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Gender Confusion – wie soll man als emanzipierte Frau nur seinen Sohn erziehen?
- Was passiert, wenn sich die Lifestyle-Elite der Babyboomer-Generation fortpflanzt?
- Humorvoll, ehrlich, ironisch – eine emanzipierte Mutter plaudert aus dem erzieherischen Nähkästchen
Witzig und fesselnd seziert Silke Frink die Befindlichkeiten einer verwöhnten Generation, die alles hat, alles bekommt und selbstverständlich alles richtig macht. Was natürlich auch dann gilt, wenn der Zeitpunkt der Fortpflanzung gekommen ist. Erst viele Jahre später wird sich zeigen, ob wirklich alles so gut gelaufen ist …
Die Autorin blickt schonungslos auf all die Fehler zurück, die sich ihr heute glasklar präsentieren. Dominante Mütter, abgeschreckte Väter, herrische Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen – das Ergebnis ist oftmals ein Sohn, nur lebensfähig unter der aufopfernden Hege einer perfekten Mutter, der Gender Confusion sei dank.
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Seitenzahl: 281
Du fehlst, Sir Michael † 03. Oktober 2010
»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Anspruch auf Erziehung des Sohnes wird zur Bewährung ausgesetzt.«
Die Luft im Saal ist stickig. Der Ventilator an der Decke verteilt nur die Hitze. Dabei friere ich. Es ist die Atmosphäre, die mich frösteln lässt, eine Atmosphäre absoluter Sachlichkeit, die jede Mutter frösteln ließe. Keine Spur von Anteilnahme. Die wollen mich hier fertigmachen. Nur weil ich das getan habe, was jede Mutter für ihren Sohn tut. Aber die Männer in den roten Roben glauben mir nicht. Weil sie mir nicht glauben wollen. Jedes Wort drehen sie mir im Munde um. Es ist wie ein Albtraum.
»Bitte setzen Sie sich!«
Mein Kleid klebt am Körper, ich rieche den Schweiß unter meinen Achseln.
»Begründung: Der Erste Senat des Bundesfamiliengerichts hat entschieden, dass die Lebensstellung der Mutter nicht im Sinne einer Bestandsgarantie unwandelbar ist. Vielmehr ist schon ihr Erziehungsbedarf durch den Grundsatz der Elternteilung begrenzt, den die Rechtsprechung der Vorinstanzen des Senats für die nachgeburtliche Müttererziehung aufgestellt hat.«
Jetzt schaut auch mein Anwalt ganz streng. Ich möchte etwas sagen, aber mit einer knappen Handbewegung wehrt er ab: »Pssst!«
Der Richter spricht mit sonorer Stimme: »Maßgeblich dafür ist, dass der Gesetzgeber den Erziehungsanspruch der Mutter auf ihren Sohn aus Gründen des Kindeswohls dem Anspruch des Vaters darauf nach § 1570 BGB immer mehr bevorzugt hat. Auch der emanzipierten Mutter sollte es möglich sein, sich ganz der Pflege und Erziehung des Sohnes zu widmen, ohne seine Bedürfnisse zu ignorieren oder zu leugnen. Insoweit unterscheidet sich der Erziehungsanspruch nach seiner Zweckrichtung nicht von dem der Tochter.«
Will mich denn keiner verstehen? Ich fühle mich so einsam wie noch nie in meinem Leben.
»Allerdings beruht der geschlechtsspezifische Erziehungsansatz zusätzlich auf einer fortwirkenden ehelichen Polarität«, fährt der Richter fort, »und ist deswegen, insbesondere hinsichtlich der Dauer, stärker ausgestaltet. Wenn aber der stärker ausgestaltete Betreuungsansatz stets durch den Halbteilungsgrundsatz begrenzt ist, muss dies erst recht für das Mitspracherecht des Vaters gelten.«
Von dem Juristendeutsch wird mir ganz schwindelig. Und mir fehlt es an Unrechtsbewusstsein.
»Die Lebensstellung der Mutter und damit ihr Erziehungsanspruch auf Söhne ist deswegen durch den Halbteilungsgrundsatz begrenzt, wenn der sprechmündige Vater nicht über so hohe männliche Eigenschaften verfügt, dass er dem Einfluss der Mutter ungeschmälert entgegentreten kann.«
Ich tippe meinen Verteidiger an. »Bin ich jetzt vorbestraft?« Er reagiert nicht, sondern zieht ein Blatt Spielkarten aus dem Jackett und fängt an auszugeben. Die Tür öffnet sich, mehrere Jungen unterschiedlichen Alters fahren mit großem Getöse auf Bobby Cars, Rutscherädern und Spielzeugtreckern durch den Gerichtssaal. Einer steuert einen kleinen Hubschrauber, aus dem Barbies Ken mit dem Fallschirm abspringt. Mein Anwalt steht auf, sucht hastig die Karten zusammen und steigt bei einem der Jungen auf den Traktor. Ich erkenne meinen Sohn, der sein Lieblingskuscheltier dem Vorsitzenden Richter zuwirft.
»Mama.«
Da ist noch mal mein Sohn. Diesmal älter, mit gegelten Haaren und der Hose unterm Schritt. Er geht zu Klein-Maiki auf dem Bobby Car und herzt ihn ab. Ich will zu ihnen. Zwei Vollzugsbeamte mit Schlagstöcken hindern mich. Einer von ihnen ist meine Tochter.
»Mama!«
Ich will endlich auch etwas sagen, aber in diesem Gewusel hört mich niemand. Die beiden Beamten schauen routiniert teilnahmslos. Dann klicken die Handschellen.
»Mama, warum hast Du mich nicht geweckt?«
Maik steht vor mir, jetzt hellwach, aber noch nicht angezogen. Er ist entrüstet.
»Ich muss jetzt das Auto nehmen, sonst pack’ ich es nicht mehr.«
Ich reibe mir erst die Handgelenke, dann die Augen. Das Klicken der Handschellen hallt noch nach und vermischt sich mit seiner Aufregung. Mein Auto? Himmel, es ist zwanzig nach sieben, die Schule liegt einen einzigen Kilometer von unserem Haus entfernt. Traumtaumelig wäge ich zwischen den beiden Möglichkeiten ab, die es immer gibt.
1. Ich gebe ihm das Auto nicht: Maik eilt knapp geduscht und unter Absingen schmutziger Lieder im Laufschritt zur Schule, wo er fast noch pünktlich ankommt.
2. Ich gebe ihm das Auto: Maik entspannt sich schlagartig und zieht sein Morgenprogramm wie gewohnt durch. Er erreicht die Schule fein duftend, aber deutlich zu spät. Das krawallige Liedgut entfällt.
Maik kann viel schneller laufen als sich fertig machen, einen Parkplatz findet er um diese Zeit auf die Schnelle ohnehin nicht und trotzdem entscheide ich mich für Möglichkeit zwei, was ein klares pädagogisches 1:0 für ihn ergibt. Mein Ruhebedürfnis ist enorm groß geworden und heute bin ich auch noch froh, dass ich nicht ins Gefängnis muss. Zum Glück hat Lysa – meine Tochter – das Bad schon freigegeben.
Die Generation Golf pflanzt sich fort. Nur ein paar aus der Bildungs- und Lifestyleelite haben dem Gedanken an Kinder abgeschworen, andere überlegen noch. Viel Zeit bleibt ihnen nicht mehr. Aber mit Entscheidungen tat sich diese Generation schon immer schwer. Florian Illies hat es in seinem Buch präzise beobachtet, inzwischen hat die Realität seine Beobachtungen sogar noch überholt. Das liegt daran, dass diese Männer und Frauen noch mehr Übung darin bekommen haben, sich alles so zurechtzulegen, wie es ihnen in den Kram passt. Die Golffahrer sind auf den Golfplatz gewechselt. Sie haben die Generation der Babyboomer abgelöst, die Jahrgänge stetig steigender Geburtenraten zwischen 1950 und 1965, deren Eltern noch ohne Familienplanung auskommen mussten. Illies hat die Nachgeborenen beschrieben, deren Mütter bereits die Pille hätten nehmen können. Er beschreibt die Wunschkinder, eben seine eigene Generation. Und fast schon meine.
