine Spurensicherung da. Stell dir das mal vor. Sieht es hier nicht anders aus? Also als gestern Abend, als wir noch hier saßen und gesagt haben, dass wir erst heute alles aufräumen wollen.«
»Ja, glaubst du, der Tote hat erst noch gemütlich hier am Tisch gesessen und die Reste aus unseren Bierflaschen getrunken, bevor er sich mit beginnendem Infarkt in die Hängematte geschleppt hat?«
»Sehr lustig. Georg, hier ist gerade einer gestorben, und du nimmst es nicht ernst.«
»Nein, mein Schatz, du findest dich nicht mit der Diagnose des Hausarztes ab. Wie heißt es so schön, der Otto-Normal-Mensch weiß immer alles besser als der Schiedsrichter und der Polizist.«
»Georg, also–«
»Ähm, Liebling, wo ist denn das Waschmittel?« Georg fing an, die Hängematte loszuknoten. »Magst du denn heute hier schlafen oder lieber im Wohnwagen?«
Mit einem erbosten »Mpfl« knallte Frieda die Teetasse auf den Campingtisch und trollte sich zwischen den neugierigen Zeltnachbarn und Dauercampern entlang zum Ausgang. Der schmale Weg war rechts und links gesäumt von eichhörnchenhohen Holzbalken.
Natürliches Ableben? Einfach so– zack– Herzinfarkt? Oder hatte der Typ eine plötzlich tödlich verlaufende Allergie beim Erstkontakt mit einer fremden Hängematte bekommen? Der Tote war zwar schon sehr grau im Gesicht gewesen, aber viel älter als fünfzig, Anfang fünfzig war der doch mit Sicherheit nicht. Gut, auch schon in dem Alter bekam manch einer einen Herzkasper. Aber dass der Pfifferling und der Arzt innerhalb so kurzer Zeit die Todesart festgestellt haben, das war doch wohl nicht möglich!
Frieda kickte gegen einen Zapfen, der im hohen Bogen in einem offenen Beutel landete, der neben einem Zelt lag.
Ein Schluchzen durchdrang das Campergemurmel. Ganz eindeutig, ein helles Wimmern und dann Schnäuzen. Frieda blieb stehen und blickte sich um. Links von ihr, in zweiter Reihe, sah sie einen eleganten Wohnwagen mit Holzterrasse, der hier schon seit geraumer Zeit zu stehen schien. Waren die Reifen doch handbreit in den Untergrund eingesunken. Eine der beigefarbenen Gardinen bewegte sich, und das Wimmern schlug in ein leises Heulen um. Über der Terrasse war ein quadratisches Vorzelt gespannt, unter dem edle Holzliegen und ein Tisch mitsamt frischen Blumen darauf Gemütlichkeit verbreiteten. Daneben befand sich eine aus Stein gemauerte Feuerstelle. Der eierschalenfarbene Wagen sah modern und geräumig aus. Nett, dachte Frieda und packte sogleich den Gedanken an der Gurgel, um ihn zu schütteln. Nett? Never!
Sie ging weiter und sah auf einer der Holzbänke vor dem Kiosk den breiten Rücken von Herrn Pfifferling. Er unterhielt sich mit der Campingchefin. »…was gibt’s denn heute in der Räucherkate? Spezial oder einen halben Broiler?«
»Spezial.«
»Mit oder ohne?«
»Natürlich mit und für Stammgäste sogar die doppelte Portion.«
Frieda stolperte an den beiden vorbei ins Innere des Kiosks. Direkt hinter dem Eingang war der Tresen der Rezeption, daneben an der Wand stand ein Regal voller Infomaterial. Frieda nahm eine Broschüre über Kanuwanderwege in die Hand und lauschte angestrengt nach draußen.
Der Polizist sagte: »So, ich geh jetzt. Bestimmt kommt Bernd bald vorbei, so ein Thema lässt der sich ja nicht entgehen.«
Ein helles Lachen erklang. »Hauptsache, er bauscht die Sache nicht so auf. Tote sind keine gute Werbung.«
Kurz darauf stand die Chefin neben Frieda und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wie geht es Ihnen? Brauchen Sie noch einen Kamillentee?«
Frieda zuckte zusammen, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, danke. Aber was soll ich sagen… Finden Sie es nicht merkwürdig, dass der Tote einfach so in unserer Hängematte gestorben ist?«
Die Schwarzhaarige steckte ihre Hand in eine der ausgebeulten Cargohosentaschen, aus denen Heringe und ein Stück Seil herausragten, grinste etwas schief, wandte sich ab und sagte: »Ein bisschen schon, aber der Arzt war ja da. Und mein Job hier, der hat mich gelehrt, dass Wundern reine Zeitverschwendung ist.«
Frieda fragte nach: »Hat der hier allein gecampt?«
»Nee. Der war ja gar kein Gast hier. Der wohnt doch in der Nähe. Na ja, wohnte. Haben Sie eigentlich was gegen den Mückenstich?«
***
»Ja, und?«, sagte Georg und lüpfte genervt zum fünften Mal innerhalb von drei Minuten den Topfdeckel, um zu checken, ob das Nudelwasser schon kochte. Tat es aber immer noch nicht. Er starrte kurz auf sein Handy, dann in den Himmel, wo sich schwarze Wolken zu einem gigantischen Berg türmten. »Jetzt müssten die beiden doch vom Paddeln wieder da sein. Bevor es zappenduster ist. Außerdem hab ich Hunger.«
Da Frieda sich weigerte, in der Nähe des Leichenfundorts zu schlafen, hatten sie den Kindern einen Zettel ans Zelt gehängt und ihre Habseligkeiten in den Wohnwagen geräumt, der ihnen angeboten worden war. Er war klein, aber fein. Mit Vorzelt und Plastikstühlen.
