Rayana und die Sonnenkinder von Sol-Dhana - Steffi Frei - E-Book

Rayana und die Sonnenkinder von Sol-Dhana E-Book

Steffi Frei

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Beschreibung

Waisenkind Rayana hat nur einen Wunsch: Gemeinsam mit ihrem besten Freund Kalux die Prüfung zu einer echten Sol-Soldatin bestehen und in die Akademie von Sol-Dhana eintreten! Doch dazu müssen sich beide in den sonnenzyklisch stattfindenden Prüfungen als wahre Sonnenkinder beweisen. Als Rayana trotz hartem Training und dem glorreichen Kampf gegen eine echte Sol-Soldatin durch die letzte Prüfung fällt, bleibt sie allein mit den Scherben ihres Traumes zurück. Während sie als Unbeschienene klassifiziert wird, kann Kalux endlich das Waisenhaus verlassen. Auf sich allein gestellt, sucht Rayana nach anderen Wegen, ihre Sonnenmagie zu beweisen. Dabei entdeckt sie düstere Geheimnisse, die besser im Verborgenen geblieben wären. Wird Rayana ihren Traum riskieren, um Licht in die Schatten von Sol-Dhanas Geschichte zu bringen? Rayana und die Sonnenkinder von Sol-Dhana verbindet epische High-Fantasy mit starken Persönlichkeiten und erzählt die Geschichte einer Freundschaft über alle Grenzen hinaus.

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STEFFI FREI

Impressum

Copyright © 2023 by

WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]

RAYANA UND DIE SONNENKINDER VON SOL-DHANAText © Steffi Frei, 2023 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat: Juliet May (www.julietmay.at) Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke

Karte & Illustrationen: Jaskirat Kaur (@artofjassi) Satz & Layout: Vianchia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-006-9 Alle Rechte vorbehalten.

TEIL I: Die Prüfung

Nur ein wahres Kind der Sonne ist würdig, ihr zu dienen!

(Leitspruch der Sol-Akademie)

Versprich es mir

Am letzten Sonnenverlauf des 262. Sonnenzyklus Sol-Dhanas, ein Verlauf vor dem ersten Gleichschein und der sonnenmagischen Prüfung für alle unmündigen, bis dato als unbeschienen klassifizierten Sol-Dhanesen.

Es war nur ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, der mir zum Verhängnis wurde. Kalux’ Schwertarm schoss vor und die Spitze seiner Waffe traf mich mitten in den Bauch. Der Aufschlag presste mir die Luft aus den Lungen und mein Oberkörper klappte nach vorn. Mein eigenes Schwert glitt mir aus den Fingern und fiel in den Staub. Ächzend hielt ich mir die Arme an den stechenden Unterleib, der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen und ich blinzelte hektisch, um diese verräterischen Zeichen der Schwäche zu vertreiben.

Kalux’ Triumphschrei brach abrupt ab und ich spürte den sanften Druck seiner Hand auf der Schulter. »Tut mir leid. Ist es schlimm?«

Ich schüttelte seine Hand ab. »Ich bin nicht aus Wachs. Beim Kämpfen kassiert man schon mal einen Treffer!«

»Du aber nicht allzu häufig.«

»Jeder hat mal einen schlechten Sonnenverlauf!« Meine Worte waren scharf, ganz im Gegenteil zu den Klingen unserer Übungsschwerter. Ich biss mir auf die Unterlippe und stieß meine nutzlose Waffe mit dem Fuß fort. Kalux hatte recht, ich war die bessere Kämpferin; ich teilte Treffer aus, statt sie einzustecken. Aber die bevorstehende Prüfung machte mich nervös. Ich hatte in letzter Zeit schlecht geschlafen und meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Doch das war keine Entschuldigung dafür, meinen Frust an Kalux auszulassen.

Ich seufzte und zog ein zerknirschtes Gesicht. »Ich bin nervös …«

Kalux rieb sich den Schweiß von der Stirn. »Ich weiß.«

»Was, wenn wir versagen? Wenn wir keinen Funken Magie in uns tragen? Was wird dann aus uns?« Wie oft hatte ich diese Befürchtungen schon ausgesprochen? Ich kannte sämtliche von Kalux’ Entgegnungen darauf, doch zu meiner Verwunderung schwieg er diesmal. Keine flapsige Bemerkung oder selbstbewusste Frotzelei, keine motivierende Ansprache oder hoffnungsvolle Versicherung kam ihm über die Lippen. Stattdessen presste er sie zusammen. Prüfend schaute ich ihm ins Gesicht, das ungewohnt verschlossen wirkte. Er wich meinem Blick aus.

