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Todkrank und voller Leben Was hilft, und was bleibt, wenn die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung eines Kindes alle Zukunftsvorstellungen zerstört und die gesamte Familie sich mit dem Thema »Sterben« beschäftigt? Woher nimmt man Kraft? Berührende Erfahrungsberichte in diesem Buch geben hilfreiche und ermutigende Antworten. Konkrete Unterstützungsangebote und psychosoziale Konzepte wie das Elternhaus an der Göttinger Universitätsklinik werden vorgestellt. Die Geschichten handeln von starken Kämpfer*innen, von Durchhalten und Entschlossenheit und von der Hoffnung, am Ende das Leben zurückzugewinnen. Auch der Umgang mit Tod und Trauer wird thematisiert. Die Erfahrungen mit dem Erleben der Krankheit können vielschichtig sein, manchmal sogar bereichernd, und der Wandel der Werte verändert oft die bisherige Lebensgestaltung. Es werden verschiedene Unterstützungsleistungen vorgestellt. Dabei wird insbesondere auf das Konzept des Elternhauses eingegangen, eine psychosoziale Einrichtung, in der die Familien während des stationären Aufenthaltes ihres Kindes wohnen und von kompetenten Helfer*innen umfassend begleitet und gestützt werden.
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Todkrank und voller Leben
»Heute sind meine Wünsche deutlich bescheidener und geprägt von der Erkenntnis: Man muss nicht gesund sein, um glücklich leben zu können. Es ist schon so, wie man sagt: Vielleicht ist man gelegentlich gerade deshalb sogar etwas glücklicher und zufriedener als manch anderer, weil man weiß, wie zerbrechlich das Leben sein kann und wie flüchtig das Glück.« Jonas’ Mutter
Otfried Gericke, Erika Söder (Hg.)
Mut und Wut
Wenn Kinder lebensbedrohlich erkranken
Otfried Gericke, Erika Söder (Hg.)
Mut und Wut
Wenn Kinder lebensbedrohlich erkranken
BALANCE erfahrungen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86739-273-0
ISBN E-Book (PDF): 978-3-86739-274-7
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-86739-284-6
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Weitere Ratgeber, Selbsthilfebücher und Erfahrungsberichte unter
www.balance-verlag.de
BALANCE buch + medien verlag, Köln 2023
Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der
Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne
Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.
Lektorat: Tobias Gaudin, Gießen
Umschlagkonzeption und -gestaltung: Michael Schmitz, www.grafikschmitz.de,
Arnbruck, unter Verwendung eines Bildes von Bernd Beuermann
Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein
Satz: Psychiatrie Verlag, Köln
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
Ein paar Worte vorweg
»Man muss nicht gesund sein, um glücklich leben zu können«
Familie T.
»Niemals aufgeben und immer kämpfen«
Die Krankheit im Erleben von Kindern und Jugendlichen
»Ein Schreck fuhr uns in die Knochen«
Berichte von Eltern
»Besonders kostbar war die Zeit mit meinem Bruder«
Geschwister berichten
»Gut, dass wir alle durchgehalten haben«
Leben mit der Krankheit
»Das Leben macht vor dem Tod nicht halt«
Vom Umgang mit Tod und Trauer
»Wir begleiten die Familien«
Das Konzept der psychosozialen Begleitung
»Das Elternhaus war für mich wie eine Oase«
Leben im Göttinger Elternhaus
Nachwort
Adressen
Für Henning Grahlmann,den Vorsitzenden des Bauausschusses des Göttinger Elternhauses, der den Bau und das Konzept des Hauses wesentlich geprägt hat.
Mit diesem Buch möchten wir Sie, liebe Leserin und lieber Leser, in eine etwas andere Welt einladen. Eine Welt, in der es nicht um höher, weiter und schneller geht, sondern um viele Aspekte einer lebensbedrohlichen Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen.
Vielleicht haben Sie zu dem Buch gegriffen, weil Sie zur Gruppe der Betroffenen gehören – als Angehöriger oder als (ehemaliger) Erkrankter. Mögen Sie hilfreiche Impulse finden. Vielleicht haben Sie sich jedoch für das Buch entschieden, weil Sie jemanden kennen, der mit dieser Herausforderung konfrontiert ist oder war, oder weil Sie in diesem Bereich arbeiten. Oder Sie interessieren sich einfach für das Thema. Möge das Lesen Sie bereichern und Ihnen den Mut schenken, auf Betroffene zuzugehen und sie zu fragen, was eine Unterstützung für sie wäre.