»Ja, und?«, wiederholte Frieda aufgebracht und biss sich kurz auf die Zunge, um den Impuls zu unterdrücken, wie wild an ihrer Stirn zu reiben. »Du denkst immer nur ans Futtern. Der Typ hatte hier auf dem Zeltplatz nix verloren. Sag mal, bin ich die Einzige, die noch bei klarem Verstand ist?«
Georg drehte sich zu seiner Frau um, musterte ihr Gesicht und nahm ihre Hand. »Schahatz, was hältst du davon, dir und dem Baby eine Pause zu gönnen? Komm…« Er führte sie zu einer der Liegen mit grellgelber Blumenmuster-Polyamidauflage und drückte sie darauf runter. »Entspann dich. Gleich gibt’s was zu essen, und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Frieda fauchte: »Entspannen, während die Kids noch unterwegs sind? Du hast es ihnen erlaubt, gegen meinen Willen, du…«
Georg verschwand im Wohnwagen und kam mit zwei Zwiebeln, Knoblauch, Gewürzen, Kapern, Möhren, Parmesan und zwei Dosen Tomaten heraus. Gut gelaunt schnippelte er drauflos, schaute hin und wieder zu Frieda, die sich mittlerweile beruhigt hatte, und ließ den Blick in die Runde schweifen.
Der Tag hatte seine Chance gehabt, nun schlichen sich erste Wellen von abendlicher Kälte an wie trunkene Seemänner und ließen Frieda erzittern. Regentropfen platschten auf das Vorzeltdach. Sie grummelte »back to nature« und warf Georg einen bösen Blick zu. Heute nervte er sie, obwohl sie ihn für seine Kochkunst ja heiß und innig liebte. Im Bekannten- und Freundeskreis gab es genug männliche Dumpfbacken, die weder Kochlöffel noch Staubsauger anrührten. Frieda seufzte. Hoffentlich erzog sie ihren Großen nicht zu einem Macho. Vielleicht sollten sie zu Hause mal eine Liste aufhängen, auf der jeder seine festen Aufgaben hatte. Nicht nur einmal im Monat Zimmer aufräumen und Müll rausbringen.
Sie schloss die Augen. Das mit dem Toten gab ihr nach wie vor Rätsel auf. Warum war er überhaupt hier auf dem Campingplatz gewesen? An einen Nachtspaziergang glaubte sie nicht. Hatte er vielleicht jemanden besucht? Der Polizist hatte erwähnt, dass er Lokalpolitiker war. Konnte er vielleicht in irgendwas verstrickt sein, oder hatte er sich Feinde gemacht?
Ein leises Schluchzen mischte sich in das Trommeln der Tropfen. Hell und verzweifelt.
Frieda öffnete ein Auge und schielte zu dem eierschalenfarbenen Camper, der nun direkt hinter ihrem Wohnwagen stand.
Er liebt mich von Herzen, mit Schmerzen, ganz viel, ein bisschen, gar nicht
»Was’n?« Georg unterhielt sich mit Jonni und Lea, mampfte zwischendurch seine Nudeln, versuchte dabei, das weiße Polohemd, das er sich extra fürs Campen gekauft hatte, nicht mit roten Sprenkeln zu versauen, und bekam trotz flackeriger Kerzenlichtbeleuchtung bei einsetzender Dämmerung mit, dass Frieda irgendwie nicht ganz da war. So mit Gedanken und halbem Körper. Sie saß zwar mit am Tisch und warf bei der von Jonni zum Besten gegebenen Paddelgeschichte immer mal wieder an passender Stelle ein »Neeeeiiin!« oder »Toll« ein, drehte sich aber andauernd zur Seite, um auf einen der Nachbarwohnwagen zu äugen.
Georg wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Frieda, was is… Ach klei mi ann Moars, mein neues Hemd, das gibt’s doch nicht, wenn…«
In diesem Moment sprang Frieda auf, schnappte sich den Toilettengang-Leinenbeutel, der bereits an ihrem Stuhl auf den nächsten Einsatz gewartet hatte, und eilte mit einem »Ich mach mich schon mal fertig« runter in Richtung Waschräume. Eilen im Sinne von zumindest so schnell, wie es ihr mit der momentanen Körperfülle möglich war und der regennasse Weg voller Stolperfallen zuließ.