Ich sog scharf die Luft ein. »Kalux!« Blitzschnell packte ich ihn an den Oberarmen, um zu verhindern, dass er mir auswich. »Sag nicht, du … Was verheimlichst du mir?« Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, ja, ein Teil von mir wollte ihn sogar schlagen, um ihn zum Sprechen zu bringen, obwohl ich die Antwort fürchtete.

Kalux hob ungelenk den Unterarm, um sich am Kinn zu kratzen. »Es ist nur … Ich muss dir etwas erzählen. Ich wollte es schon längst, aber wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten, deshalb …« Er zuckte gegen den Widerstand meines Griffes mit den Achseln.

Resigniert löste ich die Hände von seinen Oberarmen. »Es ist nur, was? Raus damit, Kalux!«

Die gewonnene Freiheit nutzte er, um ein wenig von mir abzurücken und rastlos von einem Bein aufs andere zu treten. »Es ist nur so, dass ich … einmal habe ich, etwas geschafft, aber – Ach, es ist eigentlich nicht der Rede wert.«

Vor Anspannung hielt ich die Luft an. Was hatte das zu bedeuten? »Jetzt sag schon!«, raunte ich, da Kalux keine Anstalten machte, fortzufahren.

Er seufzte, als verlangte ich Unmögliches von ihm. »In einer Sonnenferne konnte ich nicht schlafen und da bin ich aufgestanden und habe mir eine Kerze geholt, um ein wenig zu üben …«

»Und?«, brachte ich atemlos hervor. Ich wusste, dass Kalux jede Gelegenheit nutzte, um sich einen Funken Magie zu entlocken. Bislang erfolglos – jedenfalls hatte ich das angenommen.

»Ich habe wie etliche Male zuvor versucht, sie mit den Gedanken zu entzünden …« Meine Augen wurden groß, aber Kalux schüttelte rasch den Kopf. »Es hat nicht funktioniert, aber dann …«

»Dann, was?« Ich hielt es nicht mehr aus. »Kalux, wenn du nicht endlich mit der Sprache herausrückst, zieh ich dir eins mit meinem Schwert über.« Als ich mich danach bückte, platzte er heraus:

»Na gut, also, ich habe die Kerze auf herkömmliche Weise angezündet und mich auf die Flamme konzentriert und plötzlich … ist sie ausgegangen.«

Ich starrte Kalux fassungslos an. »Bei den Strahlen«, hauchte ich.

»Zuerst habe ich geglaubt, es wäre bloß ein Windstoß gewesen, obwohl alle Fenster verschlossen waren. Aber du weißt ja, wie zugig es bei uns im Jungentrakt ist.« Abermals verstummte er, als erwartete er Zuspruch von mir.

Doch mir war nicht danach. »Und?«

»Na ja, ich habe sie wieder entzündet … mit meinen Gedanken.«

Mir klappte der Unterkiefer hinab. Meine Sicht verschwamm leicht und ich blinzelte hektisch, ohne eine Verbesserung zu bewirken. Das lag wohl daran, dass ich schwankte. Ich holte tief Luft, brachte aber keinen Laut hervor; meine Kehle war wie zugeschnürt. Mein nächster Impuls war, zu lachen. Dann hätte ich am liebsten geschrien und ihn einen Lügner genannt. Aber ich wusste genau, dass Kalux in dieser Hinsicht weder scherzen noch lügen würde. Erst allmählich kam mein wahres Empfinden ans Licht und stieß mir bitter auf wie Galle: Neid. Ich war bis oben hin angefüllt von purer, ekelerregender Eifersucht und ich schämte mich dafür.

