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Das Meer erwärmt alle Herzen ... auch an kalten Wintertagen
Lara und ihre Zwillingsschwester Linn sind nicht gerade ein Herz und eine Seele. Doch was Linn jetzt getan hat, bringt Lara endgültig zur Weißglut: Kurz vor der stressigen Adventszeit lässt ihre Schwester sie und den gemeinsamen Vintage-Möbelladen einfach im Stich. Zusätzlich muss sich Lara um den ebenfalls von Linn zurückgelassenen Welpen kümmern, obwohl sie von Hunden keine Ahnung hat. Und als wäre das alles nicht schon genug, zieht in den Laden nebenan ein Tattoo-Studio ein, geleitet vom Ex ihrer Schwester, Hendrik. Das passt überhaupt nicht in den hübschen kleinen Hinterhof mit seinen hyggeligen Lädchen, findet Lara. Und doch schlägt ihr eigenes Herz stets einen Takt schneller, wenn sie dem unerwünschten Nachbarn begegnet …
Träumen, lachen, lieben, einfach wohlfühlen! In ihrem heiteren Liebesroman »Seesterntage« entführt Bestsellerautorin Svenja Lassen an die Ostsee ins idyllische Flensburg.
Freuen Sie sich auch auf den vierten Wohlfühlroman aus der romantischen Küstenliebe-Reihe. In »Strandversprechen« wirbelt die Hochzeit ihrer besten Freundin Mias Leben gehörig durcheinander ...
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Seitenzahl: 398
Buch
Lara und ihre Zwillingsschwester Linn sind nicht gerade ein Herz und eine Seele. Doch was Linn jetzt getan hat, bringt Lara endgültig zur Weißglut: Kurz vor der stressigen Adventszeit lässt ihre Schwester sie und den gemeinsamen Vintage-Möbelladen einfach im Stich. Zusätzlich muss sich Lara um den ebenfalls von Linn zurückgelassenen Welpen kümmern, obwohl sie von Hunden keine Ahnung hat. Und als wäre das alles nicht schon genug, zieht in den Laden nebenan ein Tattoo-Studio ein, geleitet vom Ex ihrer Schwester, Hendrik. Das passt überhaupt nicht in den hübschen kleinen Hinterhof mit seinen hyggeligen Lädchen, findet Lara. Und doch schlägt ihr eigenes Herz stets einen Takt schneller, wenn sie dem unerwünschten Nachbarn begegnet …
Autorin
Svenja Lassen lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn im schönen Schleswig-Holstein, dem Land zwischen Nord- und Ostsee. Am glücklichsten ist sie mit einer Brise Seeluft im Haar und Strandsand unter den Füßen. Ihre Leidenschaft für Bücher entdeckte sie bereits als Kind, seit 2016 kam aber auch die Liebe für das Schreiben eigener Geschichten hinzu. Inzwischen begeistert sie mit ihren romantischen und humorvollen Wohlfühlromanen zahlreiche Leserinnen und Leser und stürmt mit ihren Büchern die Bestsellerlisten.
Weitere Informationen unter: www.svenjalassen.de
Von Svenja Lassen bei Blanvalet
Meer Momente wie dieser
Meer Liebe im Herzen
Muschelträume (Küstenliebe 1)
Sonnenküsse (Küstenliebe 2)
Seesterntage (Küstenliebe 3)
Strandversprechen (Küstenliebe 4)
Svenja Lassen
Roman
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Originalausgabe 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2023 by Svenja Lassen
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.
Redaktion: Gisela Klemt
Umschlaggestaltung und -motive: www.buerosued.de
Karte: www.buerosued.de
WR · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-30014-2V004
www.blanvalet.de
Der Regen prasselte gegen die Scheiben, und obwohl der kleine Zeiger der alten Uhr erst auf die Fünf zeigte, war es draußen bereits stockfinster. Die Ladentür schwang auf, eine Kundin kam herein und mit ihr ein Schwall kühler Luft, der nach Regen und dem sich nahenden Winter roch. Ich schaute von meinen Notizen für den diesjährigen Adventsmarkt auf und begrüßte sie lächelnd.
»Kann ich Ihnen helfen, oder möchten Sie sich zunächst umschauen?«
Sie schloss ihren Schirm und stellte ihn in den Ständer im Eingangsbereich. »Danke, ich schlendere einmal durch«, erwiderte sie, während sie den Blick schon über die Ausstellung mit den alten Möbeln schweifen ließ. Ich tat es ihr gleich und verspürte einen kurzen Moment der inneren Zufriedenheit. Das Hygge Up war mein Baby. Die Möbel waren alle in hellen Farben gehalten, weiß, taubenblau und salbeigrün. Wir hatten sie zu einzelnen Szenen arrangiert und mit passendem Geschirr, Kerzen, Kissen und Decken aus unserem Sortiment dekoriert. Ich liebte jedes Stück, das wir hier verkauften. Apropos wir, wo blieb eigentlich meine Schwester? Linn wusste doch, dass gleich nach Geschäftsschluss die Versammlung mit den übrigen Ladenbesitzerinnen und -besitzern anstand, um final alles für die Adventszeit zu besprechen. Dieses Jahr wollten wir mit einer Punschbude und einem Mutzenstand mehr Menschen zu uns in den Fahrensmann-Hof locken. Vor dem Café von Ilse, das sich am Ende des Hinterhofes befand, sollte der Stand für die Mutzen aufgebaut werden. Linn und ich waren gemeinsam mit Martha vom Krimskramsladen nebenan für das Anbringen der Lichterketten zuständig. Levin und Maike von dem Geschäft Tante Emma gegenüber, in dem unverpackte und fair gehandelte Lebensmittel angeboten wurden, übernahmen die Punschbude. Die letzte im Bunde – Ursel von der Wolltruhe, die zwischen dem Café von Ilse und dem Unverpackt-Laden lag – würde für weihnachtliche Musik sorgen. Unser kleiner Markt startete am Samstag des ersten Adventswochenendes und würde von da an jeden Freitag und Samstag stattfinden. Zunächst hatten wir diskutiert, auch am Sonntag zu öffnen, aber die Mehrheit stimmte dagegen. Das alles hatten wir bereits vor Monaten besprochen, heute ging es lediglich um letzte Abstimmungen. Trotzdem fand ich es wichtig, dass Linn dabei war.
»Haben Sie ein Küchenregal wie dieses, nur etwas kürzer?«, riss eine Kundin mich aus meinen Gedanken.
Ich folgte ihrem Fingerzeig zu einem alten, weiß lackierten Regal mit kleinen Häkchen für Tassen oder andere Küchenutensilien.
»Wie lang darf es denn maximal sein?«
»Höchstens einen Meter, lieber wäre mir eine Länge von achtzig Zentimetern.«
Ich nickte und vergewisserte mich kurz, ob die anderen Kundinnen ohne mich zurechtkamen – wo blieb nur Linn? – , ehe ich mich ins Lager begab. Die Tür ließ ich offen stehen, damit ich zumindest ein wenig von dem mitbekam, was im Verkaufsraum vor sich ging. Mit Diebstählen hatten wir eher selten Probleme, dennoch ließ ich die Kunden nicht gern allein.
Eilig kämpfte ich mich durch die Reihe mit den Möbeln, die der Tischler noch aufbereiten musste oder für die wir vorn einfach keinen Platz mehr gehabt hatten. Das Küchenregal, das ich im Sinn hatte, versteckte sich natürlich im hintersten Eck, und es dauerte, bis ich es zwischen den Korbwaren hervorgezogen hatte. Zurück im Verkaufsraum war eine der anderen beiden Kundinnen gegangen. Hoffentlich hatte ihr die Wartezeit nicht zu lange gedauert, schoss es mir durch den Kopf, während ich lächelnd das Küchenregal hochhielt.