Die Sanitäranlagen, die von hier aus schneller erreichbar waren, hatten eine andere Aufteilung, verströmten aber denselben Charme modrig riechender Ostalgie. Nennt man das funktionale Architektur?, dachte Frieda und behielt ihre Zielperson im Auge. Eine Rothaarige mit Hochsteckfrisur, durchschnittlich groß, ihr Kleid mit Blümchenmuster endete knapp über den Knien und ließ auf eine normale Figur schließen. Mehr Informationen gab der Blick auf ihren Rücken nicht her.
Blümchenkleid ging in den Raum mit den Waschbecken. Wahrscheinlich zum Zähneputzen und Gesichtwaschen. Abendtoilette machen. Frieda grinste, sie hatte mal einen Artikel über den Begriff Toilette geschrieben, um es von dem eindimensionalen Klo zu befreien. Im 17.Jahrhundert nannte man das Stück Tuch, in das Bürsten und Kämme eingeschlagen waren, auf Französisch »toile«. Die Damen breiteten es auf einem Tisch neben dem Bett aus, um sich vor dem Schlafen die Haare zu kämmen. Damals gab es ja noch kein Bad. Später bezeichnete Toilette die Abendgarderobe inklusive Schmuck, während heutzutage der Begriff fast nur für das Keramikbecken gebraucht wurde. Manchmal verbirgt sich auch hinter den Worten mehr, als man erahnen kann.
Frieda folgte ihr und nickte mit einem lauten »Guten Abend« den anwesenden weiblichen Campinggästen zu, als ob sie mindestens drei der fünf kannte. Mit dem Babybauch wusste sie, dass auf erstaunte Blicke meist wohlwollende und lächelnde folgten– hier waren alle noch im Rest-Hormonrausch. War ja schließlich ein Familiencampingplatz, und somit war die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass die anwesenden Damen ebenfalls in den Genuss des Hormoncocktails gekommen waren, den eine Schwangerschaft so mit sich brachte. Und Reste davon würden bis zum Lebensende in den Adern herumspuken. Reste, die ausreichten, um feuchte Augen zu bekommen, wenn Schwangere um die Ecke bogen oder ein frisch Geborenes ein Bäuerchen machte.
Frieda stellte sich in die Nähe von Blümchenkleid an einen Spiegel, versuchte, den Atem wieder zu kontrollieren, der nach so einem schnellen Lauf ganz schön ins Galoppieren kam, und starrte ein paar Sekunden lang die rote Beule über ihren Augen an. Sie packte die Zahnbürste aus und betrachtete das Gesicht ihrer Zielperson. Hübsch, echt hübsch, diese kleine zierliche Nase und die vollen Lippen, auch wenn der Blick aus den dunkelbraunen Augen sie an eine zufrieden kauende Kuh erinnerte. Die Rothaarige löste eine Haarklammer, und wie auf Kommando fielen die Locken in einem Schwapp bis über den üppigen Busen. Wie alt mochte sie wohl sein, doch schon einige Jahre älter, so Ende fünfzig? Sah sie verheult aus? Eigentlich nicht, oder?
Frieda räusperte sich und sprach eine ihr unbekannte Frau an, die neben ihr stand. »Ach ja, das war heute aber auch ein schlimmer Tag, oder?« Auf deren irritierten Blick fuhr sie fort: »Dieser Regen und dann noch der Tote, dieser Schreiner, also, er war kein Schreiner… Na ja, vielleicht doch, das weiß ich nicht, aber er hieß zumindest Schreiner.« Frieda schielte zu Rothaar, die kurz erschrocken aufschaute und dann anfing, hektisch ihre Haare zu bürsten.
»Schrecklich«, meinte Frieda. »So… ähm, gut aussehend. Das sah man trotz der grauen Leichenblässe.«
Während die angesprochene Frau zaghaft »Ja« sagte, ein »blöde Stechmücken, oder?« hinterherschob und zügig ihre ausgebreiteten Kosmetikartikel einpackte, beobachtete Frieda aus den Augenwinkeln, wie an der Nase von Blümchenkleid ein Tränentropfen immer dicker wurde, bis ihn sein Gewicht nach unten zog.
Bingo, dachte sie und schickte ein »Die armen Hinterbliebenen« hinterher.
Während sie sich Creme ins Gesicht schmierte, verschwand die Rothaarige wieder. Ohne sich die Zähne geputzt oder Gute Nacht gesagt zu haben. Machte man das beim Campen nicht so? Nach einem geteilten Gruppenerlebnis, was ein gemeinsam benutztes Waschbecken mit tiefen Blicken hinter die Schminkfassaden doch darstellte, wenigstens noch einen persönlichen Abschiedsgruß anreihen?
Frieda bückte sich und zog einen Kajal aus dem Ärmel, den sie zuvor dort hineingesteckt hatte. »Ach, was hab ich denn hier gefunden? Der muss der rothaarigen Frau gerade runtergefallen sein, auf diese übrigens ziemlich schlammigen Fliesen, kennt die denn jemand?«
Doch das einheitliche Kopfschütteln sowie das Auftauchen von Lea schob der Neugier einstweilen einen Knebel in den Mund.
