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Das Meer heilt alle Wunden ... auch gebrochene Herzen.
Nora ist überglücklich! Die Zeit der Fernbeziehung mit ihrem Freund Markus ist endlich vorbei. Noras Kisten sind gepackt, der Umzugswagen steht schon vor der Tür als Markus plötzlich verkündet, er braucht eine Beziehungspause. Per Brief! Wer macht denn bitte so was?
Nora beschließt, jetzt endlich mal etwas für sich zu tun: Das Meer wiedersehen und den schönen Gendarmenpfad an der Ostseeküste bewandern. Ihre unbequemen Wanderschuhe machen ihr allerdings schnell einen Strich durch die Rechnung. Zum Glück rettet sie ein Einheimischer und bietet ihr eine Mitfahrgelegenheit nach Flensburg an. Wenn ihr Retter Bent ihr nur nicht so unsympathisch vorkommen würde ... Etwas, das sich schneller ändert, als Nora sich hätte vorstellen können … Und auch die Beziehung zu Markus ist noch nicht endgültig vom Tisch. Oder doch?
Träumen, lachen, lieben, einfach wohlfühlen! In ihrem heiteren Sommerroman »Muschelträume« entführt Bestsellerautorin Svenja Lassen an die Ostsee und auf die idyllische Halbinsel Holnis.
Freuen Sie sich auch auf den zweiten Wohlfühlroman aus der romantischen Küstenliebe-Reihe. In »Sonnenküsse« sucht eine junge Frau in Flensburg nach ihrem unbekannten Vater und findet etwas, das sie sich nie zu erträumen gewagt hätte ...
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Seitenzahl: 380
Buch
Nora ist überglücklich! Die Zeit der Fernbeziehung mit ihrem Freund Markus ist endlich vorbei. Noras Kisten sind gepackt, der Umzugswagen steht schon vor der Tür, als Markus plötzlich verkündet, er braucht eine Beziehungspause. Per Brief! Wer macht denn bitte so was?
Nora beschließt, jetzt endlich mal etwas für sich zu tun: Das Meer wiedersehen und den schönen Gendarmenpfad an der Ostseeküste bewandern. Ihre unbequemen Wanderschuhe machen ihr allerdings schnell einen Strich durch die Rechnung. Zum Glück rettet sie ein Einheimischer und bietet ihr eine Mitfahrgelegenheit nach Flensburg an. Wenn ihr Retter Bent ihr nur nicht so unsympathisch vorkommen würde … Etwas, das sich schneller ändert, als Nora sich hätte vorstellen können … Und auch die Beziehung zu Markus ist noch nicht endgültig vom Tisch. Oder doch?
Autorin
Svenja Lassen lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn im schönen Schleswig-Holstein, dem Land zwischen Nord- und Ostsee. Am glücklichsten ist sie mit einer Brise Seeluft im Haar und Strandsand unter den Füßen. Ihre Leidenschaft für Bücher entdeckte sie bereits als Kind, seit 2016 kam aber auch die Liebe für das Schreiben eigener Geschichten hinzu. Inzwischen begeistert sie mit ihren romantischen und humorvollen Wohlfühlromanen zahlreiche Leserinnen und Leser und stürmt mit ihren Büchern die Bestsellerlisten.
Weitere Informationen unter: www.svenjalassen.de
Von Svenja Lassen bei Blanvalet erschienen
Meer Momente wie dieser
Meer Liebe im Herzen
Muschelträume (Küstenliebe 1)
Sonnenküsse (Küstenliebe 2)
Svenja Lassen
Roman
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Originalausgabe 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2023 by Svenja Lassen
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Redaktion: Gisela Klemt
Covergestaltung und -motive: www.buerosued.de
Karte: www.buerosued.de
WR · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-30012-8V005
www.blanvalet.de
Die Abendsonne schien warm und golden zwischen den Bäumen hindurch. Ich überquerte den Zebrastreifen, um in das Josefsviertel in Münster zu gelangen, wo meine Freundin Janine wohnte. Auf der anderen Seite angekommen, lief ich weiter, und mein Blick streifte den gegenüberliegenden Fahrbahnrand, wo eine schwarze Katze sich ebenfalls anschickte, die Straße zu kreuzen. Aufpassen, kleine Mieze, murmelte ich in Gedanken. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich ihren Spurt. Dabei achtete ich leider nicht auf meine eigenen Schritte – mein Fuß blieb an irgendwas hängen. Zwar bekam ich ihn wieder frei, doch das änderte nichts daran, dass ich aus dem Tritt geraten war. Ich stolperte vorwärts, in dem Versuch, das Gleichgewicht zurückzuerlangen, ehe ich mich unsanft der Länge nach auf den Asphalt legte.
»Autsch!«, rief ich. Die schwarze Katze hechtete einen Meter vor mir vorbei und verschwand zwischen zwei Gebäuden. Hastig rappelte ich mich auf.
Schwarze Katze von links nach rechts bringt Unglück, schoss es mir durch den Kopf. Oder war es von rechts nach links? Und musste nicht auch eine Leiter im Spiel sein? Sei nicht albern, Nora, du warst einfach schusselig!
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich eine ältere Dame, die mit ihrem Rollator neben mir stehen blieb.
»Ja, danke. Ich war nur unaufmerksam, nichts passiert.« Ich lächelte sie an.
»Diese Dinger liegen und stehen überall rum, manchmal gleicht mein Weg einem Hindernisparcours«, beschwerte sie sich und schob ihr Gefährt anschließend im Schneckentempo weiter.
Ich schaute zurück, was mich überhaupt zu Fall gebracht hatte. Ein E-Scooter lag achtlos auf dem Gehweg, offenbar war der Lenker mir zum Verhängnis geworden. Genervt checkte ich meine Handflächen und die Knie. Das rechte schmerzte ein wenig, aber ich hatte keine Hautabschürfungen. Also hatte ich eigentlich Glück im Unglück gehabt, beschloss ich und putzte meine Hände an meiner kurzen Hose sauber.
Den restlichen Weg schaffte ich ohne weitere Zwischenfälle und erreichte kurz darauf die Straße, in der Janines Wohnung lag. Vor dem Haus Nummer elf stoppte ich und drückte ein bisschen wehmütig auf den Klingelknopf. Wenn ich erst in München wohnte, konnte ich Janine nicht mehr spontan besuchen. Der Türsummer ertönte, und ich verdrängte das schwermütige Gefühl, während ich die Eingangstür aufschob. Gemächlich stieg ich die Stufen bis in den 3. Stock hinauf. Mein Knie schmerzte immer noch leicht. Außerdem hatte ich heute den ganzen Tag damit verbracht, die restlichen Kisten für den Umzug zu packen, und war erschöpft. Auch wenn ich im Krankenhaus bei der Arbeit viele Stunden auf den Beinen war, hatte ich dadurch nicht unbedingt eine Spitzenkondition. Die zahlreichen Nachtschichten der letzten Jahre hatten arg an mir gezehrt, und der Sport war meistens weggefallen.
»Nora!«, rief mir Janine erfreut durch den Treppenflur entgegen. Sie wartete in der offenen Tür, und meine Laune hob sich automatisch. Die schwarze Katze und der Sturz waren vergessen.