»Wie gefällt Ihnen dieses?« Ich legte es auf den Kassentresen und griff zum Zollstock. »Es ist knapp neunzig.«
Die Kundin begutachtete das Möbel eingehend. Fast alle Stücke, die wir anboten, waren gebraucht, und das war ihnen anzusehen. Nur bei den Dekoartikeln handelte es sich teilweise um Neuware. Zwei- bis dreimal im Jahr fuhren wir mit unserem Sprinter zu den Brocante-Märkten in Holland, Belgien oder Frankreich auf der Suche nach neuen Schätzen. Brocante – das französische Wort für Second Hand – stand für einen Einrichtungsstil, der vor allem in den Niederlanden beliebt war, aber auch bei uns stetig mehr Anklang fand, weil sich damit ganz wunderbar eine hyggelige Atmosphäre kreieren ließ. Und obwohl wir die Teile, wenn nötig, reparierten oder anstrichen, waren sie niemals perfekt. Manchmal war eine Aufhängung rostig oder eine Ecke angestoßen, daher verstand ich, dass die Leute immer ganz genau hinschauten. Aber all das machte den Charme der Möbel aus. Sie strahlten Behaglichkeit aus und wirkten dennoch niemals altmodisch. Bei uns bekam man keinesfalls Omas alte Eiche rustikal Schrankwand, sondern vor allem alte Handwerkskunst – jedes ein Unikat – und jedes hatte eine Geschichte zu erzählen.
»Wie viel kostet es?«, fragte die Frau schließlich, und ich angelte nach dem Preisschild aus Pappe, das mit der Hand beschriftet war – dafür hatte ich extra online einen Handletteringkurs absolviert. »Hundertneununddreißig.«
»Hm, okay, das nehme ich.«
»Prima, bekommen Sie das so mit? Der Regen scheint nachgelassen zu haben.«
»Ja, das wird gehen, ich parke nicht weit entfernt.«
Ich gab den Preis in unsere alte Kasse ein und nahm das Geld der Kundin entgegen. »Dann viel Freude damit!«
»Danke«, erwiderte sie.
Ich trat um den Kassentresen herum, um ihr die Tür aufzuhalten. »Vergessen Sie ihren Schirm nicht!«, sagte ich und zog ihn aus dem Ständer, um ihn ihr zu reichen.
Anschließend wandte ich mich an die verbliebene Kundin, die etwas jünger als ich aussah und unsere Tassen und Kerzenständer inspizierte.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich hätte gern vier von denen.« Sie hielt einen der Keramikbecher hoch. Ein schwarz-weißes Exemplar, diese Kombi war gerade absolut gefragt. Generell lag Schwarz bei Dekoartikeln seit einigen Jahren zunehmend im Trend. »Aber hier sind nur noch drei. Ich habe schon alle durchgeschaut.«
»Ich glaube, wir haben hinten noch einen dieser Becher auf einem der Tische dekoriert«, sagte ich und zwängte mich zwischen zwei Möbelstücken hindurch, bis ich zu einer weißen Eckbank gelangte, die mit großen cremefarbenen Kissen und einer grobgestrickten Wolldecke dekoriert war. Auf dem dazu passenden Tisch hatten wir einige unserer Keramikbecher und Kerzen in hübschen Ständern gestellt. »Hier sind noch zwei!«, rief ich triumphierend und hielt einen der schwarz-weißen Becher hoch.
»Dann nehme ich gleich beide.«
Die übrige Zeit bis zum Ladenschluss hatte ich alle Hände voll zu tun, und der Umsatz war entsprechend gut. Um kurz nach sechs verschloss ich die Tür hinter dem letzten Kunden, der einen Gutschein gekauft hatte, und zog mein Handy aus der Tasche.
Wo steckst du? Gleich ist die Versammlung.
Ich sendete die Nachricht an meine Schwester ab. Fünf Minuten später wartete ich immer noch auf eine Antwort. Ärgerlich raffte ich meine Notizen zusammen und machte mich auf den Weg zu Ilse, bei der das Treffen stattfinden würde.
Die anderen waren alle schon da, Ilse verteilte gerade den übrig gebliebenen Kuchen, den sie morgen nicht mehr verkaufen konnte, und mein Magen gurgelte bei dem Anblick zustimmend.
»Linn?«, fragte Ursel von der Wolltruhe.
»Nein, Lara. Linn schafft es nicht«, antwortete ich. Es gab Leute, die konnten mich und meine Zwillingsschwester gut auseinanderhalten, und dann gab es die, denen es auch nach Jahren noch schwerfiel. Optisch ähnelten wir uns sehr, ohne dass wir es darauf anlegten. Zumindest ich nicht. Aber wir trugen beide unsere blonden Haare lang, und da wir zusammen in einer Wohnung lebten, liehen wir uns häufig auch Klamotten bei der anderen aus. Es hatte eine Phase in der Pubertät gegeben, in der wir auf jeden Fall anders aussehen wollten als die andere, das Problem war jedoch, dass wir von getrennten Shoppingtrips dann doch häufig mit den gleichen Sachen zurückkamen.
»Möchtest du ein Stück Kürbiskuchen?«, fragte Ilse, die zu den Personen gehörte, die mich und meine Schwester gut unterscheiden konnten.
»Dafür würde ich gerade sterben!«, erwiderte ich mit einem Seufzer, und das Wasser lief mir schon im Mund zusammen, als Ilse mir einen Teller in die Hand drückte. »Danke dir, sieht wie immer köstlich aus.« Weil ich heute allein im Laden gestanden hatte, war ich nicht dazu gekommen, mir irgendwo etwas zu essen zu besorgen, und das Croissant zum Frühstück war eine gefühlte Ewigkeit her. Ich begrüßte noch die anderen, bevor ich mich setzte und hastig den Kuchen in mich hineinstopfte. Danach räusperte ich mich. »Sollen wir anfangen? Ich habe eine Liste mit allen Punkten erstellt, um die sich jeder von uns kümmern sollte. Wenn wir sie durchgehen, sehen wir, ob alles erledigt ist. Und wir müssen natürlich noch besprechen, wann genau wir alles aufbauen. Zum Teil ist das natürlich flexibel, aber …«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, unterbrach Martha aus dem Krimskramsladen mich, »würde ich zunächst gern etwas sagen.«
»Ja, natürlich«, antwortete ich etwas überrumpelt. Martha sprühte mit ihren 60 Jahren sonst eher nicht mehr vor Aktionismus. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und schaute sie abwartend an, genau wie die anderen.
Martha rückte ihren Stuhl so, dass sie uns alle im Blick hatte, und räusperte sich vernehmlich, ehe sie begann: »Ich habe es im Sommer ja bereits einmal probiert, meinen Laden zur Miete auszuschreiben, doch leider fand sich damals niemand …«
O nein!, war mein erster Gedanke, nun machte sie ernst. Schon länger sprach Martha davon, ihren Laden zu schließen. Zugegeben, es lief nicht mehr so gut bei ihr, aber ihr Sortiment war auch etwas … angestaubt. Da gab es in Flensburg mittlerweile einige Souvenir- und Krimskramsläden mit deutlich stärkerem Branding und weniger ramschigen Dingen. Allerdings hatte ich gedacht, dass das Thema vorerst erledigt sei, nachdem sie die Anzeige für den Laden wieder aus dem Netz genommen hatte.