Was auch immer die Gründe sein mögen, Sie haben ein Buch gekauft, das von sehr persönlichen Erfahrungen geprägt ist, die jedoch mit unterschiedlichen Facetten übertragbar sind. Gerade die Beiträge der Familienmitglieder mit verschiedensten Sichtweisen berühren, und möglicherweise spüren Sie großen Respekt vor diesen kleinen und großen Menschen, die ohne jegliche Vorwarnung und eigene Verantwortung in eine andere Welt katapultiert wurden und nun weitgehend ohne Vorkenntnisse ihren Weg gehen müssen. Sie alle sind große Kämpfer und begegnen dieser Aufgabe mit Entschlossenheit sowie der Hoffnung, am Ende ihr Leben zurückzugewinnen.
Den einen oder die andere könnte es überraschen, dass in diesem Buch ganz unterschiedliche Stile und Textarten zu finden sind. Doch so verschieden die geschilderten Schicksale sind, so unterschiedlich sind auch die sprachlichen Formen: Sie reichen vom Interview über eine Slam-Poetry bis zu Erfahrungsberichten und fachlichen Schilderungen. Gerade diese Vielfalt zeugt trotz des schwergewichtigen Themas für ganz viel Lebendigkeit und manchmal sogar Leichtigkeit. So erwartet die Leserschaft ein buntes Kaleidoskop von theoretischen Aspekten, individuellen Erfahrungen und einer großen Palette von Emotionen.
In den Schilderungen wird deutlich, dass die Erfahrungen mit dem Erleben der Krankheit sehr vielschichtig sind. Manchmal werden sie sogar als bereichernd erlebt, manchmal verändern sie die bisherige Lebensgestaltung deutlich. Ein Wertewandel kann stattfinden, und dieser prägt in anderer Weise den Familienalltag. So überwiegt bei allem Leid, das die Kinder und ihre Familien durchmachen müssen, die Erfahrung, dass es auch danach ein erfülltes Leben geben kann.
Zum Einstieg in das Buch finden Sie im ersten Kapitel die Geschichte einer Familie aus drei unterschiedlichen Perspektiven: aus Sicht des inzwischen erwachsenen krebserkrankten Kindes sowie aus den Erlebnissen der Mutter und der Schwester.
Daran anschließend folgen im zweiten Kapitel Berichte von betroffenen Kindern und Jugendlichen, an die sich im dritten Kapitel Beiträge von Eltern anfügen. Im vierten Kapitel möchten wir den Geschwistern eine Stimme geben, denn in der Realität kommen sie leider allzu oft nicht zu Wort und haben doch so viel Wichtiges zu sagen.
Das fünfte Kapitel ist eine Mischung von Texten, die Betroffene und Mitarbeitende des Elternhauses geschrieben haben. Im sechsten Kapitel können beeindruckende Entwicklungen verfolgt werden. Die Vorstellung, ein Kind in den Tod verabschieden zu müssen, ist unfassbar und oft derart angstbesetzt, dass Menschen diesem Thema lieber ausweichen. Trotzdem laden wir Sie ein, gerade auch diese Beiträge zu lesen, denn sie ermutigen auf ganz besondere Weise zu Mitgefühl, Respekt und den verschiedenen Dimensionen des Lebens.
Anschließend schildern im siebten Kapitel Mitarbeitende des Elternhauses unterschiedliche Aspekte der Begleitung von Familien, was sowohl für professionell Tätige als auch für Betroffene interessante und vielleicht sogar hilfreiche Impulse geben kann.
Im achten Kapitel schließt das Buch mit Beiträgen über das Leben im Elternhaus sowie mit einem Überblick über die Geschichte der bundesweiten Elternhausbewegung. Nach dem Schlusswort finden Sie noch Kontaktadressen, die bei Bedarf Unterstützung anbieten.
Nun haben Sie eine kleine Orientierung, was Sie in diesem Buch erwartet und welche thematische Aufteilung wir gewählt haben. Sie erschien uns als Herausgebern logisch und betont auch die zentrale Stellung der wichtigsten Autorinnen und Autoren – nämlich der von Krankheit und Tod betroffenen Familien, von ihrer Wut und vor allem ihrem Mut, diesen Herausforderungen zu begegnen!
