Sonnenküsse - Svenja Lassen - E-Book
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Sonnenküsse E-Book

Svenja Lassen

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Beschreibung

Das Meer erfüllt alle Träume ... auch jene, die man nicht zu träumen wagte

Als Aline im Nachlass ihrer verstorbenen Mutter Liebesbriefe eines gewissen »J« findet, ist sie sich sicher: Das muss ihr Vater sein, den sie nie kennengelernt hat! Sie beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen und den Mann zu suchen. Die Adresse führt sie nach Flensburg zu einer kleinen Brauerei, die einem Jens Martens gehört. Den trifft sie zwar dort nicht an, läuft aber seinem jungen Braumeister Tom in die Arme. Der allerdings packt seinen anfänglichen Charme sehr schnell wieder ein, als er Aline beim Schnüffeln erwischt – dabei will sie doch nur herausfinden, ob Jens Martens der geheimnisvolle Briefeschreiber und damit ihr Vater ist ...

Träumen, lachen, lieben, einfach wohlfühlen! In ihrem atmosphärischen Sommerroman »Sonnenküsse« entführt Bestsellerautorin Svenja Lassen an die idyllische Ostseeküste an der Flensburger Förde.

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Seitenzahl: 349

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Buch

Als Aline im Nachlass ihrer verstorbenen Mutter Liebesbriefe eines gewissen »J« findet, ist sie sich sicher: Das muss ihr Vater sein, den sie nie kennengelernt hat! Sie beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen und den Mann zu suchen. Die Adresse führt sie nach Flensburg zu einer kleinen Brauerei, die einem Jens Martens gehört. Den trifft sie zwar dort nicht an, läuft aber seinem jungen Braumeister Tom in die Arme. Der allerdings packt seinen anfänglichen Charme sehr schnell wieder ein, als er Aline beim Schnüffeln erwischt – dabei will sie doch nur herausfinden, ob Jens Martens der geheimnisvolle Briefeschreiber und damit ihr Vater ist …

Autorin

Svenja Lassen lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn im schönen Schleswig-Holstein, dem Land zwischen Nord- und Ostsee. Am glücklichsten ist sie mit einer Brise Seeluft im Haar und Strandsand unter den Füßen. Ihre Leidenschaft für Bücher entdeckte sie bereits als Kind, seit 2016 kam aber auch die Liebe für das Schreiben eigener Geschichten hinzu. Inzwischen begeistert sie mit ihren romantischen und humorvollen Wohlfühlromanen zahlreiche Leserinnen und Leser und stürmt mit ihren Büchern die Bestsellerlisten.

Weitere Informationen unter: www.svenjalassen.de

Von Svenja Lassen bei Blanvalet

Meer Momente wie dieser

Meer Liebe im Herzen

Muschelträume (Küstenliebe 1)

Sonnenküsse (Küstenliebe 2)

Seesterntage (Küstenliebe 3)

Strandversprechen (Küstenliebe 4)

Svenja Lassen

Sonnenküsse

Roman

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Originalausgabe 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2023 by Svenja Lassen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung und -motive: www.buerosued.de

Karte: www.buerosued.de

WR · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-30013-5V002

www.blanvalet.de

Kapitel 1

Die Mittagssonne schien brennend auf die Straßen von Bochum herab. Der Asphalt flimmerte, und das Thermometer kletterte wie auch an den letzten Tagen über die Fünfunddreißig-Grad-Marke. Ein Blick auf den Kalender sagte mir, dass heute der 1. August war. In einem anderen Sommer, oder in einem anderen Leben, hätte ich diese Tage an der Ruhr oder im Stadtpark genossen. Doch von der Hitze draußen bekam ich nur durch die Berichte im Fernsehen etwas mit und durch die warme Luft, die durch die gekippten Fenster strömte. Meine Haut war so blass wie noch nie. Trotz meiner roten Haare und des hellen Teints hatte ich sonst immer zumindest eine leichte Bräune, doch in diesem Jahr war alles anders. Der Sommer war bisher an mir vorbeigezogen wie ein Film, bei dem ich nur zusah, aber kein Teil der Handlung war.

Ich klappte die lederne Mappe mit den Dokumenten zu. In den letzten zwei Monaten hatte ich alle Papiere meiner Mutter auf der Suche nach Hinweisen unzählige Male durchgesehen. Hinweise, die ich nicht fand, weil es sie nicht gab, und dennoch hatte ich immer und immer wieder von neuem begonnen. Am häufigsten hatte ich mir meine Geburtsurkunde angesehen. Ein simples DIN-A5-Blatt, leicht vergilbt.

Aline RäuberGeboren am 28. April 1994 in BochumMutter: Margit RäuberVater: unbekannt

Die Daten waren mir natürlich bekannt gewesen. Doch es war das einzige Dokument mit einem Vermerk zu meinem Vater. Und dieses »unbekannt« sagte mir, dass meine Mutter mir die Wahrheit erzählt hatte, während die Worte meiner Tante, die mir noch in den Ohren klangen, etwas anderes behaupteten.

Mittlerweile konnte ich den Stempel und die Unterschrift des Standesbeamten auf der Urkunde mit geschlossenen Augen nachzeichnen. Ich musste damit aufhören. Seufzend legte ich die Mappe mit den Unterlagen in einen Karton mit Dingen, die ich behalten wollte, riss den Blick von dem dunkelbraunen Ledereinband los und schaute mich im Wohnzimmer unserer Dreizimmerwohnung um. Zum Beginn meines Studiums in Stuttgart war ich ausgezogen, aber vor gut eineinhalb Jahren schließlich wieder zurückgekommen. Mit der Hoffnung, gemeinsam würden wir den Kampf gewinnen können.

Die Beerdigung meiner Mutter war nun acht Wochen her, und dennoch lockerte die Trauer ihren Griff um mein Herz nur zögerlich. Es war, als wagte ich stets nur flach zu atmen, aus Angst, beim ersten tiefen Atemzug würde der stechende Schmerz wieder einsetzen. Obwohl ich in den letzten Tagen ihres Lebens begriffen hatte, dass das Sterben für sie nach dem Aufbäumen gegen die zehrende Krankheit eine Erlösung war, machte es das nicht leichter für mich. Meine Mutter war alles, was ich hatte. Bis auf Tante Karin. Wenn ich jedoch an das überraschende Auftauchen der älteren Schwester meiner Mutter bei der Beisetzung dachte, konnte ich nur ungläubig den Kopf schütteln. Trotzdem schweiften meine Gedanken immer wieder dorthin. Nahezu pausenlos.