Anfang der 90er sind wir große, starke Mädchen geworden und haben es nicht einmal gemerkt. Wir waren ehrgeizig im Beruf, liberal in unseren Anschauungen und maßlos im Konsum. Wir wollten das eine tun und das andere nicht lassen. Wir sahen Zeugung, Schwangerschaft und das Gebären als Leistung, als ehrgeiziges privates Projekt, dem wir uns freiwillig eine zeitlang zuwendeten. Dafür wollten wir mindestens genauso viel Applaus wie für unsere Karriere. Während bei der Arbeit schon mal die Anerkennung von Kollegen ausreicht und uns das Lob vom Boss einen seltenen Höhepunkt beschert, muss es hier das große Publikum sein: Eltern, Freunde, Bekannte und die Nachbarn sollten jedem Zentimeter Bauchumfang freudig applaudieren und damit unserem Entschluss, im Hier und Jetzt eine Familie zu gründen. Wenn wir uns denn schon mal dazu durchgerungen haben, möge es die ganze Welt bemerken. Das waren wir von klein auf so gewohnt. Alles andere verunsicherte uns.
Wir sind aufgewachsen mit weiblichen Vorteilen und männlichen Ansprüchen. Die Fußstapfen, in die wir treten konnten, waren so gut vorgezeichnet, dass wir viele feministische Errungenschaften im privaten Miteinander nicht mehr als solche erkannt haben. Sie waren vorrätig wie lila Latzhosen. Aber die mussten wir nicht mehr anziehen, um als tough erkannt zu werden. Das ging auch mit Flower-Power-Kleidern, mit Okölatschen, Jeans und Parka. Oder im Gegenentwurf mit Kaschmirpullover, geerbter Perlenkette und Nikituch. Hippie oder Yuppie? Beides stand zur Disposition und auch das Recht zu wechseln, ohne Angabe von Gründen. Nur die, die sich an John Travoltas »Saturday Night Fever« hielten, hatten sich disqualifiziert: Ein aufgebrezelter Style und emanzipatorisch schlaue Gedanken schließen einander aus, fanden wir.
Die Jungs redeten wir in Sozialkunde an die Wand und rechneten sie in Einzelfällen auch schon in Mathe unter den Tisch. Wir gaben ihnen Pausenbrote und Hausaufgaben, wenn sie dafür unsere alten Mofas reparierten oder versprachen, uns nach Hause zu bringen. Wir konnten hemmungslos weinen, wenn sie uns im Sport mit dem Medizinball erwischten, damit sie inständig um Entschuldigung baten. Wir konnten aber auch tapfer sein, ganz nach Bedarf.
Nach dem Abitur machten wir selbst Karriere und/oder heirateten einen Mann, der das schaffte. Im Unterschied zu unseren Müttern hatten wir mehrere ernsthafte Optionen. Das erachteten wir als selbstverständlichen, aber vorübergehenden Vorteil. Wir wussten, dass die Jungs uns überholen würden, wenn wir eine Familie gründeten, denn wir hatten davon gehört, dass die Vereinbarkeit von Kindern, Küche und echter Karriere nicht einfach sei. Und in der Tat: Halbtagsstellen gab es kaum, keinen Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze, und die gesetzlich geregelten Erziehungszeiten mit Elterngeld wurden gerade erst ausgebaut. Heute wird die großzügige Elternzeit auch gern als Reisezeit genutzt. Wenn sich die besser Verdienenden unter den Liebenden bereits in der Babyplanung über die Voraussetzungen maximaler Zuwendungen gut informieren, haben sie als junges Elternglück soviel übrig, dass es für einen langen Traumtrip in die Ferne reicht.
Wir zählten auf die Unterstützung unserer Männer und forderten eine Partnerschaft auf Augenhöhe, die in der Umsetzung einer Entmündigung gleichkam: Wir Frauen bestimmten, was geht oder nicht. Zum Beispiel, ob wir noch zu jung sind oder noch jung genug, um ein Kind zu bekommen.
Das war die zentrale Frage schon zu meiner Zeit, aber inzwischen bereitet sie schon den 20-Jährigen Stress. Bei uns führte das zu intensiven Gesprächen mit dem Mann an unserer Seite. Erst weich gezeichnet, später grell ausgeleuchtet diskutieren wir unseren Standort, miteinander und zueinander. Wir fragen uns, ob wir einem Kind überhaupt gerecht werden könnten, und meinten damit, ob es uns gerecht werden kann: Familienausflug statt Expedition ist ein Schicksalsschlag, der verkraftet sein will. Schon in der Theorie. In uns gärte die weibliche Bestimmung. Wir wollten auch Mutter werden. Komplementär zu allem, was uns sonst noch umtrieb. Wir wollen etwas weitergeben, und wenn es nur Eitelkeiten, Unpässlichkeiten und Empfindlichkeiten waren.
In den 90er-Jahren war eine Frau mit 36 Jahren spätgebärend, medizinisch betrachtet. Sie war eine Risikoschwangere, die ihrem Frauenarzt ein paar Sorgenfalten und unbegrenzt abzurechnende Ultraschalluntersuchungen bescherte. Das hat sich geändert. Wir fühlen uns viel länger fertil, als wir uns schön finden. Das Alter der Erstgebärenden steigt kontinuierlich: Ende absehbar, aber nicht akzeptiert. Dass eine Frau in die Wechseljahre kommt, während ihr Kind noch die Schultüte im Arm hält, ist schon lange keine Sensation mehr. Mein lieber Freund Matthias, der im Internet nach einer neuen Partnerin sucht, fragte mich neulich: »Weißt du«, meinte er letzthin, »was mir wirklich Angst macht?« Und gab die Antwort, bevor ich nachfragen konnte: »Frauen ab 40 mit unentschlossenem Kinderwunsch.« Da kann er ja mal froh sein, wenn er das schon dem Online-Profil entnehmen kann und nicht erst einem rosa Teststreifen.
Männer sind naturgemäß zögerlich in der Frage aller Fragen nach Sinn und Kind. Für sie es ist es immer früh genug und nie zu spät. Das war immer schon so, auch, als eine Schwangerschaft noch eine echte Überraschung war. Als ich in das Alter kam, in dem meine Großmutter dachte, ich sei nun reif für ein paar Wahrheiten, klärte sie mich darüber auf, woran man die Liebe eines Mannes wirklich erkennen könne. Nämlich an seiner Reaktion auf die ultimative Botschaft. Ein verlegenes »Wie, so schnell?« oder ein »Jetzt schon?« seien noch verzeihlich, schließlich komme auf die Männer jede Menge Verantwortung zu. Entgleiste Gesichtszüge indes disqualifizierten ihn vollständig. Sekunden der Offenbarung, die an der Sachlage nichts änderten. Geheiratet wurde so oder so. Und die Ehe war ein Leben nach den Regeln des Mannes. Deswegen war es für Oma so wichtig, sorgfältig auszuwählen.
Für uns sind das Geschichten von früher, dennoch benutzen wir immer noch den Begriff des Auserwählten: des auserwählten Spermas. Nur eine Frau weiß genau, von wem sie sich hat befruchten lassen. Mother’s baby, father’s maybe. Oder ob sie immer verhütet oder gerade ihren Eisprung hat. Nur sie entscheidet über Austragen oder Abtreiben, über Leben oder Tod. Mother’s destination, father’s destiny. Anschließend definiert die Frau seine Zuständigkeiten im gemeinsamen Alltag und, wenn es schief läuft, nach der Düsseldorfer Tabelle. Darauf achten seit Anfang der 90er auch die Ostfrauen, denen man ein unkompliziertes Verhältnis zum Sex nachsagt und die in der Deutschen Demokratischen Republik immer irgendwo arbeiten gegangen sind. Ein Mann war für sie noch nie ein Vermögen. Im vereinigten Deutschland änderte sich alles für sie. Mit Anfang 20 schon Kinder und mit Mitte 20 wieder geschieden sein, ganz entspannt und in aller Freundschaft, das geht jetzt nicht mehr.
Ich war 27 Jahre alt, mein Mann 32, als wir 1990 Eltern wurden. Das ist älter als unsere Eltern waren und jünger als der Durchschnitt heute. Ich mit abgebrochenem Lehramtsstudium und Meisterprüfung im Friseurhandwerk, mein Mann mit großartig abgeschlossenem Studium der Psychologie und fester Anstellung in einer Beratungsstelle. Eine recht solide Grundlage, auf der wir uns wenige Jahre später Hausbaupläne zu 8,6% effektiv erlaubten, sehr zur Freude der Eltern. Alles auf Nestbau, alles im Lot. Nicht, dass wir uns schon lange ein Kind gewünscht hätten. Wir hatten gerade einmal darüber gesprochen, dass wir es jetzt ja zulassen könnten – und schon war ich schwanger.
