Myzinthias Rache - Steffi Frei - E-Book

Myzinthias Rache E-Book

Steffi Frei

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Beschreibung

Wer die Magie zähmt, kann sie gebrauchen. Wer sie missbraucht, sollte sich vor Myzinthias Rache hüten …

Seit Freyra ihre flinken Finger in den Dienst der zwielichtigen, schwarzmagischen Vereinigung Myzinthias Klaue gestellt hat, führt sie ein nahezu unbeschwertes Leben. Gemeinsam mit ihrem Amulettdrachen Nyx stiehlt sie magische Artefakte für die Möchtegern-Magier und verdient sich damit ein goldenes Näschen.

Wären da nur nicht die Grauen ihrer Vergangenheit, vordenen sie so verzweifelt flieht und die ihr nur die Wunderdroge Seelenheil vom Hals hält. Als ihr die kostbaren Rauschblüten ausgehen und Freyra den Verstand zu verlieren droht, begeht sie einenfolgenschweren Raub.

Fortan ist sie nicht nur auf der Flucht vor den Häschern der Krone, sie ist auch gezwungen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Schließlich fordert sie Mächte heraus, auf die das Leben auf der Straße sie nicht vorbereitet hat. Und sie begreift, dass Magie keine Kraft ist, mit der man leichtfertig umspringt …

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Seitenzahl: 545

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STEFFI FREI

 

Impressum

Copyright © 2024 by

 

WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]

MYZINTHIAS RACHEText © Steffi Frei, 2024 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat: Juliet May (www.julietmay.at) Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Coverdesign: Vinachia Burke

Illustrationen: Vinachia Burke & Jaskirat Kaur (@artofjassi) Satz & Layout: Vianchia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-031-1 Alle Rechte vorbehalten.

 

 

CONTENT NOTE

 

Dieses Buch behandelt Themen wie Sucht Alkohol- und Drogenmissbrauch Schlafstörungen Gewalterfahrungen als Kind destruktives Verhalten (als Symptom einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung) explizite Darstellungen von Gewalt und Tötungen

 

 

 

Für all die Überlebenskünstler*innen dort draußen.

Ihr seid die wahren Held*innen!

FREYRA

1. Kapitel: Auf der Suche nach Seelenheil

Gebannt starrte Freyra in die tänzelnden Flammen, saß nahezu reglos da, während sie in ihrem Inneren einen erbitterten Kampf ausfocht. Die Lage war aussichtslos, ihr Gegner unbesiegbar. Auf Dauer konnte sie ihm nicht standhalten und dennoch war sie viel zu stur, um aufzugeben. Mit zusammengepressten Zähnen und all der ihr eigenen Verbissenheit rang sie mit ihrem Erzfeind: dem Schlaf. Zwei Tage und Nächte dauerte diese Schlacht schon an, seit ihr die Rauschblüten ausgegangen waren, und Freyra stand kurz davor, den Verstand zu verlieren.

Wieso war sie nur so nachlässig mit ihrem Vorrat umgegangen? Sie hätte ihn besser einteilen müssen. Aber aus irgendeinem Grund hatte die Wirkung der Blüten in den letzten Monaten nachgelassen, immer häufiger hatten sich die Traummonster in ihren vom Rausch benebelten Schlaf geschlichen. Ihr war gar nichts anderes übriggeblieben, als die allabendliche Dosis zu erhöhen. Bis ihr das auch als Seelenheil bezeichnete Wundermittel so kurz vorm Ziel ausgegangen war. Wie töricht von ihr, zu glauben, die letzte Strecke ganz ohne Schlaf hinter sich bringen zu können. Und nun saß sie hier, quasi unfähig, den Kopf oben zu halten.

Hätte sie bloß keine Rast eingelegt, aber nach zwei Tagen auf den Beinen streikte inzwischen jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. Und dann war da noch ihr ausgehöhlter Magen gewesen … und die verfluchten Augen, die ihr beständig zufielen. Geradezu gewaltsam riss Freyra ihren Blick vom Lagerfeuer los; die Wärme und das sanft wogende Flammenspiel lullten sie nur noch mehr ein. Wieder einmal filzte sie jede einzelne Tasche ihres Mantels, drehte sie von innen nach außen, auf der Suche nach einem verbliebenen Krümelchen getrockneter Rauschblüten – erfolglos.

Aus Gewohnheit schob sie sich die leere Pfeife in den Mund und fuhr mit der Inspektion ihrer Umhängetasche und des Rucksackes fort. Achtlos schüttete sie den gesamten Inhalt neben dem Feuer aus, drehte jedes einzelne Innenfach der Beutel auf links und durchwühlte den Haufen aus Proviant, Bündeln, Wechselkleidung, Messern, Dietrichen und anderen Werkzeugen und Hilfsmitteln auf dem Boden, doch es war zwecklos. Sie hatte ihren Vorrat bis auf den letzten Fitzel aufgeraucht.

Freyra stieß einen erstickten Wutschrei aus. Ihr Herz verfiel in einen unruhigen Takt und ihr Magen krampfte sich zusammen. Saure Enttäuschung schwappte ihre Kehle empor. Aber was hatte sie erwartet? Wie oft hatte sie dieses Suchspielchen in den letzten zwei Tagen schon gespielt, hatte sie ernsthaft mit einem anderen Ergebnis gerechnet? Seufzend rieb sie sich die brennenden Augen. Sie konnte nichts mehr tun, um das Unweigerliche aufzuhalten. Aufstehen und weiterziehen kam gar nicht in Frage. Bis nach Taurius lag ein Fußmarsch von gut fünfzehn Stunden vor ihr. Im Moment würde sie nicht einmal eine packen.

Sie müsste bloß noch diese eine Nacht überstehen. Morgen früh würde sie gleich aufbrechen und die Stadt spätestens bei Einbruch der Dämmerung erreichen. Und dann, dann würde sie sich gleich drei pralle Beutel Seelenheil kaufen, sich irgendwo ein hübsches Zimmerchen mit extraweicher Matratze nehmen, sich die Birne zudröhnen und den besten Schlaf ihres Lebens genießen. Ein erwartungsfreudiges Lächeln schlich über ihre Lippen.

Diese Aussicht beruhigte Freyra ein wenig. Ebenso die Gewissheit, dass sie die Stunden des Grauens nicht allein durchstehen musste. Sie griff in den Ausschnitt ihres Hemdes und tastete behutsam nach dem Amulett, das auf ihrer Brust ruhte. Sanft strich sie über den warmen Onyxstein zwischen den eisernen Flügeln, ehe sie den Anhänger hervorzog und ihn sich vor die Lippen hielt.

»Erwache!«, hauchte sie, wobei die glatte Oberfläche des Steins beschlug.

Der Onyx begann zu vibrieren. Eine winzige schwarze Rauchfahne stieg daraus hervor und schlängelte sich hinauf. Freyra spürte das leichte Pulsieren an den Fingerspitzen, mit dem immer mehr Rauch aus dem Stein emporstieg. Er tanzte vor ihrer Nase hin und her wie die Flammenzungen im Hintergrund. Dichter und dichter waberte er und schwoll allmählich zu einer undurchsichtigen Wolke an. Die Schwaden wirbelten wild umher, wanden und drehten sich. Nach und nach verfestigten sich die Konturen, bis sich schließlich ein katzenkopfgroßer geflügelter Körper daraus materialisierte.

»Na, Nyx. Wie geht’s dir, mein Kleiner?«, grüßte Freyra ihren treusten – und einzigen – Freund matt.

Als Antwort breitete der schwarzglänzende Amulettdrache seine fledermausartigen Flügel aus, schlug damit ein paar Mal kräftig in die Luft, um der Freiheit zu frönen, und drehte sogleich eine ausgelassene Flugrunde um Freyras Kopf.

Die weit entfernte Verwandte eines Lachens entschlüpfte Freyra Kehle, während ihr die wilden Flügelschläge die pechschwarzen Haare verwirbelten. »He, kleiner Rabauke!«

Nyx zischte schadenfroh, ehe er sich in einem sanften Sinkflug auf Freyras ausgestreckter Hand niederließ und das Köpfchen an ihren Daumen rieb.

»Hab dich auch vermisst«, flüsterte sie. Zwar war Nyx immer bei ihr – selbst, wenn er in dem Onyx steckte, spürte sie seine Anwesenheit –, aber es war nicht dasselbe. Das war eben Nyx’ Los als Amulettdrache: Seine Existenz war auf irgendeine magische Weise an den Stein gebunden. Früher oder später löste er sich unweigerlich wieder in Rauch auf und verschwand in dem Amulett. Freyra tätschelte ihm mit dem Zeigefinger den geschuppten Kopf, was ihm ein kehliges Schnurren entlockte.

»Hier, ich hab dir etwas aufgehoben.« Sie klaubte ein paar Schnitze gebratener Stinkrübe von ihrem Teller am Feuer und schob sie Nyx zu. Anders als der Name vermuten ließ, handelte es sich um ein nahrhaftes und sehr schmackhaftes Wurzelgemüse, das sich fast überall fand. Die ideale Kost für Umherstreunende – sofern man mit der Eigenart der Rübe vertraut war. Der Trick dabei war, sie gut durchzubraten, denn roh stank sie wie eine geplatzte Eiterblase.