»Hey, schön, dich zu sehen!« Beherzt drückte ich sie an mich.
»Der Wein ist entkorkt, und dazu habe ich uns Fingerfood gezaubert.«
»Du bist die Beste.« Wie zur Bestätigung gurgelte mein Magen vernehmlich vor sich hin. In dem ganzen Stress der letzten Tage war ich kaum dazugekommen, etwas Anständiges zu essen. Und heute hatte ich zudem alle Küchenutensilien in Kartons verpackt und mir damit die Möglichkeit genommen, mir etwas zuzubereiten. Zum Mittag hatte es eine Portion gebratene Nudeln vom Chinesen gegeben. Ich ließ mich auf Janines Sofa sinken und sah zu, wie sie mein Weinglas füllte und den Teller mit Mini-Wraps zu mir schob. Ich griff zunächst zu den gefüllten Rollen.
»Wie war’s heute in der Klinik?«, erkundigte ich mich, bevor ich den ersten Bissen nahm. Es fühlte sich komisch an, nach so vielen Jahren nicht mehr dort zu arbeiten – auch wenn ich mich auf die neue Stelle in München freute. Endlich weniger Stunden und seltener Nachtschichten.
»Wie üblich.« Meine Freundin zuckte mit den Schultern. Ihre mittelblonden langen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten auf den Kopf gebunden. Ganz ähnlich wie auch ich an den meisten Tagen mit meinen braunen Haaren verfuhr. Bei der Arbeit waren sie offen einfach im Weg.
»Und wie macht sich Irina?«, fragte ich. Irina war meine Nachfolgerin auf der Intensivstation.
»Sie fügt sich gut ein, aber …« Janine seufzte. »Die Wahrheit ist, dass ich dich jetzt schon arg vermisse. Und nun ist auch noch der Tag gekommen, an dem du wegziehst. Verdammt weit weg.«
»Hey, der ICE benötigt nur sechseinhalb Stunden nach München. Das ist kaum anders, als wäre ich an den Stadtrand gezogen.«
»Sehr witzig.« Sie zog eine Grimasse. »Aber du hast recht, ich will den letzten Abend mit dir kein Trübsal blasen, sondern genießen.« Lächelnd hob sie ihr Glas.
In der nächsten Stunde tranken wir Wein und quatschten über Gott und die Welt, schwelgten in Erinnerungen an alte Zeiten. Wir hatten nahezu zeitgleich vor knapp sechs Jahren im Klinikum angefangen und waren uns sofort sympathisch gewesen. Daraus war eine enge Freundschaft entstanden.
»Weißt du noch, im ersten Jahr hast du immer von deiner Ausbildung in Schleswig-Holstein geschwärmt und gesagt, dass du irgendwann am Meer wohnen willst. Und nun ziehst du nach München – viel weiter weg vom Meer geht es innerhalb Deutschlands kaum.«
»Hm«, machte ich nachdenklich. Meine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin hatte ich nach dem Abi an der Nordseeküste absolviert und das raue Klima dort geliebt, danach war ich aber wieder in meine Heimatregion zurückgegangen. »Ach, das ist ewig her.«
»Stimmt, aber ist es heute immer noch ein Traum von dir?«
»Puh, keine Ahnung. Da habe ich lange Zeit nicht mehr drüber nachgedacht, also lautet die Antwort wohl: Nein, meine Träume haben sich geändert.« Die Sehnsucht nach dem Meer war mit den Jahren verblasst.
»Ich bin gespannt, wie es dir in Bayern gefällt. Und ich bin mir sicher, Markus macht dir bald einen Antrag. Hach, ich werde nie vergessen, wie er jeden Tag in der Klinik aufgetaucht ist, nur um dich zu sehen!«
Ich lächelte. Das fühlte sich an, als sei es eine Ewigkeit her – länger als die vier Jahre, die es in Wirklichkeit waren. Ob er wohl schon mal darüber nachgedacht hatte, mir einen Antrag zu machen? Und wollte ich überhaupt heiraten? Ich war keine dieser Frauen, die mit achtzehn schon wussten, wie ihr Hochzeitskleid mal aussehen sollte. Ich schob den Gedanken fort und besann mich auf den bevorstehenden Umzug nach München, alles andere würde sich ergeben.
»Markus ist zumindest hellauf begeistert von der Stadt, er hat sich problemlos eingelebt.« Er war vor drei Monaten schon hingezogen, um seinen neuen Job in der Verwaltung von BMW anzutreten. Wir hatten zunächst einige Wochen abgewartet, wie es ihm gefiel, und bis er eine Wohnung gefunden hatte, ehe auch ich mich nach einer Anstellung dort umgesehen hatte. Dann war alles recht schnell gegangen, und ich hatte die letzten Wochen damit verbracht, unsere gemeinsame Wohnung aufzulösen. Das allein zu wuppen war ein Kraftakt, aber Markus richtete unterdessen die Wohnung in München ein, und seiner Meinung nach war der Weg zu weit, um übers Wochenende herzukommen und mir zu helfen. Obwohl zumindest dieses Wochenende durch den Pfingstmontag einen Tag mehr hatte und es sich meines Erachtens sehr wohl gelohnt hätte. Innerlich seufzte ich, konnte aber nichts gegen das Gefühl ausrichten, dass ich mich von Markus ein wenig hängengelassen fühlte. Doch energisch schob ich es beiseite. Das sollte unseren Start in München nicht überschatten. Ich war heilfroh, dass die Zeit der Fernbeziehung ab morgen vorbei war. Markus hatte uns eine schnuckelige Dreizimmerwohnung in Haidhausen gemietet, der wir nun gemeinsam den letzten Schliff verpassen würden, um sie zu unserem Zuhause zu machen. Wer weiß, womöglich in naher Zukunft sogar für uns als Familie zu dritt. Nächstes Jahr wurde ich dreißig, definitiv ein Alter, in dem man über Kinder nachdenken konnte. Und jetzt, wo Markus mit dem Studium fertig war, wäre es auch wirtschaftlich möglich. In den letzten drei Jahren hatte ich uns quasi allein ernährt, während Markus seinen Traum vom Managementstudium verwirklichte. Aber nun konnte ich kürzertreten, weil er voll verdiente. Bei meiner neuen Stelle waren nur 30 Wochenstunden vereinbart anstatt wie hier in Münster zuletzt 40 plus Überstunden, aufgeteilt in zahllose Nachtschichten, weil die das meiste Geld brachten.
»Ans Meer könnte ich trotzdem gut mal wieder fahren, vielleicht machen wir beide mal einen Wochenendtrip nach Sylt oder so?«, schlug ich Janine vor und kehrte gedanklich ins Hier und Jetzt zurück.
»Das klingt fabelhaft. Prösterchen!«
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem leichten Dröhnen hinter den Schläfen, das wohl den zwei Flaschen Wein geschuldet war, die Janine und ich am Abend zuvor geleert hatten. Ich reckte mich ausgiebig, nachdem ich den Wecker ausgeschaltet hatte.