Mein linker Fuß kribbelte, als ich aufstand. Ich schüttelte ihn aus und versuchte gleichzeitig, die Gedanken loszuwerden. Ziellos begann ich im Anschluss, Schubladen und Schranktüren zu öffnen. Zwei weitere Monate hatte ich Zeit, bis ich aus der Wohnung rausmusste. In den ersten Wochen nach der Beerdigung hatte ich schlichtweg vergessen, sie zeitnah zu kündigen. Es gab so viel zu organisieren und zu bewältigen … Mamas Tod war nicht überraschend gekommen, doch wer alles darüber informiert werden musste, schon. Versicherungen, die Bank und gefühlt ein Dutzend weitere Stellen. Geräuschvoll stieß ich einen Schwall Luft aus.

Nach den Kosten für die Beerdigung reichte der Rest der kleinen Lebensversicherung meiner Mutter gerade so, um die noch anstehenden Mietzahlungen abzudecken. Das gab mir ein wenig Zeit, bis ich entscheiden musste, wie es für mich weiterging. In der Wohnung bleiben wollte ich nicht. Sie war zu groß und zu teuer, und der Geruch nach Krankheit, Leid und Traurigkeit würde immer zwischen den Wänden wabern. Als ich im vorletzten Herbst die Entscheidung traf zurückzukommen, um meiner Mutter beizustehen, lebte ich schon einige Jahre in Stuttgart. Durch das Studium hatte ich dort einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut und war nach dem Abschluss einfach dortgeblieben. In meinem Job – ich war Illustratorin – musste man nicht zwangsläufig in derselben Stadt leben wie die Auftraggeber. Daher hatte ich zuerst auch gedacht, von hier aus weiterarbeiten zu können, aber statt ein wenig Unterstützung benötigte meine Mutter schon bald mehr und mehr Hilfe, und meinen letzten Auftrag, die Illustrationen eines Kinderbuchs, brach ich schließlich sogar ab. Was für den Verlag eine Verschiebung des Erscheinungstermins bedeutete – noch heute war mir das unangenehm. Doch es gab Wichtigeres im Leben als verpatzte Jobs. Und wie sollte man Kinderbuchfiguren zum Leben erwecken, während man sich die ganze Zeit fragte, wie lange die eigene Mutter noch leben würde? Ich konnte das nicht.

Ich schob die Utensilien für meinen Shop beiseite, die im Wohnzimmer herumstanden. Aus der Not hatte ich vor einem Jahr einen Etsy-Shop eröffnet, in dem ich Linoleumdrucke verkaufte. In der Zeit der Pandemie hatten noch mehr Leute als üblich online gekauft, und es war ganz gut gelaufen. Aber auch dort fegten seit Wochen die Wollmäuse durch die virtuellen Regale, weil ich den Shop in letzter Zeit vernachlässigt hatte.

Ich presste die Lippen aufeinander. Ich hatte das Gefühl, je mehr ich sortierte, desto größer wurde das Chaos. Wie sollte ich das ganze Leben meiner Mutter sortieren – quasi auflösen?

Als Nächstes lief ich in den kleinen Wohnungsflur und schaute in die Schublade der Kommode, in der die bunten Kopftücher meiner Mutter, die sie nach der Chemotherapie getragen hatte, zusammengefaltet übereinanderlagen. Die könnte ich dem Krankenhaus spenden. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, ich schluckte und blinzelte. Es war schlimm genug gewesen, ihre Sachen zu durchwühlen auf der Suche nach Anhaltspunkten, dass an Karins Story etwas dran war. Nun zu entscheiden, was ich behalten sollte und was nicht, war noch deutlich härter.

Es klopfte an der Tür, und ich schob die Schublade wieder zu. Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich mir über die Wangen und öffnete anschließend. Nadia, die nur wenige Jahre älter war als ich und in der Wohnung über uns wohnte, stand mit ihrer Tochter Bea an der Hand im Flur. Ihr Bauch wölbte sich unter dem lockeren T-Shirt und verriet, dass Bea im Herbst ein Geschwisterchen bekommen würde.

»Hallo, ihr zwei«, sagte ich bemüht fröhlich. Meine Stimme fühlte sich rau an und klang eingerostet. In den Tagen nach Mamas Tod hatte ich zu viel reden müssen, doch seitdem zu wenig. Nadia und ich waren, kurz nachdem ich bei meiner Mutter eingezogen war, im Hausflur ins Quatschen gekommen. In den vergangenen Monaten war sie mit meiner Sandkastenfreundin Anni einer der letzten sozialen Kontakte, die mir geblieben waren. Meine Freunde aus Stuttgart hatten sich immer seltener gemeldet, und zur Beerdigung waren nur Karten gekommen. Irgendwie verstand ich, dass sie nicht wussten, wie sie mit meiner Situation umgehen sollten. Doch das wusste ich auch nicht, allerdings blieb mir keine Wahl. Nadia hingegen hatte als Altenpflegerin keine Berührungsängste mit Krankheiten und dem Tod, und sie hatte hin und wieder vorbeigeschaut, meistens mit Keksen oder Kuchen. Sie hatte mir so manches Mal geholfen und mir gute Tipps gegeben, als ich völlig überfordert war.

»Wir haben dir Kuchen gebacken«, verkündete Bea auch heute stolz und entlockte mir damit ein aufrichtiges Lächeln.

»Kuchen für mich? Das ist aber lieb.«

Die Kleine nickte eifrig. »Weil deine Mama jetzt im Himmel ist und du sie vermisst.«

»Bea«, sagte Nadia und lächelte mich entschuldigend an.

»Das stimmt. Ich vermisse sie sehr.«

»Kuchen macht mich glücklich. Dich bestimmt auch. Oder schaukeln, das hilft genauso.«

Nadia überreichte mir das Gebackene. »Wie geht’s dir?«, fragte sie.

Ich wog den Kopf hin und her und zog die Nase kraus. »Vielleicht sollte ich das mit dem Schaukeln mal ausprobieren.«

»Verstehe«, sagte Nadia daraufhin.

»Möchtet ihr reinkommen und mit mir ein Stück vom Kuchen essen?«

»Jaa!«, rief Bea und zog ihre Mutter an mir vorbei in unsere Wohnung. Als ich ihnen in die Küche folgte, fiel mein Blick auf die geschlossene Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter. Diesen Raum hatte ich seit ihrem Tod möglichst gemieden, und auch jetzt genügte der Anblick der Tür, dass sich ein bleischweres Gefühl in meinem Magen breitmachte.

In der Küche verdrängte Beas Geplapper die drückende Stille, die sonst über den Räumen lag.

»Malst du mir ein Pony?«, fragte sie.