In fast allen Berichten ist vom »Elternhaus« die Rede. Damit ist nicht das eigene Zuhause gemeint, sondern eine Einrichtung, wie sie heute in der Nähe fast aller größeren Kinderkliniken zu finden ist. In den Elternhäusern wohnen die Eltern während des stationären Aufenthaltes ihres Kindes. Dies gilt auch für das Elternhaus in Göttingen, in dessen Umfeld dieses Buch entstanden ist. Wie in vielen anderen Elternhäusern gibt es im Göttinger Elternhaus fachlich ausgebildete Mitarbeitende, die diese Familien begleiten, unterstützen und ihnen manchmal auch Wegweiser anbieten. Dazu gehört eine Haltung des feinen Hinhörens, denn die jeweilige Individualität gilt es wahrzunehmen und zu stärken, damit das Leben danach in einer anderen Weise lebenswert gestaltet werden kann.
Lassen Sie sich nun mitnehmen in diese Welt. Vielleicht fühlen Sie sich am Ende durch die persönlichen Erfahrungsberichte beschenkt, oder die Beiträge der »Profis« haben Ihnen neue Sichtweisen vermittelt.
Dreht man die Überschrift dieses ersten Kapitels um, könnte daraus die provokative These entstehen, dass ein glückliches Leben nur über eine Erkrankung beziehungsweise Glück nur über Leid erreichbar ist!
Ist das richtig? Oder falsch? Wir denken, beim Lesen dieses Kapitels geht es nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um die unzähligen Zwischentöne, das Bunte gleichermaßen wie das Dunkle – wie in diesem gesamten Buch. Und es gilt, sich darauf einzulassen, offen zu sein für Erlebensweisen, die vielleicht unbekannt, neu oder auch vertraut erscheinen.
Dieses Kapitel beschreibt einen kleinen Teil des sehr langen Weges von Familie T. und der verschiedenen Wahrnehmungen derselben Realität: Jonas’ lebensbedrohliche Erkrankung aus seiner heutigen Sicht, den Umgang der Mutter mit dieser Herausforderung damals und heute sowie die Seite der jüngeren Schwester Katja. Eine Familie, die trotz und wegen der schweren Erkrankung glücklich miteinander lebt.
Selbstverständlich wissen sie nicht, wie ihr Leben ohne diese Diagnose und deren Folgen verlaufen wäre. Sie könnten klagen, dass es so ist, wie es ist. Doch würde es die Situation positiv verändern? Sicher nicht. Jeder Mensch hat in Krisen die Wahl, ob er sich für das Leiden darunter entscheidet oder dafür, das Beste aus den Bedingungen zu machen. Im Fall der Familie T. heißt dies, überwiegend glücklich damit zu leben!
Birgit T. beschreibt ihr Erleben der lebensbedrohlichen Erkrankung (Leberkrebs) ihres damals dreijährigen Sohnes Jonas, der inzwischen durch die Behandlungsfolgen noch immer mit einer unkalkulierbaren Bedrohung lebt.
Ich war auf dem Weg zur Arbeit und wollte vorher mit Jonas (zu der Zeit zwei Jahre und sieben Monate alt) noch fix beim Kinderarzt vorbei. Machte mir Gedanken wegen seines doch recht dicken und auch harten Bäuchleins. Die Besorgnis darüber hielt sich allerdings in Grenzen, da es ihm sonst ganz gut ging. Ich dachte an Magenprobleme, vielleicht Verdauungsstörungen oder Ähnliches. Nach der Sonografie dann die Feststellung des Arztes: »Ihr Kind hat einen Tumor. Fahren Sie mal nach Göttingen. Ich ruf da schon mal an.«
An die erste Woche erinnere ich mich äußerst ungern und ich möchte sie hier auch nicht näher schildern. Unter anderem ging es Jonas dann doch plötzlich sehr schlecht. Sein Zustand stabilisierte sich, und mit der Diagnose bekamen wir auch endlich einen Plan an die Hand. Diagnostiziert wurde ein bösartiger Lebertumor, der aufgrund seiner Größe nicht primär operabel war. Der linke Leberlappen war vollständig, der rechte zu großen Teilen vom Tumor infiltriert.