»Die Hebamme nennt das Baby Männlein, als sie es mit geübtem Griff auf meinem Bauch platziert. Da muss es ganz schnell hin. Und auch unbedingt naturgebelassen wie in der Steinzeit: ungewaschen, verschmiert, noch voller Fruchtwasser und Blut. Das sei wichtig für die Bindung, für die Familienbindung, hat sie mir gesagt.
Eigentlich wollte ich ja nur ein Baby. Jetzt habe ich ein Männlein. Und mein Mann muss nun die Nabelschnur durchtrennen. Das sei ganz wichtig für die Vater-Kind-Bindung, haben sie uns gesagt. Auch für unsere Ehe? Gewiss, sagten die Hebammen landauf, landab. Und die müssen es ja wissen. Während der Wehen wird mir der absolute Liebesbeweis zuteil: Mein Gatte begreift, was ich durchmachen muss. Und ich sehe, was er nun durchmacht. Er nimmt teil und Anteil. Wow, das bindet!«
Dabei wäre mindestens jeder zweite Mann froh, zu Hause bleiben zu dürfen, hätte er nur eine gescheite Ausrede parat. Aber die gab es seinerzeit nicht. Hätte Rolf gesagt: »Du Liebling, ich glaube, das ist nichts für mich« – ich hätte die Scheidung eingereicht. Seine Anwesenheit war zwingend. Alles andere wäre ein Desaster geworden, zumindest in meinem Kopf. Liebe zeigt sich oft und überall, so ganz richtig aber nur im Kreißsaal. Damals habe ich daran geglaubt.
Und jetzt habe ich die Szene im Kopf, als wäre sie nicht vor 20 Jahren sondern erst gestern gewesen, in einem deutschen Herbst, die Nacht sternenklar, die Mauer gefallen, die Wiedervereinigung organisiert. Es war die Zeit der Haus- und Wassergeburten und der PEKiP [=Prager-Eltern-Kind-Programm]-Gruppen. Impfen war out, Lammfelle waren in. Und Klein-Maik war da, zwei Wochen über die Zeit: ein Wonneproppen von 3700 Gramm. Alles sollte gut werden.
Ich hörte die Hebamme davon sprechen, dass der Vater ihr Partner sei, aber sie behandelte ihn wie ein ungeliebtes Mitbringsel. Andauernd fragte sie ihn, ob er noch könne, ob er das durchhielte. Und klärte ihn darüber auf, was er an ihrer Stelle bald zu tun haben würde. Im Nachhinein glaube ich, die Frau hat ihn gehasst. Und ich habe ihn nicht gebraucht. Ich wollte mich nur um mich selbst kümmern, niemandem dankbar sein müssen.
Heute weiß ich, dass ich nur Menschen um mich haben wollte, die dafür bezahlt werden, dass ich ihnen den Schlaf raube. Ärzte, Schwestern, Hebammen, die schon tausend Geburten erlebt haben, während ich das Gebären gerade erst erfinde. Sie sollten mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Auf gar keinen Fall wollte ich meinem Mann ins Gesicht schreien, nicht in diesem Bett, schon gar nicht vor Schmerz.
Diese Überlegungen hatten im Vorfeld keine Rolle gespielt. Erst als ich in den Wehen lag, dachte ich: Könnte er jetzt nicht gehen? Von mir aus ein Bier trinken. Ich will nicht peinlich sein. Ihm nicht und mir schon gar nicht. Aber anno 1990 gehörten die Männer in den Kreißsaal, so sicher wie das Amen in die Kirche. Leider war meiner mir dort fremd. Und ich ihm wohl auch.
Rolf und ich wollten gute Eltern sein. Wir wollten alles richtig machen zum Besten unseres Kindes, und wir wollten uns die Rechte und Pflichten gerecht teilen. Oh je! Ich kürze den Bericht ab und fasse zusammen: Ich spielte die Königin Mutter, meinen Mann ernannte ich zum Mutterschaftsassistenten. Er sollte sich um das Kind kümmern, aber genauso wie ich es wollte. Das Fläschchen sollte er im 55-Grad-Winkel halten, den Sauger bitteschön etwas flacher, die Windel andersherum. Und dem Kind das berühmte Bäuerchen zu entlocken, traute ich ohnehin keinem Mann zu.
Rolf hat es ertragen, hat mich ertragen. Mein Wort war Gesetz, und so wurde binnen Wochen klar, dass ich der bessere Elternteil bin. Heute weiß ich, dass es viel besser gewesen wäre, wenn mein Mann den Befehl verweigert hätte. Er hätte mir klare Grenzen setzen sollen, mich stoppen müssen, wo ich nicht zu bremsen war: »Entweder fütterst du, oder ich tue es. Auf meine Art.« Damit hätte er seinen geliebten Sohn bestimmt weder erstickt noch ertränkt. Doch Rolf hat sich untergeordnet, funktionierte, wie ich das von ihm erwartete. Unserem Sohn hat das nicht geschadet, wohl aber uns. Seine wortlosen Zugeständnisse waren der Grundstein für unsere nachhaltig gestörten Dialoge. Ich blieb zu Hause, er ging arbeiten. Das klassische Modell. So war das nicht gedacht, aber finanziell unausweichlich. Während der Schwangerschaft war ich noch als freiberufliche Beraterin für einen Kosmetikkonzern unterwegs gewesen. Das ging jetzt nicht mehr.
Mit dem Kind zu Hause fand ich mich mühsam in meine neue Rolle ein. Und überlegte, was ich mit dem, was ich gelernt hatte, zukünftig anstellen konnte. Die Brutpflege erschöpfte mich. Wenn Rolf heimkam, war ich froh, den Kleinen abgeben zu können. Ich drückte ihm den Knaben auf den Arm, und er hatte den Rotz an der Backe. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eltern und Schwiegereltern wohnten weit weg, wir waren auf uns allein gestellt. Wir redeten nur noch von und über das Kind, wir waren chronisch übermüdet, wir schliefen nur noch nebeneinander.
Das Übliche also. Die Welt dreht andersherum, sobald der eigene Winzling kräht. Rolf und mir wurde bewusst, dass das erste Kind, mit dem wir überhaupt je zu tun hatten, unser eigenes war. Wir hatten keine Vorlage in der Verwandtschaft, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft. Niemand da, der uns sein Kind mal hätte leihweise überlassen können. Wir hatten auch keine Geschwister in der Nähe, weder ältere noch jüngere, aber vor allem keine unverheiratete Schwester, die sich gern mal anbot, unser Kind zu hüten oder einfach als dritter Erwachsener unser kleines Universum stundenweise zu vergrößern. Wir waren immer allein mit dem Kind. Und wir waren ein für die damalige Zeit typisches Akademikerpaar mit viel bürgerlicher Mitte. Beseelt vom Sinn unserer Arbeit, deren Perspektive für mich unklar und unbefriedigend war, und pragmatisch genug, auskömmlich davon leben zu können. Aber heilig war uns der Wunsch, perfekte Eltern zu sein.
Das war Stress pur, körperliche Überlastung und mentale Panik. Ich hatte Angst, den Anschluss zu verpassen. Erst nach und nach ruckelte sich unsere kleine Familie doch noch ein. Maik entwickelte sich gut. Das wussten wir, weil wir keine Vorsorgeuntersuchung ausließen und kaum eines der zahlreichen Ratgeberbücher. Und weil wir uns mit anderen Paaren trafen, die mit uns über die Kaffeetassen hinweg die Kinder verglichen. Zum alltäglichen Frust kam Elternstolz. Das fühlte sich gut an. Wir waren glücklich darüber, wie unser Kleiner täglich wacher seine Umwelt wahrnahm, wie er greifen lernte, sich aufstützte und irgendwann auch saß.
Und in mir wuchs ein Gefühl heran, mit dem die Natur wohl ihren besten Haken schlägt: Mutterliebe. Das Wohl meines Sohnes war mir oberste Pflicht. Mir ging es gut, wenn es ihm gut ging. Das wollte ich mir beweisen und allen zeigen. Die tapferste Löwin war ich.