Sie atmete tief durch, ehe sie fortfuhr: »Aber nun ist es beschlossene Sache, ich gebe mein Geschäft auf.«
Leises Murmeln erfüllte das Café, und Ilse, die im selben Alter war wie Martha, ergriff schließlich als Erste das Wort. »Bist du dir ganz sicher? Wir werden dich hier schmerzlich vermissen!«
Martha schluckte sichtbar, nickte aber mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck.
»Das ist echt schade«, sagte nun Ursel aus dem Wollladen, die mit ihren fünfzig Jahren noch etwas jünger war als Martha und Ilse.
»Ja«, stimmte ich zu, wobei mir allerdings auch andere Gedanken durch den Kopf wirbelten. Wer half jetzt bei der Weihnachtsbeleuchtung? Und würde der Laden lange leer stehen? Das war nicht gut für das Ansehen des Hinterhofes.
»Hast du die Räume schon wieder zur Miete ausgeschrieben?« Das Gebäude gehörte Martha, daher war sie an keinerlei Kündigungsfristen gebunden. Wenn ich ehrlich war, konnte ich ihre Entscheidung sogar verstehen. Sobald andere das Geschäft übernahmen, erhielt sie Mieteinnahmen, ohne den ganzen Tag im Laden stehen zu müssen.
»Er ist sogar schon vermietet.«
»Wow«, sagte ich und spürte gleichzeitig Angst aufsteigen. Immerhin hatten wir keinerlei Mitspracherecht dabei gehabt, wer die Geschäftsräume übernahm. Ich liebte doch unsere Lädchen-Gemeinschaft so sehr! Leerstand war schlecht, aber ein unpassender Laden ebenfalls.
»Was ist es denn für ein Mieter?«, erkundigte sich Maike, die zusammen mit ihrem Mann Levin, Linn und mir die jüngere Fraktion des Hinterhofes bildete.
Marthas Augen huschten zur Seite. »Das sind zwei sehr sympathische Männer, der eine in eurem Alter, der andere ein wenig älter, die etwas Kreatives machen. Sie werden sich ganz hervorragend hier einfügen.«
»Was machen sie denn genau?«, bohrte ich nach.
»Ach, das weiß ich gar nicht mehr, aber du kannst sie das schon bald selbst fragen.«
Sie wusste es nicht mehr? Also, entweder zogen die beiden Typen ein absolut extravagantes Geschäft auf, das Martha sich wirklich nicht merken konnte, oder sie flunkerte uns an. Ihr unablässiges Zupfen an der Serviette auf dem Tisch ließ mich eher Letzteres vermuten.
»Nächste Woche mache ich einen Ausverkauf, und am Wochenende wird dann der Rest ausgeräumt.«
»So schnell?«, fragte Ursel erstaunt.
Martha hob entschuldigend die Hände. »Die zwei haben dringend gesucht, sie hatten wohl schon einen anderen Laden im Auge, und ihr Konzept war komplett fertig, da kam heraus, dass das Gebäude zwangsversteigert wird. Und es war ihnen zu ungewiss, in diese Räume zu investieren, weil sie nicht wussten, welche Pläne der neue Besitzer für das Gebäude hat. Und euch brauche ich nichts vorzumachen, die drei Kunden, die bei mir täglich vorbeischauen, rechtfertigen es nicht, den Laden noch länger geöffnet zu lassen.« Sie schaute nun direkt mich an. »Ich bin mir sicher, die beiden übernehmen auch meinen Part beim Adventsmarkt.«
»Aha«, sagte ich skeptisch.
Danach holte Levin erst einmal einen fair gehandelten Likör, und wir stießen auf Martha an. Sie verkündete, dass sie in Zukunft mehr reisen wollte, und ich gönnte es ihr von Herzen. Ich hoffte, dass sie nach dem langen Arbeitsleben noch viele Jahre fit ihre freie Zeit genießen konnte.
Nach drei Gläsern Likör vergaßen wir dann völlig, die Aufgaben für den Adventsmarkt ein letztes Mal durchzusprechen. Doch eigentlich war eh alles längst geklärt. Stattdessen erzählten Martha und Ilse Anekdoten aus der Zeit, bevor Linn und ich das Hygge Up eröffnet hatten. Erst nach neun verließen wir Ilses Café und umarmten Martha zum Abschied alle noch einmal.
»Na, na, noch bin ich ja nicht weg«, wiegelte sie ab, aber ihre Augen glänzten feucht im Licht der Außenbeleuchtung. »Mach dir nicht so viele Sorgen«, sagte sie zu mir. »Der neue Laden kann nur eine Bereicherung für den Fahrensmann-Hof werden. Ich habe doch schon lange keine Kundschaft mehr hierhergelockt.«
»Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass du bleibst.«
»Ach, meine Motivation ist erloschen, aber ich hatte gute Zeiten hier.« Sie blickte zu ihrem Laden hinüber, der zwei große Flügelfenster besaß. Die Tür zum Innenhof lag dazwischen.
»Wenn noch was unklar ist wegen des Adventsmarkts, meldet euch!«, rief ich noch in die Runde, ehe ich den Hof verließ und etwas beschwipst über das Kopfsteinpflaster nach Hause eilte. Der Wind war frisch, glücklicherweise hatte es aufgehört zu regnen, dennoch zog ich den Wollmantel eng um meinen Körper.
Schon im Treppenhaus des Altbaus hörte ich die Musik aus unserer Wohnung im dritten Stock dröhnen. Wut sammelte sich Stufe um Stufe in meinem Magen. Mit meinen kalten Fingern zog ich den Schlüssel hervor, und sobald ich die Tür geöffnet hatte, umhüllte mich der Sound von Communions – einer dänischen Band, der zugegebenermaßen nicht schlecht klang. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen und den Mantel an die Garderobe gehängt hatte, steuerte ich geradewegs auf das Wohnzimmer zu. Doch bevor ich die Hand nach der Klinke ausstrecken konnte, trat ich in etwas Kaltes, Feuchtes. Angewidert hob ich den Fuß. Ein dunkler Fleck hatte sich an der Unterseite meiner Socke gebildet. »Ihh!«, rief ich aus, doch ich wurde von der Musik übertönt. Suchend schaute ich mich um und entdeckte die kleine Pfütze, die wohl von Snørre, dem Hundewelpen meiner Schwester, stammte. Ich seufzte. Ich hatte zwar keine Ahnung von Hunden, aber ich fand, dass ziemlich häufig was danebenging, und dafür gab ich nicht dem Welpen die Schuld. Wie hieß es so schön? Seine Eltern konnte man sich nicht aussuchen. Das galt wohl ebenso für sein Frauchen. Ich wusste schon, warum ich alles darangesetzt hatte, ihr den Hund auszureden, als sie davon anfing. Trotzdem war der kleine Zwergpudel vor knapp vier Wochen bei uns eingezogen.
Ich drehte um und steckte beide Strümpfe in den Wäschekorb im Bad. Noch wütender als zuvor stieß ich die Tür zum Wohnzimmer auf, wo Linn mit einer Freundin auf unserer Polstergarnitur hockte und sich unterhielt. Es war mir ein Rätsel, wie sie sich bei der Lautstärke verstanden. Snørre beschäftigte sich derweil selbst, indem er auf einem meiner liebsten Flip-Flops herumkaute. Als er mich sah, begann seine Rute von links nach rechts zu schlagen, und er ließ von meinem Zehentreter ab. Meine Schwester bemerkte mich erst, als ich die Lautstärke drastisch runterdrehte.