Basierend auf weiteren detaillierten Informationen berechnete ich immer und immer wieder unsere Chancen auf Heilung. Jeder geht auf seine Weise mit der Thematik um. In jedem Fall kam ich zu dem Schluss, dass unsere Chance so schlecht nicht war.
Mit der Zeit, dem fundierten Wissen der Ärzte, dem enormen persönlichen Einsatz der Schwestern, Pädagoginnen und dem Elternhaus gewann ich an Zuversicht, fühlte mich sehr gut aufgehoben und sehr sicher. Nur so konnte auch ich Jonas eine echte Hilfe sein. Jonas bekam seinen Broviac-Katheter und in drei Zyklen von je elf Tagen die präoperative Chemotherapie.
Seine Werte fielen nach jedem Block ins Bodenlose, und er bekam recht häufig Erythrozyten und Thrombozyten transfundiert. Die Leukos waren auch ständig futsch, sodass er sich einen Infekt nach dem anderen einfing und wir kaum nach Hause kamen.
Aber auch der Tumor nahm Schaden. Nach den drei Blöcken war er deutlich reduziert. Als Jonas und seine Blutwerte sich erholt hatten, konnte er erfolgreich operiert werden und dabei einen Großteil seiner Leber (ca. 60 %) behalten.
Nachdem er extubiert war, äußerte er uns gegenüber den Wunsch nach »Bergen von Eis«, den wir allerdings nach Rücksprache mit dem Arzt nicht erfüllen durften. Zwei Tage später wurde er bereits von der Intensivstation zurück auf die kinderonkologische Station verlegt. Jetzt konnte er gesund werden. Ich entspannte mich und in der folgenden Nacht wurde dann unser Töchterchen geboren. Drei Wochen zu früh und mit 2.540 Gramm ein wahrer Winzling, aber kerngesund und topfit. In einer Stunde und sieben Minuten waren wir mit der Geburt durch und ich konnte erst einmal zurück zu Jonas. Mein Mann war geschlaucht und brauchte zunächst seinen Schlaf. Am nächsten Tag ermöglichten es die Ärzte, dass auch Katja mit zu Jonas durfte. So konnten wir bei beiden Kindern und alle zusammen sein.
Jonas erholte sich schnell von der Operation. Wir durften kurz nach Hause und anschließend erhielt er postoperativ zwei weitere Zyklen Chemotherapie. Danach lag der entscheidende Wert im Normbereich. Wir hatten zwei gesunde Kinder.
Es folgte ein fantastisches Jahr mit unseren Zwergen. Ein gutes Jahr später brachten wir Jonas mit starken Bauchschmerzen und Herzrasen erneut in die Uniklinik nach Göttingen. Er hatte Blut erbrochen und im Stuhl. Nach diversen Untersuchungen kam er direkt auf die Intensivstation. Zur Erläuterung: Jonas hatte eine Pfortaderthrombose, verursacht durch das Zusammendrücken des Gefäßes durch den Tumor. Besagter Thrombus war während der Leberteilresektion 1996 ebenfalls entfernt worden. Leider nicht für immer. Aufgrund der Druckerhöhung in der Pfortader hatte sich nun ein Entlastungskreislauf in Richtung Magen und Speiseröhre gebildet. Diese relativ kleinen Gefäße sind zur Aufnahme solcher Blutmengen nicht konzipiert und so hatten sich Krampfadern in der Speiseröhre gebildet, aus denen er auch blutete.
Nach einer Woche Intensivstation, in der sein Zustand stabilisiert werden konnte, wurde er am 25.09. erneut operiert. In dieser OP wurde zur Entlastung ein Shunt zwischen Milz- und Nierenvene angelegt. Nach einer weiteren Woche (Katja lernte derweil im Elternhaus anhand der fahrbaren Beistelltische im Affentempo laufen) kam unser Söhnchen zurück auf seine »Leib- und Magenstation« – die 4031.
Im November bewahrheitete sich die Diagnose des Shuntverschlusses. Von Entlastung also keine Spur. Zur weiteren Behandlung empfahlen uns die Göttinger Ärzte die Uniklinik Hamburg-Eppendorf, in der wir im Januar 1998 vorstellig wurden.