»Ähm …«, sagte ich, während mein Herz zu hämmern begann. Als ich frisch hergezogen war, hatte ich Bea manchmal Tiere skizziert, die sie dann ausmalen konnte. Als Illustratorin eigentlich keine große Sache. Doch ich hatte seit vielen Monaten nichts mehr gezeichnet. Mit jedem Tag, den es meiner Mutter schlechter ging, hatte sich zunehmend etwas in mir blockiert.

Doch nun sahen mich Beas dunkelbraune Augen so erwartungsvoll an, dass ich nicht nein sagen konnte.

»Wir haben doch darüber geredet, Bea«, sagte Nadia sanft, die von meinen Schwierigkeiten wusste.

»Nein, nein, schon gut.« Entschlossen holte ich einen Notizblock, der eigentlich für Einkaufslisten gedacht war, und einen Kugelschreiber. Meine Hand verkrampfte sich, als ich die Mine auf das Papier setzte. Mit einem nervösen Lächeln schaute ich auf. In Nadias Augen las ich Sorge, in Beas nur Vorfreude.

Der Anblick der beiden rief Kindheitserinnerungen wach. Wie oft hatten meine Mutter und ich zusammen in dieser kleinen Küche gesessen! Sie hatte mir auch immer Tiere skizziert, die ich dann eifrig ausmalte, bis ich selbst welche zeichnen konnte. Ich senkte den Blick und zwang mich, den Stift zu bewegen. Die Linien wurden etwas unruhig, und ich war mir sicher, selbst im Alter von zwölf schon bessere Ponys zu Papier gebracht zu haben. Aber Bea schien zufrieden mit meiner Leistung, als ich ihr den Block rüberschob und ihr ein Mäppchen mit Buntstiften dazugab.

»Danke«, formte Nadia lautlos mit den Lippen, und ich lächelte flüchtig. »Ist deine Freundin Anni noch in den USA?«

Ich nickte. »Ja, sie bleibt noch ungefähr einen Monat. Dann war sie insgesamt drei Monate in der dortigen Geschäftsstelle.«

»Was macht sie nochmal?«

»Sie ist Programmiererin.«

»Uh, stimmt, sie ist ein Nerd.«

Ich lachte auf. »Das ist sie.« Kurz schauten wir Bea beim Ausmalen zu, ehe ich fragte: »Wie geht es dir denn? In welcher Woche bist du jetzt?« Nadias und Beas Besuche waren in den vergangenen Monaten wie ein Ausflug ins normale Leben gewesen. Wie eine Erinnerung daran, dass es da draußen noch Glück gab. Und ich glaubte, Nadia war durchaus bewusst, dass ich diese Dosis Normalität von ihr brauchte.

»In der dreißigsten. Ich sag dir, ich habe schon jetzt keine Lust mehr. Bei dem Wetter sind meine Füße aufs Doppelte angeschwollen, und ich schwitze, sobald ich nur daran denke, mich zu bewegen.«

Bea schaute auf. »Das kommt von dem Baby in Mamas Bauch.« Genervt verzog sie den Mund.

»Ich weiß, dein Bruder, nicht wahr? Freust du dich schon auf ihn?«

Ihr kleines Gesicht verdunkelte sich zusehends. »Nein. Ich wollte eine Schwester, und außerdem hat meine Freundin Emilia auch einen Babybruder, und der schreit jede Nacht.«

Ich schmunzelte. »Das wird bestimmt ganz toll mit ihm, auch wenn er manchmal weint.« Was hätte ich darum gegeben, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, egal wie nervig! Ich drängte den Gedanken beiseite, und während ich mit der Gabel ein Stück von dem Zitronenkuchen abtrennte, fragte ich Nadia, ob sie sich bereits für einen Namen entschieden hatten.

Als die beiden eine halbe Stunde später gingen, nahmen sie auch die unbeschwerte Stimmung mit, und über der Wohnung hing wieder eine dunkle und drückende Wolke.

Erneut stand ich etwas ratlos im Flur. Die letzten Monate mit meiner Mutter hatten mein ganzes Leben eingenommen, sodass ich gar nicht mehr wusste, was ich ohne sie und den Kampf gegen den Krebs tun sollte. Alles, was ich davor getan hatte, schien nicht mehr zu diesem Leben zu gehören. Ich konnte mir nicht vorstellen, nach Stuttgart zurückzukehren. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, rieb ich mir mit der anderen über die Augen. Meine Finger stießen dabei an die Ponyfransen, die viel zu lang waren. Genervt pustete ich sie nach oben.

»Na schön, fangen wir mit den Möbeln an«, sagte ich schließlich in die Stille hinein. Bevor ich wieder in meiner Trübsal versank, zückte ich mein Handy und knipste den monströsen Wohnzimmerschrank aus verschiedenen Winkeln. Den würde ich über Ebay-Kleinanzeigen verkaufen. Mein Blick huschte zu den Utensilien für den Etsy-Shop. Schon vor Wochen hatte ich alle Artikel auf »nicht verfügbar« gesetzt. Etwas, das ich dringend ändern sollte, um zumindest etwas Geld zu verdienen. Aber zuerst der Schrank. Ich legte eine Anzeige an und stellte sie kurze Zeit später online.

Das war doch leichter gewesen als gedacht. Genauso verfuhr ich mit der großen Couch.

Im Anschluss ging ich zum Zimmer meiner Mutter. Meine Hand lag auf der Klinke. Ich war am Tag der Beerdigung hier drin gewesen, nachdem Karin diese ungeheuerliche Behauptung geäußert hatte, und hatte alles durchgesehen, doch danach hatte ich mich schrecklich gefühlt und war nicht noch einmal hineingegangen.

»Mann, Aline, es sind acht Wochen vergangen, es muss jetzt irgendwie weitergehen.« Mit einem tiefen Atemzug stieß ich die Tür auf. Abgestandene Luft schlug mir entgegen. Es roch nach Krankheit, nach Verlust, aber unter all diesen Gerüchen, mit denen ich nichts Gutes verband, glaubte ich, auch den meiner Mutter wahrzunehmen.

Das Bett war noch bezogen – hatte darauf gewartet, dass sie aus dem Krankenhaus zurückkam. Bis zum letzten Tag hatte ich gehofft, wo es doch eigentlich nichts mehr zu hoffen gab. Die Pflege meiner Mutter, der Krebs – das alles hatte unsere Beziehung umgekehrt. Plötzlich war ich es gewesen, die sich kümmerte, die die Verantwortung trug. Doch jetzt, in diesem Moment, überkam mich eine riesige Welle Sehnsucht nach meiner Mama. Nach ihrem Rat, einer wohligen Umarmung, ihrem liebevollen Lächeln und der Versicherung, dass ich das schon schaffen würde.