»Auf geht’s«, sagte ich zu mir selbst und schlug die Bettdecke zurück. Um dreizehn Uhr rückte das Umzugsunternehmen an, bis dahin musste ich die allerletzten Sachen eingepackt haben. Das Bett hatte ich bereits am Vortag auseinandergeschraubt und auf einer Matratze auf dem Fußboden übernachtet. Von Markus hatte ich gestern nichts mehr gehört, aber in seiner Instagram-Story gesehen, dass er mit einigen Kollegen im Biergarten gewesen war. Genau genommen hatte er sich die ganzen letzten Tage etwas rar gemacht. Manchmal bekam ich Angst, dass es mir nicht so leichtfallen würde wie ihm, mich in München einzuleben. Doch ich schüttelte diesen Gedanken jedes Mal ab. Durch die Arbeit im Krankenhaus würde ich sicherlich schnell neue Kontakte knüpfen.
Aber zunächst würde ich die freie Zeit genießen. Acht Wochen hatte ich nun frei – einen Großteil des Sommers. Bei der Vorstellung lachte ich fassungslos auf, so unwirklich fühlte sich das an. Ursprünglich hatte ich meinen Resturlaub früher nehmen wollen, um gemeinsam mit Markus in München nach einer Wohnung zu suchen. Aber die Personallage im Krankenhaus hatte uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Im Nachhinein freute ich mich über die daraus entstandene lange Pause bis zum Antritt des neuen Jobs.
Nachdem ich im Stehen eine Tasse Tee getrunken hatte, spülte ich sie direkt ab und packte sie in die Kiste, in der sich das restliche Geschirr befand.
Eine letzte Dusche im vertrauten Bad. Lediglich zwei Handtücher und ein kleiner Kosmetikbeutel lagen noch am Rand des Waschbeckens. Eines schlang ich mir um die nassen Haare, mit dem anderen trocknete ich mich ab, bevor ich im Anschluss den Spiegel frei wischte, der beschlagen war vom heißen Dampf. Die Wohnung in München war renoviert, und Markus hatte voller Begeisterung erzählt, dass der Spiegel beheizt war und niemand ihn mehr frei wischen musste. Wenn ich jetzt daran dachte, erfasste mich eine seltsame Wehmut, und ich wollte plötzlich keinen beheizten Spiegel, sondern weiter in unserer gemütlichen Wohnung den Dampf selbst wegwischen und mich im Anschluss darüber ärgern, dass Streifen zu sehen waren.
»Sei nicht albern, Nora«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Schließlich zog ich nicht zum ersten Mal um, außerdem war München eine tolle Stadt – und das Allerwichtigste: Markus war dort. Nach den stressigen, finanziell oftmals engen letzten Jahren, kamen nun bessere auf uns zu.
Ich zog mich an und hängte die Handtücher auf den Balkon. Die Junisonne würde sie rasch trocknen. Bisher war mir wenig Zeit geblieben, um die frühsommerlichen Temperaturen zu genießen. Aber bald … Der Umzug war der letzte Kraftakt. Mit diesem Gedanken packte ich das Bettzeug in die verbliebene leere Kiste, obendrauf kamen die Badutensilien.
Zum Mittag holte ich mir ein Croissant vom nahegelegenen Bäcker. Als ich den Schlüssel unten in die Haustür steckte, vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Umständlich fischte ich es heraus. Markus.
»Hey, mein Schatz. Ich bin eben fertig geworden, und das Umzugsunternehmen müsste jeden Moment kommen. Hattest du gestern einen schönen Abend im Biergarten?«
Mit dem Telefon zwischen Ohr und Schulter und der Bäckertüte in einer Hand, öffnete ich die Tür.
»Warst du schon beim Briefkasten?« Markus hörte sich gestresst an.
»Nein, wieso? Erwartest du was Wichtiges? Ab morgen läuft der Nachsendeantrag, aber der Vermieter schickt uns die Post zu, falls sich doch etwas hierhin verirren sollte.«
»Es ist wichtig. Versprichst du mir, sofort nach der Post zu schauen?« Seine Stimme klang nun äußerst angespannt, und ich stutzte.
»Äh, ja, ich bin eh gerade unten im Hausflur, wenn du kurz dran bleibst …«
»Nein!«, rief er, und ich zuckte angesichts der Lautstärke zusammen. Leiser fügte er hinzu: »Ich habe jetzt einen Termin und muss los.«
»Los? Ich dachte, du kannst heute im Homeoffice arbeiten?«, fragte ich irritiert, doch da drang bereits das Besetztzeichen an mein Ohr. Kurz überlegte ich, ihn zurückzurufen, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, entschied mich dann aber, zuerst zum Briefkasten zu gehen.
Als ich das blecherne, kleine Türchen aufschloss und es herunterklappte, lag dahinter genau ein Brief. Ich nahm ihn heraus.
»Merkwürdig«, murmelte ich. Er war an mich adressiert, und wenn mich nicht alles täuschte, in der Handschrift von Markus.
Noch im Hausflur, steckte ich meinen Finger unter die Lasche des Umschlages und öffnete ihn. Zum Vorschein kam eine gefaltete DIN-A4-Seite, die offensichtlich aus einem Collegeblock stammte. Der Rand war stellenweise ausgefranst, weil das Blatt nicht sauber abgetrennt worden war. Als wäre der Schreibende in Eile gewesen.
Warum schrieb Markus mir einen Brief? Das hatte er noch nie getan, höchstens mal eine liebe WhatsApp. Wollte er mir auf besondere Weise mitteilen, wie sehr er sich auf unseren Neustart in München freute? Aber auf so einem lieblos herausgerissenen Stück Papier? Ich faltete die Seite auseinander und begann zu lesen.
Liebe Nora,
es fällt mir schwer, diese Zeilen zu schreiben, das musst du mir glauben! Du bedeutest mir sehr viel, und wir hatten tolle gemeinsame Jahre, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich dich noch genug liebe.
Zunächst wollte ich warten und es in Ruhe hier mit dir besprechen. Doch ich denke, es ist am besten, wenn du erst mal nicht nach München kommst, sondern wir die Zeit, bis du im August deinen neuen Job antreten musst, nutzen, um uns über unsere Gefühle klar zu werden.
Bitte hasse mich nicht! Ich will uns beide davor bewahren, nur aus Gewohnheit mit dem anderen zusammen zu bleiben. Eine Beziehungspause wird uns sicherlich Klarheit verschaffen.
Dein Markus
»Das ist doch ein Scherz«, sagte ich zu dem Blatt Papier, während sich mein Magen anfühlte, als durchführe ich den schlimmsten Looping der Achterbahn in Dauerschleife. Verzweifelt drehte ich die Seite um, in der Hoffnung, auf der Rückseite eine Erklärung zu finden. Doch die war leer.
Gefangen zwischen Schock und Ungläubigkeit, zückte ich mit zitternden Fingern mein Handy und wählte Markus’ Nummer. Mit jedem Freizeichen, das ertönte, wurde mir klarer, dass Markus nicht der Typ für solche Scherze war. Ich schluckte, während das Herz in meiner Brust Alarm trommelte.