»Lara!« Sie grinste und schien nicht den Hauch eines schlechten Gewissens zu haben. Manchmal fragte ich mich, ob sie ernsthaft so sorglos durchs Leben flatterte oder ob das einfach nur ihre Masche war. Das war ein fieser Gedanke, sie war mein Zwilling, ich liebte sie, und dennoch …
»Du hast das Treffen verpasst«, sprach ich zunächst das Offensichtliche aus.
»Ich weiß, aber Jule ist aus Kopenhagen zu Besuch, und du hast doch eh alles im Griff.«
»Hej!« Jule winkte in meine Richtung.
Ich schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, ehe ich mich wieder an Linn wendete.
»Können wir kurz in der Küche reden?«
»Worüber denn?« Sie runzelte ihre Stirn. »Kann das nicht bis morgen warten?«
»Linn, bitte!«
»Na schön.« Sie schwang ihre Beine von der Sessellehne und folgte mir. Im Flur wich ich der Pipi-Pfütze aus, warnte meine Schwester aber nicht.
»Ah! Was …? Snørre!«, rief sie prompt.
Ich konnte mir nur schwer das Grinsen verkneifen. »So ein Pech. Vielleicht solltest du regelmäßiger mit ihm rausgehen«, schlug ich unschuldig vor.
Genervt zerrte Linn sich eine Socke von den Füßen und schleuderte sie achtlos ins Bad, bevor sie zu mir in die Küche kam.
»Willst du nicht die Pfütze wegwischen?«
»Gleich!«, fuhr sie mich an. »Was willst du denn so Dringendes mit mir bereden?«
»Linn, es geht so nicht weiter. Du bist heute einfach nicht im Laden aufgetaucht und bei der Versammlung auch nicht.«
»Und wo ist das Problem? Es ist doch unser Laden. Als Inhaberin kann ich mir diese Freiheit wohl mal nehmen.«
Humorlos lachte ich auf. »Das Problem ist nur, du nimmst dir alle Freiheiten, und ich kann sehen, wo ich bleibe.«
»Immer die Spielverderberin – mache dich doch mal locker! Du führst dich ständig auf, als wärst du 18 Jahre älter und nicht nur 18 Minuten.« Sie schaute mich mit einem abfälligen Blick an, der mir einen Stich versetzte. Es war nicht immer so gewesen zwischen Linn und mir. Ich seufzte.
»Wir sind doch keine Teenies mehr, wir haben Verantwortung.«
»Schon klar. Aber ich habe jetzt halt auch Snørre, in der Welpenzeit braucht er viel Aufmerksamkeit.«
Ich ersparte es mir, sie daran zu erinnern, dass sie mir versprochen hatte, der Hund würde ihre Arbeit im Laden nicht beeinträchtigen. Stattdessen sagte ich nur: »Na ja, was machst du schon mit ihm – regelmäßig rausgehen zumindest nicht.«
»Du bist so entsetzlich selbstgerecht! Das stimmt doch überhaupt nicht! Nur weil einmal was danebengeht. Wahrscheinlich würdest du mir am liebsten einen Stundenplan schreiben, damit ich ja alles so erledige, wie es dir in den Kram passt.«
Überrascht von ihrem Ausbruch lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und betrachtete sie. Wie konnten sich zwei Menschen so ähnlich sehen und dennoch unterschiedlich wie Feuer und Wasser sein? »Mensch, Linn, das Hygge Up, das war doch unser gemeinsamer Traum! Martha hat heute verkündet, dass sie in einer Woche schließt und dass sie bereits einen Nachmieter hat. Zwei Männer mit irgendeinem kreativen Konzept. Ich hätte es gut gefunden, wenn du da gewesen wärst, und im Laden hätte ich dich heute auch gebraucht!«
»Du mich? Das wäre ja mal was ganz Neues. Du brauchst mich doch nur, um auf mir herumzuhacken und um dich auf meine Kosten zu profilieren.«
»Wie bitte?«
»Stimmt doch! Und weißt du was? Das ist mir zu blöd. Schon länger.«
Eine Weile sagte niemand etwas, und die Stille legte sich schwer über uns. Ich suchte nach den passenden Worten, um dieses Gespräch in konstruktive Bahnen zu lenken, doch dann ergriff meine Schwester wieder das Wort. »Jule geht über den Winter nach Gran Canaria, um dort in einem Hotel zu arbeiten. Sie hat mir angeboten mitzukommen, die suchen noch mehr Leute.«
Ein undefinierbarer Laut entwich mir. »Das geht wohl schlecht, schließlich hast du hier einen Laden, zumindest zur Hälfte.«
»Dann hör doch mal auf, dich so aufzuführen, als gehöre er dir allein! Und auch wenn du mir am liebsten jeden Handgriff vorschreiben würdest – ich bin nicht deine Angestellte«, giftete Linn und machte dann das, was sie nur allzu gut konnte. Sie stand auf und ließ mich stehen beziehungsweise sitzen. »Jule, komm wir gehen mit Snørre raus!«, hörte ich sie im Flur rufen.
Wenig später fiel die Wohnungstür ins Schloss. Ratlos blieb ich einige Minuten sitzen, ehe ich aufstand und im Flur die Pfütze beseitigte. Linn war schon mal eine Zeit lang auf den Kanaren gewesen. Davor war unser Verhältnis angespannt, aber als sie zurückkam, wirkte sie zunächst verändert. Mehr mit sich selbst im Reinen. Und als mir meine damalige Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt wurde, schlug sie vor, dass wir uns zusammen etwas suchen. Kleine Wohnungen waren begehrt in einer Studentenstadt wie Flensburg, die Auswahl war bei mehr Zimmern deutlich größer gewesen. Zu der Zeit arbeitete Linn in einem Callcenter und verdiente ganz gut. Glücklich waren wir allerdings beide nicht in unseren Jobs. Als ich überlegte, nicht länger als Krankenschwester zu arbeiten, kam Linn mit der Idee von einem eigenen Laden an, und schnell entwickelte sich daraus der Plan für das Hygge Up.
Im Herbst 2019 eröffneten wir. Es war unser Baby, unsere Zukunft. Dachte ich zumindest. Doch die Realität hatte mich schnell eingeholt. Menschen änderten sich nicht, hatte meine Freundin Hanna damals zu mir gesagt. Doch ich hatte ihre Bedenken in Bezug auf die Zuverlässigkeit meiner Schwester ignoriert, hatte mir alles so schön vorgestellt. Und während der Pandemie lief es – trotz der finanziellen Sorgen – mit Linn auch noch ganz gut. Heute fragte ich mich manchmal, ob sie in der Zeit, als alles geschlossen war, einfach nur nichts Besseres vorgehabt hatte. Oder ob sie jetzt einfach alles – jedes Konzert, Festival und jede noch so kleine Feier – nachholte, was in dieser Zeit ausgefallen war. Auf jeden Fall ging es mit unserer Zusammenarbeit seit gut einem Jahr stetig bergab. Und sie hatte sogar recht! Manchmal führte ich mich auf wie eine besserwisserische Kuh, aber was sollte ich denn machen, wenn sie von allein keinerlei Verantwortung übernahm? Eine Träne rollte mir über die Wange, als ich die Papiertücher in den Müll warf. Ärgerlich wischte ich sie weg und machte mir einen Tee, mit dem ich mich anschließend in den Lesesessel in meinem Schlafzimmer kuschelte. Ich nahm das Buch von dem kleinen Beistelltisch und tauchte ab in die Welt der Hauptfigur, schlüpfte in ihr Leben und ließ für eine Weile meine Sorgen in der Wirklichkeit zurück.