Allerdings störte sie das nicht weiter, als Hobby-Ornithologin war sie es gewohnt, zu beobachten und zu warten. Der Adler hat seine Beute gewittert oder so ähnlich, dachte Frieda, als sie zum Wohnwagen zurückging und einen letzten Blick aufs Nachbargrundstück warf. Warte nur.
***
»Wie, du willst nicht mit mir shoppen gehen? Ich dachte, wir schauen heute Morgen nach einer neuen Schwangerschaftsbux für dich.« Georg trat hinter Friedas Campingstuhl und fasste an ihre Stirn. »Hast du Fieber?«
»Bärchen«, flötete Frieda, »nur weil du einmal in zehn Jahren selbst auf die grandiose Idee kommst, mit mir Klamotten zu kaufen, muss ich doch nicht gleich drauf anspringen, oder? Ich hatte den Kindern versprochen, mit ihnen etwas zu spielen… Fußball wäre doch nett. Außerdem sind wir nicht in Berlin. Hier haben sonntags die Geschäfte geschlossen.«
Georg sah seine Frau an, als hätte sie ihm gerade verkündet, dass sie Drillinge erwartete. »Fußball? Du? Und was soll eigentlich das Pflaster da?«
»Solange ich noch meine Schuhe selber binden kann, kann ich auch noch etwas wagen! Haha. Und das Pflaster brauch ich gegen das Jucken«, quetschte Frieda schief heraus. Sie erhob sich vom Frühstückstisch und stapfte mit den ebenfalls verblüfften Kindern auf den uneben löchrigen Weg.
»Hier?« Jonni kratzte sich am Kopf. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Sie kickten recht motivationslos zwischen den Pfützen herum, bis sich Frieda den Ball krallte, zielte und schoss.
KLIRRR machte es. Frieda unterdrückte ein Grinsen und lamentierte laut und deutlich: »Ach Mensch, Lea, kannst du nicht…« Und stapfte zu dem benachbarten Campingwagen, auf dessen Terrasse der Schuss für etwas Unordnung gesorgt hatte. Genauer betrachtet hatte der Ball eine Flasche Wein vom Tisch gefegt und ein Glas zerdeppert. Als Frieda laut schnaufend unter dem Vorzelt stehen blieb, kam die Rothaarige aus der Tür des Wohnwagens. Im gleichen Blümchenkleid wie gestern. Nur etwas verknitterter. Ihre langen Haare bildeten verwurschtelte Knoten, und ihr Gesicht sah aus, als ob es mal dringend zum Bügeln müsste.
»Was…«, stammelte sie und verbreitete einen Geruch von Alkohol und Schlafmief. Sie wischte sich über die Augen und verschmierte dabei Restschminke, die sich wie eine moderne Indianerbemalung bis zu den hohen Wangenknochen zog. Trotz allem wirkte die Frau durchaus attraktiv, was Frieda als Pluspunkt für die Geliebten-These anrechnete und gleichzeitig ein innerliches Knurren auslöste. Wie konnte man in diesem Zustand attraktiv sein?
»Entschuldige bitte«, entschuldigte sich Frieda, wobei sie in Campermanier das Gegenüber einfach duzte, und zeigte auf Jonni und Lea. »Meine Kinder haben Ball gespielt.« Die beiden Sprösslinge starrten sie ungläubig an, deuteten aber das Händewinken ihrer Mutter richtig und verzogen sich kopfschüttelnd in Richtung Strand.
Frieda bückte sich gemächlich und sammelte die Glasscherben ein. »Ich bin untröstlich, es tut mir echt leid… Hast du auch Kinder?«
Die Angesprochene ließ sich auf einen der edlen Holzstühle sinken und starrte auf die Füße.
Um an die Weinflasche unter dem Beistelltisch zu kommen, kniete sich Frieda auf den grünen Plastikrasen, der unter dem Vorzelt für Natur-Feeling sorgte, und ächzte laut. Empathiefähige Lebewesen wären an dieser Stelle aufgesprungen, hätten die Schwangere hochgewuchtet, ihr Luft zugefächelt oder sie mit Schokolade gefüttert, aber Blümchenkleid blieb lethargisch sitzen und starrte nun ein schwarzes Loch in den Tisch. Schweigsam und ausdauernd. Bevor sie damit Unheil anrichten konnte und womöglich das Raum-Zeit-Gefüge ins Wanken brachte, stieß Frieda ein lautes »Aargh« aus und streckte ihr eine Hand entgegen.
Die Frau schaute sie verblüfft an.
Frieda fügte ein »Krrramppfff« hinzu, und endlich bewegte die Rothaarige sich, zog Frieda in die Höhe, drückte sie in einen Stuhl und dehnte das verkrampfte Bein in die entgegengesetzte Richtung. Dann ging sie in den Wohnwagen und kam mit einem Glas Wasser und einer großen weißen Tablette wieder.
Frieda zögerte.