Als das Besetztzeichen erklang und ich aus der Leitung geworfen wurde, holte ich bebend Luft. Die Croissanttüte war mir aus der Hand gerutscht, aber das registrierte ich erst, als ich drauftrat. Wie benommen, starrte ich auf die platte Tüte meines Lieblingsbäckers und lief dann einfach weiter die Treppe hinauf, ohne sie aufzuheben. Oben angekommen, schlug ich die Wohnungstür hinter mir zu und lehnte mich von innen dagegen, versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Ich las den verdammten Zettel erneut, dabei zitterte ich so stark, dass ich mehrmals in der Zeile verrutschte. Aber die Message blieb dieselbe: eine Beziehungspause. Er war sich nicht sicher, ob er mich noch genug liebte. Was zum Teufel war in den letzten Wochen, in denen er allein in München war, geschehen? Mit einem Schlag war mir furchtbar elend zumute, aber Tränen flossen nicht. Ich schrieb es dem Schock zu. Als Krankenschwester kannte ich mich schließlich damit aus. Leuten konnte ein Bein abgetrennt werden, und sie empfanden keinen Schmerz – vorerst. Irgendwann kam er dann. Mit etwas Glück sorgten zwar schon Medikamente für Linderung, doch gegen Herzschmerz brachte das alles nichts.
Die Klingel schrillte in der stillen Wohnung, und ich zuckte zusammen, sprang vor Schreck einen Satz in den Raum hinein.
Das Umzugsunternehmen! Was sollte ich denn jetzt machen? Panisch wählte ich noch einmal Markus’ Nummer und schickte parallel eine WhatsApp mit den Worten:
GEHSOFORTRAN!!!
Zu meinem Erstaunen las er die Textnachricht umgehend, aber statt ans Telefon zu gehen, tippte er.
Bitte beruhige dich erst mal, dann können wir später reden. Und versuche doch, mich zu verstehen!
»Was?« Dieser Mistkerl! Der letzte Rest Hoffnung auf einen schlechten Scherz seinerseits verpuffte nach dieser Antwort, und ich schleuderte wütend mein Handy von mir. Zeitgleich schellte es erneut an der Tür. Kurz schloss ich die Augen und sammelte mich. Atmete tief ein und bebend aus. Dann betätigte ich den Summer, strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich gelöst hatte, und tackerte mir ein Lächeln aufs Gesicht, von dem ich hoffte, es sei auch als solches zu erkennen.
Ich öffnete die Wohnungstür und lauschte den schweren Schritten auf der Treppe. Ein glänzender Kopf mit spärlichen Haaren war das Erste, was ich erblickte. Hilflos sah ich dem Mann entgegen.
»Tach, wir sind von der Firma Sander und bereit für eine Ladung nach München!«, begrüßte er mich, den dicken Bauch in eine blaue Latzhose gehüllt.
»Ähm, ja – also, nein.«
»Na, was denn nun?« Er lachte. Offenbar dachte er – genau wie ich im ersten Moment – , es handelte sich um einen schlechten Scherz. Da musste ich ihn enttäuschen.
»Es hat sich kurzfristig etwas geändert. Wäre es möglich, die Sachen woandershin zu transportieren?«
Sein Lächeln schmälerte sich. »Also … Das weiß ich nicht, müsste ich mit dem Chef abklären. Wohin soll es denn stattdessen gehen?«
In meinem Kopf rotierten die Gedanken. Zu meinen Eltern? Sie lebten eine knappe Autostunde entfernt, waren aber aktuell nicht zu Hause, und ich hatte keine Ahnung, wie viel Platz in der Garage war. Mir kam eines dieser neuen Selfstorage-Lager am Stadtrand in den Sinn, bei denen es möglich war, Lagerflächen in jeder Größe zu mieten.
»Innerhalb Münsters, ins Industriegebiet.«
»Das ist aber eine deutlich kürzere Strecke. Wie gesagt, ich muss das klären.«
»Prima, machen Sie das.« Mit diesen Worten schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu und marschierte zu meinem Handy, das unsanft auf dem Parkettboden gelandet war. Als ich es aufhob, entdeckte ich, dass das Display gesprungen war. Plötzlich stiegen mir doch Tränen in die Augen, die ich blinzelnd zurückdrängte. Statt zu heulen, öffnete ich den Internetbrowser, suchte nach einem Lagerhaus und wählte die Nummer vom ersten, das mir angezeigt wurde. Beim dritten Klingeln meldete sich eine Männerstimme.
»Ich bräuchte einen Lagerplatz für zwanzig Umzugskartons und ein paar Möbel.«
»Was sind das denn für Möbel, wie viele Kubikmeter?«
Ich wollte schon erwidern, dass ich das nicht wisse, als mir einfiel, dass der LKW nach Kubikmeter gebucht worden war. Die Papiere lagen auf der Küchenanrichte. Hastig überflog ich die Zeilen der Auftragsbestätigung.
»Zwanzig.«
»Macht 195 € im Monat, ab wann?«
»Heute!«
»Oh, okay – einen Moment … Ja, da haben wir noch etwas frei.«
»Gut, dann komme ich in circa zwei bis drei Stunden.«
Nachdem ich meinen Namen und die Anschrift durchgegeben hatte, legte ich auf. Ich hatte die Adresse der hiesigen Wohnung genannt, obwohl das ab morgen streng genommen nicht mehr stimmte. Ein Schluchzer stieg in meiner Kehle hoch, den ich jedoch hinunterschluckte. Wenn ich erst einmal losheulte, würde das eine Lawine lostreten und mich mitreißen. Ich wusste gar nicht, was mir in diesem Moment mehr zu schaffen machte: die scheinbar verschwundenen Gefühle von Markus oder die Tatsache, dass er mich dadurch heimatlos gemacht hatte. Ja, das war ich jetzt: heimatlos. Ich schniefte unterdrückt und kräuselte die Nase.
»Später. Später hast du Zeit, um zu flennen, Nora. Jetzt musst du erst mal den Kram wegschaffen. Dann sehen wir weiter«, murmelte ich.
»Ähm, Frau Köhler?«, schallte es dumpf durch die geschlossene Tür.
»Ich komme!« Erneut öffnete ich mit einem aufgesetzten Lächeln und sah den Mann erwartungsvoll an.
»Tja, mein Chef war nicht begeistert, aber es wäre möglich. Die Kilometerpauschale wäre dann allerdings deutlich höher.«
»Okay. Ich notiere Ihnen die Adresse.« Eine Wahl hatte ich eh nicht. Als das geklärt war, tauchten zwei weitere Männer im Hausflur auf, die mit anpackten und im Nu mein komplettes Leben aus der Wohnung trugen. Zwischendurch hätte ich ihnen die Sachen am liebsten wieder entrissen. Doch es gab bereits einen Nachmieter für die Wohnung. Dann schoss mir durch den Kopf, dass ich irgendetwas hierbehalten musste, worauf ich heute Nacht schlafen konnte. Im letzten Moment rettete ich meine Bettdecke, ein Kissen und eine Yogamatte vor dem Abtransport, sowie eine Kiste mit Sommerklamotten und mein Kulturtäschchen.