Laut schmatzend verschlang Nyx die Rübenstücke in wenigen Bissen. Er war ein eigenartiger Drache, der mit gieriger Inbrunst alles verputzte, was in oder aus der Erde wuchs. Nicht, dass Freyra viele von seiner Art gekannt hätte. Genau genommen war er der einzige Amulettdrache, den sie je zu Gesicht bekommen hatte, und alles, was sie über ihn wusste, hatte sie in ihren gemeinsamen Jahren gelernt. Wie viel und was von seinen Eigenheiten letztlich auf die ihm innewohnende Magie oder seine Drachennatur zurückzuführen war, konnte sie nicht sagen und es war ihr auch herzlich egal. Feststand, dass er ihr größter Schatz war, der beste Fang ihrer langjährigen Laufbahn. Obwohl ihr dieser Beutezug einiges an Ärger eingebracht und ihrem Leben eine neue Wendung gegeben hatte, bei der Freyra immer noch nicht sicher war, ob sie ihr gefiel.

Hätte sie geahnt, wen sie da beklaute, hätte sie vermutlich lieber einen großen Bogen um das Scheusal gemacht. Chabala, Anführer von Myzinthias Klaue – einem Haufen Möchtegern-Schwarzmagier, die der Göttin der Magie huldigten. Er hatte Freyra im Nu aufgestöbert und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie abzumurksen oder ihr einen Fluch auf den Hals zu hetzen. Doch aus irgendeinem Grund hatte Chabala beschlossen, ihr stattdessen eine lukrative Beschäftigung anzubieten. Stiehl für mich, statt mich zu bestehlen, und du wirst nicht nur mit deinem Leben davon-, sondern auch der Armut entkommen.

Jeden anderen hätte Freyra ausgelacht. Wie oft hatte sie schon Versprechen dieser Art gehört und fiel man darauf herein, endete man entweder tot in der Gosse oder opferte nach und nach jeglichen Funken Würde und Freiheit. Aber Chabalas Angebot hatte nicht so geklungen, als ließe er ihr noch andere Optionen – und wenn sie ehrlich war, hatte ihr der abstoßende Kerl eine Scheißangst eingejagt –, also hatte sie eingeschlagen und ihre Karriere als Artefaktjägerin begonnen.

Ohne sich groß drum zu scheren, was diese Spinner von Myzinthias Klaue mit dem ganzen magischen Krempel anstellten – was ging es sie auch an? – entrichtete sie alle paar Monate brav ihren Tribut und heimste dafür haufenweise Taler ein. Und Chabala hielt Wort: Freyra hatte seitdem nicht einen einzigen Tag hungern müssen. Außerdem musste sie sich nicht mehr mit diesen Ratten von Hehlern rumschlagen. Doch die Krönung des Arrangements war das eine magische Schmuckstück, das sie Chabala gestohlen und das er ihr überlassen hatte. Ein Amulett mit einem geflügelten Onyxstein, der den besten Spürdrachen in ganz Erydanien beherbergte: Nyx.

»Nicht wahr, mein Kleiner?«, raunte sie.

Nyx, der keinen Schimmer davon hatte, was ihr soeben durch den Kopf gegangen war, und sich auch sichtlich nicht dafür interessierte, umflatterte sie wie eine übergroße Motte. Er machte sich einen Spaß daraus, den umherschwirrenden Glühwürmchen nachzujagen.

Während sie ihm dabei zuschaute, startete die Müdigkeit einen weiteren, hinterhältigen Blitzangriff. Freyra hatte die Waffen bereits gestreckt und ihrer Gegnerin nichts mehr entgegenzusetzen. Also sank sie kapitulierend auf die ausgebreitete Pferdedecke, die immer noch ein wenig nach dem Stall roch, aus dem sie sie entwendet hatte, und wickelte sich darin ein. »Morgen erreichen wir Taurius … dann wird alles wieder besser«, brachte sie zwischen zwei Gähnern hervor.

Nyx hielt im Flug inne, legte den Kopf schief und gab ein knappes Krächzen von sich.

Fahrig winkte Freyra ab. »Jaja, ich weiß, du und deine Abneigung gegen große Städte. Aber ich komme um, wenn ich nicht endlich mal wieder eine Nacht ruhig durchschlafe. Außerdem habe ich so ein Gefühl, dass dort Beute auf uns wartet. Und verdammt, die brauchen wir! Bald steht das nächste Treffen mit Chabala an und ich hab nicht einmal einen verzauberten Taler, den ich ihm aushändigen könnte.«

Sie gähnte noch einmal herzhaft und mummelte sich tiefer in Mantel und Decke ein. Mit schwindender Kraft zog sie ihren Lieblingsdolch hervor, schlang die Finger fest um den Griff. Die Waffe wäre ihr bei dem Bevorstehenden zwar keine Hilfe, aber die vertraute Form des Heftes zwischen ihren Fingern beruhigte sie. Einst hatte sie den Wunderdolch einem besoffenen Assassinen abgeluchst, verzückt von der kunstvoll verzierten Erscheinungsform der Waffe. Der metallene Knauf hatte die Form eines eingerollten Drachen, dessen Schwanz sich um den Griff wand – sie hatte schon vor Nyx etwas für die geschuppten Flügelkreaturen übriggehabt. Doch erst als Freyra die geheimen Spezialfunktionen enttarnt hatte, war sie der schmucken Allzweckwaffe wahrlich verfallen.

Schlaftrunken drückte sie die dreizackige Drachenschwanzspitze knapp oberhalb der Parierstange ein und ließ damit die zweischneidige Dolchklinge aufschnacken. Sie teilte sich exakt in der Mitte und eignete sich somit nicht nur zum Zerfetzen von Innereien, sondern auch als besonders scharfe Schere. Freyra brachte die Klingenteile mit einem sanften Streichen über den Drachenschwanz wieder zusammen. Zu weiteren Tricks war sie nicht mehr in der Lage. Ihr Kopf sank herab und die Augen fielen ihr zu. Sie war endgültig besiegt. Ohne Ausweg stellte sie sich dem, was auch immer Filumbrea, die sadistische Traumweberin, in dieser Nacht für sie bereithielt.

FREYRA

2. Kapitel: Die härteste Schule von allen

Schatten, Gesichter und immer wieder das glühende Brenneisen. Sie alle bestürmten Freyra. Bis das Bild klarer wurde und sie unversehens am Bett ihres Vaters saß – wie so oft. Ihre kleinen Kinderhände zerrten an dessen leblosem, ausgemergeltem Körper.

»Wach auf, Vater! Bitte! Wach doch auf.« Aber er wachte nicht auf. Ein winziger Teil von ihr ahnte, dass er es nie wieder tun würde, fürchtete sich davor, allein zu sein. Doch der Rest von ihr weigerte sich, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Sie presste beide Hände auf seine Brust. »Wach auf!«

Und plötzlich geschah es: Ihr Vater riss die Augen auf, aber die Höhlen waren leer. Nichts weiter als blutige Löcher, aus denen weißlicher Schleim wie Wachs troff. Sie schrie, versuchte zu fliehen, doch die toten, kalten Finger ihres Vaters schlangen sich wie Fesseln um ihre dürren Handgelenke. Freyra schloss die Augen, um den grauenhaften Anblick auszusperren, doch die entstellte Fratze ihres Vaters hatte sich in die Innenseite ihrer Lider gebrannt.

»Eine Diebin?«, schrie er mit heiserer Stimme. »Hab ich dich dazu etwa erzogen?«

Freyra schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Diebin«, flüsterte sie, doch ihre Stimme war nicht länger die eines Kindes. Und sie nicht mehr das unschuldige Mädchen, das sie einst gewesen war. Als sie die Augen wieder öffnete, waren es nicht mehr die Hände ihres Vaters, die ihre Handgelenke umklammerten, sondern eiserne Ringe. Sie kniete auf steinernem Boden, vor ihr schwere Stiefel und die dunkelblauen Beinkleider, wie sie nur die königlichen Häscher trugen. Freyra hob den Kopf, um den verschissenen Gesetzeshüter anzusehen, der sie erwischt hatte, aber kaum, dass ihr Blick seine Brust erreichte, traf sie sein schwerer Stiefel mitten ins Gesicht.

Kein Schrei entwich ihrer Kehle, sie biss bloß die Zähne zusammen, schmeckte Blut und spuckte es auf den Boden, wo es sich mit Unrat und Fäkalien mischte. Und dann hörte sie das hämische Lachen. Kinderlachen, aber kein fröhliches, wie sie es von den Vorstellungen der Gauklertruppe kannte, der sie und ihr Vater einst angehört hatten. Es war das gierige Krächzen von Raubtieren. Und sie war wieder klein und schwach. Ein Gossenkind.

»Na, wen haben wir denn da?«, krächzten sie.

Panik wallte in Freyra auf, während die vier Gestalten sie umrundeten, hungrig, gierig. Kaum älter als sie, aber gehärtet und abgestumpft von dem ständigen Überlebenskampf auf den Straßen. Was hielten sie da in den Händen? Messer? Oder waren es Stöcke? Glühende Brenneisen?

»Lasst mich in Ruhe«, hauchte sie, sprang gehetzt wie ein Tier auf die Beine.

Doch sie lachten nur noch mehr.

Der erste Schlag traf sie im Rücken. Schmerz jagte durch ihre Knie, als sie damit hart auf dem Steinboden aufschlug, doch er war nichts im Vergleich zu jenem, der folgte, während Schuhe, Fäuste und Stöcke auf ihren zerbrechlichen Körper eindroschen. Blut, Rotz und Tränen rannen an ihr herab.

»Das ist unser Revier. Hörst du?«, zischte ihr eine Stimme ins Ohr.