SMS von Maik: Die erste Stunde fällt aus.
1990: DEUTSCHLAND UND DIE WELT
KOMMUNISMUS
Knapp 70 Jahre nach ihrer Gründung zerfällt die Sowjetunion. Als erste spalten sich die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen ab. In Moskau wird ein McDonald’s-Restaurant eröffnet.
APARTHEID
In Südafrika markiert die Haftentlassung des schwarzen Nationalhelden Nelson Mandela den Anfang vom Ende der Apartheid.
ATTENTATE
Bei zwei Attentaten auf Wahlveranstaltungen werden der SPD-Politiker Oskar Lafontaine und wenige Monate später der CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble schwer verletzt.
HOMOSEXUALITÄT
Die Weltgesundheitsorganisation streicht Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel der Krankheiten.
GRENZVERKEHR
Im Schengener Abkommen öffnen Deutschland, die Benelux-Staaten und Frankreich ihre Binnengrenzen.
PANIK
Eine Massenpanik in einem Fußgängertunnel kostet 1.427 Mekka-Pilger das Leben.
FUSSBALL
Mit einem 1:0-Sieg gegen Argentinien beim Finale in Rom wird die deutsche Nationalmannschaft zum dritten Mal Fußball-Weltmeister.
KRIEG
Irakische Truppen überfallen das kleine Nachbarland Kuwait und lösen damit den Zweiten Golfkrieg aus.
WIEDERVEREINIGUNG
Nach erfolgreichen Verhandlungen mit den vier Alliierten ist der Weg frei für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Der 3. Oktober wird zum Tag der Deutschen Einheit.
ENERGIE
Mit dem Stromeinspeisegesetz werden in Deutschland Investitionen in erneuerbare Energiequellen subventioniert.
WAHL
Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl wird die Koalitionsregierung von Helmut Kohl im Amt bestätigt.
1990: FAMILY AFFAIRS
MEISTER
Ich lege die Meisterprüfung im Friseurhandwerk ab.
VERKEHR
Ich demoliere unser Auto, als ich rückwärts aus der Einfahrt eines Parkhauses herausfahren muss, weil ich das geschlossene Tor übersehen hatte.
NACHWUCHS
Zwei Wochen nach dem errechneten Termin wird unser Sohn Maik wird geboren.
MÖBEL
Wir kaufen drei neue Billy Regale, diesmal in weiß.
WEIHNACHTEN
Zum ersten Mal feiern wir Weihnachten ohne unsere Eltern.
So kann es nicht weitergehen. Unter der Dusche beschließe ich mehr Konsequenz bei der Erziehung meines Sohnes, auf den letzten Metern. Maik ist 19 und im letzten Schuljahr. Da geht hoffentlich noch was. In neun Monaten macht er das Abitur, wenn er denn zugelassen wird. Er darf kein Defizit mehr haben, so nennen die Lehrer Noten unter fünf Punkten, und keine unentschuldigte Fehlstunde. Das könnte knapp für ihn werden.
Maik ist alt genug, um lange aufzubleiben. Maik kann Auto fahren. Maiks Hautbild hat sich beruhigt, und er muss sich rasieren. Warum ist die Pubertät nicht längst vorbei? So wie bei Lysa? Seine Schwester ist zwei Jahre jünger und die Erfinderin des vernünftigen Gedankens. Ihre Erinnerung an die Zeit, in der sie nur aus Knien und Ellenbogen zu bestehen schien, unberechenbar herumquengelte und viel Drama-Attitüde an den Tag legte, scheint ihr jetzt schon nur noch peinlich zu sein, und mir kommt es vor, als sei sie sehr kurz gewesen.
Lysa wächst und gedeiht prächtig. 17 Jahr, blondes Haar. Sie steht jetzt schon ihren Mann. Sie hat Leistungskurs Mathe und im Nebenfach Informatik gewählt. Sie singt, und sie schaut Germany‘s Next Topmodel, ohne sich mit Träumen aufzuhalten. Auch ihr ist Styling sehr wichtig, aber es reichen fünf Minuten, und sie ist »Ready for Take off«. Klugheit und Schönheit sind für sie kein Widerspruch. Sie verliebt sich, aber sie zerbricht nicht daran. Ein Junge muss ihr zur Seite stehen und niemals im Weg. So hatte es für uns den Anschein.
Morgens um sieben findet Lysa die Welt in Ordnung, wenn ihr Bruder sie doch nur unter die Dusche und vor den Spiegel lassen würde. Er blockiert das Bad morgens länger als wir alle zusammen. Er trägt Unterhosen ohne Eingriff und die Jeans unterm Schritt. Er styled sich vor dem Fußballspiel, und hinterher duscht er in der Badehose. Wie alle anderen Jungs auch. Wella macht neuen Umsatz mit den Männern, Gillette mit den Frauen. Das ist kein Witz, das ist Realsatire. Maik schreibt Balladen und spielt Klavier. Das machen nicht alle. Derweil gerät mein Weltbild durcheinander. Ich kann den Zeitgeist nicht aus dem Haus vertreiben und frage mich ständig, was ich falsch gemacht habe, was wir falsch gemacht haben.
Und wo wird die Reise noch hingehen? Meinen Mann habe ich in den Rückzug gedrängt, meinen Sohn habe ich verbogen und meine Tochter will alles anders machen. Ich selbst möchte von meiner eigenen Zukunft nichts mehr wissen, ich habe in den letzten zwei Jahrzehnten viel Zukunft gestaltet und jetzt den Traum von Mann und Familie ausgeträumt. Und unser Kater lebt auch nicht ewig. Im Alter werde ich einsam sein und dabei wollte ich nur alles richtig und vieles besser machen.
Im Bad hat sich der Geruch von Maiks Aftershave schon etwas verzogen. Ich halte mit meinem Parfum dagegen. Die beiden Düfte vermischen sich zu einer undefinierbaren Wolke, die weder süß noch herb ist, und irgendwie entspricht das auch der Situation. Lange bevor Maik männlich zu riechen begann, war er schon sehr auf Pflege und Styling bedacht. Zum 16. Geburtstag hatte ihm mein Bruder Falk eine Männerkiste geschenkt: eine Flasche Bier und eine Dose Ravioli, eine Bohrmaschine und einen Spaten, Kondome und ein imageträchtiges Rasierwasser. Dazu eine kleine und eine große Packung Pflaster. Die kleine für die äußeren Verletzungen, die große symbolisch für den Seelenschmerz, den ihm die Frauen zufügen werden. Mit Bier und Rasierwasser kam Falk zu spät, beides war Maik schon vertraut; er trank regelmäßig und duftete sich routiniert ein. Er gelte sich bereits das Haar, rasierte sich schon die Achseln und wer weiß, was sonst noch. Bohrmaschine und Spaten kamen rechtzeitig, sie konnten seinen Fisher Price Werkzeugkasten noch gut ersetzen.
Wir sind keine Heimwerkerfamilie, von uns konnte Maik kaum etwas lernen. Was kaputt geht, bleibt erstmal so. Wir fluchen eine zeitlang und lassen irgendwann einen Handwerker kommen, der es repariert. Dann fluchen wir über die Rechnung, weil wir denken, dass wir es auch mal selbst hätten probieren können. Wenn das Rad einen Platten hat, fühlt sich niemand dafür zuständig. Es passiert nichts, bis ich es wutentbrannt zum örtlichen Fahrradhändler schiebe und ihn bitte, auch gleich nach allem anderen zu schauen. So verdecke ich, wie dekadent ich es eigentlich finde, dass wir einen platten Reifen in die Reparatur geben. Aber ich brauche das Rad, seit die Kinder Auto fahren können, wieder häufiger. Bei den Kondomen war ich mir nicht sicher, ob Maik sie schon brauchen konnte, tippte aber auf nein, weil mir das sympathischer schien. Und bei den Ravioli musste ich ihn ermahnen, nicht die Dose in die Mikrowelle zu stellen, erst recht nicht die ungeöffnete. Die Pflaster aber waren der zentrale Inhalt, sie brauchte er wenige Monate nach dem Geburtstag, als seine erste feste Freundin ihm zu verstehen gab, wie recht es ihm geschähe, dass sie ihn nun verlassen würde.