Irgendwie überstand ich den Nachmittag. Ich fuhr mit meinem kleinen roten Opel Adam hinter dem LKW des Umzugsunternehmens her und vergewisserte mich, dass alles sorgfältig verstaut wurde. Die drei Mitarbeiter des Umzugsunternehmens ächzten in der Nachmittagssonne, während ich wie gelähmt danebenstand und zusah, nicht fähig, mich zu rühren oder zu erfassen, was da gerade passierte. Wie auf Autopilot rief ich unseren Vermieter an, erklärte, es gäbe eine Verzögerung, und fragte, ob es möglich sei, die Wohnungsübergabe zu verschieben. Da unser Mietverhältnis erst offiziell in ein paar Tagen endete, willigte er für morgen ein.
Während ich den neuen Termin vereinbarte, wurde das große gepolsterte Bettkopfteil an mir vorbeigetragen. Markus liebte das Bett. Ich fühlte mich wie dieses Möbelstück. Einst geliebt und nun aufs Abstellgleis verfrachtet.
Wie ein kleiner Trupp Ameisen trugen die Männer Karton um Karton in den Lagerraum und stapelten sie feinsäuberlich vor das Bett, bis es nicht mehr zu sehen war. So einfach war das – aus den Augen, aus dem Sinn. Mit einem bitteren Geschmack im Mund, zog ich schließlich das Rolltor herunter und verschloss mein – nein, unser – Leben dahinter. Im Anschluss leistete ich fahrig eine Unterschrift für den Transport, obwohl ich nicht einmal wusste, wie viel mich das jetzt kosten würde. Plötzlich schienen es nicht mehr unsere Kosten zu sein, sondern meine.
Ich stand im Wohnzimmer der leer geräumten Wohnung, wo einsam meine Bettdecke, eine Kiste und eine Yogamatte aneinanderlehnten, als suchten sie auf diese Weise in dem kahlen Raum Schutz. Die Emotionen des heutigen Tages prasselten auf mich nieder wie Hagelkörner. Hatte ich mich bisher vor ihnen abgeschirmt, trafen sie mich nun ungeschützt. Ich rollte die Yogamatte aus und legte mich auf dem Rücken darauf, starrte an die Decke und fühlte nichts und gleichzeitig zu viel. Mein Handy vibrierte. Ohne auf das Display zu schauen, patschte ich darauf und hielt es an mein Ohr.
»Ja«, kam es tonlos aus meinem Mund.
»Grüß di! Bist du schon in München angekommen?« Janines fröhliche Frage gab mir den Rest. Im Hintergrund vernahm ich die vertrauten Geräusche unserer Station im Krankenhaus.
Ohne etwas zu sagen, fing ich an zu schluchzen.
»Hey, was ist denn los?« Ich hörte, wie Janine eine Tür schloss und der Lärm verstummte. »Hattest du einen Unfall?«
»Nein.« Ich schlug die Augenlider nieder und legte den Unterarm darüber, versuchte, mich zu sammeln. »Dafür müsste ich ja unterwegs sein.«
»Ich verstehe nur Bahnhof, was ist los?«
»Gestern auf dem Weg zu dir ist mir eine schwarze Katze über den Weg gelaufen, und nun will Markus eine Beziehungspause und hat mir das gerade erst per Brief mitgeteilt …«, murmelte ich, aber Letzteres klang mehr nach einer Frage, ich konnte es selbst immer noch nicht glauben.
»Du machst Witze, Nora.«
»Nein, im Ernst.« Und dann sprudelten alle Ereignisse des heutigen Tages aus mir heraus. Zwischendurch rief jemand nach Janine, aber sie wimmelte ihn unwirsch ab.
»Per Brief?«, wiederholte sie schließlich. »Und du hast danach nicht nochmal mit ihm gesprochen? Warum sollte er so etwas tun, und dann so kurzfristig?«
»Ich weiß nicht. Als er nach München gegangen ist, war noch alles in Ordnung. Vielleicht hat er eine andere Frau kennengelernt«, sprach ich eine meiner Vermutungen aus.
»Das kann ich mir nicht vorstellen … und mit dieser bescheuerten Katze hat das alles auch nichts zu tun. Nun werde mir nicht noch abergläubisch, das ist mein Part. Ich komme jetzt erst mal zu dir.«
»Nein, sie brauchen dich bei der Arbeit. Ich reiß mich jetzt zusammen. Nur weiß ich nicht, was ich in den nächsten Wochen machen soll. Morgen muss ich die Wohnung abgeben und weiß noch nicht, wo ich hin soll.«
»Du kannst bei mir wohnen. Am besten holst du dir gleich den Schlüssel.«
Kurz versuchte ich es mir vorzustellen, aber die Aussicht, allein und mit Herzschmerz in Janines Wohnung zu hocken, während sie arbeitete, schien mir in diesem Moment zu deprimierend, um es in Erwägung zu ziehen. Sie deutete mein Zögern richtig.
»Oder du rufst Markus so lange an, bis er rangeht, und verlangst eine Erklärung. Eine Beziehungspause – so was Albernes, er liebt dich doch!«
Beim letzten Satz füllten sich meine Augen wieder mit Tränen. »Ich dachte, wir machen es uns schön in München und gründen in den nächsten Jahren eine Familie.«
»Ach Schätzchen … Das tut mir so leid. Warte erst mal ab, was euer Telefonat ergibt.«
»Ja, du hast recht.«
»Und wenn was ist, schreib mir, ich behalte mein Handy bei mir und rufe dann schnellstmöglich zurück.«
»Danke.«
»Lass den Kopf nicht hängen, dafür ist er viel zu hübsch.«
Trotz des Tränenschleiers verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. »Ich versuche es.«
Wir beendeten das Telefonat, und ich wählte die Nummer von Markus. Überraschenderweise ging er nach dem vierten Klingeln ran.
»Hallo Nora.« Er klang erschöpft, und ich fragte mich, wovon.
Mir lagen so unendliche viele Fragen auf dem Herzen, und doch suchte ich vergeblich nach einem Anfang.
»Hallo Markus«, erwiderte ich deshalb lediglich, danach herrschte erst mal Schweigen zwischen Münster und München.
»Hör zu, es tut mir wahnsinnig leid.«
»Du meinst es also ernst?« Erneute Stille, in der ich seinen Atem hörte, der das Mikro des Handys streifte. »Was ist denn bloß los? Ich verstehe das alles nicht. Wir sind doch glücklich.« Leider konnte ich ein Schniefen zwischen den Sätzen nicht verhindern.
»Das dachte ich auch, und du bedeutest mir sehr viel, das musst du mir glauben! Doch mit dem Abstand der letzten Wochen kamen plötzlich Zweifel auf.«
»Aber dann hattest du schon Zeit, dir Gedanken darüber zu machen, wozu also noch eine Beziehungspause?«, entgegnete ich trotzig und verletzt.
»Das ist doch nicht dasselbe. Schließlich waren wir noch zusammen.«
»Und jetzt nicht mehr?« Diese Frage verließ meine Lippen eher panisch.
»Doch! Oder – ach, ich weiß nicht. Wir legen einfach eine Pause ein, um zu sehen, wie es sich anfühlt, wenn wir nicht mehr zusammen sind, um uns ganz sicher zu sein.«
Ich runzelte die Stirn. Das klang, als wolle er die Trennung – aber mit Sicherheitsnetz. Außerdem – ich war mir sicher!
»Hast du eine andere kennengelernt?«, fragte ich geradeheraus.