»Das … ist ja fantastisch«, presste ich hervor. Meine Scham wuchs. Ich wünschte, ich hätte mich ehrlich für ihn freuen können, denn Kalux hatte ihn endlich gefunden: den Beweis, dass er von Sonnenmagie durchdrungen war. Er war ein wahrhaftiges Kind der Sonne und noch dazu ein sehr begabtes, wenn es ihm ohne jegliche Anleitung gelungen war, ein Element wie das Feuer zu beherrschen. Wohingegen ich bislang nicht einmal den Hauch magischer Begabung gezeigt hatte. Das bedeutete, Kalux würde bei den Prüfungen auserwählt werden, während ich …

»Raya …« Kalux berührte mich sanft am Arm. »Das hat nichts zu bedeuten, die Prüfungen haben seitdem keinen Nachweis über meine magische Begabung erbracht.« Er zuckte die Achseln.

Ich kniff die Augen zusammen. »Warte, was soll das bedeuten? Seitdem?« Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Allmählich ging mir auf, dass Kalux dieses ungeheuerliche Geheimnis nicht erst seit wenigen Verläufen vor mir verbarg. Ich stieß lautstark Luft aus. Das war nicht zu fassen. »Wann?«, krächzte ich. Ein faustgroßer Kloß erschwerte mir das Reden. »Wann ist das passiert?«

Kalux kratzte sich im Nacken und schaute zu Boden. »Zum ersten Mal vor drei Sonnenzyklen«, murmelte er so undeutlich, dass ich ihn kaum verstand.

»Was?«

»Vor drei Zyklen«, wiederholte er deutlicher und sah mir endlich wieder ins Gesicht. In seinen Augen las ich den endgültigen Beweis, dass er mich nicht verschaukelte.

»Aber wieso hast du mir nichts gesagt?« Plötzlich verspürte ich eine unendliche Müdigkeit. Verwirrung, Wut und Enttäuschung wichen einer Ermattung, die mich auf den Boden sinken ließ.

Kalux hockte sich neben mich und fasste vorsichtig nach meinem Arm. »Hm … weiß nicht. Vielleicht weil ich nicht wollte, dass es etwas zwischen uns ändert …« Er zog die Schultern hoch.

Unwillkürlich griff ich nach dem Stein an meinem Hals. »Alles wird sich verändern, wenn du an die Akademie gehst und ich nicht …«

Kalux schüttelte den Kopf. »Das wird nicht geschehen. Ohne dich gehe ich nämlich nicht!«

Ich warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Sei nicht beschattet, Kalux!« Und da ging mir ein Licht auf. »Wieso wurde deine Fähigkeit bei den letzten Prüfungen nicht erkannt? Konntest du sie nicht zeigen oder wolltest du nicht?«

Kalux wippte hockend auf den Fußballen vor und zurück und starrte auf den Boden zwischen uns. »Es hat halt nicht geklappt«, nuschelte er ausweichend. »Ich schaffe es nie, die Kerze aus dem Nichts heraus zu entzünden. Erst wenn sie bereits brennt, kann ich sie erlöschen und wieder entflammen lassen.«

Ich stieß ihn gegen die Schulter, sodass er auf dem Hintern landete, und sprang auf die Füße. »Kalux!«, schimpfte ich und klang dabei wie Nannik. »Das hättest du den Prüfenden sagen müssen! Wüssten sie davon …« Meine Stimme versagte, da mir die Tragweite all dessen bewusst wurde. Seit unserem fünften Lebenszyklus träumten wir diesen gemeinsamen Traum, seit wir uns hier im Waisenhaus begegnet waren. Zwei verlorene Waisen, denen nicht viel mehr geblieben war, als zu träumen. Ich erinnerte mich noch genau an unser erstes Aufeinandertreffen, denn Kalux’ Grinsen war das erste und einzig Erfreuliche an diesem trostlosen Ort gewesen, und obwohl mein Herz voll Trauer gewesen war, hatte ich nicht anders gekonnt, als es zu erwidern. Ich hatte ihm meinen geheimen Traum von einer Karriere als Sol-Soldatin anvertraut, und er war gleich Feuer und Flamme gewesen. »Wir können es schaffen – zusammen!«, hatte er voller Überzeugung gesagt. Danach hatten wir gemeinsam davon geträumt, an die Akademie zu gehen, den ersten Prüfungen zusammen entgegengefiebert, uns hinterher Zyklus für Zyklus gegenseitig bestärkt und nach jeder erfolglosen Prüfung wieder aufgebaut.

Und nun wurde mir klar, dass Kalux längst an der Akademie sein könnte. »Wieso?«, fragte ich verständnislos.