Mein Bruder Falk ist ein ganzer Kerl. Er sah recht früh schon so aus, und er roch auch so. Meine Mutter musste ihm sehr lange sagen: »Geh und wasch dich.« Als politisches Statement trug er die Haare lang und aus Bequemlichkeit kämmte er sie nie. Haarspray war ihm zuwider. Als Mädchen interessant wurden, wusch er sich für sie, um es wieder dranzugeben, wenn er nicht mehr verliebt war. Maik wünschte sich indes zum elften Geburtstag, ohne Blick auf ein Mädchen, einen Friseurtermin. Na gut, nun bin ich Friseurmeisterin und verstehe sein Begehr nach Abwechslung vom mütterlichen Haarschnitt. Als er wiederkam, war es um ihn geschehen: Er trug das Haar kurz und das Gel darin mit Stolz. Seitdem benutzt er es täglich.
Für Falk waren Sportarten ohne Ball Weiberkram. Selbst Schwimmer und Leichtathleten beäugte er argwöhnisch: Warum rackern die sich allein ab? In der Gruppe gegen andere anzutreten, erschien ihm deutlich reizvoller. Spätestens mit 16 musste er dringend Moped fahren und es trotzdem hinkriegen, bis zu seinem 18. Geburtstag auf ein Auto zu sparen. Dafür stellte er sich in den Ferien regelmäßig bei VW ans Band und ließ sich von den gestandenen Arbeitern als verwöhntes Jüngelchen verspotten, wobei er lernte, sich dem Akkord zu stellen und sich in den Pausen zu behaupten.
Maik fand das Geschenk seines Onkels lustig. Darüber hinaus hatte es nicht viel mit ihm zu tun. Er ist als Teenager ganz anders als mein Bruder, nur in der Kleine-Jungs-Perspektive scheinen sie sich zu ähneln. Da war mein Sohn fasziniert von allem, was rollt, blinkt, piepst und sich dreht. Maik hatte in der einen Hand ein Auto und die andere in der Hosentasche, wo er sich sein Gemächt kraulte; das beruhigte, wenn er schwer nachdenken musste. Und ohne Bagger ging er grundsätzlich nicht aus dem Haus. Jede Puppe verwendete er bloß als Dummy für einen Crashtest, so oft wir ihm das Füttern, Wiegen und Wickeln auch zeigten. Er fuhr waghalsig Roller, früh Fahrrad ohne Stützräder und kannte auch beim Schwimmen keine Angst. So habe ich auch meinen Bruder in Erinnerung. Nur im Klettern war Maik im Nachteil, was aber daran lag, dass geeignete Bäume unerreichbar waren, weil sie auf privaten Grundstücken wuchsen. Denn die in Spielplatznähe wurden von der Gemeinde vorsorglich gefällt, um der Verletzungsgefahr vorzubeugen und Haftungsansprüche auszuschließen.
Jede Gefahr, die jemand anderes für mich bannte, war mir eine Erleichterung. Theoretisch mochte ich das Bild vom wilden Jungen, in der Praxis bevorzugte ich sicheres Terrain. Ich sehnte den mutigen Jungen herbei und hatte gleichzeitig Angst vor den Risiken, die ganz oft gar keine waren. Aber solange ich eingreifen konnte, hatte ich noch eine Aufgabe.
»Aupa!« war eines von Maiks ersten Worten. Seine Abkürzung für: Aufpassen!
Den Michel aus Lönneberga, der sich unerschrocken den Herausforderungen der Welt stellt, konnte ich nicht aushalten. Die Erwachsenen in Småland betrachteten sein Engagement als Unfug, für das sie ihn bestrafen mussten, nicht als Gefahr. Wenn er die Mausefalle unter dem Esstisch deponierte, in die dummerweise sein Vater trat oder ihn versehentlich ins Toilettenhäuschen einsperrte, heckte er keine hinterlistigen Streiche aus, sondern wollte einfach nur hilfsbereit sein. Aber die Großen verstanden das nicht und deshalb sperrten sie Michel nur immer in den Schuppen. Und weil es so oft passiert, hat er dort schon Holz und ein Messer deponiert, damit er Männchen schnitzen konnte.
Heute gibt es kaum noch Schuppen, aber Kinderpsychologen und das Jugendamt.
Den Buchtitel Michel muss mehr Männchen machen übersetzte ich ohnehin anders. Mein Junge musste das moderne Männchen machen. Er musste sich mit dem Schonraum begnügen, den ich ihm zugestand. Und der war übersichtlich, denn ich hatte nicht verstanden, dass nur der riskant lebt, der nichts riskiert. Maik durfte rabaukig aussehen, aber er durfte um Himmels Willen kein Rabauke werden. Meine Mutter glaubte noch an Schutzengel, die für Besoffene und kleine Kinder besonders schnell fliegen. Ich glaubte nur an das, was ich kontrollieren konnte.
Wie einfach machte es mir meine kleine Tochter. Sie war zufrieden, wenn sie auf einer Decke saß und mit Klötzchen spielte. Und wenn sie rumkletterte, sah es so aus, als hätte sie alles im Griff. Kein Wunder, bei ihren Aktionen war sie vergleichsweise älter als ihr Bruder und ihr Bewegungsdrang deutlich geringer. Sie erkundete die Welt, ohne dass ich ständig am Herzinfarkt vorbeischrammte und Aufpassen! schreien musste wie bei Maik. Der verletzte sich nur selten, und wenn, dann nur, weil mein Schrei ihm nicht bei der Entscheidung half, ob er der Gefahr trotzen oder weglaufen sollte. So gewöhnte er sich an, zu mir zu rennen, damit ich den Rest regelte. Und dabei wurde es ihm immer gleichgültiger, ob ein Hund oder ein fahrendes Auto seinen Weg verstellte. Heute weiß ich: Nicht weil ich auf ihn aufpasste, sondern obwohl, verletzte er sich nicht. Mein Abenteurer war kein Selbstmörder; ich hatte ihn nur verwirrt und er einen ziemlich guten Schutzengel.
Heute würde beim Lönneberga-Michel und bei meinem Maik ADHS diagnostiziert, das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Sie müssten gewiss zur Therapie gehen und womöglich Ritalin schlucken. Das brächte sie zur Vernunft und würde ihre überschüssige Energie in die richtige Richtung lenken. ADHS ist eine Jungenkrankheit, die ihre Väter noch nicht kannten. Die Ritalin-Abgabe hat sich in den letzten 15 Jahren verzehnfacht, die Zappelphillipe vermehren sich wie die Fliegen. Warum das so ist, weiß eigentlich keiner so genau, und bis es einer weiß, gilt der genetische Defekt im Stoffwechselsystem als beste Diagnose. Wir lieben physiologische Erklärungen, wenn sie uns davor bewahren, unser eigenes Tun überdenken zu müssen. Nach Muttermilch für die Immunabwehr und Biokarotten für eine gedeihliche Entwicklung verhilft der Wirkstoff Methylphenidat dem nervigen Rüpel zu einer positiv ausgerichteten Kommunikationsfähigkeit. Die großen naturbelassenen Ideen stehen im Mittelpunkt unserer liebevollen Betrachtung des Nachwuchses, doch wenn sie uns da im Wege stehen, machen wir lieber Frieden mit der Pharmaindustrie. Die 1000-Volt-Wirbler leiden derweil am meisten darunter, dass sie keinen Raum haben und keinen Halt finden, ruhelos irren sie umher im Niemandsland zwischen all den coolen und jung gebliebenen Erwachsenen.
Nur die Gnade der frühen Geburt bewahrte Michel davor, ein ADHS-Patient zu werden. Maik wurde durch die Profession seines Vaters geschützt: Einem Schulpsychologen redet man nicht ganz so schnell rein.
Nichts sollte an meine beiden Lieblinge drankommen, dabei empfand ich mich nicht als übertrieben ängstlich. Ich passte gut ins Bild der kreativen Elitemutter mit Macht. Um uns herum sah ich nur Väter, die mit ihren Kindern Brettspiele spielten, anstatt sie durch die Luft zu schleudern und erst die Haftungsbedingungen auf dem Spielplatz studierten, bevor sie ihr Kind auf die Rutsche setzten.