Ich legte mich rücklings aufs Bett, zog mir ein Kissen über den Kopf, atmete tief ein und versuchte, die verbliebenen Spuren von ihr hier auf dieser Erde festzuhalten. Nach einer Weile wanderten meine Gedanken zurück zu den letzten gemeinsamen Tagen, dem letzten Moment. Doch es war zu schmerzhaft, und ich drängte das Gedankenkarussell weiter – bis es wieder bei Tante Karin und unserer Begegnung bei der Beerdigung anhielt.

Kapitel 2

Acht Wochen zuvor

Ein Trauergast nach dem anderen trat zu mir und bekundete mir sein Beileid. Mechanisch schüttelte ich die Hände, die mir entgegengestreckt wurden, doch die Gesichter verschwammen zu einer Masse aus traurigen Mienen. Freunde meiner Mutter, Arbeitskollegen von ihr, einige meiner Schulkameraden von früher – zu denen der Kontakt lange abgebrochen war oder höchstens noch alle paar Monate über Social Media erfolgte, die aber meiner Mutter die letzte Ehre erweisen wollten. Tränen flossen keine mehr an meinen Wangen hinab. Stattdessen fühlte ich mich wie eine vom Aussterben bedrohte Spezies, die von allen angegafft wurde. Ich wollte diesen Tag nur noch hinter mich bringen und endlich in Ruhe für mich allein trauern. Gerade einmal sechsundvierzig Jahre alt war Mama geworden. Das war nicht fair.

Da spürte ich, wie sich ein Arm unter meinen schob. »Komm, Aline, ich bringe dich nach Hause.«

Ich wandte den Kopf. Meine Tante Karin, sie hatte mir eben schon ihr Beileid ausgesprochen. Das letzte Mal hatte ich sie vor über elf Jahren gesehen. Damals hatten sie und meine Mutter sich riesig verkracht, und ich war überrascht gewesen, sie hier zu sehen. Ihre Haare trug sie kürzer, die Falten um ihre Augen hatten sich vertieft. Gleich geblieben waren der dick aufgetragene Lippenstift und ihr Duft nach Chanel No. 5.

»Ich bin mit unserer Nachbarin hergekommen«, sagte ich tonlos.

»Verstehe, aber ich würde gern etwas mit dir besprechen.«

»Okay«, erwiderte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Kurz hob ich den Kopf, fand Nadias Blick, nickte in Richtung meiner Tante und hoffte, dass Nadia verstand, was ich ihr damit sagen wollte.

Ich ließ mich von Karin zu einem SUV führen, mit gesenktem Kopf, damit ich nicht noch mehr Hände schütteln musste. Kurz fragte ich mich, ob ihr Mann Erwin gar nicht hier war, doch was spielte das für eine Rolle? Und es war mir auch egal, mit wem ich fuhr. Hauptsache, ich konnte hier weg.

Karin warf ihren schwarzen dünnen Mantel auf die Rückbank und quetschte ihre üppigen Rundungen hinter das Steuer, während ich trotz der frühsommerlichen Temperaturen fror und erschauderte.

»Wo wohnst du?«, fragte Karin.

Überrascht sah ich sie an. »Da, wo wir immer gewohnt haben.«

»Ach so, ich nahm an, du bist inzwischen ausgezogen.«

Ein humorloses Lachen rollte meine Kehle hinauf. »War ich, doch ich bin zurückgekommen, weil sie mich brauchte. Jemanden brauchte.«

»Verstehe«, sagte Karin abermals und ließ sich nicht von mir provozieren. Sie steuerte den Wagen vom Parkplatz. Der Rest der Autofahrt verlief schweigend. Erst als sie vor dem Gebäude hielt, in dem sich unsere Wohnung befand, ergriff sie wieder das Wort.

»Ich nehme an, sie hat es dir endlich gesagt.« Nervös trommelte sie mit ihren Fingern auf das Lenkrad. Ihr Nagellack war von demselben Pinkton wie ihr Lippenstift. Es war keine Frage gewesen, trotzdem sah sie mich abwartend an.

»Mir was gesagt?«, presste ich ungeduldig hervor.

Unbehagen überschattete ihr Gesicht. Eine Minute verstrich in quälend langen Sekunden.

»Dass …« Deutlich hörbar stieß Karin Luft aus. Was auch immer sie loswerden wollte, kam ihr offenbar nicht leicht über die grellen Lippen. »Dass sie sehr wohl wusste, wer dein Vater war. Und dass es nicht in der Italienwoche passiert ist.«

Und bähm – da waren sie: zwei Sätze, die meine Welt endgültig aus den Angeln hoben.

»Wovon redest du?« Meine Stirn kräuselte sich verständnislos.

»Der Streit zwischen Margit und mir, der ging genau darum. Ich fand es falsch, dass sie es dir verschwieg. Aber sie konnte ja so stur sein! Nur sie allein weiß, warum sie das nun sogar mit ins Grab genommen hat.«

Wut sammelte sich in meinem Bauch und breitete sich von dort glühend heiß im ganzen Körper aus, überdeckte für einen Moment die Kälte der Trauer.

»Spinnst du? Du lässt dich elf Jahre nicht blicken, nicht einmal, als es Mama so schlecht ging, und jetzt kommst du hierher und behauptest, sie hätte mich mein Leben lang angelogen? Sie … sie kann sich doch nicht mehr verteidigen!« Dieser Umstand ließ meine Unterlippe zittern, und die letzten Worte kamen nur weinerlich hervor.

»Tut mir leid, Aline.« Drückendes Schweigen breitete sich im Auto aus. Karins Schultern sackten nach vorn. »Ich wusste nicht, dass sie krank war. Ich mache mir selbst Vorwürfe, mich nicht eher gemeldet zu haben.«

Meine Finger hatten sich bereits um den Türöffner gelegt, doch irgendwas ließ mich auf dem unbequemen Ledersitz verharren.

Karin schaute durch die Frontscheibe auf ein kleines Mädchen, das auf einem Roller vorbeifuhr. »Bestimmt hatte sie ihre Gründe. Sie hat sie mir nur nicht verraten. Dennoch finde ich, du hast ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, ob du ihn kennenlernen willst oder nicht. Das habe ich ihr damals schon gesagt.«

Ihre Worte wuselten in meinem Kopf umher, und mir wurde schwindelig. Ich brachte kein einziges Wort mehr über die Lippen. Doch Karin schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben, um sich endlich alles von der Seele reden zu können.