Die erste Novemberwoche verflog, während Martha nebenan ihren Ausverkauf durchzog. Linn tauchte mal mehr, mal weniger regelmäßig im Hygge Up auf, und ich verkniff mir eine erneute Moralpredigt. Ich kam mir eh schon viel zu oft vor wie die Meckertante vom Dienst, als die sie mich nur zu gern bezeichnete.
Kaum schloss Martha nebenan für immer ihre Türen, rückte eine Horde Typen an, die die letzten Sachen ausräumten und sämtliches Inventar gleich mit. Leider war nichts darunter, was sich für unseren Laden eignete.
Ich putzte gerade die vorderen Fenster von innen, als meine Cousine Aline durch die runde Torwölbung in den Hinterhof spazierte. Ihre roten, schulterlangen Haare schauten unter einer Strickmütze hervor. Kurz stutzte sie angesichts des Trubels nebenan, dann sprang sie in einem Satz die Stufen hoch, und die Türglocke bimmelte, als sie eintrat.
Sie schaute zunächst auf das Letterboard, das gleich im Eingangsbereich stand und auf das ich mindestens einmal in der Woche einen neuen Spruch steckte. Heute stand dort: Du kannst … Ende der Geschichte.
Häufig waren es Sprüche, die sich auf das Leben bezogen, manchmal ließen sie sich – mit einem Augenzwinkern – auch auf die Entscheidung für schöne Dinge aus dem Hygge Up anwenden. Sie sollten den Fokus auf die positiven Seiten des Lebens lenken, darauf, das Leben zu genießen.
»Hey Aline«, begrüßte ich meine Cousine, die aus Bochum stammte und die ich erst seit wenigen Wochen kannte. Ihre Mutter war vor knapp dreißig Jahren in einem Sommerurlaub vom Bruder meines Vaters schwanger geworden. Doch mein Onkel verunglückte, noch bevor Aline geboren wurde, und unsere Familie erfuhr nie etwas von ihrer Existenz. Eine wirklich tragische Geschichte. Aline musterte mich drei Sekunden – so lange brauchte sie meist, um Linn und mich zu unterscheiden.
»Moin Lara«, begrüßte sie mich dann zielsicher und wie eine echte Norddeutsche. Ich stieg lächelnd von dem Hocker und setzte mich stattdessen auf die Fensterbank, die ich eben leer geräumt hatte. Es wurde Zeit, den Laden vollständig weihnachtlich zu dekorieren, und dafür brauchte ich Platz. Bisher hatte ich nur ein paar Weihnachtssachen in eine Ecke gestellt. Die restliche Ware wartete seit Monaten im Lager darauf, ausgepackt zu werden.
»Hast du eigentlich schon mal überlegt, deine Sprüche auf ein Produkt drucken zu lassen und es dann zu verkaufen?«, fragte Aline und deutete zum Letterboard.
Daran hatte ich bisher noch nicht gedacht. »Geht das denn so einfach, wegen der Urheberrechte?«
»Da mache ich mich mal schlau. Ich glaube, wenn der Urheber länger als 70 Jahre tot ist, geht es. Außerdem könnten wir uns auch eigene ausdenken. Ich würde die Gestaltung übernehmen.«
Meine Mundwinkel bogen sich nach oben. Aline war Illustratorin und arbeitete gerade an ihrem ersten Kinder-Comic. Ihre Zeichnungen waren brillant.
»Einen habe ich schon, so bin ich damals auf den Namen gekommen. Hygge Up your Life. Weil das zu lang war, haben wir es gekürzt auf Hygge Up.«
»Oh, der Spruch ist super! Der wäre prima für euer Branding.«
Ich nickte. »Aber vielleicht schieben wir das aufs neue Jahr? Vor Weihnachten ist es hier recht stressig.«
»Klar, du hast ja auch noch den Abend mit den Adventskränzen geplant.«
Noch ein Vorschlag von Aline, den ich nur zu gern angenommen hatte. Am Freitag vor dem ersten Advent sollte im Hygge Up ein Adventskranzbinden stattfinden. Gemeinsam mit einer Floristin aus Flensburg.
»Übrigens sind schon alle Plätze weg! Das war wirklich eine grandiose Idee von dir.«
Aline zuckte ungerührt mit ihren schmalen Schultern, die in einem viel zu großen Hoodie von ihrem Freund Tom steckten. Ihre Jacke hatte sie auf einen Stuhl gelegt, die Mütze saß immer noch auf ihrem Kopf. »Bietet sich bei den vielen Tischen hier doch an. Soll ich dir am Tag vorher beim Umstellen helfen?«
»Das wäre fantastisch. Falls Linn …« Ich ließ das Ende des Satzes offen. Aline war neu in unserer Familie, und ich wollte ihre Sicht auf Linn möglichst nicht beeinflussen. Dennoch war meine Cousine mir schon das ein oder andere Mal helfend zur Hand gegangen, wenn meine werte Schwester Wichtigeres zu tun hatte, als sich um ihr eigenes Geschäft zu kümmern.
Aline trat zu mir ans Fenster und linste in den Hof. »Wird nebenan renoviert?«
»Es kommt ein neues Geschäft rein, ich weiß aber noch nicht, was für eines. Martha wollte nicht mit der Sprache rausrücken, angeblich hatte sie es vergessen.« Ich folgte Alines Blick hinaus, wo sich die Kisten stapelten. Zwar gab es einen Hintereingang, der mit dem Auto zugänglich war, dennoch transportierten die Typen einiges durch den Innenhof ab. Keine Ahnung, warum. Gut fand ich das nicht, schließlich sollten unsere Kunden sich nicht wie auf einer Entsorgungsstation fühlen. In dem Moment streiften meine Augen ein bekanntes Profil, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Hendrik Jacobi!
Was machte der denn hier? Hoffentlich kam er nicht ins Hygge Up. Sein dunkelblondes Haar trug er nach hinten gegelt, was es noch dunkler aussehen ließ. Im Nacken und seitlich waren sie so kurz rasiert, dass die Kopfhaut zu sehen war. Wie früher trug er dunkle Klamotten und schwarze Vans. Glücklicherweise ging er am Hygge Up vorbei, in Richtung Marthas Geschäft. Ob er wohl als Möbelpacker arbeitete?
Als hätte er meine Gedanken gehört, wendete er den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Seine Augen wirkten in dem fahlen Licht draußen schwarz, ein Piercing blitzte an einer Augenbraue auf. Zwei Sekunden lang starrte er mich an, ehe sein linker Mundwinkel nach oben zuckte. Er hob zwei Finger an die Schläfe und streckte seinen Arm dann leicht nach vorn, ähnlich wie bei einem Salut, nur geschmeidiger. Prompt fühlte ich mich von ihm verhöhnt. Doch obwohl er weiß Gott nicht mein Typ war, ließ sich seine Attraktivität nicht leugnen. Er sah auf eine lässige, ungewollte Art gut aus, wenngleich er in meinen Augen alles tat, um dem entgegenzuwirken. Angefangen von dem Tunnel in seinem Ohr bis hin zu den zahlreichen Tattoos. Als er vor neun Jahren mit Linn zusammen war, hatte er bereits eines gehabt, aber nun waren selbst seine Hände tätowiert, und durch eine Begegnung im letzten Sommer wusste ich, dass seine Arme genauso aussahen. Als Erwiderung auf seinen Gruß verzog ich nur schwach die Lippen und wandte mich dann rasch vom Fenster ab.