Dann nahmen sie ihr alles ab, was sie bei sich trug. Die Mütze, den Mantel, den kleinen Brotlaib, die sie allesamt gestohlen hatte, und schließlich den einzigen Besitz, der ihr wahrhaftig gehörte: den Glückstaler, ihr letztes Andenken an ihren Vater. Dieser Verlust brachte etwas in Freyras schmächtiger Brust zum Auflodern und zum ersten Mal ließ sie nicht einfach geschehen, was ihr widerfuhr. Mühsam rappelte sie sich auf und stürzte sich mit einem kehligen Kreischen auf den größten Jungen; jenen, der den Taler in seinen dreckigen Fingern hielt. Er schreckte zurück, als sie ihm an die Kehle sprang, und obwohl er fast doppelt so breit und zwei Köpfe größer war als sie, warf sie ihn mit ihrem Schwung um. Sie prallten beide hart auf den Boden, wo er sich mit einem widerlichen Krachen den Kopf anschlug.

Ein dünnes, dunkelrotes Rinnsal schlängelte sich durch den Schmutz. Aber in Freyras Brust brannte es weiter, deswegen prügelte sie mit beiden Fäustchen auf ihren Widersacher ein. Er wehrte sich nicht und es dauert lange, bis Freyra merkte, wie ruhig es geworden war. Sie waren allein; sie und der stille Junge, der immer noch den Taler mit der Hand umklammerte. Die anderen waren geflohen. Nicht vor ihr, sondern vor Zynur, dem Gott des Todes, der gekommen war, um den Jungen zu holen. Und Freyra weinte, weil sie wünschte, er würde auch sie mitnehmen und sie zu ihrem Vater bringen …

Freyra rannte. Sie war nun größer, zäher, cleverer und vor allem flink. Das musste sie auch sein. Ständig war jemand hinter ihr her und sie hatte gelernt, schneller als alle anderen zu sein. Aber am meisten trieb die Vergangenheit sie an, vor der Freyra beständig floh. Vor den Erinnerungen, die sie in jedem unachtsamen Augenblick befielen.

»Bleib stehen, du dreckige Diebin!«, brüllte ihr Verfolger, aber sie lachte bloß. Ein misstönendes, kehliges Bellen. Ihre Antwort auf die Ironie dieses Dreckhaufens eines Lebens.

Doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als unvermittelt jemand aus einem Hauseingang trat und sie mit festem Griff packte. »Hab ich dich, du diebisches Miststück!«

Ein Hieb in die Magengrube ließ sie zusammensacken. Freyra hatte zu rennen gelernt, weil sie das Kämpfen fürchtete. Immerzu sah sie die leeren Augen des Jungen vor sich. Sie hatte ihm den Glückstaler gelassen, vielleicht als Bezahlung für Zynur oder als eine Art Wiedergutmachung, trotzdem suchte er sie jede Nacht heim. Doch diesmal hatte Freyra keine Wahl. Sie zog das verborgene Messer aus ihrem Stiefel, richtete sich auf und stach zu …

Blut tränkte ihre Hände, spritzte ihr ins Gesicht, ergoss sich flutartig über sie, bis sie nichts mehr sehen konnte. Sie fiel auf die Knie, schützte den Kopf vor den Massen warmen Todessaftes, die sie zu ertränken drohte. Sie prustete, würgte, spuckte, als ihr der metallische Geschmack über die Zunge kroch. Auf einmal griffen starke Hände nach ihr und hievten sie auf die Beine. Zunächst war sie erleichtert, doch dann wurde sie mit Wucht gegen eine Wand gestoßen und an den Oberarmen fixiert.

»Hab ich dich!«

Freyra blinzelte, erkannte den Häscher. Sein Griff um ihre Arme glich Stahlmanschetten. Als sie sich lösten, war sie wie erstarrt. Die behandschuhte Faust traf sie mitten im Gesicht und alles wurde schwarz …

Ein lauter Knall weckte sie – oder war es das unerträgliche Brennen, das ihr über den Rücken fuhr? Es dauerte nur Sekunden, bis sie begriff, aber da ging bereits der nächste Peitschenhieb auf sie nieder. Ihre eigenen Schreie schmerzten ihr in den Ohren. Ihr Rücken brannte, brannte lichterloh wie ihre Brust. Heißes Blut rann daran hinab. Sie versuchte, zu entkommen, aber ihr Hals und ihre Handgelenke waren von Holz umschlossen. Hier gehörte sie her – an den Pranger.

Um sie herum fremde Gesichter, zu viele Augen starrten sie an. Stimmen brüllten durcheinander: »Diebin!« – »Dreckiger Langfinger.« – »Verflucht sollst du sein.« – »Hängen soll sie.« – »Hackt ihr beide Hände ab!«

Freyra schrie dagegen an, schloss die Augen fest, um die Grimassen auszusperren, bis es still und dunkel um sie herum wurde. Und eiskalt. Sie war allein – vollkommen allein. Dies hier war ihr vorbestimmtes Ende. Nicht mehr lang und sie würde ihren Vater wiedersehen. Schließlich drängte sich ein einzelnes Gesicht in ihr Sichtfeld, dicht vor dem ihren. Trotz regte sich in ihr, sie war noch nicht bereit. Und sie biss die Zähne fest zusammen, während sich eine Hand näherte. Rühr dich nicht, tu nichts, lass ihn deine Angst nicht sehen! Doch als die Finger sanft wie eine Feder über ihre geschwollene Wange fuhren, zuckte sie zurück, als hätte er sie verbrannt. Sie hatte vergessen, dass es Berührungen gab, die nicht schmerzten. Und plötzlich sehnte sie sich nach mehr davon.

»Ich tu dir nichts«, flüsterte er, mit einer Stimme wie Musik. Lüge! Das ist eine Lüge! »Ich bin Rava und ich werde dir helfen, kleine Dohle.« Wieder strich er behutsam über ihre Haut …

»Nein!«, schrie Freyra aus vollem Hals und schlug mit dem Dolch nach der Hand. »Fass mich nicht an! Nie wieder!« Etwas streifte ihre Stirn und sie holte abermals aus, doch da begriff sie, dass Rava nicht hier war. Es war der ledrige Flügel eines kleinen Drachen gewesen, der sie sanft berührt hatte.

»’tschuldige, Nyx«, stöhnte sie, ließ den Drachendolch ins Gras fallen und rieb sich die pochenden Schläfen. Sie war wach, endgültig. Freyra zitterte am ganzen Körper, das Feuer war erloschen, die Sonne noch nicht aufgegangen und sie war schweißbedeckt und hatte in ihrer Not die Decke von sich gestrampelt. Halt- und wärmesuchend schlang sie die Arme um ihren Oberkörper, versuchte, wieder zu Atem zu kommen und die Erinnerungen abzustreifen. Oh, wie sehr Freyra sie hasste!

Auch wenn sie sich gern mit der harten Schule rühmte – der härtesten von allen –, die sie so erfolgreich gemeistert hatte, wollte sie die Einzelheiten einfach nur vergessen. Klar, das Leben auf der Straße war ein ausgezeichneter Lehrmeister gewesen. Der ständige Hunger, die unzähligen Trachten Prügel, wenn sie erwischt worden war, die Schläge der anderen Straßenkinder, ihre Verzweiflung, wenn die ihr das erbeutete Gut abgenommen und sie zerschunden im Dreck liegen gelassen hatten. Dazu die zermürbende Einsamkeit, die permanente Angst vor den Häschern: Sie alle hatten Freyra gelehrt, ihr Handwerk rasch zu perfektionieren. Hatten sie geschliffen und gestählt. Aber sie hatten ihr auch zu viel geraubt: ihre Kindheit, die Unschuld, den Glauben an eine bessere Zukunft. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was er ihr angetan hatte … Rava.

Freyra ballte die Fäuste und stieß einen unterdrückten Schrei aus. Mit einem Satz war sie auf den Beinen. »Genug!«, brüllte sie. Es gab einen guten Grund, weshalb sie ihre Vergangenheit tunlichst mied. Sie wollte nichts mehr davon wissen! Erst recht nicht von diesem elenden Verräter, diesem Sohn einer räudigen –

»Genug«, seufzte sie noch einmal und atmete tief durch. »Komm, Nyx, wir verschwinden!« Rasch raffte sie ihr Hab und Gut zusammen, knüllte es in ihre Umhängetasche und den Rucksack und schulterte beides. Dann strich sie ihren Mantel glatt, streckte sich noch einmal, reckte das Kinn empor und marschierte entschlossenen Schrittes voran, Taurius entgegen.

Nyx schwirrte ihr vergnügt um den Kopf herum und nutzte die wenigen Stunden der Freiheit, ehe er sich wieder in seinen Stein würde zurückziehen müssen. Während Freyra sich einem Mantra gleich vorsagte, dass die Vergangenheit hinter ihr lag. Sie war gut darin, anderen etwas vorzumachen, und meistens gelang ihr das auch bei sich selbst.

FREYRA

3. Kapitel: Fillians kleiner Kräuterladen

»Bei Gordijas dreizehn Fingern! Hör auf mit den Mätzchen, Nyx, ich bin echt nicht in der Stimmung für sowas. Also ab mit dir. Rein da!« Es half nichts; egal, wie sehr Freyra keifte, die Göttin der (Lang)fingerfertigen beschwor oder mit dem Amulett vor Nyx herumfuchtelte, der kleine Scheißer weigerte sich hartnäckig, seinen Stein zu beziehen. Stattdessen schüttelte er unentwegt das Köpfchen und flatterte dabei aufgebracht vor ihrer Nase herum.

Sobald sie nach ihm schnappte, zischte er blitzschnell davon, nur um in einem weiten Bogen wieder zu ihr zurückzukehren und das Spielchen von Neuem zu beginnen.