»Ich wusste es lange selbst nicht, doch an ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, du warst gerade siebzehn geworden, hatten wir zu viel Sekt getrunken, und sie hat etwas gesagt, das mich aufhorchen ließ. Etwas in der Art von: Wie konnte er das nur alles verpassen? Da habe ich nachgebohrt. Und irgendwann hat sie zugegeben, dass sie mehr über deinen Vater weiß, als sie all die Jahre behauptet hat, aber dass es so besser für dich sei.«

Ich versuchte, mir vorzustellen, dass diese Geschichte der Wahrheit entsprach, dass Mama mir das mein Leben lang verschwiegen hatte. Heftig schüttelte ich den Kopf. Ein Schmerz pulsierte an meinen Schläfen.

»Ich glaube dir nicht. Mein Vater war ein One-Night-Stand im Italienurlaub. Nur ein Vorname – Laurence aus Frankreich – mehr nicht«, fasste ich die wahren Ereignisse knapp zusammen, als ob sie dadurch Karins Worte ungesagt machen könnten.

Ein trauriges Lächeln erschien auf den geschminkten Lippen meiner Tante. »Es ist nicht in Italien passiert.« Sie schaute mich so mitleidig an, dass ich ihr am liebsten den grellen Lippenstift aus dem Gesicht poliert hätte. Gnadenlos fuhr sie fort: »Nach diesem Tag habe ich immer wieder versucht, mit ihr darüber zu sprechen, ihr ins Gewissen zu reden. Bis wir darüber so sehr in den Streit gerieten, dass der Kontakt abbrach.«

»Sie war deine Schwester, wie konntest du … wie konntet ihr das zulassen?« Wenn ich eine Schwester oder einen Bruder hätte – niemals hätte ich zugelassen, dass uns ein Streit derart entzweit! Im letzten Jahr hatte ich meine Mutter einige Male darauf angesprochen, ob sie sich nicht mit Karin versöhnen wollte. Vorgeschlagen, dass ich sie anrufe, doch meine Mutter hatte das alles abgeblockt. In diesem Punkt schienen die Schwestern sich ähnlich. Das machte mich traurig – für sie beide.

»Ich verstehe, dass es ein Schock ist. Ich wollte nur, dass du es weißt. Was du daraus machst, ist ganz allein deine Entscheidung. Womöglich hat sie dir irgendwo einen Brief hinterlassen, den du noch nicht gefunden hast. Aber wenn du Hilfe brauchst, ich und Erwin sind jederzeit für dich da. Hier ist meine Nummer.« Sie drückte mir eine Karte in die Hand, um die ich wütend die Finger zu einer Faust verschloss, ehe ich ungehalten schnaubte: »Die letzten Monate, die letzten zwei Jahre seit dieser verschissenen Diagnose, da hätte ich Hilfe gebraucht!«

»Wir wussten es nicht«, wiederholte Karin und streckte ihre Hand nach meiner aus. Ich zuckte zurück und öffnete die Tür. Sprang hinaus und schlug sie hinter mir zu, ehe sie noch mehr sagen konnte. Karin ließ das Fenster herunter, und ich funkelte sie aufgebracht an.

»Ich will nicht, dass du dich nochmal meldest!«, war das Letzte, was ich zu ihr sagte, ehe ich zum Hauseingang eilte.

In der Wohnung lief ich geradewegs zum Wohnzimmerschrank, in dem meine Mutter alle Papiere aufbewahrte, und begann zu suchen. »Das ist eine Lüge, Karin kann nicht die Wahrheit sagen – das hätte Mama mir nicht verschwiegen«, sagte ich dabei laut. Wir waren mehr als Mutter und Tochter gewesen, wir waren Freundinnen.

Obwohl ich an diesem Tag nichts fand, ließ es mich nicht mehr los. Seit Karin mit dieser Behauptung um die Ecke gekommen war, hatte ich das stete Gefühl, mir fehlte ein Puzzleteil zu meinem Leben. Etwas, das ich zuvor nie verspürt hatte.

Kapitel 3

Einige Tage nachdem ich die Möbel online gestellt hatte, erhielt ich ein Kaufangebot für den Wohnzimmerschrank. Die Käufer, ein älteres Pärchen, verfrachteten ihn gerade mit Hilfe eines weiteren Mannes in einen Anhänger, als mein Handy klingelte. Anni.

»Hey! Du bist aber früh auf«, begrüßte ich sie. »Kann ich dich gleich zurückrufen?«

»Klar, kein Problem«, ertönte ihre fröhliche Stimme aus dem Hörer. Ich legte auf und steckte das Telefon wieder ein.

»Zweihundertfünfzig Euro, bitte schön.« Die Frau reichte mir die Scheine, und ich zählte sie rasch nach.

»Danke, viel Freude mit dem Schrank.« Ich lächelte sie an, hob die Hand zum Gruß und machte mich auf den Weg ins Haus, während die Männer verzweifelt versuchten, das wuchtige Ding im Anhänger unterzubringen. Nichts wie weg, bevor sie beschlossen, dass sie das Monstrum doch nicht wollten.

In der Wohnung erwartete mich Chaos, aber nur, weil ich mich endlich aufgerafft hatte, ernsthaft mit dem Sortieren zu beginnen. Mittlerweile gab es im Wohnzimmer zwei Reihen mit Kartons. Die eine enthielt Dinge, die ich spenden wollte, und in der anderen befanden sich die Sachen, die ich beim Umzug mitnehmen wollte, wo auch immer es hingehen mochte. In dieser Frage war ich nämlich noch nicht weitergekommen. Darüber hinaus stapelte sich im Flur ein Haufen für den Sperrmüll.

In der Küche bestückte ich die Kaffeemaschine mit Pulver und Wasser und holte das Handy raus, damit ich gleich bei einer Tasse Kaffee Anni zurückrufen konnte. Nach dem Abi war sie zum Studieren nach Berlin gegangen und ich nach Stuttgart, aber die Freundschaft war bestehen geblieben. Wir hörten nicht jeden Tag voneinander, trotzdem war sie momentan neben Nadia der einzige Mensch, zu dem ich noch eine Bindung besaß. Aktuell war sie von ihrer Firma nach Palo Alto in den USA geschickt worden, weshalb sie auch nicht zur Beerdigung hatte kommen können. Gerade als ich mich mit dem Kaffee hinsetzte und die Anrufliste aufrief, klingelte es an der Wohnungstür. Seufzend erhob ich mich wieder und öffnete. Vor mir stand die Käuferin des Schrankes.

»Ja?«, fragte ich skeptisch.