»Trink. Das ist gut.«
»Äh…«
»Das ist Magnesium, gegen Krämpfe, das nehme ich auch immer.« Tränen schossen ihr in die Augen, und sie verschwand wieder im Camper.
Frieda ließ die Tablette in das Glas plumpsen und sah zu, wie sie sich mit großem Geblubber auflöste. Dann trank sie das Glas leer. Schnalzte mit der Zunge. Schnipste mit den Fingern. Aber es rührte sich nichts.
Frieda sagte: »Hallo?«
Nichts.
Sie stand auf und trat zum Eingang des Campers. Für einen Moment hielt sie die Luft an, um die Miefwelle nicht einzuatmen. »HALLO!«
»Mhm«, kam es zurück.
Ihr wurde schwindelig, sie musste sich dringend langlegen. »Ich komm später wieder, ja?«
***
»Wo willst du hin?«, fragte Georg, der nach einer Runde gemeinsamen Ausruhens gerade die Badesachen einpackte, um sich mit einem Buch und den Kindern an die Bucht zu setzen. Noch schien die Sonne, was sich aber schnell ändern konnte. Der Wetterbericht schien in dieser Ecke eher einem Würfelspiel der Götter zu gleichen, und das Wetter selbst machte sowieso, was es wollte.
»Zur Nachbarin«, sagte Frieda.
»Mit einer Flasche Wein? Übrigens ist das die Flasche Wein, die uns die Campingchefin wegen all dem Ärger geschenkt hat.«
»Ja, ähm… Die Kinder haben ihre Gläser kaputt… Also, um ’tschuldigung zu sagen.«
»Aha. Kommst du denn dann gleich noch nach?«
»Ja, klar.«
Während Georg las, planschte, mit Jonni und Lea Eis aß, wieder planschte, sich anzog und mit den Kindern gegenüber vom Campingplatz im Restaurant Räucherkate Pizza essen ging, weilte Frieda bei Manuela. So hieß die Nachbarin. Sie war zu DDR-Zeiten eine bekannte Schauspielerin gewesen und plante derzeit, ein eigenes Theater in Berlin zu eröffnen.
Frieda saß mit ihr unter dem Vorzelt und schenkte Wein aus einer zweiten Flasche ein. »Mit Katrin Sass hast du zusammen auf der Bühne gestanden, echt? Famos! Da lernt man doch bestimmt eine Menge Männer kennen, oder?«
Manuela hielt in der rechten Hand, die drei große goldene Ringe zierten, ein bauchiges Glas und schwenkte es elegant im Kreis, sodass die rubinrote Flüssigkeit in breiten Schlieren an der Innenwand hinunterfloss. »Hihi, ja, das waren Zeiten, wir machten damals alles, Bühne, Fernsehen, Hörfunk, und die Männer, ach… Das waren wirklich noch andere Zeiten.«
Frieda ballte unter dem Tisch die Hand, Manuela war echt ein harter Brocken. Sie hatte zwar schon einiges über Theater erfahren, kannte nun alle Schauspieler, die mit ihr in Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder« aufgetreten waren, und wusste, dass Manuela eine entbehrungsreiche Kindheit gehabt hatte und der Camper das einzige Erbstück ihres Vaters war, aber zum eigentlichen Thema waren sie nicht vorgedrungen. Immerhin hatte Manuela inzwischen einen glasigen Blick und gab demL eine leicht lallige Note.
»Früher, ach, früher krä… kredenzten mir meine Verehrer Champagner aus dem KaDeWe, einen Perrier-Jouët oder Dom Pérignon.« Die Rothaarige lachte auf und warf den Kopf in den Nacken. »Oui, oui. Wir tranken ihn aus meinen Stöckelschuhen und begossen uns damit in der Badewanne…« Sie sah Frieda prüfend an, doch diese lächelte weiter, und so fuhr Manuela fort: »Heute ist’s ein Sekt aus dem Lidl.« Ihre Stimme änderte sich zu einem Singsang. »Irgendwann kommt der Moment im L… Leben einer jeden Frau, wo das Einzige, das hilft, ein Glllas Champagner ist. Sagte schon Bette Davis in… ›Alte Freunde‹? Nein, das müsste ›Alllte Bekanntschaften‹ gewesen sein. Ach«, sie seufzte laut auf, »Gentlemen muss man heute mit der L… Lupe suchen.«
Manuela bekam wieder den Schwarze-Löcher-starr-Blick und verstummte. In Friedas Kopf purzelten Informationen durcheinander. Positiv gesehen könnte man diese Fähigkeit– schnell Assoziationsketten zu bilden– als kreativ bezeichnen, aber Frieda sah es meistens nicht positiv, sondern fühlte sich davon gestört. Vor ihrem inneren Auge flackerten in Millisekunden Bilder von Bette Davis, Champagnerflaschen mit Blumenmotiven, Abenden, an denen Frieda selbst Champagner getrunken hatte, James Bond und einem Zeitungsartikel zum Thema Alkohol auf.