Und ich betrat Wohnungen, wo alle Ecken abgerundet waren, noch bevor der Nachwuchs überhaupt laufen konnte. Mein Mann war nur dann ein guter Vater, wenn er sich wie die bessere Mutter verhielt. Ständig rang ich ihm das nicht einlösbare Versprechen ab, dass immer alles gut gehen würde und er meinte, dass es dann wohl am besten wäre, ich wäre gleich überall mit dabei, um es zu überwachen. Ich sah andere Männer, die auch nicht gegen das haarkleine Fürsorge-Briefing ihrer Frauen argumentierten, sondern schwiegen, was ihre Frauen und ich als Zustimmung werteten. Und deshalb kam ich auf den Gedanken, die ganze Emanzipation sei im Grunde eine männliche Idee gewesen, nur damit sie es bequemer haben können.
So sehr ich meinen Jungen körperlich beschützte und auf ihn aufpasste, so sehr zog ich ihn mit rein, wenn es darum ging, die Welt durch meine Brille zu sehen. Ich ernannte meinen Kleinen zu meinem Ritter, dem ich beibrachte sich beim Pinkeln hinzusetzen. Heute erinnere ich mich nicht mehr, warum eigentlich. Wegen der Sauerei drumherum? Nur wer übt, trifft auch irgendwann. Der biologische Sinn des Stehpinkelns war mir damals nicht bewusst. Nur im aufrechten Stand entleert sich die männliche Blase vollständig. Dass sich der Mann beim Pinkeln setzt, war aber ein sehr wichtiges Symbol gleichberechtigter Partnerschaft: Er erhebt sich nicht länger über sein geliebtes Weib, und er mutet ihr auch die gelben Spritzer nicht länger zu. Oder er vertraut seiner eigenen Trefferquote nicht und weiß, dass er zur Strafe selbst putzen muss. So setzen sich zu Hause alle einvernehmlich hin und behaupten, das sähe man ganz entspannt. Nur im Wald darf der Mann noch Mann sein. Und in der Kneipe, aber da kommt er ja kaum noch hin.
Heute ist Maik innen wie außen verunsichert. In meiner Gegenwart zieht er die Schultern ein, aber er benutzt immer routinierter die Formeln, um mich zu beruhigen, die sein Vater schon lange verwendet. Dass er sehr vorsichtig mit dem Auto fährt (immer zu schnell) und dabei nicht trinkt (mehr als ein bisschen). Dass er nicht raucht (nur kifft) und dass er mit dem Taschengeld klarkommt (wenn Jannick ihm noch was leiht). Maik will auf keinen Fall eine offene Auseinandersetzung mit mir, meist ist er sogar dann noch höflich zu mir, wenn ich schon laut bin. Er behält sein freundliches Wesen und hasst Streit. Dafür liebe ich ihn und dafür lügt er. Er täuscht mich, um mich zu schonen, gar zu beschützen. Und er weiß, dass ich es weiß. Er denkt zweimal nach, bevor er gar nichts sagt oder sagt schließlich das, was ich hören möchte. In dieser Formalität sind wir zuhause. Maik ist kein Lügner im ursprünglichen Sinne, er spielt nur eine Rolle. Vielleicht die einzig mögliche, um seine Hinterbühne zu erhalten? Mit seinen Schonlügen beweist er zweifelhaftes diplomatisches Geschick, und ich falle wie in Watte.
An dem Streit zwischen Biologen und Soziologen, ob geschlechtsspezifische Eigenschaften angeboren sind oder erworben werden, beteilige ich mich nicht mehr. Mein genetisches Programm ist nicht zu blocken, aber es ist noch überlagert. Ich trage wieder gern Kleider und kann gut auf hohen Absätzen laufen, aber wer darin viel Liebreiz vermutet, täuscht sich. In meinem femininen Auftritt steckt eine lila Latzhose.
Meine Vorstellungen von Frau und Mutter hatten sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Als Kind wollte ich einen Mann, der mich liebt. Später wollte ich noch, dass er mich versteht. Jetzt, da ich weiß, dass ich das meiste allein regeln kann, will ich zu ihm aufschauen können. Aber wie das genau aussehen soll, weiß ich auch nicht und führe solange einen pädagogischen Krieg über Kindererziehung, ohne Kriegserklärung an meinen Mann.
»Sie müssen sich umstellen, Frau Frink. In Ihrem Alter wird man nicht mehr so schnell schwanger.« Dieser banale Satz meiner Frauenärztin trifft mich tief in der Seele und mitten in die Weiblichkeit. Ich bin mit meinen Tagen schon seit zwei Wochen überfällig. Das ist sehr ungewöhnlich, normalerweise kann man bei mir die Uhr danach stellen. Drei Schwangerschaftstests habe ich hinter mir. Der erste Teststreifen dürfte schon schadhaft die Fabrik verlassen haben, der zweite war bestimmt in der Apotheke falsch gelagert worden und den dritten hatte ich wohl nicht korrekt bedient. Ich muss doch schwanger sein! Meine Erleichterung verfliegt schneller, als sich die Sorgen aufgebaut hatten. Meine Ärztin zeigt routiniert Mitgefühl: »Ihr Hormonstatus zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit zur Schwangerschaft unter einem Prozent liegt. Nächste Woche kann das aber schon wieder anders aussehen. Mit Schwankungen müssen Sie jetzt eben rechnen.« Wovon redet diese Frau? Ihr Achselzucken macht die Sache auch nicht besser. Ich winsele: »Bitte prüfen Sie das noch mal!«
Für überflüssige 24 Euro Testkosten muss ich mir nun eine Abhandlung über das Ende der Fruchtbarkeit anhören. Ich bin 47 Jahre alt. Dabei ist mir, als wäre ich erst vor ein paar Monaten niedergekommen, als hätte ich mich erst vorige Woche noch vollspucken lassen und gerade vorgestern mit der Kindergärtnerin gestritten. Wo ist meine Zeit geblieben? Ich will sie zurück. Und für immer Frau bleiben.
Meine Frauenärztin hat dafür einen ganz heißen Tipp für mich. Sie empfiehlt mir die Hormonspirale. Die ist so sicher wie die Pille, nur viel schwächer dosiert. Als angenehmer Nebeneffekt wird die Regelblutung auch viel schwächer und bleibt oft sogar ganz aus: »Dann merken Sie gar nicht, wenn der Zyklus durch die bevorstehenden Wechseljahre immer unregelmäßiger wird.« Die Hormonspirale erspart den schockierenden Blick in die Vergänglichkeit, den ich gerade erfuhr, nur weil ich die viel billigere Kupferspirale trug. Damit ich nicht jeden Monat aufs Neue an das nahende Ende meiner Fruchtbarkeit erinnert werde, steige ich für 300 Euro sofort um. Und ja: Das fühlt sich viel jünger an.
Ich bin so alt wie meine Mutter war, als mein Vater sie zwang, ihr Leben umzustellen. Mutter und Vater glaubten an die eine, an ihre große Liebe. Und als die von meinem Vater nach 23 Jahren in Frage gestellt wurde, weil er eine neue große Liebe gefunden hatte, hieß es in der Nachbarschaft, er sei in seiner Midlife Crisis. Als ihm klar wurde, dass er in dem Laden, wie er die Bundeswehr nannte, nachdem er ein paar Illusionen verloren hatte, nichts mehr werden würde, dafür seine Kinder immer frecher wurden und ihm die eigene Frau nicht mehr begehrenswert genug erschien, schmiss er in dem Moment alles um, als seine Existenz von diesem Experiment zwar noch bedroht, aber nicht mehr ruiniert sein würde.
Heute erlauben wir Frauen uns eine zweite Pubertät mit Anfang 40: Weil wir es uns wert sind und weil wir es selbst bezahlen können. Ob Scheidung, Kündigung, Auswanderung oder Zeugung, wir sind gewiss, dass wir niemals mehr im Leben so viele Optionen haben werden. Mit unserem Optimierungswahn kommen wir den Männern zuvor, die darauf zügig reagieren müssen und selbst keine Gelegenheit mehr haben, ihren eigenen quälenden Sinnfragen und Versäumnissen nachzugehen, so sie denn wollten. Überdies lenkt es uns Superfrauen herrlich davon ab, dass wir unweigerlich der Menopause entgegenstreben. Wir fühlen uns immer noch und manch eine jetzt erst recht: unwiderstehlich und sexy.