»Mein Mann musste den Schrank auseinanderbauen, sonst hätte er nicht in den Anhänger gepasst, und dabei ist dies hier hinter der Rückwand zum Vorschein gekommen.« Sie hielt mir ein kleines Bündel Zettel entgegen. »Ich dachte, die könnten wichtig sein.«

Wie in Trance griff ich danach. »D…danke«, stammelte ich, während das Papier ungemein schwer in meiner Hand wog.

»Wiedersehen.« Die Frau lächelte, ehe sie sich umdrehte und im Treppenhaus verschwand.

»Tschüss«, murmelte ich, den Blick auf die Zettel gesenkt. Langsam schloss ich die Tür und ging zurück in die Küche.

»Sie könnten aus Versehen dahinter gerutscht sein. Es können stinknormale Rechnungen sein. Belanglos«, wisperte ich vor mich hin. Dennoch zitterten meine Finger, als ich das spröde Gummiband von dem Bündel zog. Es gab keine Umschläge, nur lose Blätter. Die Schrift war mir fremd, es war nicht die meiner Mutter, aber die Schreiben waren an sie gerichtet. Mir wurde mulmig zumute. Ich faltete den obersten Zettel auseinander und begann zu lesen.

Liebe Margit,

du bist erst heute Morgen abgereist, und ich vermisse dich jetzt schon schrecklich. Das war der Sommer meines Lebens, und ich wünschte, er wäre nie zu Ende gegangen. Aber es wird ja noch weitere geben, und wir machen jeden zu dem Sommer unseres Lebens! Und wenn du deine Ausbildung beendet hast, kommst du für immer her, ja? Bitte sag mir, dass wir es so machen, wie wir es uns auf den Ochseninseln geschworen haben. Ich bin eigentlich kein großer Briefeschreiber und würde außerdem viel lieber deine Stimme hören. Wir können über das Festnetz telefonieren, wenn deine Pflegeeltern schlafen.

Das ist die Nummer, unter der ich zu erreichen bin: 0461 – 220923

Ich vermisse dich!

In Liebe, J

Ich starrte auf das Datum: Juli 93 – ungefähr ein Dreivierteljahr vor meiner Geburt. Mir wurde flau im Magen, und ich schaute wie gebannt auf das Schriftstück – den lange gesuchten Anhaltspunkt dafür, dass an Karins Worten etwas dran war. Aber warum hätte meine Mutter mich achtundzwanzig Jahre lang anlügen sollen? Wir hatten uns doch immer alles erzählt.

Im nächsten Brief standen wieder zahlreiche kitschige Liebesbekundungen, die mich zum Kichern gebracht hätten, wenn nicht tausend ernste Fragen in meinem Kopf herumgeschwirrt wären. Der letzte Brief hatte einen anderen Ton – er war vier Monate nach dem ersten datiert. Ich schmunzelte beim Anblick der Anrede. Räuberin – so hatte meine Mutter mich auch oft genannt, und manchmal hatte sie dabei seltsam gelächelt, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Ich hatte angenommen, sie schwelgte dabei in Erinnerungen an meine frühe Kindheit. Aber womöglich hatte sie dabei nicht an mich, sondern an diesen J gedacht …

Meine liebe Räuberin,

ich habe seit Wochen nichts von dir gehört. Und ich weiß, ich sollte nicht bei euch anrufen, aber ich musste es tun! Deine Pflegemutter hat mich nur unwirsch abgewimmelt. Du musst mir sagen, was los ist! Egal was es ist, ich werde dir helfen. Bitte schreib mir oder rufe mich an.

In Liebe, J

Eine ganze Weile saß ich in der Küche und versuchte zu begreifen, dass Karin recht haben könnte. Es ist nicht in Italien passiert – ihre Worte hallten in meinem Kopf. Obwohl das hier noch kein Beweis war. Bestenfalls ein Indiz. Womöglich hatte meine Mutter, kurz nachdem sie sich mit diesem Mann getroffen hatte, meinen Erzeuger kennengelernt und eine Nacht mit ihm verbracht. Das könnte auch der Grund sein, warum sie diesen J fortan ignoriert hatte. Ich rief mir das Bild meiner Mutter in Erinnerung. Gesund und jünger, die Augen rehbraun wie meine, die Haare dunkler als meine, und sie trug sie in einem Kurzhaarschnitt, der frech ihr herzförmiges Gesicht umrandete. Ihre Haut war genauso hell wie meine und ließ sie aussehen wie Schneewittchen. Meine Mitschüler hatten mich häufig um meine junge Mutter beneidet.

»Wir waren doch ein Team! Warum hast du mir nichts von diesem J erzählt? War er nicht wichtig für unsere Geschichte?«, murmelte ich.

Mein Blick glitt zur Arbeitsplatte, wo ich Karins Visitenkarte achtlos hingeschleudert hatte. Ich verspürte den Drang, sie anzurufen und zu fragen, was sie noch über den Sommer vor meiner Geburt wusste, wo es passiert war, wenn nicht in Italien. Meine Mutter und Karin waren bei Pflegeeltern aufgewachsen. Ihre leibliche Mutter hatte sie stark vernachlässigt, und der Vater hatte sie verlassen, eine neue Familie gegründet, in der kein Platz für Karin und Margit war. Mit der Pflegefamilie war Mama im Sommer vor meiner Geburt eine Woche auf einem Campingplatz in Italien gewesen, dort hatte sie Laurence getroffen, der auf demselben Campingplatz seinen Urlaub verbrachte. Karin war die Ältere und befand sich zu der Zeit schon in einer Ausbildung.

Margit musste im Zelt schlafen, während der Rest der Familie im Wohnwagen übernachtete. Aber wenn meine Mutter mir die Geschichte erzählte, lächelte sie trotzdem. Es schien keine Rolle gespielt zu haben. Dann sprach sie von dem gut aussehenden jungen Kerl, mit dem sie abends im Meer schwamm, heimlich süßen Likör trank und noch viel heimlicher eine Nacht verbrachte.

Kurzerhand setzte ich mich an den Laptop, die Briefe neben mir ausgebreitet. Ich gab »Ochseninseln« ein, den Ort, an dem meine Mutter und J sich ewige Liebe geschworen hatten. Und ich wettete, der lag nicht in Italien. Ich starrte auf die Karte, verkleinerte den Maßstab. Die winzigen Inseln befanden sich vor Dänemark in der Ostsee, nahe der deutschen Grenze. Ich las ein wenig in der Infobox. Die Inseln waren offenbar nicht mehr bewohnt. Auf der einen gab es oder hatte es mal ein Schullandheim gegeben, aber ganz schlau wurde ich aus den Angaben im Internet nicht. Es schien der dänischen Schulbehörde zu gehören. »Rückwärtssuche!«, rief ich dann, und meine Stimme hallte merkwürdig in der ansonsten stillen Wohnung.