»Wer ist das?«, fragte Aline, die dicht neben mir stand.
»Hendrik, ein Ex von Linn. Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen, aber in diesem Jahr ist es schon das zweite Mal. Ganz ehrlich – ich könnte auf ein drittes verzichten.«
Aline gluckste. »Na ja, die Chancen stehen wahrscheinlich gut, dass dein Wunsch in Erfüllung geht, immerhin ist schon November. Obwohl er doch nett anzusehen ist.«
»Findest du?«, gab ich mich betont gleichgültig, obwohl ich sehr wohl wusste, was sie meinte.
»Definitiv«, beteuerte Aline.
»Nicht mein Typ«, erwiderte ich knapp und wandte dem Fenster demonstrativ wieder den Rücken zu. »Außerdem war er mir schon früher unsympathisch«, fügte ich hinzu. Auch wenn das nur die halbe Wahrheit war.
»Vielleicht hat er ja den Laden nebenan gemietet.«
»Der?« Ich lachte auf. »Das bezweifele ich.«
»Wieso? Auch unsympathische Leute eröffnen Geschäfte.«
»Sicher, aber als ich in der Ausbildung zur Krankenschwester steckte und Linn nach einer Ehrenrunde ihr Abi in der Tasche hatte und anfing zu studieren, tat der … nichts. Ich glaube, er jobbte auf Minijob-Basis irgendwo am Strand, aber sonst – niente.«
»Cool, du hast mal als Krankenschwester gearbeitet?«
Ich nickte. »Die Ausbildung habe ich drüben an der Westküste gemacht, anschließend habe ich in Flensburg am DIAKO-Krankenhaus gearbeitet, aber nach ein paar Jahren machte es mir immer weniger Spaß, und nun bin ich hier.« Mit einer ausschweifenden Geste umfasste ich die Räumlichkeiten des Hygge Up. »Dadurch kenne ich übrigens auch Nora, wir sind zeitgleich Krankenschwestern geworden.« Seit Aline Ende des Sommers hergekommen war und meine Freundin Nora beim Surfen kennengelernt hatte, verstanden die beiden sich blendend, was mich ungemein freute, da sie mir beide am Herzen lagen.
»Ah, verstehe!«, sagte Aline. »Wolltest du das schon immer werden?«
Ich überlegte kurz. »Ich und meine Eltern dachten wohl, mir liegt es, mich um andere zu kümmern, und es würde mir Freude machen zu helfen.«
»Aber so war es nicht?«
»Doch, schon, aber letztlich bin ich zu sensibel für den Job, mich haben die Schicksale einfach nicht mehr losgelassen. Und die Tatsache, dass ich so bin – also die vermeintliche Kümmerin in der Familie – manchmal weiß ich nicht, ob das wirklich an meinem Charakter liegt oder ob mir nur einfach keine Wahl blieb mit Linn als Schwester.«
»Wie meinst du das?«
»Ich war als Kind eher der schüchterne Zwilling und Linn der extrovertierte, und sie war viel mutiger als ich. Egal, ob es darum ging, wer sich in der Reitstunde auf das größere Pony traute oder wer im Schwimmbad vom höheren Turm sprang. Aber ihr Mut brachte sie auch öfter in Schwierigkeiten, und wenn wir losgingen, hieß es oft: ›Lara, schaust du bitte auf deine Schwester?‹ Linn zog mich manchmal damit auf, dass ich die Vernünftige sein muss, weil ich die Erstgeborene bin. Meine Eltern haben es sicherlich nur so dahingesagt und nie ernsthaft von mir verlangt, auf sie aufzupassen, aber …«
»Es hat dich veranlasst, genau das zu tun«, beendete Aline den Satz für mich, und ich nickte. »Ein bisschen.«
»Aber umso besser, dass du nun den richtigen Job gefunden hast.« Sie deutete zum Hof. »Vielleicht hat der Typ ja auch noch beruflich umgeschwenkt, von nichts zu … irgendwas anderem.« Meine Cousine grinste frech. Als Antwort verzog ich vielsagend das Gesicht. Und ja, ich mochte beruflich angekommen sein, doch hatte ich heute noch das Gefühl, mich um Linn kümmern zu müssen. Es war halt nicht so leicht, aus seiner Rolle auszubrechen.
»Erzähl mal, wie läuft die Arbeit an dem Comic?«, wechselte ich das Thema.
»Super! Ich kann immer noch nicht glauben, dass die Agentur innerhalb von nur wenigen Wochen einen Verlag gefunden hat. Die Lektorin macht einen netten Eindruck. Anfang des Jahres fahre ich für zwei Tage nach München, und wir besprechen noch ein paar Feinheiten an der Geschichte.«
»Das klingt aufregend. Ich hoffe, ich darf eine deiner Testleserinnen sein.«
Alines Augen leuchteten auf. »Wenn du magst, gern. Auch wenn du natürlich nicht ganz zur Zielgruppe gehörst.« Sie zwinkerte.
Am Sonntagvormittag erledigte ich zunächst die Buchhaltung für Oktober. Seit unser Steuerbüro uns vorgeschlagen hatte, die Buchführung online zu erledigen, hatten wir eine viel genauere und aktuellere Übersicht über das laufende Geschäftsjahr. Nach Abschluss eines jeden Monats lud ich alle Belege hoch und heftete sie an den entsprechenden Umsatz. Dann brauchte das Steuerbüro die Einnahmen und Ausgaben nur noch auf die entsprechenden Konten zu verbuchen. Wenige Tage später erhielten wir die Auswertung für den Monat und die kumulierten Werte für das ganze Jahr.
Schon früh in meiner Jugend hatte ich verkündet, dass ich später einmal keinen Job haben wollte, bei dem ich den ganzen Tag am Schreibtisch hocken musste. Neben der Freiheit, alles selbst zu entscheiden, war das einer der Punkte am Hygge Up, die ich besonders liebte – die Vielfältigkeit. Ja, ich saß am Sonntag am Schreibtisch, aber an fast allen anderen Tagen konnte ich kreativ sein, begegnete Menschen oder fuhr zu den Brocantemärkten. Manchmal waren wir auch handwerklich tätig, bei kleineren Reparaturen der Möbel, oder wenn wir im Laden etwas ändern wollten. Insofern war ich Linn sehr dankbar, dass sie mich bei dieser Entscheidung mitgezogen hatte – wie gesagt, sie war die Mutigere.
Als der Papierkram, wie mein Opa ihn immer nannte, erledigt war, fuhr ich hinaus nach Holnis, wo ich mich mit Nora treffen wollte. Bereits als ich mein kleines Auto – das ich im Alltag fuhr, den Sprinter brauchten wir nur für die Transporte – auf dem Parkplatz abstellte und ausstieg, fiel ein Teil der anstrengenden Woche von mir ab. Ich liebte die kleine Halbinsel am oberen Ende der Flensburger Förde. Der Seewind vertrieb hier zuverlässig Kummer und Sorgen. Seit Nora mit dem Bruder des Besitzers von einem der hiesigen Campingplätze zusammen war, schaffte ich es wieder öfter herzukommen, und genoss es jedes Mal. Ich nannte es gern meinen Zwei-Stunden-Urlaub.