Taurius war so nah, dass Freyra meinte, bereits den Geruch frischer Rauschblüten einzuatmen. Um Beherrschung ringend warf sie die Hände in die Luft und stieß ein gurgelndes Grollen aus. Wenn sich Nyx weiterhin sträubte, blieb ihr keine Wahl. Sie kannte den Bannspruch, mit dem sie ihn in den Stein zurückzwingen konnte, seit sie ihn einmal aus Versehen verwendet hatte. Zwar hatte sie Nyx versprochen, ihn nie wieder auf diese Weise zu entmündigen, aber allmählich verlor sie die Geduld. Sie war den ganzen Tag ohne Rast durchgelaufen, die Sonne näherte sich dem Horizont und ihre Kräfte waren am Ende. Kurz: Sie hatte die Schnauze gestrichen voll!

»In Ordnung, weißt du was? Dann mach doch, was du willst. Ich gehe nach Taurius und wenn du in dieser Form hinter mir her flatterst, wirst du ja sehen, was du davon hast. Glaub nicht, dass ich dir helfe, wenn dich die Häscher abschießen wollen«, fauchte sie und stapfte davon.

Zwar war Magie in Erydanien nicht verboten, aber in den moderneren Städten war sie in jeglicher Form verpönt. Das Mitführen und der Gebrauch magischer Artefakte war nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt und der Besitz musste offiziell gemeldet werden – was Freyra natürlich nie getan hatte. Im Grunde scherte sich kaum jemand um diese Gesetze – gab es doch ohnehin nur wenig Magie in Erydanien. Aber ein Wesen wie Nyx würde für Wirbel und Aufregung sorgen. Und beides konnte sie nicht gebrauchen.

Die Drohung musste den Drachen überzeugt haben, denn er kreischte nun alarmiert und rauschte in einem rasanten Sturzflug hinter Freyra her. Zeternd landete er auf ihrem Kopf und zerrte an ihren Haaren. Das konnte sie auf den Tod nicht ausstehen – und das wusste das verdammte Flatterbiest nur allzu gut.

Bei dem Versuch, ihn abzuschütteln, geriet Freyra ins Taumeln. Erst beim dritten Zupacken erwischte sie ihn richtig und riss ihn sich mitsamt einigen Haarsträhnen vom Kopf. Dafür hätte sie ihn erwürgen können.

»Sag mal, bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, knurrte sie und schüttelte den Winzling in ihren Händen.

Nyx blinzelte sie aus seinen onyxfarbenen Augen an, die Ohren angelegt und das Köpfchen geneigt. Ein leises Winseln drang aus seiner leicht geöffneten Schnauze und seine dunkelblaue Zunge schnellte hervor, um Freyra beschwichtigend über den Daumen zu lecken.

»Ach, nun tu doch nicht so unschuldig, du kleines Monster«, schimpfte Freyra, aber ihre Wut verrauchte unweigerlich und wich einer tiefen Zuneigung. Ob es an der Magie lag oder eine gänzlich andere Art von Zauber war – diese winzige Nervensäge ließ Freyras hartes Herz jedes Mal erweichen.

»Warum machst du denn so ein Theater, hm?«, fragte sie sanfter.

Nyx schnarrte und stupste beharrlich mit seiner Nase gegen ihren Handrücken. Die Flügel begannen wieder wild zu flattern und Freyra spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.

Sie seufzte. Unter normalen Umständen würde sie sein Verhalten nicht einfach ignorieren. Er hatte eine ebenso hervorragende Intuition wie sie und da sie sich wegen ihres vom Entzug getrübten Verstandes gerade nicht auf ihr eigenes inneres Frühwarnsystem verlassen konnte, sollte sie seine Warnsignale erst recht nicht in den Wind schlagen. Aber es half ja nichts, sie musste in die Stadt. Sie brauchte Rauschblüten, ein warmes Bett, traumlosen Schlaf und danach endlich einen erfolgreichen Beutezug. Chabala würde sich nicht für ihre Ausreden interessieren, wenn sie ihm mit leeren Händen entgegentrat.

»Was soll denn in der Stadt schon passieren, hm? Aber gut, ich verspreche dir, übervorsichtig zu sein, wenn du mir jetzt bitte, bitte den Gefallen tust, dich verdammt noch mal zu verdünnisieren.«

Mit einem leisen Grollen verschränkte er die stummeligen Ärmchen vor der Brust.

Freyra hob die Hand mit Nyx an ihr Gesicht, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Erinnerst du dich noch an die gegrillten Moorpilze, die ich uns bei unserem letzten Aufenthalt in Taurius besorgt habe? Ich kauf dir so viele davon, wie du fressen kannst, wenn du jetzt artig bist.«

Nyx’ fächerförmiges Ohr erzitterte und er hüpfte unruhig auf Freyras Hand auf und ab. Das Köpfchen schwenkte hin und her, als müsste er gründlich über dieses Angebot nachdenken, aber Freyra wusste bereits, dass sie ihn hatte. Der Drache zischte leise und dann verschwammen seine Konturen vor ihren Augen. Er zerfloss zu schwarzem Rauch, der wie ein zarter Windhauch durch Freyras Finger glitt und auf ihre Brust zuströmte. Dann war er verschwunden.

Mit einem triumphierenden Grinsen nahm Freyra ihren Weg wieder auf.

Ohne Amulettdrache, der ihr um den Kopf schwirrte, war das Betreten der Stadt ein Kinderspiel. Die beiden Wachen winkten sie einfach durch, ohne ihre Partie Götterklatsch zu unterbrechen. Taurius war eine der größten Städte Erydaniens und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Handeltreibende, Spielleute, Umherreisende, sie alle zog es in die Stadt und wieder fort. Die Straßen und Plätze waren tagsüber proppenvoll von Ansässigen und Fremden, ideale Voraussetzungen für Ausübende des langfingrigen Handwerkes wie Freyra. Wären da nicht die Häscher der Krone, von denen es in Taurius gleich ein ganzes Nest gab.

Das erydanische Königshaus rühmte sich gern damit, dass Gauner jeglicher Fasson in seinem Herrschaftsbereich keine Schnitte hätten, und es war Aufgabe der Häscher, diesem Ideal zumindest in den größeren Städten gerecht zu werden. Daher bevorzugte Freyra eher die weniger frequentierten Ortschaften, aber da war es wiederum um einiges schwieriger, an spezielle Mittelchen wie Rauschblüten oder gar Kostbarkeiten wie magische Artefakte zu kommen. Also blieb ihr der gelegentliche Besuch einer Stadt wie Taurius nicht erspart und wenn sie ehrlich war, gefiel es ihr, in der Anonymität der Masse unterzutauchen. Hier konnte sie für sich bleiben, ohne gänzlich allein zu sein. Sie fiel nicht weiter auf, niemand schenkte ihr einen zweiten Blick und jedes Wort, das sie Nyx verstohlen zuraunte, ging im Trubel der Stadt unter.

Selbst jetzt, da die Nacht bereits angebrochen war, drangen Musik und Gesang aus den Wirtslokalen ins Freie und Kinderbanden zogen grölend und Schabernack treibend durch die Gassen. Keine Straßenkinder, von denen es in vielen auswärtigen Dörfern nur so wimmelte, bloß ein paar großmäulige Halbstarke, die niemand zu fürchten brauchte. Kein Vergleich zu den verhärmten, bleichen Gossenkindern, die Freyra vor Urzeiten immer mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen beobachtet hatte. Damals, ehe sie selbst eines von ihnen geworden und noch zusammen mit ihrem Vater und der Gauklertruppe umhergezogen war. Als sie geglaubt hatte, das Leben auf der Straße zu kennen – nie hatte sie sich mehr geirrt.

Sie schüttelte den Kopf. Wo kamen nur diese Gedanken her? Daran waren allein diese verdammten Träume schuld! Sie rüttelten all die verschütteten Erinnerungen wach und ließen Freyra diesen längst überholten Erlebnissen nachhängen. Aber das würde nun ein Ende haben! Beschwingten Schrittes stiefelte sie durch die Gassen, das Ziel vor Augen: Fillians kleiner Kräuterladen, ihre Anlaufstelle Nummer eins in Taurius, wenn es um den Erwerb illegaler Substanzen ging. Das war der Vorteil an einer Stadt, die niemals richtig schlief: Selbst zu dieser späten Stunde waren die meisten Läden noch geöffnet.

»Freyra«, rief ihr das hutzelige Kerlchen hinter dem Verkaufstresen zu, kaum dass sie die Ladentür aufgestoßen hatte. Manche munkelten, er besäße Zwergenvorfahren, was seine winzige, quadratische Statur und den Zottelbart erklären würde. Aber in Erydanien hatte es seit hunderten von Jahren keine Schrumpfverwandten mehr gegeben, daher bezweifelte Freyra, dass etwas an den Gerüchten dran war. Die Leute redeten doch andauernd irgendein beknacktes Zeug.

»Immer wieder eine Freude, dich zu sehen«, schleimte er schwülstig, brach jedoch bei ihrem Nähertreten abrupt ab. »Bei Reikers Kräutern, das nehme ich zurück! Was ist dir denn zugestoßen? Du siehst ja besch… eiden aus.«

Freyra machte eine Grimasse. »Charmant wie immer, Fillian.« Da ihr jegliche Geduld fehlte, um auf seine Frage einzugehen, kam sie direkt auf den Punkt. »Hast du was für mich?« Mit einem stummen Fluch zog sie ihre Hände zurück, die bei diesen Worten begonnen hatten, aufgeregt auf dem Holztresen herumzutrommeln. Aber Fillians aufmerksamer Blick hatte die verräterische Geste bereits registriert. Mist! Sie war seit Jahren Stammkundin bei ihm, kehrte regelmäßig in seinem Laden ein, um Seelenheil zu erwerben, achtete dabei jedoch stets darauf, sich beherrscht und gleichmütig zu geben. Denn Fillian entging kein noch so dezentes Anzeichen für Suchtverhalten und trieb je nach Schweregrad die Kosten in die Höhe. Und sie war der beste Beweis dafür, dass er damit gut fuhr, denn momentan wäre sie bereit, jeden Preis zu zahlen.