Meine Eltern hätten Alt-68er sein können, aber sie waren keine, denn sie hatten nicht studiert, und durch das Bundeswehrumfeld verbot sich eine allzu deutliche Sympathie. Dennoch übernahmen sie für unsere Erziehung ein paar liberale Anschauungen und befreiten sich teilweise aus dem engen Moralkodex meiner Großeltern. Sie wollten modern sein, und dazu gehörte es auch, in Fragen der Sexualität tolerant zu sein. Mein Bruder und ich genossen also die verlässlichen Werte von damals, kombiniert mit ein paar antiautoritären Experimenten.
»Ich vertraue darauf, dass mein Appell an eure Einsicht Gehör findet«, pflegte Vater zu sagen und zog Falk damit auf, dass er sich freue, wenn er seine Freunde kennenlerne, bevor sie ganz zugewachsen seien. Lange Haare waren in, das Protestsignal gegen die Spießer, aber manchmal schwer durchzusetzen und unserer Eltern Erlaubnis war ein starker Solidaritätsbeitrag. So durfte mein Bruder lange Haare tragen und ich ganz kurze. Und mit unseren ersten Partnern durften wir ungestört in den Kinderzimmern schmusen. Ihre Erziehung war gut für meinen Bruder und besser, als ich es vertragen konnte.
Selbstverwirklichung war ein Wort, mit dem ich bereits als 15-Jährige laborierte, aber das ich erstmalig von meinen Eltern hörte, als ich längst volljährig und mit der Schule fertig war. Sie entdeckten mit Ende 40 ihre Selbstverwirklichung, während sich mein ganzes Leben bis dahin ausschließlich darum drehte.
Sie ersparten meinem Bruder und mir die Details ihrer Selbstverwirklichung nicht, und so erfuhren wir, wie unangenehm es ist, wenn sich die eigenen Eltern nicht mehr länger als asexuelle Wesen verhalten, wenn wir etwas von ihren intimen Wünschen, privaten Sehnsüchten und dem Überdruss an ihrer Ehe mitbekamen. In der Familie sprachen wir nicht mehr über unsere Belange, sondern nur noch über ihr verbrauchtes Leben. Ich fand das rücksichtslos, und sie fanden, das heißt: besonders mein Vater fand, dass er es sich endlich verdient habe, auch mal an sich zu denken. Das fand ich alles lästig, denn ich war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass meine Eltern ewiglich für mich da zu sein hatten. Während mein Vater in den Armen einer fremden Frau seinen eigenen Bedürfnissen nachspürte, jammerte meine Mutter etwas übertrieben von Altersarmut und ich verstand, warum sie uns Kinder so gut loslassen konnten.
Meine Eltern waren schon Eltern, als ihnen die Pille zu Hilfe kam. Erst nach meiner Geburt konnten sie so bequem und verlässlich verhüten wie nie zuvor. Die Autonomie in der Familienplanung spürte ich als Kind jeden Monat, weil ich nicht mehr Geschwister hatte, als meine Eltern versorgen konnten. Und das Abendland ging nicht so schnell unter, wie Kritiker befürchteten, denn die wenigstens verweigerten sich dem göttlichen Liebesplan. Sie stellten ihn nur zeitlich um.
Über die beiden Ereignisse, die mich als Große auswiesen, meinen 18. Geburtstag und meinen Abiball, freuten sich meine Eltern deshalb mehr als ich. Es übertraf ihre Erwartungen, dass tatsächlich beide Kinder die Schule mit dem Abitur abgeschlossen hatten, während sie selbst nur Hauptschüler gewesen waren. Sie erklärten mich zur Erwachsenen und sagten mir nie wieder, wann ich nach Hause kommen oder in welchen Klamotten ich besser nicht rumlaufen sollte.
Auch mischten sich fortan weder Vater noch Mutter in meine Liebesangelegenheiten ein. Es war, als hätten sie einen Schalter umgelegt, der sie nicht nur juristisch von Sorgerecht und Sorgepflicht befreite. Sie nahmen meine Volljährigkeit aus egoistischen Gründen ernst und hofften, dass ich nun bald ausziehen würde: Mission accomplished. So zeigte ich mich selbstbewusst und lernte, auf mich selbst aufzupassen, wusste aber zwischendurch nicht, ob ich es tatsächlich schon gut genug konnte.
Ich war in das Leben meiner Eltern hineingeboren worden, meine Kinder wurden in mein Leben hineingeplant. Ihr 18. Geburtstag löste nichts in mir aus, die Unfallversicherung für sie wurde nur teurer. Zum ersten Mal spüre ich jetzt den Unterschied. Unsere Volljährigkeit brachte meine Eltern in einen für sie unbekannten Zustand: Sie wurden von niemandem mehr bevormundet und standen für niemanden mehr in der Pflicht. Ich wurde nie bevormundet und viele Pflichten habe ich in Rechte umwandeln können.
Es geht der Familie gut, wenn es der Mutter gut geht lautete das Credo, das seit zwei Jahrzehnten durch die Republik hallt. Was ich als Mutter brauche, damit es mir gut geht, ist dasselbe, was Vater brauchte, als es der Familie noch gut ging, wenn er gute Arbeit hatte: Anerkennung. Am besten gleich aus drei Richtungen, denn nur das eigene Bankkonto inspiriert mich nicht sehr. Ich wollte Anerkennung von den Kindern, die prächtig gedeihen und mich dabei ständig vermissen sollten, von meinem Mann, der mich begehren sollte wie am ersten Tag, während er mich ganz praktisch mit seinen Hausmeisterdiensten unterstützte, und ich wollte unbedingt die Anerkennung von meinen Auftraggebern, die ohne mich nicht weiterkommen konnten.
Aber meine Welt sah anders aus. Meine Kinder gediehen auch in meiner Abwesenheit, mein Mann ließ mich für eine Partie Go im Regen stehen. Wegen eines chinesischen Brettspiels mit einfachen schwarzen und weißen Steinlinsen, das, wie Rolf sagt, durch Logik allein nicht zu erklären sei, sondern auch viel Intuition und erhebliche Erfahrung verlange und deshalb dem Buddhismus sehr nahe komme, musste ich mich bitte gedulden. Und meine Auftraggeber vergaßen viel zu oft, mich mit Aufträgen zu versorgen. Und je öfter ich darüber nachdachte, desto schlechter ging es mir. Ständig überprüfte ich die Balance, ständig hielt ich sie für unausgewogen. »Was willst du eigentlich?«, fragte mich mein Mann immer mal wieder und ich war froh über die Frage, denn dann konnte ich detailgenau erzählen, wie unverstanden und wie stark belastet ich mich fühlte, weil ich ja schließlich zwischendurch auch arbeiten ging und jede Menge am Hals hatte. Er nickte verständnisvoll, und ich war für ein paar Tage etwas besser gelaunt. Ich suchte die Lösung in beispielhaften Details wie einer gerechteren Verteilung der Hausarbeit. Ein Punkt, der immer zu betretenem Schweigen führte, weil mein Mann wusste, dass ich damit Recht hatte. Er versprach, häufiger abzuspülen, und ich giftete ihn an, ob er denn nicht wüsste, dass wir schon lange eine Spülmaschine haben. Ich sagte, es wäre mir schon geholfen, wenn ich ihn nicht immer wieder daran erinnern müsste, den Rasen zu mähen, und er versprach, zukünftig den Graswuchs aufmerksamer zu beobachten.
In Wirklichkeit aber wollte ich auf den Arm. Ich spürte, dass ich mit meinem Emanzipationsgedanken am Ende war. Eines Tages würde sich meine Familie von mir emanzipieren.
1991: DEUTSCHLAND UND DIE WELT
KRIEG
Im Zweiten Golfkrieg befreit eine westliche Streitmacht ohne deutsche Soldaten das besetzte Kuwait, stoppt aber ihren Vormarsch im Irak. In Deutschland werden alle Karnevalszüge abgesagt.
OSTBLOCK
Die ehemaligen Ostblock-Staaten vereinbaren die Auflösung des Warschauer Paktes.
TERROR
In seinem Düsseldorfer Haus wird der Vorsitzende der Deutschen Treuhand, Detlef Karsten Rohwedder, von Terroristen ermordet, die unerkannt flüchten können.
FLUTWELLE
Ein Wirbelsturm über dem Indischen Ozean löst eine gewaltige Flutwelle aus, die Bangladeschs Küstenregionen zerstört und mindestens 200.000 Todesopfer fordert.