Ich hatte den Parkplatz nahe der Surfschule gewählt, der an das Gelände des Campingplatzes grenzte. Von dort stieg ich durch einen Durchgang in der Hecke, und dahinter offenbarte sich der Strand, der zu dieser Jahreszeit wie leer gefegt war. Nur zwei Reiterinnen mit ihren Ponys standen am Ufer und versuchten ihre Vierbeiner dazu zu bewegen, sich mit den Hufen in die kalten Wellen zu trauen. Eines der Pferde schnaubte mit gesenktem Kopf, und seine Mähne flatterte im Wind.
Deswegen liebte ich Holnis, hier durfte noch jeder den Strand nutzen. Natürlich gab es auch Abschnitte mit Vorschriften: neben dem überwachten Badestrand war das ein FKK-Abschnitt und ein Hundestrand. Doch ansonsten stand der Strand jedem offen. Und so kam es, dass man sogar im Sommer manchmal ein Pony durchs Wasser traben sah, während dahinter jemand surfte und ein Hund im Sand einem Ball nachjagte.
Ich erblickte Nora, die in eine dicke Jacke gemummelt auf einer Bank saß und aufs heute raue Meer hinausschaute, wo in der Ferne, außerhalb der Bucht, zwei Kiter über die Wellen preschten. Im Gehen fischte ich meine Handschuhe aus der Jackentasche und zog den Schal etwas fester um den Hals. Der kalte Ostwind hatte es in sich und schaffte es, durch die kleinste Ritze bis auf die Haut vorzudringen. Eine Möwe segelte über meinen Kopf hinweg und kämpfte mit dem seitlichen Wind.
»Hey«, begrüßte ich Nora, als ich mich neben sie auf die Bank plumpsen ließ.
»Ah, da bist du ja!« Sie lächelte mich an.
»Ist das Bent?« Ich deutete auf die Ostsee hinaus.
»Ja, mit Sören.«
»Bei dem Wetter, brrr! Nicht mal die Ponys trauen sich ins Wasser.«
»Glaube mir, nur noch ihre Gesichter sind nicht von Neopren bedeckt, und sie haben trotzdem geflucht, als sie ins Wasser gegangen sind. Aber die kalte Jahreszeit bietet nun mal den besten Wind, behauptet Bent.«
»Und nur die Harten kommen in den Garten.«
Nora kicherte. »Sollen wir ein Stück laufen? Mir wird langsam kalt vom Rumsitzen.«
»Liebend gern.« Ich erhob mich wieder und rieb meine Hände aneinander – ich hätte die dickeren Handschuhe nehmen sollen. »Wenn es doch nur bald den ersten Frost geben würde, das ist angenehmer als dieses nasskalte Novemberwetter und dazu noch mit Ostwind … grauenhaft.«
»Zum Glück empfindest du das auch so. Ich hatte schon befürchtet, euch Nordlichtern macht dieses Wetter nichts aus.«
Nora war erst zu Beginn des letzten Sommers hergekommen, eigentlich nur für ein paar Wochen, um eine Beziehungspause mit ihrem damaligen Freund auszusitzen, doch dann hatte sie ihr Herz verloren. An die Flensburger Förde und an Bent. Seit Ende des Sommers arbeitete sie nun auf der Intensivstation in der Flensburger Klinik.
»Wie läuft es bei der Arbeit?«, erkundigte ich mich.
»Gut, wir haben keinen einzigen Corona-Patienten mehr, und langsam läuft alles wieder wie vor der Pandemie.«
»Also viel zu tun.«
Sie lachte. »Genau, viel zu tun und immer zu wenig Personal. Das ist wohl in jeder Klinik so. Und bei dir? Steckst du schon in den Vorbereitungen für das Weihnachtsgeschäft?«
»Im Laden schreit dich das Thema Weihnachten seit dieser Woche förmlich an, und in drei Wochen startet unser kleiner Adventsmarkt. In der letzten Woche hatten wir ein Treffen, um nochmal zu checken, ob wir an alles gedacht haben, aber so weit kamen wir gar nicht. Stattdessen hat Martha aus dem Krimskramsladen nebenan die Bombe platzen lassen, dass sie ihr Geschäft aufgibt und an zwei Typen vermietet hat. Die reißen nun alles raus. Ich hoffe, bis zum Adventsmarkt sind sie damit fertig.«
»Oh, dann hat sie diesmal also ernst gemacht? Ich erinnere mich, dass Ilse so was schon andeutete, als wir im Sommer einen Kuchen bei ihr geholt haben. Und hatte sie da nicht sogar ein Inserat online gestellt?«
Ich nickte. »Das hatte sie allerdings zwischenzeitlich wieder rausgenommen. Deswegen kam es nun doch überraschend. Aber ich verstehe sie ja …«
»Und was für ein Geschäft kommt jetzt dort rein?«
Wir liefen in Richtung Naturschutzgebiet über den schmalen Schotterweg, von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über die Förde bis nach Dänemark. Ich ließ meinen Blick schweifen, versuchte, das ungute Bauchgefühl wegzuschieben, das mich bei dieser Frage überkam.
»Tja, das kann ich dir noch nicht sagen.«
»Oh!«
»Ja, oh.« Ich seufzte.
»Ach, das wird bestimmt ein toller Laden, der viele neue Kunden in euren schnuckeligen Hinterhof zieht.«
»Hoffen wir es.«
»Ich komme auf jeden Fall nächste Woche mal vorbei, ich brauche dringend Weihnachtsdeko. Ich habe übrigens auch Neuigkeiten. Aber gute!«
Ich löste meinen Blick vom dänischen Ufer in der Ferne und schaute sie an. »Bent hat dir einen Antrag gemacht!«, platzte es aus mir heraus.
Nora lachte laut auf. »Nein! Quatsch, du liest zu viele Liebesromane. Wir kennen uns doch erst wenige Monate!«
»Noralein, wenn es passt, dann passt es. Ich bin mir sicher, du wirst diesen Typen heiraten. Aber ich bin dir dankbar, dass du noch etwas wartest. Der Wirbel um eine Hochzeit reicht mir.« Im Juni nächsten Jahres würde meine Freundin Hanna heiraten. Ich war neben ihrer Schulfreundin Mia ihre Trauzeugin und erstaunt darüber, was jetzt schon alles zu tun war: Location suchen, Einladungskarten auswählen, Menü festlegen, Ablaufplan auf die Beine stellen … Die Familien der beiden lebten über die ganze Bundesrepublik verteilt, daher hatten Hanna und Chris entschieden, alle für eine komplette Woche an die Ostsee einzuladen. Und bald stand die Brautkleidsuche auf dem Programm. Weil Mia auch nicht hier lebte und Chris häufig auf Geschäftsreise war, hatte ich Hanna bereits bei der einen oder anderen Entscheidung geholfen. »Also, was sind es dann für Neuigkeiten, wenn es kein Antrag ist?«, kehrte ich gedanklich zu Nora zurück.
»Bent hat sein Haus zurückgekauft!« Meine Freundin strahlte übers ganze Gesicht, als hätte sie im Lotto gewonnen.
»Wow! Das ist toll. Es bedeutet Bent viel, oder?«
»Und wie! Ehrlich gesagt waren wir fast überrascht, dass der Eigentümer – nachdem er sich endlich entschieden hatte zu verkaufen – gar nicht groß verhandelt, sondern das erste Angebot angenommen hat.«
»Und zieht ihr zusammen dort ein?«
Noras Freund Bent hatte vor ungefähr zwei Jahren sein Haus auf Holnis verkauft, um mit seiner Ex nach Berlin zu gehen, die ihn dort dann relativ schnell abservierte. Seitdem versuchte er, das Haus, das einst seinem Opa gehört hatte, zurückzubekommen.