Seine runzeligen Züge zerknautschten sich zu einer untröstlichen Faltenfratze. »Tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber …« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Raunen. »… ich musste sämtliche Bestände vernichten. Schade ums Geld, aber es gab eine Razzia letzte Woche, nachdem sie Gadwin hochgenommen haben. Du weißt schon, aus Gadwins Gartenwunder. Der Narr hat doch tatsächlich Opiate in seinem eigenen Garten gezogen – und sich erwischen lassen. Verdammter Stümper! Hat uns allen das Geschäft verdorben. Zum Glück war ich vorgewarnt, sonst säße ich jetzt in der Zelle neben ihm.«

Ungläubig starrte Freyra ihn an. Sie verlor jegliche Selbstbeherrschung, ließ jeden Versuch fahren, sich ungerührt zu geben. Das war die reinste Katastrophe! »Was soll das heißen?«, brachte sie plump hervor.

»Das heißt, du wirst in dieser Stadt nicht eine einzige Blüte von Du-weißt-schon-was finden. Alle Händler haben ihre geheimen Vorräte verbrannt oder wurden hochgenommen. Aber keine Sorge, warte ein paar Wochen, dann hat sich die Lage beruhigt und du bekommst wieder die feinste Auslese bei mir.«

Freyras Finger hatten sich abermals selbstständig gemacht und krallten sich nun um die Tresenkante. Jegliche Farbe war daraus gewichen, wie vermutlich auch aus ihrem Gesicht. Das konnte doch nicht wahr sein! Nur mühsam gelang es ihr, nicht wild loszuschreien und Fillians Inventar kurz und klein zu schlagen. Stattdessen zwang sie sich zu einem Lächeln, das sie förmlich schmerzte. »Fillian, wie lange kennen wir uns schon? Du weißt, ich bin absolut diskret, und ich weiß, du würdest niemals deinen gesamten Bestand an speziellen Wundermitteln vernichten. Du bist viel zu sehr Geschäftsmann, um einen Haufen grüner Kohle zu verfeuern. Also nenn mir einfach deinen Preis; ich bin bereit, ihn zu bezahlen.«

Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich meine es so, wie ich sagte: Ich habe nicht ein Blütenblatt übrig. Ich bedaure das nicht weniger als du, aber den Geldverlust nehme ich lieber in Kauf als den Umzug in eine Zelle.«

Freyras rechte Hand zuckte zu dem Drachendolch an ihrem Gürtel. Ja, sie war wirklich versucht, Fillian die gespaltene Klinge an den faltigen Hals zu drücken, und die Wahrheit aus ihm herauszuschnippeln, aber ihre Intuition verriet ihr, dass das überflüssig war: Er hatte ihr die bitteren Tatsachen bereits serviert. Hier würde sie kein Seelenheil bekommen und vermutlich auch nirgends sonst in der Stadt. Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen und atmete tief durch. Dabei spürte sie Fillians Blick auf sich ruhen und hasste sich abgrundtief dafür, dass sie ihn zum Zeugen ihres Kontrollverlustes werden ließ. Beim nächsten Mal würde er ihr ein Vermögen für ein paar Unzen der Blüten abknüpfen.

»Und du bist sicher, dass es auch sonst nirgendwo welches zu kaufen gibt?«, setzte sie an, nachdem sie ihre Stimme wieder im Griff hatte. »Ich würde dir natürlich jeden dienlichen Hinweis vergüten.« Sie biss die Zähne zusammen, denn es widerstrebte ihr, das harterarbeitete Geld aus dem Fenster zu werfen. Doch was hatte sie für eine Wahl?

Fillian lächelte milde. »Nein, tut mir leid, meine Liebe. Ich kann dir nichts sagen, was auch nur einen Kupferling wert wäre. Versuch dein Glück im Filou-Viertel, aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen.«

Freyra schnaubte. Das Filou war der übelste Stadtteil Taurius’. Im Vergleich zu den Elendsvierteln, in denen Freyra den Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte, war es ein heimeliges Plätzchen, aber trotzdem trieb sich dort einiges an Gesocks herum. Nicht, dass Freyra damit nicht zurechtkäme, doch sie konnte sich kaum vorstellen, dass irgendein lumpiger Straßenhändler Seelenheil feilbot. Es war keine gewöhnliche Armendroge, sondern eine seltene, anspruchsvolle Pflanze, die sich nur in gutsortierten Kräuterläden unter der Hand beschaffen ließ. Trotzdem nickte sie. »Danke, Fillian.« Geschlagen trat sie den Rückzug an.

Sie war schon bei der Tür, da sagte er: »Ach, eines noch, Freyra …«

Ungehalten drehte sie den Kopf zu ihm herum.

»Die Häscher sind momentan äußerst angespannt. Die Razzia hat ihnen nicht so viele Verhaftungen eingebracht wie geplant. Sie nutzen momentan den kleinsten Anlass, um jemanden einzubuchten, und erlauben sich keine Nachlässigkeiten.« In seinem eindringlichen Blick stand eine deutliche Warnung.

Freyra lächelte herablassend. »Und ich erst recht nicht.« Damit verließ sie den Laden, gefolgt von Fillians Stimme:

»Ich hoffe, du beehrst mich bald wieder. Wie gesagt, in wenigen Wochen …« Der Rest seiner Worte wurde von der zufallenden Tür verschluckt.

FREYRA

4. Kapitel: Abstecher ins Filou

Freyra schlug den Weg ins Filou-Viertel ein. Normalerweise mied sie die Gegend, obwohl sie dort wesentlich besser hineinpasste als überall sonst in Taurius. Jedenfalls innerlich. Äußerlich erweckte sie dank Chabalas üppigen Entlohnungen den Eindruck einer mittelklassigen Geschäftsfrau; nicht so gutsituiert, dass es Aufsehen erregt hätte, aber gerade erfolgreich genug, um nicht kritisch beäugt zu werden. Doch für das Filou galt es, einen anderen Anschein zu erwecken.

Daher zog sie ihren alten, schmuddeligen Kurzumhang aus dem Rucksack und warf ihn über. Dann band sie sich die Haare straff zurück und setzte die übergroße Kapuze auf. Anschließend fuhr sie mit einer Hand an der Außenseite eines ihrer schlammbeschmierten Stiefel entlang und verrieb den Dreck grob auf Wangen und Kinn. In den Augen eines unaufmerksamen Beobachters mochte dies wie ein Bartschatten wirken und selbst wenn es sich als Schmutz entpuppte, würde im Filou niemand daran Anstoß nehmen. Das Resultat entsprach gewiss nicht ihrer besten Verkleidung, aber für etwas Ausgeklügelteres fehlte es Freyra momentan an Geduld und Nerven.

Das Amulett vibrierte unruhig an ihrer Brust, während sie in die düsteren Gassen des Filous eintauchte. »Halt still!«, zischte Freyra aus dem Mundwinkel, doch Nyx dachte gar nicht daran. Also ignorierte sie den zappelnden Anhänger; für Außenstehende wurde er ohnehin durch mehrere Lagen Stoff kaschiert. Mit wachsamem Blick schlich sie voran, hier und dort erscholl ein Lachen oder Stimmengewirr aus den Häusern, aber ansonsten war es ungewöhnlich still. Niemand trieb sich auf den Straßen herum. Ob die Häscher hier für Ruhe gesorgt hatten? Sie steuerte Untrix’ Joch an, benannt nach dem Gott der vergessenen Seelen. Ein passender Name für eine Spelunke im Filou. Je näher sie der Kaschemme kam, desto mehr Stimmen drangen an ihre Ohren.

Ein paar Betrunkene torkelten ihr entgegen, aber sie waren nicht an ihr interessiert. Trotzdem wich sie möglichst weit aus und eilte rasch vorüber. Ein falscher Blick oder Schritt konnte genügen, um sich mit solchen Trunkenbolden Ärger einzuhandeln. Freyra hatte die Gasse, in dem das Joch lag, fast hinter sich gelassen, da erweckte ein Junge in einem Hauseingang ihre Aufmerksamkeit, der beinahe mit den Schatten ringsum verschmolz. Er lehnte in einer schiefen Haltung an einer Hauswand, eine Fußsohle dagegengestützt, und rauchte.

Der süßliche Geruch von verbranntem Favia drang in Freyras Nase und sie verzog das Gesicht. Das Kraut wurde auch als das Seelenheil der Armen bezeichnet, aber in Wahrheit hatte es nichts mit den kostbaren Rauschblüten gemein. Nicht nur, dass es penetrant roch, die Wirkung war auch eine völlig andere. Freyra hatte es einmal geraucht, weil sie gehofft hatte, darin einen günstigen Ersatz für ihre Edeldroge zu finden. Aber statt sie zu beruhigen und ihrer Seele zu schmeicheln, hatte es sie aufgekratzt und ihr Inneres in helle Aufregung versetzt. Nie waren ihre Träume so schlimm gewesen wie in jener Nacht. Außerdem mutierte man von dem Zeug zusehends zu einer wandelnden Leiche: außen miefig, innen verstand- und seelenlos.