Hastig gab ich die Telefonnummer in die Suchleiste des Onlinetelefonbuchs ein. Wie wahrscheinlich war es, dass jemand heute noch dieselbe Nummer hatte wie vor knapp drei Jahrzehnten? Sehr unwahrscheinlich. Es sei denn … es handelte sich um eine … Brauerei?

Flensburger Biermanufaktur

Brauereistraße 2

24939 Flensburg

Hektisch rief ich die Website auf und klickte sofort auf das Impressum. Dort leuchteten zwei Wörter förmlich auf: Jens Martens.

Ich keuchte unterdrückt und rückte vor Schreck ein Stück zurück, als könnte dieser Name mich gleich anspringen. Das … das konnte Zufall sein. J war kein seltener Anfangsbuchstabe bei den Vornamen jener Generation. Jürgen, Johann, Jasper, Joachim …

Jetzt nicht durchdrehen, Aline. Zunächst musste ich rausfinden, wie lange es die Brauerei schon gab. Ich ging zurück auf die Startseite, wo mich ein junger Typ mit dunklen Haaren und leuchtend grünen Augen anlächelte. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er an einer roten Backsteinmauer. Er war höchstens ein paar Jahre älter als ich. Sein Lächeln zog mich kurz in den Bann. Der Mann war attraktiv. Dann schoss ein fürchterlicher Gedanke durch meinen Kopf: Was, wenn das der Sohn von Jens Martens war? Dann war es womöglich mein Halbbruder. Prompt wurde mir übel. Hatte ich unter Umständen gerade meinen Bruder angeschmachtet?

Hastig öffnete ich eine Seite im Untermenü, wo die Geschichte der Brauerei nachzulesen war. Holger Martens, der Vater von Jens Martens, hatte die Brauerei Anfang der 1970er gegründet. Es gab auch ein Foto von Jens und Holger Martens. Ich beugte mich vor und inspizierte die Gesichter der Männer. Holger hatte schneeweißes Haar und schaute eher verdrießlich. Jens Martens lächelte, er war blond und hatte blaue Augen. Vielleicht hatte die Form unserer Augen Ähnlichkeit miteinander? Angespannt las ich weiter.

Mit der Einstellung und Ernennung zum Teilhaber von Braumeister Tom Nielsen, der Biozertifizierung einiger Sorten sowie der Umstrukturierung der angegliederten Gastronomie geht die Flensburger Biermanufaktur neue Wege.

Puh, Tom Nielsen – okay, es handelte sich offensichtlich nicht um einen vermeintlichen Bruder, vorausgesetzt Jens Martens war überhaupt mein Vater. Aber das war doch absurd! Dennoch stöberte ich weiter durch das Menü der Website, doch es fand sich wenig Persönliches über die Familie Martens. Also suchte ich bei Facebook und Instagram nach Jens Martens, jedoch ohne Erfolg.

Als ich zurück auf die Seite der Brauerei ging, um mir den Standort genau anzusehen, fiel mein Auge auf den Menüunterpunkt »Jobs«. Womöglich war es die pure Neugierde, die mich draufklicken ließ. Vielleicht auch Verzweiflung.

Wir suchen Servicekräfte für die laufende Saison!

– Erfahrung in der Gastronomie wünschenswert

– Teilzeit/Vollzeit/Minijob-Basis

– 15 €/Stunde plus Trinkgeld

Minutenlang starrte ich auf das Stellengesuch. Während des Studiums hatte ich in einem Café gejobbt … ich könnte also … nur für einige Wochen … Nein, das war verrückt! Was hatte ich schon in der Hand? Den Anfangsbuchstaben eines Vornamens und eine Telefonnummer. Das war dürftig. Aber – es passte zusammen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit für einen Zufall?

Ich klappte den Laptop zu und stand auf. Ich sollte lieber meinen Etsy-Shop wiederbeleben. Um mich abzulenken, machte ich in meinem Zimmer eine Bestandsaufnahme. Ich verkaufte in dem Shop vor allem selbst entworfene und gefertigte Linoleumdrucke. Mit verschiedenen Werkzeugen stellte ich die Druckplatten aus weichen Linoleumplatten her – erstaunlicherweise hatte ich damit weniger Probleme, als wenn ich einen Stift in der Hand hielt. Mit Hilfe einer Presse druckte ich dann die Motive auf Papier. Teilweise bestanden die fertigen Bilder aus mehreren Farbschichten, und keines glich je zu hundert Prozent dem anderen. Sternzeichen liefen besonders gut. Anfänglich hatte es mich überrascht, wie viel die Leute für echte Handarbeit auszugeben bereit waren. Dennoch reichte es nicht, um von dem Shop zu leben, und eigentlich wollte ich auch lieber wieder als Illustratorin arbeiten.

Später setzte ich mich an den Laptop, um in meinem Etsy-Shop einige Artikel auf »lieferbar« zu setzen. Doch als der Bildschirm zum Leben erwachte, lächelte mich immer noch Tom Nielsen an und schien mir herausfordernd zuzuflüstern: Was hast du schon zu verlieren?

»Nichts«, flüsterte ich zurück.

Dennoch wechselte ich zunächst zu Etsy und entstaubte dort meine virtuellen Regale. Jetzt, wo ich mehr Zeit hatte, als mir lieb war, konnte ich neue Motive entwerfen und einstellen, oder ich konnte an meinem alten Traum arbeiten, ein eigenes Kinderbuch zu schreiben und zu illustrieren. Oder zumindest wieder die Ideen anderer Autoren umsetzen. Denn das war schließlich mein Job, dafür hatte ich studiert. Doch was, wenn einem allein der Gedanke daran ein Engegefühl in der Brust bescherte?

Ich loggte mich bei Etsy aus, und als ich die Seite schloss, grinste mich erneut Tom Nielsen an.

»Du bist ganz schön penetrant«, sagte ich zu ihm. »Aber recht hast du. Ich habe nichts zu verlieren. Nur eventuell einen Vater zu gewinnen.« Die Chance dafür war wahrscheinlich so hoch wie ein Lottogewinn. Aber wer nicht spielte, konnte auch nicht gewinnen.

Kurzerhand – bevor ich es mir anders überlegte – stellte ich meine Bewerbungsunterlagen zusammen und sog mir für das Anschreiben irgendwas aus den Fingern – dass ich aufgrund einer Familienangelegenheit für längere Zeit nach Flensburg musste und deswegen dort vorübergehend nach einem Job suchte. Dann schickte ich das Ganze per Mail an die Brauerei.