ABSTURZ
Nahe Bangkok stürzt eine Maschine der Lauda Air ab, alle 213 Passagiere und 10 Besatzungsmitglieder kommen um.
VULKAN
Ein Vulkanausbruch auf den Philippinen macht 400.000 Menschen obdachlos.
FRIEDEN
Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg kehrt in Angola Frieden ein und einigen sich die verfeindeten Parteien auf freie Wahlen.
UMZUG
Der Deutsche Bundestag beschließt seinen Umzug von Bonn nach Berlin.
ABRÜSTUNG
Fünf Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterzeichnen Michail Gorbatschow und George Bush ein Abrüstungsabkommen.
WISSENSCHAFT
In den Tiroler Alpen wird eine gut erhaltene Gletschermumie eines Steinzeitmensch en gefunden und später Ötzi genannt.
POPMUSIK
In London stirbt Freddie Mercury, der Sänger der Popgruppe Queens, an Aids.
MASSAKER
Bei einem Massaker indonesischer Truppen in Ost-Timor sterben 271 Menschen, viele verschwinden spurlos.
FERNSEHEN
Am Silvestertag stellt der Deutsche Fernsehfunk seinen Sendebetrieb ein.
1991: FAMILY AFFAIRS
FIGUR
Ich passe wieder in meine Hosen.
BERUF
Ich mache mein erstes TV Make up im ZDF Studio Bonn.
FREUNDE
Wir haben keine mehr.
WEIHNACHTEN
Ich schlage vor, gemeinsam bei und mit allen unseren Eltern zu feiern, damit ich an den Feiertagen ausschlafen kann.
FIGUR
Ich passe nicht mehr in meine Hosen, ich bin wieder schwanger.
1992: DEUTSCHLAND UND DIE WELT
RENTEN
In der Bundesrepublik tritt eine umfassende Rentenreform in Kraft, nach der nur noch die Netto-Bezüge zur Berechnung dienen.
BALKAN
Serbien und Kroatien schließen einen Waffenstillstand.
Bosnien/Herzegowina wird zur selbständigen Republik.
KIRCHE
In Hamburg wird Maria Jepsen zur ersten evangelisch-lutherischen Bischöfin gewählt.
ERDBEBEN
Ein schweres Erdbeben am Niederrhein beschädigt zahlreiche Gebäude.
RÜCKTRITT
Nach 18 Jahren im Amt des Außenministers tritt Hans-Dietrich Genscher zurück.
KULTUR
Der deutsch-französische Kultursender Arte geht auf Sendung.
FUSSBALL
Die dänische Fußball-Nationalmannschaft wird mit einem Endspielsieg über Deutschland sensationell Europameister.
WAFFEN
Die US-Regierung kündigt den Abzug aller taktischen Atomwaffen aus Europa an.
OLYMPIA
Bei den Olympischen Sommerspielen in Barcelona tritt erstmals eine gesamtdeutsche Mannschaft an, die auf Anhieb Platz zwei in der Medaillenwertung belegt.
ABSTURZ
Bei zwei sehr ähnlichen Flugzeugabstürzen in Nepal sterben 270 Menschen.
MEDIEN
Nach 43 Jahren erscheint die Wochen-Illustrierte Quick zum letzten Mal.
MOTORSPORT
Michael Schumacher gewinnt im belgischen Spa sein erstes Formel-1-Rennen.
ANSCHLAG
Bei einem Brandanschlag in Mölln sterben zwei türkische Frauen und ein Mädchen.
WAHL
Der Demokrat Bill Clinton wird zum 42. Präsidenten der USA gewählt.
1992: FAMILY AFFAIRS
GELD
Wir bekommen zu Jahresbeginn eine Mieterhöhung von 1,00 DM/qm. Wir zahlen nun 925 Mark für 125 qm mit Balkon und inklusive Garage, sowie Gartenmitbenutzung.
FORTSCHRITT
Maik lernt Laufen.
GEBURT
Lysa wird geboren.
IMMOBILIEN
An den Wochenenden vertreiben wir uns die Zeit mit Hausbesichtigungen.
KONSUM
Als wir im Stern lesen, dass weiße Billy-Regale Formaldehyd ausdünsten, bringen wir unsere drei zurück. Ikea erstattet uns das Geld.
Als meine Kinder in den Kindergarten kamen, bekam unsere Familie eine ordentliche Struktur. Da waren Maik und Lysa jeweils vier Jahre alt. Den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Dreijährige gab es erst zwei Jahre später, 1996; Alleinerziehende wurden bevorzugt, worüber ich mich elendig aufregte.
Bis neun Uhr morgens konnte ich die beiden hinbringen und zwischen viertel nach zwölf und halb eins mittags wieder abholen. Ab zwei gab es noch mal ein Nachmittagsangebot bis vier, das wir aber selten wahrgenommen haben, weil unsere Kurzen nach der Mittagspause daheim für eine Rückkehr in den Kindergarten nur schwer zu motivieren waren, was nur ich bedauerte. Die Erzieherinnen waren froh über jeden Pöks, der ihnen erspart blieb.
Ein paar Mal gingen wir doch hin. Ich fand es sehr schön dort. Nur mit einer Handvoll Kinder inmitten des vielen schönen Spielzeugs, erkannte ich die förderliche Lernatmosphäre auf den ersten Blick, so dass ich selbst da blieb und mit der netten Frau Mohrle einen Kaffee trank. Dabei konnte ich sie auch gleich fragen, wie sich meine beiden denn so machten und ob es etwas Neues gäbe aus der spielerischen Lernentwicklungswelt. Doch wollte Frau Mohrle den Nachmittag lieber nutzen, um Einsatzpläne zu schreiben und endlich mal das große Regal aufzuräumen, anstatt sich zu einer spontanen Frühförderung aufzuraffen. So trank sie nur eine Tasse Kaffee mit mir und sagte, dass sie das ja eigentlich gar nicht dürfe.
Die Hausarbeit erledigte ich ohne Kinder am Bein nun viel schneller, und so fand ich wieder etwas mehr Zeit für mich. Ich telefonierte mit Auftraggebern, die mir Einsatztage in der Maske geben sollten, oder mit meinen Freundinnen, die mit Tipps fürs Eheleben aushalfen. Und damit ich mich zwischen dem modernen Anspruch an die Familie und meinen altmodischen Träumen an die Liebe besser zurechtfand, pflegte ich ungewöhnliche Freundschaften.
Ich hielt Kontakt zu einem schwulen Friseur, der mal mein Arbeitskollege war und jetzt auf Teilzeit arbeitete, und ich knüpfte einen neuen zu einer kinderlosen Lehrerin, die ich auf dem Apfelfest in unserem Dorf kennengelernt hatte und die auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben war.
Der Umgang mit Menschen, die in einem Leben steckten, das mit meinem nicht vergleichbar war, entspannte mich. Sie waren die Pausetaste für meinen Alltag, auch weil ich mich nicht sehr anstrengen musste, dass sie mich mochten. Sie gaben mir das Gefühl, dass alles gut mit mir sei, wie es war: Sie konkurrierten einfach nicht mit mir. Und sie waren mein Alibi für die Stunden, in denen ich die Freundschaften pflegte, von denen ich zu Hause nicht berichten konnte. Schon weil der Volksmund sagt, Freundschaften zwischen Männern und Frauen gebe es gar nicht. Ich war anderer Meinung, aber es reichte nicht, es einfach zu erklären. So behielt ich es für mich, wenn ich Martin im Büro besuchte, nach allgemeinem Büroschluss mit Guido ein Bier trinken oder mit Volker ins Kino ging. Ohne, dass ich je mit einem von ihnen darüber sprach, wusste ich, dass deren Frauen daheim auch nicht wussten, mit wem ihre Männer ausgegangen waren. Wir pflegten ein Geheimnis, das es gar nicht hätte geben müssen, weil nie etwas passierte. Aber wir nahmen unaufgefordert Rücksicht auf unser Abendland, von dem wir stillschweigend vermuteten, dass es nur in der Theorie locker sei. Erst als ich Matthias K. wiedersah, wusste ich nicht, ob es bei einer Freundschaft bleiben konnte.
Zwischen ihm und mir hatte es vor vielen Jahren heftig gefunkt und dann ordentlich geruckelt. Erst war es aufregend, und später ging es aufgeregt hin und her. Matthias ist ein Tausendsassa, ein
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