Sie erschauderte, dennoch lief sie einen Schlenker in Richtung des Jungspundes und sah ihre vage Vermutung bestätigt. Der dürre Typ, der vielleicht fünfzehn Winter erlebt hatte, wirkte nervös und erwartungsvoll zugleich, die freie Hand wanderte immer wieder zu seiner ausgebeulten Hosentasche, während die andere den Glimmstängel hin- und herdrehte, wenn er nicht daran zog. Obwohl er Freyra bemerkt haben musste, da sie nicht gerade auf Heimlichkeit bedacht war, starrte er betont unbeteiligt auf den Boden. Aus den Augenwinkeln jedoch warf er ihr nicht eben unauffällige Blicke zu. Keine Frage, er besaß die nervenschwache Ausstrahlung eines popeligen Straßenhändlers, der selbst sein bester Kunde war.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken ihn um seine Waren zu erleichtern. Es wäre lächerlich einfach, ihn in ein Gespräch zu verwickeln und ihm nebenbei in die Tasche zu greifen. So zugedröhnt wie er war, müsste sie sich nicht einmal um Unauffälligkeit bemühen. Aber gerade dieser Mangel an Herausforderung ließ sie die Idee verwerfen. Zumal der Wicht den Verlust seiner Waren gewiss mit dem Leben bezahlen würde. Da könnte sie ihm gleich die Kehle durchschneiden und darauf legte sie es nun wirklich nicht an.

Erst als sie wenige Schritt von ihm entfernt stehen blieb und sich räusperte, hob er den Kopf. »Is’ was?«, schnarrte er und zog geräuschvoll die Nase hoch, um auf den Boden zu rotzen.

Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, raunte sie mit tiefer Stimme: »Angenommen ich wäre auf der Suche nach Seelenheil …«

Der Bengel sah ihr nun genau ins Gesicht. Er war bleich und hatte tiefe Augenringe, die Haare fielen ihm strähnig in die Stirn. Ihre Farbe war bei all dem Fett und Schmutz kaum auszumachen. Einige Wimpernschläge lang blieb sein Gesicht völlig ausdruckslos, dann lachte er mit merklicher Verzögerung heiser auf. »Bist du irre?«

Freyra richtete sich zu voller Größe auf, darauf bedacht, den Kopf dennoch leicht gesenkt zu halten, damit der Schatten der Kapuze ihr Gesicht verbarg. Für eine Frau war sie ziemlich groß und die vielen Kleiderschichten ließen sie breiter erscheinen. Sie setzte einen drohenden Schritt nach vorn, was den Jüngling dazu bewog, ihr beschwichtigend eine Hand entgegenzustrecken.

»He«, schnurrte er. »Kein Grund, gleich aus der Haut zu fahren, ja? Ich hab hier was für dich, das fast genauso gut wie Rauschblüten ist. Ach was, is’ sogar besser als dieses etepetete Zeug.« Er griff sich in die pralle Hosentasche.

Freyra winkte ab. »Kein Favia«, knurrte sie.

Kurz wirkte er überrascht, dann zuckte er träge mit einer Schulter. »Wer nicht will …« Er nahm einen letzten Zug von dem Glimmstängel, verbrannte sich dabei fast die Finger, weil er die Lunte bis zum bitteren Ende aufrauchte, eher er sie mit einem Seufzen auf dem Boden zertrat.

»Hast du denn auch noch was anderes?«, fragte sie widerwillig.

Der Bursche zog ein dümmliches Gesicht, schob das Kinn vor und rollte die Augen nach oben. Flüchtig glaubte Freyra, er hätte einen Anfall von zu ausgiebigem Favia-Konsum, aber dann ging ihr auf, dass er bloß nachdachte.

»Lass mal überlegen«, nuschelte er wie zur Bestätigung.

Ungeduldig knirschte Freyra mit den Zähnen, kurz davor, den Bengel am Schlafittchen zu packen und ihn mit kräftigem Schütteln zu Verstand zu bringen, doch da drang ein vertrauter Klang an ihre Ohren, bei dem sich ihr gesamter Körper anspannte. Ein gleichmäßiger Rhythmus, den sie überall erkennen würde und den sie zu hassen gelernt hatte, weshalb sie gewöhnlich beim leisesten Aufkommen Reißaus nahm. Bloß blieben ihr dafür nun nur wenige Augenblicke Zeit und die würden womöglich nicht reichen.

Sie zischte warnend, um den Jüngling zum Verstummen zu bringen, der unablässig vor sich hin murmelte. »Kannst du rennen?«, fragte sie.

Er sah sie an, als hätte sie nicht alle Latten am Zaun. Natürlich, der Schmächtling war offensichtlich kein Kämpfer. Im Weglaufen lag demnach seine einzige Überlebenschance.

»Na, dann zeig mal, was du kannst«, forderte Freyra den Jungen auf und schubste ihn von dem Hauseingang fort, hin zur erleuchteten Gasse, während sie selbst in den Schatten zurückwich.

»Eh«, pöbelte er und verstummte abrupt, als auch ihm das Geräusch herannahender Stiefelschritte nicht länger entging, deren Tempo nun zunahm. Er wurde noch bleicher als ohnehin schon und schluckte sichtlich.

»Na los«, zischte Freyra, als bereits die ersten blaugewandeten Gestalten in die Gasse einbogen.

Der Favia-Junkie flitzte los, flink wie ein Wiesel. Im Fortlaufen pfefferte er ein Bündel in den Rinnstein.

»He, stehenbleiben!«, brüllte einer der Stiefelträger, dann setzte die Mannschaft dem Fliehenden nach.

Freyra hielt den Atem an und drückte sich tiefer in den Schatten, wurde eins mit ihm, eine Faust um das zappelnde Amulett an ihrem Hals geschlungen, während ein halbes Dutzend Häscher an ihr vorbeihastete. Einige so dicht, dass Freyra ihnen auf die Schulter hätte klopfen können. Doch sie rührte sich nicht, war ein regloser Teil der Fassade, an die sie sich schmiegte. Keiner der königlichen Halunken hatte ein Auge für sie, so sehr dürstete es sie danach, den kleinen Scheißer einzufangen. Mit etwas Glück würde er ihnen entkommen und wenn nicht, trug er nichts mehr bei sich, wofür sie ihn belangen konnten. Obwohl der Faviageruch, den er ausdünstete, vermutlich genügte, um ihn in eine Zelle zu stecken.

Freyra zählte bis fünfzig, nachdem die Stiefelschritte verklungen waren, dann erst löste sie sich aus dem Hauseingang. Lauschte, sah sich um, ehe sie zum Rinnstein schlich und sich nach dem Bündel bückte. Blöd gelaufen für den zugedröhnten Wicht, aber das war nicht ihr Problem. Doch als sie sich erhob, hielt sie kurz inne. Aus einer einfältigen Laune heraus ließ sie ein paar Kupferlinge in die Gosse prasseln, trat sie mit dem Stiefel in den Schmutz, sodass nur jemand sie fände, der hier nach etwas suchte. Ein unsinniges Unterfangen, aber was juckten sie die paar lausigen Kröten.

Als Nächstes sah sie zu, dass sie Land gewann.

Stinkendes Favia, eine Prise Tongapulver, in Papier eingerollt, und fünf Roka-Blätter. Das war ihre jämmerliche Ausbeute. Nichts davon würde ihr eine erholsame Nachtruhe verschaffen. Tonga wirkte zwar betäubend, machte aber unzurechnungsfähig und war obendrein alles andere als energiespendend. Doch das Roka würde sie zumindest eine Weile wachhalten. Sie steckte beides ein, während sie das Favia in einer Abwassergrube entsorgte.

Beschwingten Schrittes lief Freyra durchs Filou, pfiff leise ein heiteres Lied vor sich hin. Von außen musste sie aussehen, wie ein leicht angetrunkener junger Mann, der vielleicht auf dem Weg zu seiner Angebeteten war. Innerlich jedoch war sie aufgekratzt, freudige Erregung und Argwohn wogten in ihr. Endlich hatte sie etwas, das sie vor ihren grässlichen Träumen bewahren würde, aber eine nervtötende, besserwisserische Stimme in ihr, mahnte sie, die Finger von den getrockneten Blättern zu lassen.

Eines davon rieb sie im Schutz ihres Umhanges zwischen zwei Fingern, hob unauffällig die Hand ans Gesicht, um daran zu riechen. Sie war keine Expertin auf dem Gebiet, immerhin war sie nicht wirklich drogenabhängig oder so, aber den unverkennbar säuerlichen Geruch von echtem Roka würde sie in jedem Fall erkennen. Und tatsächlich kribbelte es in ihrer Nase, als hätte sie einen kräftigen Zug Apfelessig inhaliert.

Zufrieden schob sie sich das Blatt in den Mund. Verzog ihn, während sie sorgsam auf dem trockenen Grünzeug herumkaute. Ihre Zunge prickelte unangenehm und lenkte sie von dem zappelnden Amulett an ihrer Brust ab. Als sie den Rand des Filous erreichte, hatte sich das Prickeln in ihrem gesamten Körper ausgebreitet. Freyra musste sich zwingen, mit dem Kauen aufzuhören, denn ihre Kiefer mahlten begeistert weiter, obwohl sie den säuerlichen Pflanzenbrei bereits hinuntergeschluckt hatte.