Jahre vor der Geburt der Kinder hatte Frieda über den Konsum von Alkohol recherchiert und in der »Welt« einen bissigen Artikel mit der Headline »Der Staat macht seine Bürger absichtlich alkoholabhängig« veröffentlicht. Er schlug ein wie eine Bombe, allerdings blieb es bei öffentlichen Betroffenheitsbezeugungen. Warum hatte heute keiner der Politiker mal so richtig den Arsch in der Hose und zeigte der Wirtschaft den Stinkefinger? Alkohol bedeutete ab einem gewissen Prozentlevel einen regelrechten Endorphinrausch– das Selbstbelohnungszentrum des Menschen feiert quasi einmal Karneval in Rio und zurück, wobei das Fatale beim Alkohol war, dass er nicht nur einen Rezeptor im Gehirn ansprach, wie Heroin, sondern gleich auf mehrere wirkte. Der Suchtwissenschaftler, mit dem Frieda damals gesprochen hatte, war ein bekennender Antialkoholiker. Spätestens seitdem er als Student in Suchtkliniken gejobbt hatte. Abschreckung pur.
Manuela schien Alkohol gewohnt zu sein. Nach fast zwei Flaschen lallte sie zwar ein wenig, aber man konnte sie immer noch gut verstehen.
Frieda stupste sie an. »Gibt es heute überhaupt noch Gentlemen?«
Die Schauspielerin trommelte mit den roten Fingernägeln gegen die dünne Wand des Glases. »Solllche Exempl…lare sind heute…« Unvermittelt rollten Tränen über ihre Wangen. Sie sank in sich zusammen, als würde sie die Sterbeszene aus »Schwanensee« zum Besten geben.
Frieda lächelte, wurde sich ihrer Mimik bewusst und biss sich schnell auf die Lippe. »Das… das tut mir leid.«
Manuela schluchzte. »Er war ein Lichtblllick im Tal dieser Tristesse. Er war mein Seelllenpartner. Mein Ritter. Mein Romeo.«
Frieda beugte sich zu ihr und legte den Arm um die bebende Schulter, zumindest so weit es die Babykugel und der Tisch zuließen. Will meinen, ihre Fingerspitzen tätschelten die Schulter der traurigen Gestalt. »Was ist denn passiert?«
»Er war so… so aufgebracht, so gar nicht er selllbst, als würde er für eine Statistenrolllle in einem Western proben. Und dann… weiß nich mehr… bekam er einen Anruf oder eine SMS… Er war dann weg. Und jetzt ist er ganz weg. Hat mich im Stich gelllassen… Hätte ich doch Robert geheiratet…«
Frieda half Manuela in den Camper und legte sie aufs Bett, wo die Schauspielerin mit einem gehauchten »Perlllen bedeuten Tränen« an ihre Perlenhalskette fasste und einschlief. Boah, dachte Frieda, ich glaub, ich darf die Kids nie wieder schelten, was Aufräumen anbelangt. Gegen das hier waren die Kinderzimmer reine Ikea-Katalogbilder.
***
»Ach, Sie kommen auch schon, Madame?« Georg lag auf einer Liege vor dem Wohnwagen und blinzelte ins Kerzenlicht. »Ist das Gelage beendet und deine Neugierde befriedigt?«
Es biiingte. Frieda nickte ihm geistesabwesend zu und schaute auf ihr Handy: Heisan Frieda, gratuliere zum siebten Schwangerschaftsmonat plus zwei Tage. Wenn dein Baby heute auf die Welt käme, hätte es ganz gute Chancen zu überleben, da fast alle lebenswichtigen Funktionen ausgebildet sind. Nichtsdestotrotz sollst du gut auf dich aufpassen, vor allem, da die Belastungen im letzten Schwangerschaftsdrittel zunehmen. Dann befreie dich von allem Unnötigen, auch im Privaten, also bitte einmal Aufräumen! Haha. Ehemann heißt auf Norwegisch: ektemann. Ha det bra!
Frieda schüttelte den Kopf, verschwand im Camper, holte ihren hellblauen Rucksack hervor und steckte den Kopf rein.
Georg leierte in heller Stimmlage: »Ach, Schatz, hast du dich heute toll um die Kinder gekümmert, was duftet hier so lecker, gekocht hast du auch noch, und die Kinder schlafen ja schon, du bist mein Superheld!«
Frieda überhörte ihren Mann und die Lobhudelei, die er gerne von ihr hören wollte, zog mit einem triumphierenden »Haha!« ein dunkelgrünes Notizbuch aus dem Rucksack, setzte sich an den Campingtisch, auf dem mehrere Kerzen so vor sich rumflackerten, schlug das Buch auf und kritzelte fleißig mit einem Stift hinein. Zuerst schrieb sie das Wort:
Spuren
strich es durch und schrieb:
Verdächtige
darunter:
Manuela.