»Nein, Quatsch! Ich weiß nur nicht, ob ich dich noch genügend liebe für ein … Für immer.«
»Und das teilst du mir per Brief mit und dann auch noch am Tag des Umzugs?«, spuckte ich nun bitter in das Handy. Wut und Traurigkeit rangen in mir um die Oberhand.
»Komm, Nora, du weißt selbst, was es für einen riesigen Streit gegeben hätte, wenn ich es dir am Telefon gesagt hätte, du reagierst immer so über die Maßen emotional, und per WhatsApp erschien es mir zu stillos, da habe ich meine Gefühle eben zu Papier gebracht.«
Auf eine zerfledderte Collegeblockseite und dabei auf meine Gefühle geschissen, dachte ich wütend. Er hätte seinen Allerwertesten auch über das lange Wochenende hierherbewegen können, um es mir ins Gesicht zu sagen.
»Nun gib uns doch die acht Wochen Zeit, um uns über unsere Gefühle im Klaren zu werden.«
»Ich bin mir meiner Gefühle sicher!«
»Nora …«
Wie ich es hasste, wenn er in diesem Tonfall meinen Namen sagte, als sei ich ein ungezogenes Kind! Ein Teil von mir wollte ihn anschreien und ihm mitteilen, er könne sich seine Beziehungspause sonst wo hinschieben. Doch das wäre tatsächlich nicht sehr rational gewesen. Daher atmete ich nur geräuschvoll ein.
»Schön, du lässt mir ja offenbar keine Wahl. Die ganzen acht Wochen?«
»Schauen wir einfach mal, okay? Ich melde mich bei dir.«
»Ist dir eigentlich klar, dass ich durch diese Aktion von dir all unsere Sachen kurzfristig zwischenlagern musste? Dass ich keine Wohnung mehr habe?«
»Der Brief war länger als üblich unterwegs. Er hätte schon Ende letzter Woche ankommen sollen. Du kannst doch zu deinen Eltern fahren! Es tut mir leid, wie oft soll ich das noch sagen? Hättest du denn gewollt, dass ich nichts sage?«
Nein, dachte ich, ich hätte gewollt, dass du mich weiter liebst. Mit jeder Minute, die dieses Gespräch andauerte, verkrampfte sich mein Herz mehr, und ich wusste, dass ich jeden Moment haltlos anfangen würde zu heulen, ihn anflehen würde, mich bitte nach München kommen zu lassen. Doch das wollte ich unter keinen Umständen.
»Gut, Markus, ich muss jetzt auflegen«, sagte ich hölzern und drückte ihn weg.
Regungslos lag ich mitten im Wohnzimmer und war damit beschäftigt, ein- und auszuatmen, während die Tränen über meine Wangen auf die Yogamatte tropften.
Als es draußen dämmerte, kamen keine mehr. Die Tränenkanäle waren versiegt. Die Stille in der Wohnung schien hingegen zunehmend lauter zu werden. Ich ergriff mein Handy, scrollte ohne einen Plan durch die Kontakte.
Meine Eltern lebten eine Dreiviertelstunde entfernt, aber erstens waren sie gerade in Florida, wo sie meinen Bruder besuchten, und so würde ich dort ebenfalls in einem verlassenen Haus hocken, und zweitens: Wer wollte schon bei Liebeskummer mit 29 zurück zu seinen Eltern flüchten und sich mit gut gemeinten, aber einer anderen Generation entstammenden Ratschlägen überschütten lassen? Damit schied ein spontaner Trip nach Florida ebenfalls aus. Zudem flog ich nicht sonderlich gern, schon gar nicht allein. Markus hatte versprochen, dass wir im nächsten Frühjahr gemeinsam meinen Bruder besuchen würden. Das sei eh die beste Jahreszeit dafür, hatte er beschlossen – und ich hatte nachgegeben, wie üblich. Nun ärgerte ich mich darüber, womöglich hätte uns eine gemeinsame Reise gut getan. Meine Tränenkanäle drohten erneut von einer Flut überschwemmt zu werden.
Ich blinzelte und schaute auf die Uhrzeit. Janine hatte bald Feierabend. Plötzlich war ich mir sicher, die Nacht in den leeren Räumen allein nicht zu überstehen. Ich schickte ihr eine Nachricht, dass ich es mir anders überlegt hätte, und rappelte mich auf. Stopfte das Nötigste in eine Umhängetasche und verließ die Wohnung.
Als ich wenig später auf Janines Couch hockte und in ihr erschöpftes Gesicht sah, war ich mir nicht mehr sicher, ob es richtig gewesen war herzukommen.
»Du bist bestimmt müde«, sprach ich das Offensichtliche aus.
Sie winkte ab. »Sofort kann ich nach der Spätschicht eh nicht schlafen, ich muss immer erst mal runterkommen, wenn ich hier bin.« Sie lächelte und lehnte sich auf dem gegenüberliegenden Sessel zurück. »Wie war euer Telefonat?«
Ich berichtete ihr, wie es gelaufen war. »Ich verstehe das einfach nicht«, schloss ich.
»Nachdem du es mir erzählt hast, habe ich auch viel darüber nachgedacht. Womöglich hat er nur so etwas wie Torschlusspanik bekommen, weil er insgeheim weiß, dass euch der nächste Schritt bevorsteht«, versuchte Janine, eine Erklärung zu finden.
Ich runzelte die Stirn. Das klang für mich nicht logisch.
»Ich kenne euch. Markus liebt dich. Er war sofort vernarrt in dich, als er damals seinen Onkel auf der Station besucht hat.«
Ein träges Lächeln erschien bei der Erinnerung auf meinen Lippen. Glücklicherweise blieb sein Verwandter nur für 24 Stunden zur Beobachtung auf der Intensivstation, doch als er danach auf die normale verlegt wurde, schaute Markus weiterhin bei mir vorbei, bis er mich schließlich einige Tage später zu einem Date einlud.
Auf den allerersten Blick war er nicht mein Typ. Etwas zu schmal, zu blond – aber seine Beharrlichkeit hatte mir geschmeichelt, und letztlich hatte ich mich in ihn verliebt.
Janine gähnte unterdrückt.
»Danke, dass ich bei dir unterschlüpfen darf.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Sie stand auf und holte mir eine Decke und ein Kissen, legte beides an ein Ende des Sofas und setzte sich neben mich.
»Komm mal her!« Entschlossen zog sie mich in ihre Arme. Ich atmete zittrig ein und legte mein Kinn auf ihre Schulter.
»Es tut so weh! Als hätte mir jemand in den Bauch geboxt, und ich kämpfe verzweifelt um Luft zum Atmen.«
Janine rieb mir über den Rücken.
»Was mache ich denn jetzt nur?«
Sie rückte von mir ab, hielt mich an den Schultern, eine Armeslänge entfernt. »Erst mal bleibst du hier, wartest ein paar Tage ab, dann regelt sich das bestimmt von allein.«
»Und was ist, wenn nicht?« Ich kam mir vor wie ein ungeliebtes Fitnessgerät, das man in die Abstellkammer stellte, ehe man sich irgendwann entschied, sich seiner ganz zu entledigen. Gleichzeitig wünschte ich mir nichts sehnlicher, als von Markus in den Arm genommen und getröstet zu werden. Das war ein furchtbares Gefühl: wütend und enttäuscht zu sein und sich zugleich Trost von ihm zu wünschen. Erschöpft rieb ich mir über die Augen.