Dafür stellte sie euphorisch fest, dass ihre Sinne noch geschärfter waren als sonst. Die davonhuschende Ratte am Ende der Gasse, das kopulierende Pärchen in einem Häusereingang, der entfernte Schrei eines Käuzchens: Nichts davon entging ihr. Hektisch streifte sie den Kurzumhang ab, verstaute ihn wieder in der Tasche und wischte sich den Schmutz aus dem Gesicht. Ihre Stiefel donnerten im Stakkato über den Boden, während sie das Stadtzentrum ansteuerte. Nun, da sie die Müdigkeit von sich abgeworfen hatte wie eine alte, zerbröckelte Hülle, war sie endlich wieder bereit, sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen: dem Aufspüren magischer Artefakte.

Sie hatte ein gutes Gefühl, in der bunten Stadt fündig zu werden, daher würde sie sich gleich ins Nachtleben stürzen, sobald sie ein Zimmer in der Seerose bezogen und sich etwas zurechtgemacht hätte. Sie verspürte sogar eine Art freudige Erregung bei dem Gedanken daran, sich unters Volk zu mischen. Gerade stand Freyra ganz und gar nicht der Sinn danach, wie ein unsichtbarer Schatten durch die Stadt zu streifen, unbemerkt und ungesehen auf Beutezug zu gehen. Nein, heute würde sie sich ein wenig amüsieren. Blieb nur die Frage, in welche Rolle sie dafür schlüpfte …

Ihr Verstand vermeldete eine kritische Menge an Übermut, aber sie wedelte den Einwand fort und ignorierte das mahnende Zappeln an ihrem Hals. Erst als das Amulett zu glühen begann und ihr eindeutige Signale sandte, blieb sie abrupt stehen. Langsam wandte sie sich um, richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Tür, hinter der Nyx offenbar ein magisches Vorkommen registriert hatte. Das Glasauge. Freyra war noch nie in dem Wirtshaus gewesen, aber Nyx’ Beben nach musste sich ein Besuch heute wahrlich lohnen.

Sie grinste in sich hinein. Dass sie so schnell fündig werden würde, hatte sie nicht erwartet. Aber damit zeigte sich mal wieder, dass auf ihr Gespür immer Verlass war. Sie hatte doch gewusst, dass ein großer Fang auf die wartete. Es juckte sie in den Fingern, aber in diesem Aufzug konnte sie den Schuppen nicht betreten. Das hier war nicht Untrix’ Joch. Nein, hierfür bedurfte es einer … zivilisierteren Erscheinung.

Mühsam riss sie sich los und eilte weiter. Schon bald würde sie zurückkehren und einen armen Tropf um seinen magischen Besitz bringen.

LEANDRO

5. Kapitel: Ein personifizierter Widerspruch

Leandrobal von Schwanschwing-am-Berge starrte in seinen Humpen, als erhoffte er sich am Grund des schalen Bieres eine Lösung für seine unglückselige Lage zu finden. Stattdessen entdeckte er bloß fragwürdige Rückstände, die vermutlich seit Dekaden in dem Glas klebten. Dass niemand bestrebt war, die Trinkgefäße in dieser Kaschemme anständig zu schrubben, hatte ihm bereits der getrocknete Lippenstiftabdruck am Rand verraten. Leandro hatte ihn nur müde zur Kenntnis genommen und das Gefäß gedreht, um von der anderen Seite zu trinken.

So weit war es mit ihm indessen gekommen! Er war schon derart lange fern der Heimat, hatte so viele Nächte in schäbigen Unterkünften oder gar in der Wildnis hinter sich, dass ihn ein paar Keime nicht mehr schreckten. Leandra würde höhnen, wenn sie ihn so sähe, ihn zum Gespött machen. Womöglich wäre sie aber auch zutiefst verstört. Während sich ihre Mutter wahrscheinlich im Grabe herumdrehte. Eine Schande, was aus ihm geworden ist, das würde sie sagen. Vermutlich hätte sie recht damit.

Mit einem tiefen Seufzer leerte Leandro das Glas. Das Bier war verwässert und hatte einen undefinierbaren Beigeschmack, über dessen Ursprung er jedoch vorzugsweise nicht weiter nachgrübelte.

Selbstverständlich war er nicht gezwungen, in Absteigen wie dieser zu hausen und einem Heimatlosen gleich umherzustreifen. Zuhause in Schwanschwing-am-Berge harrte ein herrschaftliches Schloss seiner. Doch er war nicht gewillt umzukehren; nicht, ehe er endlich jemanden gefunden hätte, der ihn von seinem Verderben erlöste. Es erschien sinnlos, nach all der Zeit des vergeblichen Suchens, aber es musste irgendwo jemanden geben, der der Magie mächtig war – und obendrein willens, ihm gegen eine stattliche Belohnung zu helfen. Zudem wartete zuhause sonst nichts weiter auf ihn. Leandra kam blendend ohne ihn zurecht und die liebliche Madeline war fort. Für immer. Such dir eine andere, hatte ihm seine Schwester in ihrer gewohnt pragmatischen Art geraten, aber seit diesem überaus unerfreulichen Geschehnis mit Adelaide … Er erschauderte.

Undenkbar sich noch einmal auf eine Frau einzulassen!

Freilich hatte er in den einsamen Jahren, die hinter ihm lagen, gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, die ein oder andere hübsche Maid zu umgarnen. Bloß für ein kurzweiliges Vergnügen. Selbst hier, in diesem Loch, gab es Schönheiten zu entdecken, und Leandro hatte bei der Wahl seiner Liebschaften noch nie viel auf den Stand gegeben. Doch ganz abgesehen von der Sache mit dem Fluch mangelte es ihm momentan am nötigen Selbstvertrauen. Als Leandrobal von Schwanschwing-am-Berge, Graf des ästhetischsten Landstriches Erydaniens und im besten Mannesalter, war es ein Leichtes, Liebchen in Verzückung zu versetzen. Im Augenblick hingegen war er ein Graf im Exil, inkognito. Bloß Leandro, ein schlichter oder allenfalls bessergestellter Kaufmann. Womöglich hätte er sich für eine andere Rolle entscheiden sollen, etwa für die eines verwegenen Landstreichers. Aber es war schon Herausforderung genug, den Krämer zu mimen.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Diesen Überlegungen nachzuhängen war müßig. Er hatte ohnehin weder die Zeit noch Energie für Liebeleien. Auch wenn es ihm nicht an Moral mangelte, brauchte er all seine Sinne beisammen. Ablenkungen durfte er keinesfalls stattgeben, sonst würde er Adelaides Geißel niemals loswerden. Gedankenverloren tippte er mit dem Zeigefinger der linken Hand gegen den eingefassten Rubin an seinem rechten Ringfinger. Wie er ihn verabscheute! Am liebsten würde er den Ring schlicht abstreifen, auf den Tresen pfeffern und von dannen ziehen. Doch die letzten Male, da er ihn abgenommen hatte, waren ihm eine Lehre gewesen. Nein, er war nicht gewillt, mit den Konsequenzen zu leben – ach, er würde sie gar nicht erst überleben.

Adelaide hatte keine halben Sachen fabriziert, das musste er ihr lassen. Verdammtes Weibsstück!

Deine Frauenwahl hat schon immer zu wünschen übriggelassen, hörte er Leandra spotten.

»Jaja«, murrte Leandro und fing sich dafür einen scheelen Seitenblick seines Trinkkumpans ein. Der alte Tattergreis mit den schiefen Zahnstumpen und den milchigen Augen, der neben ihm am Tresen saß, sprach nicht, bedachte Leandro aber alle Nase lang mit solcherlei abschätzigen Blicken. Als wäre er hier der Sonderling.

Dessen ungeachtet hatte er sich beinahe an die Gesellschaft des senilen Kauzes gewöhnt, immerhin saßen sie bereits drei Nächte in Folge nebeneinander. Vermutlich war der Alte der Grund, weshalb Leandro noch immer hier war, in Taurius. Im Glasauge, wie die Gaststätte sich schimpfte. Er hatte sich unerklärlicherweise bisher nicht zu lösen vermocht, war nahezu versucht, den stummen Stumpen zu fragen, ob er ihn nicht auf der Weiterreise begleiten wolle. Aber das war närrisch, der Greis würde ihn nur aufhalten und hatte zudem keinerlei Veranlassung, ihm zu folgen. Nein, es war bloß die ungewohnte Einsamkeit, die diese wahnwitzigen Ideen in Leandro hervorbrachte.

Mit einem neuerlichen Seufzen erhob er sich halb, schwankte noch zwischen Aufbrechen und Bleiben, als die Tür des Glasauge aufschwang und ein großgewachsener Mann in adrettem dunklem Mantel und Hut eintrat. Dessen Blick glitt zugleich desinteressiert und taxierend durch den Schankraum und blieb schließlich an Leandro hängen. Bloß wenige Augenblicke, doch etwas in diesen kühlen Augen brachte den verdeckten Grafen dazu, sich wieder auf seinen Schemel sacken zu lassen.

Beinahe übereifrig stolzierte der Fremde auf den Tresen zu, eine Hand in den Hemdkragen gekrallt, als müsste er ihn festhalten, und ließ sich gleich neben Leandro nieder, ohne ihn weiter zu beachten. Es kränkte ihn aus irgendeinem Grunde, dass der Fremdling ihn keines zweiten Blickes würdigte, wohingegen er den seinen nicht von ihm zu wenden vermochte. Gewiss war sein Verdruss darüber eine weitere Ausgeburt seiner Vereinsamung. Oder lag es an der leisen Faszination, die der junge Mann in ihm auslöste? Die schlichte Anmut, mit der er sich bewegte, war nahezu animalisch. Verursachte er überhaupt Geräusche?