Georg trank einen langen Schluck aus seiner Bierflasche, knipste eine Taschenlampe an, die er schräg hinter sich hängte, und hielt sich ein aufgeschlagenes Wissenschaftsmagazin vor das Gesicht. »Ich wusste ja gar nicht, dass du dich für das Theater der DDR interessierst. Mehr als für uns. Offensichtlich. Frieda? Ihr wart ja laut genug.«
Frieda winkte in Gedanken vertieft ab. »Jaja, Schatz.«
Georg seufzte leise. »Und die will noch ein drittes Kind!«
***
Es wehte ein starker Wind am nächsten Morgen. Der feine rote Sand, der den Boden bedeckte, wurde aufgewirbelt und legte sich über den Frühstückstisch. So muss es in der Wüste sein, dachte Frieda und meinte damit nicht nur die feine Sandschicht, die das Brötchen besonders knusprig machte, sondern auch das Schweigen ihres Mannes.
»Georg, ach, nun sei nicht so, lass mir doch den Spaß«, sagte Frieda und tätschelte dabei ihre Babywampe. Sie hatte das Gefühl, dass der Bauchzwerg Purzelbäume für seine erste Olympiade übte.
Georg schaute sie nur kurz an. Mit diesen zusammengezogenen Augenbrauen und diesem abschätzigen Blick. »Kinder, was wollt ihr heute machen? Eure Mutter ist ja wohl beschäftigt und–«
Frieda unterbrach ihn. »Kinder, ich wollte fragen, ob ihr euch ein paar Euro Taschengeld dazuverdienen wollt.« Sie zwinkerte Georg zu. »Jetzt hast du einen Tag Pause, du wolltest doch hierher, um abzuschalten. Passt doch, oder?«
Kurz darauf hatten sich Lea und Jonni an strategisch günstigen Punkten postiert. Beide ausgestattet mit Notizblock und Stift. Lea saß mit hochgelegten Füßen und einem Buch vor dem Wohnwagen, mit Blick auf Manuelas Camper, und Jonni saß auf der anderen Seite des Campers auf einem der großen Steine, am Rand des befahrbaren Weges.
Frieda hatte von der Campingchefin erfahren, dass sich Herrn Pfifferlings Dienststelle in der siebzehn Kilometer entfernten Stadt Neustrelitz befand, und machte sich auf den Weg. Mit einem munteren Lied auf den Lippen, einem rot-weiß gepunkteten Sommerkleid, Sonnenbrille und lauter Musik fühlte sie sich gut. Irgendwie frei. So ganz allein im Auto. Sie könnte sonst wohin fahren, ohne Georg, ohne Kinder, ohne alles– einfach das alte Leben hinter sich lassen und ein komplett neues Kapitel, ach was, ein komplett neues Buch aufschlagen– vielleicht würde sie wieder anfangen zu… QUIETSCH, jaulten die Bremsen. Die Abfahrt! Wer brauchte schon einen Neuanfang, wenn das Leben gerade so spannend war!
Wenig später war Frieda nicht mehr ganz so gut drauf. Ziemlich beschissene Laune, das hätte es wohl eher getroffen. Was durchaus an ihrem Gesprächspartner, Herrn Pfifferling, liegen konnte, der sie gerade anraunzte.
»Was hab ich unterlassen? Was erlauben Sie sich überhaupt, Sie dahergelaufene Stadtschnepfe? Wohl zu viele Krimis gesehen, oder was? Der Anton Schreiner geht Sie einen feuchten Kehricht an. Haben Sie nicht einen dringenden Termin bei der Nagelpflege? Oder bei Ihrer linksdrehenden Öko-Hebamme? Nu?«
Frieda konnte gar nicht so schnell atmen, wie sie sich aufregte. Es fehlte nicht viel, und ihr Kreislauf wäre gekippt. Mit hochroten Wangen stürmte sie zur Familienkutsche und pfiff sich einen Liter Wasser rein. Sie hatte lediglich nach dem Handy des Toten gefragt und dem Polizisten den Hinweis gegeben, dass der Verstorbene wohl eine Geliebte auf dem Campingplatz hatte. Dankbar hätte er ihr sein sollen. Jawohl! Dankbar!
Frieda blickte auf ihr Handy. Eine Nachricht von ihrer Mutter: Wir liegen mit einer schleimigen Bronchitis flach, Dr.Simmel sagt, es sei ansteckend. Tut uns leid, aber wir müssen daher euren Urlaub bei uns absagen. Alles Liebe und mach dir bitte keine Sorgen, Ingrid versorgt uns. Mama.
Ja toll, sie hatte sich schon so auf die Ferien im heimatlichen Garten inklusive Speis und Trank gefreut. Hotel Mama liegt flach, so ein Oberbockmist! Eine Prise schlechtes Gewissen schoss in ihr Gehirn: Hoffentlich ging es den Eltern bald wieder besser!