»Versuche zu schlafen, und morgen sehen wir weiter.«
Ich nickte, obwohl ich ahnte, dass ich trotz der Müdigkeit kein Auge zubekommen würde.
Janine stand schon im Türrahmen zum Flur, als ich sagte: »Vielleicht sollte ich die Zeit nutzen, und etwas nur für mich zu tun. Das habe ich lange nicht mehr gemacht. Ans Meer fahren zum Beispiel.« Der Gedanke war mir spontan gekommen, sicherlich weil Janine gestern meine alte Sehnsucht angesprochen hatte. »Oder etwas völlig Verrücktes.«
»Etwas Verrücktes?« Janine zog skeptisch ihre Augenbrauen zusammen. »Ich würde an deiner Stelle erst mal abwarten und nichts überstürzen.« Sie lächelte. »Gute Nacht.«
»Schlaf gut.«
Ich breitete die Decke aus und legte mich, angezogen wie ich war, darunter. Eine Stunde lang starrte ich die Wohnzimmerdecke an. Mein Körper war erschöpft vom Umzug, vom Schock, vom Weinen, mein Geist jedoch war hellwach und unruhig. Markus hatte mich mit dieser ganzen Aktion tief verletzt, und neben dem Wunsch, dass alles wieder in Ordnung käme, gab es auch einen kleinen Teil in mir, der fand, dass er damit einen Schritt zu weit gegangen war.
Um drei Uhr in der Nacht wurden mir zwei Dinge klar: Ich konnte unmöglich wochenlang hier ausharren und jeden Tag auf einen Anruf von ihm hoffen. Und ich musste mich ablenken, raus hier aus Münster, und auf keinen Fall nach München!
Leise, um Janine nicht zu wecken, holte ich den Laptop aus meiner Tasche.
Zunächst googelte ich nach Kreuzfahrten, aber die waren alle schweineteuer. Dann überlegte ich, was Prominente in Krisenzeiten taten, und mir fiel Michael Patrick Kelly ein, der ins Kloster gegangen war. Nein, das war zu drastisch. Ich überlegte weiter … Hape Kerkeling – der war den Jakobsweg gewandert. Das würde für mich definitiv in die Kategorie »Verrücktes« fallen – immerhin hatte ich seit Monaten keinen Sport gemacht, aber es klang schon eher machbar. Vor Ewigkeiten hatte meine Mutter mal sein Buch gelesen und mir begeistert davon berichtet. Hatte ihm das nicht eine zuvor vermisste Klarheit über sein Leben verschafft? Und schließlich hatte ich mir erst kürzlich Wanderschuhe gekauft, weil Markus mir davon vorgeschwärmt hatte, wie gern er mit seinen neuen Arbeitskollegen am Wochenende in die Berge ging. Eigentlich sollte wohl eher Markus wandern gehen, damit ihm klar wurde, was er wollte, dachte ich zynisch. Während ich im Netz Erfahrungsberichte dazu las, schweiften meine Gedanken erneut zu dem, was Janine gestern gesagt hatte – über meinen Traum, ans Meer zu ziehen. Plötzlich spürte ich die verblasste Sehnsucht nach dem kühlen norddeutschen Klima wieder deutlich. Kurzentschlossen änderte ich die Google-Suche in »Wanderwege Norddeutschland« und stieß auf den Gendarmstien, oder auf Deutsch Gendarmenpfad – ein Küstenweg in Dänemark. Der Startpunkt befand sich nah an der deutschen Stadt Flensburg an der Ostseeküste von Schleswig-Holstein.
Ich kannte den Ort, weil meine Freundin Lara dort lebte, die mit mir gemeinsam die Ausbildung gemacht hatte. Ich hatte sie ewig nicht gesehen, aber wir hatten über all die Jahre lose den Kontakt gehalten.
Nach und nach formte sich alles in meinem Kopf zu einem Plan zusammen. Ich würde Lara besuchen, wandern gehen – meine Gedanken sortieren. Und wenn ich Glück hatte, würde Markus sich melden, bevor ich die letzte Etappe erreichte. Der Jakobsweg war eh eine Nummer zu groß für mich, schließlich war ich noch nie ernsthaft gewandert. Aber der Gendarmenpfad hatte nur fünf Etappen und war circa 80 Kilometer lang. Ein Jakobsweg für Anfänger sozusagen. Und dazu führten weite Teile direkt am Meer entlang. Perfekt! Zum ersten Mal, seit ich den Brief gelesen hatte und mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden war, fühlte es sich an, als bekäme ich etwas zu fassen, das mir Halt gab.
Noch in der Nacht schrieb ich Lara eine Mail und erstellte eine Liste mit Dingen, die ich benötigte. Meine Wanderschuhe waren zum Glück in dem Karton mit den Sommerklamotten, der im verlassenen Wohnzimmer stand. Entlang des Gendarmenpfads befanden sich zahlreiche Rast- und Zeltplätze für Wanderer, auf denen man umsonst übernachten konnte. Viele hatten kleine Holzunterstände, sodass ich kein Zelt benötigte.
Endlich würde ich wieder das Meer sehen! Zwar konnte diese Aussicht nicht den Schmerz vertreiben, aber sie lenkte mich zumindest ab. Mit diesem Plan vor Augen, fühlte ich mich etwas weniger hilflos, und eine Stunde später schlief ich mit dem Laptop auf dem Bauch ein.
»Du willst was?« Janine blickte mich am nächsten Morgen erstaunt über ihren Kaffeebecher hinweg an. »Ich glaube, du übereilst das. Willst du nicht noch einige Nächte darüber schlafen?«
Energisch schüttelte ich den Kopf, mein nachlässig gebundener Haarknoten drohte dabei, sich aufzulösen.
»Ich werde hier nicht auf Abruf sitzen und mich jede Stunde fragen, wann er sich meldet.«
»Aber wir können doch auch hier gemeinsam etwas unternehmen.«
»Die Wohnung ist aufgelöst, alles ist gepackt, ich war auf dem Sprung in ein neues Leben. Und nun hat Markus mich zurückgeschubst. Ich weiß überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Ich denke, es wird mir guttun, rauszukommen. Hier drehen sich meine Gedanken nur im Kreis.«
Janine seufzte. »Nur du weißt, was sich richtig für dich anfühlt.« Doch ich sah ihr an, dass sie an meinem Plan zweifelte.
Zwei Stunden später verabschiedete ich mich von ihr. Trotz Janines offensichtlichen Zweifeln war ich mir seltsamerweise sicher, genau das Richtige zu tun. Lediglich eine leise innere Stimme flüsterte, ob es sich nicht doch eher um eine Art Flucht handelte. Ich war in meinen neunundzwanzig Lebensjahren nie allein vereist, geschweige denn gewandert. Aber ich war auch noch nie zu einer Beziehungspause verdonnert worden.