Kalux hob abwehrend die Hände. »Ist doch egal. Uns bleibt noch eine letzte Chance. Diesmal klappt es bei uns beiden, du wirst schon sehen. Du trägst die Sonne ebenfalls in dir. Das weiß ich genau.«

»Ach ja?« Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Bist du jetzt auch noch ein Magie-Erspürer, oder was?« Ich verabscheute mich für die Bosheit in meiner Stimme, aber die Enttäuschung über Kalux’ Schweigen, der Zorn über seine Unvernunft und die Demütigung wegen meiner eigenen Unfähigkeit überrollten mich. Ich ertrug weder den Gedanken, dass er ohne mich fortging, noch den, dass er meinetwegen die Chance seines Lebens wegwarf.

Kalux ließ die Hände sinken. »Das nicht, aber die Prüfenden müssten schon echt hirnverbrannt sein, damit ihnen dein Strahlen entgeht. Sieh dich doch an, Raya. Seit zwölf Sonnenzyklen trainieren wir zusammen und du übertriffst mich im Schwertkampf um Längen. Du bist so viel stärker und geschickter als ich. Wie könnte die Sonne da nicht durch dich wirken?«

Ich errötete leicht, wie immer, wenn Kalux mich derart lobte. Obwohl er bloß die Wahrheit sprach. Ich war überragend gut. Dennoch waren die bisherigen Prüfungen für mich erfolglos verlaufen. Sie hatten keine sonnenmagische Begabung bei mir festgestellt. Ich winkte ab. »Das hat mir bislang nicht viel eingebracht.«

»Diesmal wird es anders kommen, du wirst sehen! Und wenn nicht …«, setzte Kalux an und zuckte die Schultern. »Entweder bestehen wir beide oder keiner.«

Statt erneut meinen Zorn zu entfachen, versetzte mir diese Ankündigung einen Stich, denn ich wusste nur zu gut, wie ernst Kalux es meinte. Doch ich ließe nicht zu, dass er seine letzte Chance aus Rücksicht auf mich ausschlug – diesmal nicht. Also schüttelte ich den Kopf. »Du wirst ihnen zeigen, was in dir steckt, ganz gleich, was aus mir wird!« Ich trat auf ihn zu und streckte ihm eine Hand entgegen. »Versprich mir das!«

»Raya …«

»Versprich es mir!«

Kalux seufzte tief und verknotete seine Hände miteinander, wie um sie vor mir zu schützen, aber ich hielt meinen Blick unnachgiebig auf ihn gerichtet. Auch wenn es mir das Herz bräche, ihn ohne mich an der Akademie zu wissen, wo er unseren gemeinsamen Traum allein verwirklichte, würde ich nicht gestatten, dass er meinetwegen seine Zukunft aufgab. »Na los, schlag ein! Du bist doch ohnehin davon überzeugt, dass ich von der Magie durchdrungen bin.« Damit hatte ich ihn, denn wenn er nun nicht einschlüge, gäbe er gleichsam zu, dass er an meiner Befähigung zweifelte.

Kalux stöhnte. Nur zaghaft griff er nach meiner Hand.

Ich packte schnell zu, ehe er es sich anders überlegen konnte. »Nur ein Ehrloser bricht ein Versprechen«, zitierte ich aus den Richtlinien der sol-dhanischen Streitkräfte, während ich seine Hand fest umschlossen hielt.

»Und ein Soldat ist niemals ehrlos«, ergänzte Kalux mit einem tiefen Seufzer.

Ich nickte bekräftigend und zog ihn nach oben.

Widerwillig kam Kalux auf die Beine und entwand mir seine Hand. Er starrte eine Weile darauf, als könnte er nicht fassen, was er soeben getan hatte. Dann zuckte er mit einer Schulter. »Ist sowieso unnötig, ich weiß ganz sicher, dass wir zusammen an die Akademie gehen werden.« Da war sie wieder, seine unerschütterliche Zuversicht, garniert mit einem breiten Grinsen. Er tat gern so, als wäre uns der Platz an der Sol-Akademie sicher und hatte nie den geringsten Zweifel daran gehegt, dass unser gemeinsamer Traum, Sol-Soldat und -Soldatin zu werden, wahr werden würde.

Meine Mundwinkel schoben sich von selbst nach oben, obwohl mir nicht wirklich zum Lächeln zumute war. Ich teilte Kalux’ Sicherheit nicht, nun weniger denn je. Mein sehnlichster Wunsch würde bei den anstehenden Prüfungen womöglich ein jähes Ende finden.