Irgendetwas zupfte an ihrem Bewusstsein. Irgendetwas hatte der Polizist erwähnt, was an der Hirnhaut nagte. Nur was? Der Radiosprecher meldete Verkehrsblitzer, dann folgte ein Lieblingslied von Frieda, das ihre Laune aus dem Keller zerrte und alle anderen Gedanken vorübergehend verdrängte: »Because I’m happy…«
Zwei Kilometer später flogen Kraniche über die Straße. Die Campingchefin hatte erzählt, dass sich immer im August bis zu fünfzigtausend Kraniche rund um die Müritz sammelten, um dann händchenhaltend gen Süden zu flattern. Die Müritz sei das größte zusammenhängende Wassergebiet Mitteleuropas. Da war doch was mit Gletschern und Eiszeit, rumpelte es in Friedas Kopf, der aufgrund der aktuellen Situation allerdings nur ein »depperter Bulle, depperter Hornochse, depperter Bulle« ausspuckte. Denkapparat am Anschlag.
Wenn sie Georg erzählen würde, wie unhöflich der Pfifferling zu ihr gewesen war, zu ihr, der Schwangeren, dann würde er seine Wissenschaftlerehre links liegen lassen und dem depperten Bullen eins rechts und links mitgeben. Echt!
***
Frieda trat aus dem Kiosk des Campingplatzes, lief am Spielplatz vorbei und stutzte. »Hallo, Schatz, prost! Jetzt schon Frühschoppen? Aber gut, dass ich dich hier treffe… dann kann ich dir eine Überraschung offenbaren.«
»Überraschung?«
»Rate mal!«
»Du hast im Lotto gewonnen?«
»Ich spiel doch gar kein Lotto, Mensch, Georg.«
»Du hast… ein Kanu gemietet?«
»Nein.«
»Ja, was denn?«
»Ich hab verlängert.«
»Oh.«
»Oh?«
»Öch… Warum denn, mien Leeve?«
»Ich dachte, ich mach dir eine Freude. So back to nature, du weißt schon.«
»Mir? Bist du dir da sicher?«
Nun hatte Frieda zwei Möglichkeiten– sie konnte sich auf eine Diskussion einlassen und versuchen zu verstehen, was ihr Gatte meinte, oder sie konnte ihn einfach anlächeln.
Sie lächelte ihn an und machte sich auf die Suche nach ihren kleinen Agenten. Zwischen eingeölten Campern hindurch, die ihr entgegenkamen und zum Sandstrand flanierten wie Lemminge.
Jonni salutierte wie ein kleiner Soldat und überreichte Frieda mit einer Verbeugung den Notizblock. »Auftrag ausgeführt. Bericht innen liegend. Erwarte angemessene Vergütung.« Damit drehte er sich um und rannte mit einem Juchzer und die Badehose schwenkend zur Badestelle. Frieda schlug die erste Seite auf und las: 10.02: Zielobjekt geht zum Klo. Sieht aus wie Papa nach einem Skatwochenende. Kommt zurück, sieht immer noch scheiße aus. 12.47: lautes…
»Hi, Mamilein!« Lea flog Frieda um den Hals. »Ich hab die ganze Zeit brav die Nachbarin beobachtet, wie du–«
»Psst«, zischte Frieda und zog ihre Tochter in den Wohnwagen. »Danke, meine Süße, du bist meine Topagentin. Da haste dir ’nen Zehner echt verdient! Ist denn was passiert?«
»Äh ja…«, kam es zögerlich. »Also so ein bisschen, sie hat ganz schön laut telefoniert und vor lauter Fluchen vergessen, ihr Kleid hinten zuzumachen.«
»Hä?«
Lea grinste und ahmte Manuela nach, wie diese mit einer Zigarette im Mundwinkel über die Baumwurzeln stolperte. Frieda lachte auf, als ein gekünsteltes Hüsteln sie zur Tür schauen ließ.
Manuela stand dort und sagte: »Entschuldige, Herzchen, ich wollte mich nochmals wegen gestern bedanken…« Irritiert verstummte sie. Frieda und Lea waren knallrot angelaufen.
»Stör ich bei irgendwas?« Manuela blickte sich um und ruckelte dabei mit dem Kopf wie ein Huhn.
»Nee«, piepste Frieda, pflückte Lea den Notizblock aus der Hand und ließ diesen zusammen mit Jonnis im Rucksack verschwinden.
Lea schnappte sich ihren Badeanzug, ein Handtuch und ein Buch und war schneller draußen, als Frieda »Schokoladenpudding« sagen konnte.
Frieda schluckte. Schokoladenpudding wäre jetzt echt famos! Schokoladenpudding war genau das, was sie jetzt haben wollte. Wollte? Ach was, haben musste. Und zwar sofort!
»Frieda…?«, sagte Manuela.
»Entschuldige, ich war gerade in Gedanken. Aber Manuela, was hast du… Also, wie geht es dir heute?«
Die Schauspielerin setzte sich auf einen der Klappstühle vor dem Wohnwagen und massierte sich den Knöchel. »Danke, dass du dich nach meinem Befinden erkundigst. Ich weiß auch nicht, welch Geist gestern Besitz von mir ergriff, als ich einer Wildfremden, also dir, mein schmerzendes Herz ausschüttete. Es widerspricht eigentlich meiner Natur. Aber du, du hast etwas an dir, das…«
Friedas Handy biiingte, und während sie mit einer Hand ein leeres Glas vor Manuela stellte und Wasser aus einer Flasche hineingoss, las sie: Heisan Frieda