Um das Blutungsrisiko bei Jonas so gering wie möglich zu halten, begannen die Ärzte sofort mit der Verödung der Krampfadern und setzten dies in etlichen weiteren Sitzungen konsequent fort. Nach Abschluss aller Untersuchungen stand auch sehr bald fest, dass eine befriedigende und ursächliche Lösung seines Problems aus vielerlei Gründen chirurgisch nicht machbar war. Wir mussten uns an den Gedanken gewöhnen, dass auf lange Sicht symptomatisch immer und immer wieder verödet werden müsste.
In diesen Monaten hatte ich wahnsinnige Angst um meinen Jungen. Um eine schnelle und richtige Reaktion zu gewährleisten, machten uns die Ärzte deutlich bewusst, dass er innerhalb weniger Minuten verbluten konnte. Überall hinterlegte ich die wichtigsten Klinikbriefe für den Notarzt.
Die größte Angst um ihn hatte ich in seiner Abwesenheit. Über diese ganze heftige Zeit ist er ein unglaublich fröhlicher Junge geblieben. Wenn er bei mir ist, macht er ein Leben für den Augenblick möglich, in dem es uns allen gut geht. Er ist ein großartiger Junge, und ich glaube, er ist glücklich.
Wirklich erwähnenswert wäre da noch, dass seine Leberfunktion zu keiner Zeit eingeschränkt war und bis heute kein Rezidiv des Tumors entstanden ist.
Es gibt Tage, da wage ich kaum, an unser Glück zu glauben. Gesundheit ist nicht selbstverständlich, und diese Aussicht und Hoffnung auf Gesundheit für Jonas macht mich glücklich.
Jonas schildert die medizinischen Aspekte seiner Krebserkrankung und deren Folgen in gleicher Weise wie seinen andauernden Umgang damit, denn diese sind durchaus gefährlich. Selbst Spezialisten können bei einem möglichen operativen Eingriff in das innere System von Jonas die Folgen nicht voraussehen. Deshalb gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur die Option, damit zu leben und achtsam mit den Symptomen sowie den damit verbundenen Emotionen umzugehen.
»Was ist das eigentlich, eine Pfortaderthrombose?« – Diese Frage wird mir häufig gestellt, wobei es gar nicht so leicht ist, dies in wenigen Sätzen zu beantworten. Einfach ausgedrückt handelt es sich dabei um einen teilweisen oder, wie in meinem Fall, vollständigen Verschluss eines Blutgefäßes vor der Leber. Die Folgen sind eine übergroße Milz und ein zu hoher Druck in den kleinen Blutgefäßen, die Speiseröhre und Magen durchlaufen. Diese kleinen Blutgefäße vergrößern sich zunächst (Krampfadern) und öffnen sich im schlimmsten Fall, was zu lebensbedrohlichen Blutungen innerhalb des Verdauungstraktes führt.
»Warum lebensbedrohlich?« – Zum einen verlaufen diese Blutungen in der Anfangszeit absolut symptomfrei. Zum anderen geht dadurch massig Eisen verloren, weshalb das Blut die Fähigkeit verliert, den Sauerstoff zu transportieren. Nur diese letzte Symptomatik ist spürbar. Die Folgen sind ständige Müdigkeit, massive Konzentrationsschwierigkeiten, sofortige Erschöpfung bei kaum nennenswerter mentaler oder körperlicher Betätigung, schlimmstenfalls Schockgefahr bei totalem Sauerstoffmangel und Schlafstörungen.
Lange Zeit war mir nicht mehr klar, wie gefährlich meine Erkrankung ist, denn meine gesamte Schulzeit verlief ohne viel Blutverlust. Erst mitten in meinem Studium wurde ich von Tag zu Tag schwächer, konnte keinen Text, der länger als zwei A4-Seiten war, mehr lesen, ohne dabei einzuschlafen. Seitenstiche bekam ich schon nach etwa hundert Meter Fußweg und direkt nach dem Frühstück das Bedürfnis, wieder das Bett aufzusuchen. Als ich schließlich beschloss, mit den Beschwerden meine Hausärztin aufzusuchen, war es schon fast zu spät. Sie schickte mich sofort ins Krankenhaus, wo man durch mehrere Bluttransfusionen und endoskopische Behandlung der Krampfadern versuchte, den Blutverlust zu stoppen. Daraufhin war ich bei verschiedenen Spezialisten der Gefäßchirurgie, die das zugrunde liegende Problem (verschlossene Pfortader) leider nicht lösen können. Das Problem der Ärzte besteht darin, dass sich mein Gefäßsystem vollständig umstrukturiert hat, um die verschlossene Pfortader zu umgehen. Eine kleine Änderung an diesem komplexen System kann zu unvorhersehbaren Komplikationen führen. Einzig und allein mein Körper weiß, wie dieses System funktioniert, und wenn es das nicht tut, kann mir kein Arzt helfen. Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Blutungen zu stoppen und das verlorene Blut beziehungsweise Eisen aufzufüllen.