»Der Plan ist, dass wir erst mal renovieren, und ja … dann ziehen wir wohl zusammen. Der zwischenzeitliche Besitzer hatte zwar ursprünglich große Renovierungspläne, aber seine Frau war nicht so begeistert und wollte lieber ein Haus am Mittelmeer, deshalb hat der Typ es so, wie es war, vermietet.«
»Ich freue mich riesig für euch!«
Das Glück strahlte förmlich aus Noras Augen. Es musste schön sein, endlich den Richtigen gefunden zu haben. Meistens war ich zufrieden mit meinem Leben – auch ohne Mann. Schließlich hatte ich eine Arbeit, die ich liebte und die mich erfüllte. Dazu eine tolle Familie, Freunde und Freundinnen. Dass da noch ein Puzzleteil fehlte, fiel mir ehrlich gesagt nur in Augenblicken wie diesen auf. Aber die Sehnsucht danach verflog glücklicherweise meist schnell wieder.
Der Montagvormittag war wie in den meisten Wochen recht ruhig, daher hielt in der Regel nur eine von uns die Stellung im Hygge Up. Draußen wurde es heute gar nicht richtig hell, und ich seufzte innerlich, wenn ich an die langen Wintermonate dachte, die nun vor uns lagen. Aline und Tom fuhren über Weihnachten nach Portugal, und ich war ein wenig neidisch auf die Sonnenstunden, die sie dort erwarteten. Seit wir den Laden kurz vor der Pandemie eröffnet hatten, hatte ich so gut wie keinen Urlaub gehabt, bis auf die Zeit der Lockdowns, aber das war keine Zeit der Entspannung gewesen, sondern eher geprägt von Sorge, ob wir es schaffen würden, das Hygge Up zu halten. Zumindest auf den Adventsmarkt freute ich mich. Und vielleicht konnte ich mir dann im Januar ein verlängertes Wellnesswochenende gönnen.
Die Tür flog auf, und Snørre raste mit feuchten Pfötchen auf mich zu, sein rotes, lockiges Fell war vom Wind völlig zerzaust. Hinter ihm stapfte Linn ins Geschäft und knallte die Tür so laut zu, dass ich zusammenzuckte. Was war ihr denn über die Leber gelaufen? Zum Glück war gerade niemand im Laden. Ohne mich anzusehen, verschwand sie im Lager. Snørre und ich sahen ihr verdutzt hinterher.
»Was ist denn mit deinem Frauchen los?«, fragte ich den kleinen Pudel, der daraufhin mit dem Schwanz wedelte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass er gern Seen in unserer Wohnung hinterließ und meine Schuhe ansabberte, hätte man meinen können, er sei ein Stofftier, so süß war er. Irgendwie konnte ich schon verstehen, dass Linn sich in ihn verguckt hatte. Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, wandte Snørre sich ab und legte sich vor die Tür, wo er anfing, an der Ecke des Schmutzfängers zu knabbern.
»Snørre, nein!«, rief ich, doch er zuckte nicht mal mit einem Ohr. Linn kam wieder nach vorn, und ich deutete zu Snørre. Statt ihm zu sagen, er solle das Knabbern sein lassen, nahm sie ihn hoch und ließ sich von ihm durchs Gesicht lecken.
»Alles okay?«, fragte ich, woraufhin sie schnaubte. Snørre legte angesichts des Geräuschs seinen Kopf schief.
»Nein, ist es nicht! Du hättest mir ruhig sagen können, dass Hendrik Jacobi drüben den Laden gemietet hat!«
Erstaunt weitete ich die Augen. »Der hat den Laden gemietet?« Ich schluckte. Alle möglichen Szenarien spulten sich sofort in meinem Kopfkino ab. Keine davon passte in unsere hyggelige Hinterhofgemeinschaft. Ich bezweifelte, dass Hendrik ein Geschäft eröffnen würde, das auch nur eine Prise des dänischen Lebensgefühls »hygge« verströmte.
»Hallo?«, sagte meine Schwester ungeduldig und schnippte mit ihren Fingern vor meinem Gesicht.
Ich schüttelte die Gedanken ab und sah sie an. »Erstens wusste ich nicht, dass Hendrik einer der Mieter ist. Ich dachte, er sei ein Möbelpacker oder Entrümpler. Zweitens hast du mir überhaupt nicht zugehört, als ich mit dir über Marthas Geschäftsaufgabe reden wollte. Und drittens – was kümmert dich das?« Letzteres erstaunte mich tatsächlich am meisten, denn normalerweise hatte meine Schwester nur selten ein Problem mit ihren Verflossenen.
Snørre zappelte in Linns Arm, und sie ließ ihn runter. Der Kleine trottete los und rollte sich dann auf einem Stuhl in der Ausstellung zusammen. Zum Glück haarten Pudel nicht.
»Hättest du erwähnt, dass es sich um Hendrik handelt, hätte ich zugehört!«
»Aber ich wusste es doch nicht! Warum regt dich das so auf?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Hast du vergessen, wie er damals war?«
»Nein, aber …«
»Lara, er hat unter anderem echt fiese Dinge über dich gesagt und …«
Regte sie sich jetzt aus Loyalität mir gegenüber so auf? Sie blickte mich aus ihren blassblauen Augen an, die meinen so ähnlich waren, doch ich konnte wie so oft nicht deuten, was sie dachte. Bis wir auf die weiterführende Schule gewechselt waren, wusste ich immer, was in ihr vorging, und wir konnten wortlos kommunizieren. Aber von da an war uns das nach und nach verloren gegangen, und manchmal vermisste ich dieses stumme Verstehen. »… außerdem war er mit mir auch nur für den Spaß zusammen, obwohl er eigentlich was von einer anderen wollte.«
Das hörte ich zum ersten Mal. Linn hatte mir damals nach der Trennung nur erzählt, was Hendrik über mich – das nervige Anhängsel – vom Stapel gelassen hatte.
»Okay, das war ziemlich arschig von ihm.«
Sie wich meinem Blick aus. »Soll typisch für ihn sein. Ich habe seitdem Sachen gehört, die erspare ich dir lieber, aber du solltest dich von ihm fernhalten. Er ist einfach kein guter Kerl!«
Ich lachte verwundert auf. »Danke für den Hinweis, aber ich hatte nicht vor, mich mit ihm anzufreunden. Was mich hingegen brennend interessiert: Was für einen Laden eröffnet er denn?« Eindringlich sah ich Linn an.
»Keine Ahnung! Interessiert mich auch nicht«, brummte sie.
»Was? Aber das ist doch wichtig für unser Geschäft! Für den ganzen Hof!«
»Werden wir wohl früh genug erfahren.«
Demonstrativ verdrehte ich die Augen. »Dann gehe ich jetzt rüber und frage.« Ich umrundete den Kassentresen, doch Linn hielt mich am Arm fest.
»Lass doch, gib dich nicht mit dem ab!«
Überrascht musterte ich sie. Was war denn nur mit ihr los? Normalerweise war ich die besorgte Schwester, die versuchte, sie zumindest von allzu großen Dummheiten abzuhalten, während sie nach dem Motto lebte: Leben und leben lassen. Wobei ihr das eigene »leben« besonders wichtig war. Solange ihr keiner etwas vorschrieb, war ihr auch egal, was andere taten.
»Ich gehe doch nur rüber und frage, was sie vorhaben. Ich will das wissen!« Entschlossen schüttelte ich Linns Hand ab. Kurz wirkte es so, als wolle sie noch mehr sagen, doch dann rief sie: »Snørre, nein!«