Noch bevor ich die Mitteilung »Ihre Nachricht wurde gesendet« erhielt, wünschte ich mir, es gäbe die Funktion, E-Mails wieder zurückzuholen. Obwohl – gab es die nicht neuerdings? Nur wusste ich leider auf die Schnelle nicht, wie das funktionierte. Aber wer war denn bitte so verrückt, sich undercover in eine Brauerei einzuschleusen? Einfacher wäre es wohl gewesen, zum Telefonhörer zu greifen und diesen Jens Martens zu fragen. Aber dann hätte alles in seiner Hand gelegen. Ich wollte ihn lieber erst mal abchecken und mehr über ihn herausfinden. Außerdem brauchte ich richtige Beweise, schließlich hätte er auch schlichtweg behaupten können, er kenne meine Mutter nicht.

Mein Handy klingelte, und kurz befürchtete ich, es könnte schon die Brauerei sein. Dementsprechend erleichtert nahm ich den Anruf meiner Freundin Anni an.

»Aline, du hast gar nicht zurückgerufen«, sagte sie besorgt.

»Das habe ich ganz vergessen, tut mir leid!«, erwiderte ich zerknirscht. Anni war mir in den letzten Monaten eine große Stütze gewesen, obwohl sie sich die meiste Zeit auf einem anderen Kontinent befunden hatte.

Meine Freundin lachte. »Ist ja nicht schlimm, Hauptsache, du bist okay! Wie geht’s dir?«

»So lala«, antwortete ich ehrlich. »Ich vermisse sie einfach sehr – die Wohnung, mein Leben, das alles ist leer ohne sie. Aber langsam geht es aufwärts.«

Warum ergriffen einen ausgesprochene Worte mehr, als wenn man sie nur dachte? Ich drückte mir mit den Fingern auf die inneren Augenwinkel, um aufkommende Tränen zu verhindern.

»Ich kann nur erahnen, wie du dich fühlst. Ach, Aline, ich wünschte, ich könnte dich jetzt in den Arm nehmen!«

»Ich bin froh, dass es dich gibt, Anni.«

»Weißt du, ich habe nachgedacht und mir was überlegt …«

»Bevor du weitersprichst: Geld für einen Flug in die USA habe ich nicht.«

»Nein, ich komme doch eh nächsten Monat zurück und hätte hier auch leider kaum Zeit, um etwas mit dir zu unternehmen. Aber du meintest doch kürzlich, du möchtest nicht mehr nach Stuttgart, und falls du auch nicht in Bochum bleiben möchtest, was hältst du denn davon, nach Berlin zu kommen?«

»Nach Berlin?«, fragte ich etwas überrascht.

»Ja! Dann könnten wir uns viel öfter sehen, und als Illustratorin findest du dort bestimmt ganz schnell Aufträge. Die Wohnung von Ronny und mir ist leider zu klein für eine Mitbewohnerin, aber ich habe dir schon einige WG-Zimmer rausgesucht.«

Ich dachte an das Gefühl, das in mir hochgestiegen war, als ich das Pony für Bea skizziert hatte, und verspürte einen Druck in der Kehle. Ich räusperte mich.

»WG-Zimmer?«

»Vorübergehend. Die Mietpreise sind zurzeit astronomisch hoch in Berlin … weil es so eine schöne Stadt ist und jeder dort leben möchte.«

Die Mietpreise waren überall hoch. Das hatte ich auch schon festgestellt, als ich in den letzten Tagen nach Wohnungen in Bochum geschaut hatte. Ich schmunzelte über Annis Bemühungen, mir Berlin schmackhaft zu machen.

»Ich werde mal drüber nachdenken. Es ist nur so, gerade ist etwas passiert und …«

»Was ist passiert?« Sofort klang ihre Stimme wieder alarmiert.

»Es gab einen Grund, warum ich vergessen habe zurückzurufen …«

»Ein Mann? Hattest du etwa ein Date?«

»Nein, kein Date.« Date – das Wort war irgendwann im letzten Jahr aus meinem Wortschatz verschwunden. »Aber mit einem Mann hat es schon zu tun. Ich habe dir doch erzählt, was meine Tante bei der Beerdigung zu mir gesagt hat …«

»Ja! Und ich bin immer noch fassungslos, wie sie so etwas behaupten konnte.«

»Nun ja, heute haben Leute den Wohnzimmerschrank abgeholt, und beim Auseinanderbauen kamen Briefe zum Vorschein.«

Ich erzählte Anni alles und spürte, wie gut es tat, mit jemandem darüber zu reden und es nicht nur mit mir allein auszumachen.

»Oh. Mein. Gott. Wie geht’s dir damit?«

»Das … das weiß ich gar nicht.«

»Und hast du vor, etwas zu unternehmen?«

»Ehrlich gesagt habe ich das schon – ich habe mich in der Brauerei beworben, als Servicekraft.«

»Du hast was? Aline!« Ungläubig lachte sie auf.

»Ich weiß, es ist verrückt. Aber ich will diesen Mann kennenlernen, bevor ich ihn mit dem Verdacht konfrontiere. Ich wüsste auch nicht mal, wie ich es anders angehen sollte.«

»Aber meinst du denn, es wird leichter, wenn du dich in seine Firma einschleust? Du kannst später wohl nur schwer behaupten, das sei ein Zufall gewesen. Alternativ könntest du doch einen Anwalt beauftragen und einen Vaterschaftstest erbitten.«

»Abgesehen davon, dass ich mir momentan keinen Anwalt leisten kann, will ich zunächst mal rausfinden, ob überhaupt was dran sein könnte. Vielleicht spinnt Karin ja auch, und diese Briefe haben überhaupt nichts mit meinem Vater zu tun.«

»Okay. Ansonsten … Wie gesagt, ich habe dir ein paar Wohnungsanzeigen rausgesucht.«

»Das ist lieb von dir, schicke sie mir gern rüber.«

In Wahrheit war ich mir alles andere als sicher, ob ich nach Berlin wollte. In dem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich heute Abend einen Termin für meine erste Wohnungsbesichtigung hier in Bochum hatte. Den durfte ich auf keinen Fall verpassen. Es war besser, wenn ich mir alle Wege offenhielt.

Bevor wir uns verabschiedeten, versprach ich Anni, sie auf dem Laufenden zu halten. Wahllos griff ich nach einem frischen Shirt, bürstete mir über die Haare und jagte mit meinem klapprigen Auto los.

Eine halbe Stunde später schritt ich durch die frisch renovierte Einzimmerwohnung, nicht einmal die Küche war in einem extra Raum untergebracht. Aber das war okay. Daher lächelte ich die Maklerin an. »Die Wohnung gefällt mir. Wie viel Kaution wäre fällig?«