Derzeit geht es mir ganz gut. Es sind keine blutungsgefährdeten Krampfadern nachweisbar. Jedoch ist der Druck in meinem Magen mittlerweile so hoch, dass die Schleimhäute schon bei bloßer Berührung bluten. Das heißt, ich verliere ständig Blut und damit Eisen. Jetzt beginnt sich die Leber über die ständige Eiseneinnahme zu beschweren. Ich befinde mich also in der Zwickmühle, dass ich ohne Eiseneinnahme meine gesamte Energie verliere und mit Eisen ein Leberschaden droht. Hinzu kommt die übergroße Milz, die bei der Größe auch ohne Bauchtrauma reißen kann, was in meinem Fall tödlich ist.
Trotz allem und um die momentan relativ beschwerdefreie Zeit zu nutzen, werde ich in diesem Semester (endlich!) mein Studium abschließen. Dass ich bis hierhin gekommen bin, verdanke ich vor allem meinen Eltern, die mich immer unterstützen, und meiner kleinen Schwester, mit der ich mittlerweile ein sehr gutes Verhältnis pflege. Wir sehen uns jede Woche mindestens einmal und unternehmen etwas zusammen. Vor nur zehn Jahren hätte ich nie geglaubt, dass ich mich eines Tages so gut mit ihr verstehen würde. Darüber hinaus habe ich zwei langjährige sehr gute Freunde, an die ich mich immer wenden kann. Das wurde mir erst wirklich bewusst, als es vor drei Jahren wieder akut wurde: Die beiden wollten sofort alles stehen und liegen lassen und das Krankenhaus aufsuchen. Sie sind immer bemüht, meine Situation und Sorgen zu verstehen, obwohl diese ihren Horizont dank bester Gesundheit häufig sprengen. Dann ist da noch das Elternhaus in Göttingen. Zu diesem Haus (und dessen Team) habe ich eine ganz besondere Beziehung. Ich versuche bis heute, jede Veranstaltung des Hauses zu besuchen, und kann mich jederzeit bei ihnen melden, wofür ich sehr dankbar bin. Daneben gibt es noch Musik – meine absolute Leidenschaft. Ich habe eine große Vorliebe für die barocken Komponisten (Händel, Vivaldi, Corelli, Dall’Abaco … und allen voran natürlich J. S. Bach), spiele selbst seit vielen Jahren Klavier und etwas Kirchenorgel, wobei meine Kenntnisse hier eher autodidaktischer Natur sind. Häufig kann ich mich stundenlang in der Musik verlieren, wenn ich nicht mehr weiterweiß.
»Dass du noch weitermachst! Ich hätte an deiner Stelle schon aufgegeben.« – Aussagen dieser Art höre ich sehr oft. Ich habe in den Klinikaufenthalten verschiedene Leidensgenossen kennengelernt und muss sagen, dass ich mir auf den Stationen für Lebererkrankungen immer sehr überflüssig vorkam. Im Gegensatz zu diesen Patienten bin ich gesund. Meine Leber funktioniert – halbwegs. Außerdem hätte es viel schlimmer kommen können: Wenn das Blut nicht von der Leber gefiltert wird, gelangt Ammoniak ins Gehirn, was zu massiven Hirnschäden führen kann. Durch die Chemotherapie (eine bösartige Neubildung an der Leber war Ursache für die Pfortaderthrombose) hätte ich einen schweren Herzfehler bekommen oder sogar taub werden können. Das alles ist zum Glück nie eingetreten. Zudem treffe ich immer wieder Leute, die sich ausgiebig über ihre (doch recht gut behandelbaren) Krankheiten auslassen und sich dabei selbst sehr leidtun. Sie sitzen aufgrund ihrer Krankheiten seit vielen Jahren zu Hause und verlieren dabei jegliches Selbstwertgefühl. Menschen mit dieser Mentalität zeigen mir immer, welchen Weg ich niemals einschlagen möchte.