Seine Haltung schien zu heischen: Schaut her, seht mich an!, und im selben Atemzug: Bleibt mir ja vom Leib! Statur und Züge wirkten androgyn, weich und zugleich hart geschliffen. Ein wandelnder Widerspruch – oder im Augenblick ein sitzender. Ziemlich dicht neben ihm, wie Leandro nun auffiel. Er war beinahe imstande, dessen Poren zu zählen, doch dazu waren sie zu fein. Ungewöhnlich reine Haut für einen Mann und dennoch von einem blassen Bartschatten überzogen. Winzige schwarze Haarsträhnen blitzten unter der Hutkrempe hervor, die glänzten wie frisch lackiert.

Jäh drehte der Fremde ihm das schmale Gesicht zu – es war weder bedrückend noch makellos und zeigte unverkennbare Spuren von Müdigkeit, dennoch war der Blick wachsam – und Leandro wurde erschreckend bewusst, dass er ihn unverwandt und unverhohlen angestarrt hatte. Der Jüngling schien darüber nicht empört, sondern lächelte verhalten. Seine waldgrünen Augen blitzten auf, die Brauen waren leicht erhoben, wie zu einer stummen Frage. Doch war sie überhaupt lautlos gewesen? Denn Leandro war, als hätte er soeben etwas vernommen.

»Wie bitte?«, brachte er stockend hervor, räusperte sich umständlich und rückte von dem Mann ab, der inzwischen gewiss einen falschen Eindruck von Leandros Absichten gewonnen hatte.

»Ich fragte, ob es auch noch etwas sein darf. Es geht auf mich«, sagte er mit leiser, rauchiger Stimme. Fast heiser und doch irgendwie volltönend.

Leandro rutschte ein wenig weiter von dem irritierend widersprüchlichen Kerl fort, da er sich nun gänzlich sicher war, ihm durch sein zugeneigtes Verhalten falsche Signale gesendet zu haben. Zwar war er durchaus experimentierfreudig, doch für das männliche Geschlecht hatte er sich bislang keineswegs interessiert, jedenfalls nicht in schwärmerischer Weise. Daher bemühte er sich um einen möglichst distanzierten Gesichtsausdruck und winkte ab. »Nein, danke. Das hiesige Bier ist die reinste Zumutung und ich wollte ohnehin gerade aufbrechen.« Er hatte fest vor, sich abermals zu erheben, doch aus unbegreiflichen Gründen blieb sein eigensinniges Gesäß, wo es war.

»Ach, kommt schon. Bleibt doch noch. Ich verrate Euch meinen Geheimtipp.« Damit legte ihm der Fremde eine feingliedrige, von Narben gespickte Hand auf den Unterarm und beugte sich vor, um ihm verschwörerisch zuzuraunen: »Kirsch-Ale. Das Feinste, was der Schuppen hier zu bieten hat. Ein echter Gaumenschmeichler.« Mit einem Zwinkern rückte er wieder von ihm ab. »Na, was sagt Ihr?«

Leandro hatte abermals zu starren begonnen und blinzelte eilig, als es ihm gewahr wurde. Er schluckte und räusperte sich erneut. »Gern«, hörte er sich hauchen, ehe er wusste, wie ihm geschah. Was war nur los mit ihm? Wieso zog ihn dieser junge Mann derart in seinen Bann?

»Fein«, sagte der Fremde rauchig-melodiös und sah Leandro wieder auf diese gespannte Weise an, mit blitzenden Augen und hochgezogenen Augenbrauen.

»Ehm, wie bitte?«, stammelte Leandro, den das Gefühl beschlich, dass ihm eine weitere Frage entgangen war, obschon er sich sicher war, diesmal nichts überhört zu haben.

»Mein Name. Er lautet Freyn. Und der Eure?«

»Ach so.« Freyn, nicht fein. Nun hatte er es also auch noch an den Ohren. »Le-Leandro.«

»Leleandro? Sehr interessant.«

»Nein. Nur Leandro.« Er verfluchte sich leise, schloss für einen kurzen Moment die Augen, während der Wirt zwei Pokalgläser vor ihnen auf den Tresen knallte. Darin schwappte eine rötlich-schaumige Flüssigkeit hin und her, wie er feststellte, kaum dass seine Lider sich wieder hoben. So zerstreut wie er war, hatte er nicht einmal mitbekommen, wie Freyn sie bestellt hatte.

Dankbar um die Ablenkung griff er nach einem Pokal und hob gleich zu einem tiefen Schluck an. Eine Vielzahl an Aromen breitete sich auf seinem Gaumen aus, widersprüchlich wie Freyn. Honigsüß und herb. Und obendrein stark! Hustend setzte er das Glas wieder ab. Es brannte regelrecht in der Kehle.

»Langsam«, sagte Freyn lachend. Ein Klang, dreckig verrucht und kindlich zugleich. »Und? Habe ich Euch zu viel versprochen?«

Leandro schüttelte den Kopf. Fürwahr, dieser Tropfen war das Beste, was er seit Langem getrunken hatte.

Freyn hielt ihm seinen Pokal entgegen und Leandro stieß mit ihm an. Er errötete dabei, weil er so vorschnell gewesen war – wo hatte er nur seine Manieren gelassen? Nach einem weiteren tiefen Zug schaute er über die Schulter und fing sich einen geringschätzigen Blick vom Tattergreis ein. Einer Laune folgend zog Leandro eine Grimasse und streckte dem Alten die Zunge heraus, kicherte im Anschluss ganz ungehemmt. Das Ale war ihm offenbar gleich zu Kopf gestiegen. Doch das war gut so – er fühlte sich gut! So leicht und herrlich unbeschwert.

»Also, wo kommt Ihr her, Freyn?«, fragte er ausgelassen und wandte sich wieder voll und ganz dem jungen Mann zu. Womöglich ein wenig zu intensiv und wann war sein Schemel eigentlich so dicht an den seinen herangerutscht? Aber, ach, das war Leandro gleichgültig. Dann hatte er eben ein gesteigertes Interesse an diesem Mann. Er war ansehnlich, sauber und allem Anschein nach aus einigermaßen gutem Hause. Leandro hätte es schlechter treffen können.

»Von überall und nirgends«, raunte Freyn. Geheimnisvoll war er also obendrein.

In Leandro kribbelte es. »Wie ich«, hauchte er, auch wenn das natürlich nicht ganz zutraf. Aber in letzter Zeit kam er sich zunehmend heimatlos vor. Seit Jahren schon zog er umher, auf der Suche nach einer Person, die die Magie beherrschte. Und es dürstete ihn danach, mit jemandem zu reden. Nicht über die heiklen Gründe seines Umherziehens, bloß über dieses und jenes. Und nachdem er noch einmal am Ale genippt hatte, löste sich seine Zunge hinreichend und er erwischte sich dabei, wie er Freyn einen Schwung aus seinem Leben erzählte. Irgendwie kamen ihm die Worte ganz leicht über die Lippen und da der Jüngling offenbar nicht der Gesprächigste war, Leandro jedoch so sehr nach Konversation lechzte, übernahm er eben den Redeanteil.

Freyn war ein guter Zuhörer, nickte versonnen und blieb völlig ruhig – mit Ausnahme der Finger, die einen lebhaften Rhythmus auf dem Tresen spielten. Doch es schien eine nervöse Angewohnheit zu sein, kein Zeichen der Langeweile, denn er war ganz Ohr. Zwischendurch lachte Freyn sein verrucht-kindliches Lachen oder stellte Fragen und immerzu ruhte der Blick seiner grünen Augen auf Leandro, als könnte er ihn nicht von ihm abwenden. Und nichts schmeichelte dem Grafen so sehr, wie die ungeteilte Aufmerksamkeit einer reizvollen Fra– äh … nun ja, eines reizvollen Geschöpfes. Also hörte er sich prahlen, wie er das Reitturnier damals in Erschwingen-Grünling haushoch gewonnen hatte, und er schaffte es, sich durch sämtliche Erfolgserlebnisse seines Lebens zu manövrieren, ohne auch nur ein einziges Mal seine wahre Identität zu enthüllen. Es erfüllte ihn mit Stolz und gab ihm ein wenig von seinem einstigen Selbstvertrauen zurück. Durchaus denkbar, dass seine Hemmungen gar nicht in ihm oder dem Exil begründet waren. Womöglich war er bloß der Frauen überdrüssig geworden.

Derweil verging die Zeit wie im Flug und Leandro amüsierte sich bei diesen drei oder vier, vielleicht auch fünf Pokalen Kirsch-Ale köstlicher denn je. Er vergaß die Einsamkeit und seine Sorgen, lachte aus vollem Hals und genoss die Gesellschaft dieses lebenden, atmenden Paradoxons neben ihm. Bis ihm irgendwann der Kopf schwer wurde. So schwer, dass er ihn für einen Moment auf dem Tresen ablegen musste …

FREYRA

6. Kapitel: Bad der Gefühle

Freyra lachte sich ins Fäustchen, während sie das Glasauge hinter sich ließ und die Seerose am anderen Ende der Stadt ansteuerte. Beide Gasthäuser waren weit genug voneinander entfernt, sodass der trottelige Schnösel sie niemals aufspüren würde. Sie war nur froh, dass sie ihm keinen Augenblick länger hatte lauschen müssen. Trotz des Tongapulvers in seinem Kirsch-Ale hatte er sich als erstaunlich ausdauernd erwiesen. Freyra war schon überzeugt gewesen, dass sie sich geirrt und ihm bloß irgendein wirkungsloses Kräuterpulver ins Getränk gemischt hatte. Aber letztlich – endlich – war sein Kopf mit den grässlichen Goldlöckchen auf den Tisch geknallt.