Als ich mittags in einem Outdoorladen meine Ausrüstung um einen großen Rucksack, einen Schlafsack und einige weitere Gegenstände ergänzt hatte, hielt ich an der Kasse seufzend meine Karte vor das Lesegerät. Die letzten Jahre hatte ich nicht viel sparen können, und das Wenige, das ich zur Seite gelegt hatte, war eigentlich für die Einrichtung der Wohnung in München und für Flugtickets nach Florida im nächsten Jahr gedacht gewesen. Nicht drüber nachdenken! Sobald ich in München anfing und wir beide gut verdienten, konnte ich mein Sparkonto ja wieder auffüllen. Wenn … Ja, wenn Markus nicht …
Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern griff nach meiner neuen Ausrüstung, lächelte der Verkäuferin zu und lief anschließend zur Tür hinaus.
Kurz vor dem Auto piepte mein Handy, mein Herz hüpfte in der Hoffnung, es sei Markus. Aber es war eine Nachricht von Lara. Sie freue sich darauf, mich zu sehen, doch sie sei erst morgen wieder zurück in Flensburg, da sie gerade unterwegs war, um neue Ware für ihren Laden einzukaufen. Lara arbeitete seit einer Weile nicht mehr als Krankenschwester, sondern hatte gemeinsam mit ihrer Schwester Linn ein Geschäft mit Vintagemöbeln und Dekoartikeln eröffnet.
Ich schrieb ihr zurück, dass das kein Problem sei, ich würde erst eine knappe Woche wandern gehen und sie im Anschluss besuchen. Vielleicht wusste ich dann auch schon, was ich die restliche Zeit bis zum Antritt meiner Stelle machen sollte, für den schlimmsten Fall, dass Markus sich bis dahin nicht gemeldet hatte. Diese Möglichkeit verursachte ein ungutes Gefühl in meinem Magen, das sich nach aufsteigender Panik anfühlte. Ich gab mein Bestes, um es zu verdrängen, und klammerte mich stattdessen an die Aussicht, Lara bald wiederzusehen und endlich ihren Laden in Augenschein nehmen zu können.
Zurück in unserer alten Wohnung, war dieser leichtere Moment jedoch rasch verflogen, und das beklemmende Gefühl in den leeren Räumen bestärkte mich in der Entscheidung, ans Meer zu fahren. Hier würde mir ständig die Decke auf den Kopf fallen. Ich schaffte den letzten Karton gemeinsam mit meinen restlichen Habseligkeiten ins Auto. Pünktlich zur vereinbarten Uhrzeit kam der Vermieter zur Wohnungsübergabe, und er hatte nichts zu beanstanden. Zumindest eine Sache, die glattlief.
Mein Aktionismus hatte bisher die meiste Zeit verhindert, dass ich mich intensiv mit der Lage auseinandersetzte, in die ich ungewollt geraten war. Erst als mein Vermieter mir zum Abschluss alles Gute für den Neustart in München wünschte und ich kurz darauf mein kleines Auto über die Autobahn jagte – aber nicht in Richtung Süden, sondern gen Norden – , wuchs das mulmige Gefühl in mir. Und meine Gedanken hatten Zeit, sich ausgiebig mit den Geschehnissen zu beschäftigen.
Da half es nur bedingt, das Radio lauter zu drehen und trotzig aus vollem Hals den Song »Alright« von Alle Farben mitzusingen. Dennoch schmetterte ich: »I’ll be alright, it’s gonna hurt me for a while but I’ll be fine, I might go crazy and I fall into the night …«
Dann klingelte das Handy über die Freisprechanlage, und ich drehte leiser, um keinen Hörsturz zu erleiden. Meine Mutter. Fast war ich geneigt, die Augen kurz zu schließen, doch das war natürlich auf der Autobahn eher unangebracht. Daher begnügte ich mich damit, geräuschvoll die Luft auszustoßen.
»Hey Mama«, sagte ich möglichst fröhlich, nachdem ich das Gespräch angenommen hatte.
»Nora, Mäuschen. Bist du gut in München angekommen? Du hast dich noch gar nicht gemeldet.«
Meine Eltern liebten Markus, und meine Mutter redete schon seit einer Weile ständig von Enkelkindern. Innerhalb von Sekunden wog ich ab und entschied, dass ich ihr nichts von der Beziehungspause erzählen würde. Warum sollte ich sie aufregen, wenn möglicherweise in zwei Wochen alles wieder beim Alten war?
»Ja, bin ich«, log ich daher. Zum Glück konnte sie mein Gesicht dabei nicht sehen. »Und ihr? Wie ist es in den Staaten?«
»Heiß, zumindest hier, aber Florida ist sehenswert. Morgen fahren wir nach Cape Canaveral, das ist da, wo die Raketen starten.«
»Freut mich, dass ihr eine gute Zeit habt.«
»Bist du im Auto unterwegs?«
»Jup … wir sind auf dem Weg zu Ikea.«
»Ach, dann ist Markus mit im Wagen. Huhu Markus!«
»Habe ich wir gesagt?« Gekünstelt lachte ich auf. »Ich meinte, ich bin auf dem Weg, Markus baut derweil Möbel auf.«
Ich hatte meine Mutter in meinem Leben noch nicht häufig angelogen, nicht mal als Teenager. Im Vergleich zu meinem knapp drei Jahre älteren Bruder Nico war ich eher ein Lamm gewesen. Auch jetzt bereitete es mir Unbehagen.
»Wie wohnt Nico denn dort?«, lenkte ich das Thema erneut von mir fort. Mein Bruder war kürzlich von einer Wohnung in ein Haus umgezogen.
»Direkt am Wasser, herrlich. Aber dafür schuftet er auch vierzehn Stunden am Tag. Wir haben noch nicht viel von ihm gehabt. Na ja, du und Markus, ihr müsst unbedingt bald mal rüberfliegen.«
Mein Bruder hatte vor einigen Jahren in Deutschland alles aufgegeben, als er in der Lotterie eine Greencard gewann, und hatte in Florida sein Business aufgezogen. Einen Burgerladen – klang abgedroschen, aber er war so unglaublich erfolgreich damit, dass er sich mittlerweile sogar ein Haus direkt am Wasser leisten konnte. Leider lastete nun der ganze Erwartungsdruck für erreichbare Enkel auf mir. Das hatte ich bemerkt, als ich verkündete, dass Markus und ich nach München ziehen würden.
Aber dann seid ihr so weit weg, und ich sehe eure Kinder nur ein paar Mal im Jahr! Dein Bruder ist doch auch schon so weit fort …
Doreen, hatte mein Vater liebevoll gemahnt. Die Kinder müssen doch ihr eigenes Leben leben.
»Das klingt schön«, sagte ich, in Gedanken versunken. Wieder ärgerte ich mich, nicht ernsthaft in Erwägung gezogen zu haben, in den freien Wochen meinen Bruder zu besuchen. Aber Markus hatte so kurz nach Antritt der neuen Stelle eine Urlaubssperre, und ich hatte ja vorgehabt, die Zeit mit ihm zu verbringen und zu nutzen, um München kennenzulernen. Wieder hatte ich mich nach Markus gerichtet – und was hatte ich jetzt davon?
Ich seufzte leise. »Grüß ihn und Papa ganz lieb von mir. Ich vermisse euch.«
»Alles in Ordnung?« Die feinen Antennen meiner Mutter schienen anzuschlagen.