Des Weiteren habe ich durch die Erkrankung einiges lernen dürfen, was andere erst sehr spät oder gar nicht herausfinden: Die Möglichkeit des eigenen Todes besitzt eine stark motivierende Kraft. Wenn Ärzte einem sagen: »Wir wissen nicht, ob wir dir helfen können«, werden auf einmal Dinge wichtig, die man eigentlich schon längst aufgegeben hat. Man hält sich nicht mehr mit Kleinigkeiten auf oder deutet diese als Hindernisse. Was ich auch auf meine Erfahrung mit der Erkrankung zurückführe, ist die ständige Bemühung, meine Mitmenschen in ihrer einzigartigen Lebenswelt zu verstehen. Auch dann, wenn viele andere sagen mögen: »Wie konnte sie beziehungsweise er das tun? Ich verstehe es nicht.« Ich finde es schwierig, darüber zu urteilen, mag die Handlung noch so abwegig erscheinen, da ich nicht ihre Persönlichkeit mit ihren einzigartigen Erfahrungen besitze. In diesem Bereich bewegt sich auch das Thema meiner Abschlussarbeit, an der ich derzeit arbeite: »Was heißt es, eine Person zu verstehen? Und welche Rolle spielt Empathie dabei?«
Ich habe mal auf einem Teebeutel folgenden Spruch gelesen: »Deine Erfahrung ist das Einzige, was du jemals wirklich besitzt.« Wenn das stimmt, habe ich bis heute davon in meinem bisherigen Leben schon einiges sammeln dürfen, und dafür möchte ich nicht undankbar sein.
Katja kennt ihr gesamtes Leben die Situation, dass ihr Bruder Jonas eine Krebserkrankung hatte und von den Folgen bedroht ist, denn sie wurde kurz nach Jonas’ Diagnose geboren. So berichtet sie von der Zeit, als die Herausforderung überwog und für sie nicht alles gut war. Doch mit zunehmendem Alter kann sie das Geschehen verstehen, und heute erlebt sie sich und ihre gesamte Familie als eng verbunden und glücklich.
Wie ist das Leben nach der Krankheit? Um ehrlich zu sein, gibt es kein Leben danach, sondern nur ein Leben damit – mit der Krankheit leben.
Wie alles begann oder wie die Zeit war, als mein Bruder Krebs hatte, kann ich nicht sagen. Ich war zu klein, um es zu verstehen, und erinnere mich nicht daran, wofür ich dankbar bin. Wenn ich höre, wie meine Eltern, mein Bruder und meine Großeltern davon sprechen, bin ich froh, mich nicht an jedes einzelne Detail zu erinnern.
Ich kann mich aber an eine Zeit erinnern, wo es nicht immer gut war. Es gab oft Streit. Mit meinen Eltern, besonders mit meiner Mama, aber auch mit meinem Bruder. Zeitweise wusste ich nicht, warum ich sauer war oder warum wir stritten. Dann waren da noch die ganzen Untersuchungen, wobei immer ein Elternteil mit meinem Bruder mehrere Tage unterwegs war. Von Klinik zu Klinik, von Arzt zu Arzt. Die bittere Erkenntnis: Aufhören wird es nicht.
Heute weiß ich, dass wir alle immer eine unglaubliche Last mit uns trugen beziehungsweise weiterhin tragen. Jeder Einzelne, der Ängste und Sorgen mit sich schleppt. Damals, als ich jünger war, konnte ich es oft nicht in Worte fassen, und das bedrückte mich. Viele kennen auch sicher das übliche Problem, nicht mit seinen Eltern reden zu wollen. Das kommt erst später … Natürlich fühlte ich mich auch hin und wieder benachteiligt, aber niemals taten meine Eltern dies mit Absicht. Ich bin und war immer ein gesundes, quicklebendiges und starkes Mädchen.
Jetzt kann ich mit meinen Eltern und meinem Bruder über alles reden, und sie stehen immer hinter mir, egal was passiert. Das taten sie schon immer, so gut es eben ging. Wir hatten nie einen besseren Zusammenhalt als jetzt! Zu meinem Bruder kann ich nur sagen, dass ich überglücklich bin, ihn an meiner Seite zu haben. Wir haben eine unglaublich enge und vertrauensvolle Beziehung bekommen, was vor zehn Jahren noch niemand geglaubt hätte. Mein Bruder ist für mich mein bester Freund und ein wichtiger Teil meines Lebens. Niemals habe ich ihn sagen hören, dass er aufgeben würde. Er steht jeden Tag auf und zeigt somit allen Menschen, dass es lebenswert und vor allem möglich ist, nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Bald wird mein Bruder seinen Bachelor absolvieren, er wohnt in einem kleinen Apartment in Bielefeld und wir sehen uns jede Woche, meistens fahren wir am Wochenende zusammen zu unseren Eltern. Auch zu meiner Mama und meinem Papa habe ich eine viel bessere Beziehung als damals, wir können über alles reden. Meine Mama ist eine unglaublich starke Frau – nein, sie ist die stärkste Frau, die ich kenne. Sie lässt sich nie unterkriegen und steht immer wieder auf, mehr für andere als für sich, aber daran arbeiten wir noch. Mein Papa ist immer da und weiß immer weiter. Er strahlt eine unglaubliche Ruhe und Sicherheit aus und ist immer für mich da, ob Tag oder Nacht. Und er war für meine Mutter der Fels in der Brandung, als mein Bruder krank und ich zu klein war, um für sie da zu sein.
Ich bin für jeden Tag dankbar, den ich mit meinem Bruder verbringen kann. Ich weiß aber auch, dass es jeden Tag schlimmer werden könnte, bei all den Diagnosen und Gefahren. Ich bereue keinen einzigen Augenblick und keinen einzigen Tag, denn sie machten uns zu den Menschen, die wir heute sind: eine geprägte, aber überglückliche, eng zusammenhaltende und verrückte Familie.
Fast zwei Jahrzehnte nach Jonas’ Diagnose kann Frau T. sagen, dass sowohl Jonas als auch seine Schwester Katja, die während der Ersterkrankung geboren wurde, – eben die gesamte Familie – durch die Erkrankung geprägt wurden und dass sie trotz allem für nichts auf der Welt mit jemandem tauschen würde.
»Aus technischer Sicht handelt es sich um einen Totalschaden, wenn eine Sache vollständig zerstört, ihre Reparatur objektiv unmöglich ist und ihre Wiederherstellung ausgeschlossen ist.« – Das ist die Definition laut Wikipedia.
Bereits mit vier Jahren habe Jonas den Zustand eines Totalschadens erreicht. Diesen Vergleich wagte ein Arzt vor einigen Jahren, und nüchtern betrachtet trifft es die Sache im Kern.
Heute ist Jonas 27 Jahre alt. Meinem Bericht aus 1999 ist hinsichtlich seines Gesundheitszustandes wenig hinzuzufügen, außer vielleicht die Erkenntnis, dass die Hoffnung auf Gesundheit für ihn schlicht nicht realistisch ist. Die Pfortader ist zu, die Erhöhung des Drucks in der Pfortader mit massiven Auswirkungen ist Fakt und das Blutungsrisiko zeitweise enorm hoch. Nach wie vor wird bei Blutungen oder Blutungsneigung symptomatisch verödet.
Wir waren mit ihm in vielen Kliniken, von Kiel bis Freiburg, von Göttingen bis Bonn. Immer auf der Suche nach Spezialisten mit Ideen zu seinem doch recht speziellen Krankheitsbild und der dringenden Bitte: Macht was! Helft ihm!
Jonas lebt, weil sein Körper im Verlauf der vergangenen 23 Jahre Umgehungskreisläufe geschaffen hat, so verästelt und verzweigt, dass niemand auch nur ansatzweise nachvollziehen kann, wie sie funktionieren. Selbst in Spezialkliniken mit moderner Bildgebung ist das nicht möglich. Wenn also irgendwo irgendwie manipuliert würde, wären die Folgen nicht absehbar und der Eingriff unter Umständen lebensgefährlich. So bleibt alles, wie es ist, und uns nichts anderes übrig, als mit der Bedrohung zu leben.