Obwohl die Sonne längst untergegangen war, tat ich kein Auge zu. Ich lag im Bett, die Finger fest um Kalux’ Stein geschlungen, der wie immer um meinen Hals baumelte. Ich dachte daran, wie er ihn mir vor sieben Zyklen geschenkt hatte … Wir hatten uns noch vor dem Klang der Tempelglocke aus dem Waisenhaus gestohlen und uns an die Grünen Hänge geschlichen, den Stadtrand Sol-Dhanas. Dort hatten wir uns ins kühle Gras gelegt, um den Sonnenaufgang anzuschauen. Es war das erste und einzige Mal, dass ich ihn miterlebt hatte, denn das Leben begann in Sol-Dhana erst, wenn die Sonne sich bereits über den Horizont erhoben hatte. Es war verboten, sich vor Sonnenaufgang draußen aufzuhalten, und ich erinnere mich noch genau an diese Mischung aus freudiger Erregung und Furcht. Ich wusste nicht mehr, wovor es mir mehr gebangt hatte: Vor Nanniks Strafe, wenn sie unsere verwaisten Betten vorfände, oder davor, von den Soldaten erwischt zu werden, die auf der Mauerkrone patrouillierten.

Dann hatten sich die ersten Sonnenstrahlen über das östliche Niemandsgebirge und die marmorne Stadtmauer gekämpft. Der Himmel darüber hatte gebrannt, aus Graublau war leuchtendes Orange geworden.

»Spürst du etwas?«, hatte Kalux gefragt. Wie immer auf der Suche nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass uns die Sonnenmagie durchdränge. Was natürlich Unsinn war, denn für gewöhnlich ließ sich das nicht so leicht feststellen – deshalb gab es ja die Prüfungen.

Mir hatte bei dem Anblick der Atem gestockt, ich hatte nie etwas Schöneres gesehen. Trotzdem war ich nur in der Lage gewesen, den Kopf zu schütteln. Dann hatte mich das einsetzende Läuten der Tempelglocke aufgeschreckt und ich hatte nur noch zurückgewollt, um einer Strafe zu entgehen, doch Kalux hatte mich zurückgehalten, mir eine Hand hingestreckt. Und darauf hatten sie gelegen: Zwei Kordeln mit je einem flachen, runden Kiesel als Anhänger, weiß, aber nicht wie der Marmor aus dem alle Gebäude Sol-Dhanas bestanden.

Gedankenverloren fuhr ich mit den Fingern über die Kreisgravur, die Kalux in die glatte Steinoberfläche graviert hatte. Eine einfache Darstellung der Sonne ohne Strahlen, die zu tragen den Beschienenen vorbehalten war.

»Wenn wir erst an der Akademie sind, werde ich der Sonne noch Strahlen hinzufügen«, hatte er gesagt. Mit der für ihn typischen Gewissheit, die ich nie so recht geteilt hatte. Ich starrte an die Decke über mir, wanderte mit dem Blick jeden einzelnen Riss im Marmor entlang. Die anderen Mädchen im Raum schliefen tief und fest, eines schnarchte und Mikka, die am kommenden Verlauf ebenfalls zu den Prüfungen antrat, wälzte sich unruhig hin und her. Ich schlug die mottenzerfressene Decke zur Seite und stieg aus dem Bett.

Auf leisen Sohlen schlich ich zum Fenster und lugte an dem dünnen Vorhang vorbei hinaus. Die künstliche Sonne warf ihr gelblichweißes Licht auf die Stadt. Ihre Strahlen waren nicht so hell und warm wie die der echten und sie war um einiges kleiner, aber da sie dicht über der Stadt schwebte, erschien sie beinahe ebenso groß. Dennoch hieß sie die Kleine.

»Bitte«, flüsterte ich ihr lautlos zu. »Scheine durch mich. Schicke mir deine Magie und ich werde dir eine treue Dienerin sein. Ich werde für dich kämpfen, so gut ich kann.«

Gewiss brachte die Kleine dergleichen nicht zustande, sie war bloß eine Nachahmung. Gespeist aus reiner Sonnenmagie diente sie als Speicher und sorgte dafür, dass die Stadt auch außerhalb der Sonnenstunden mit Magie und Licht versorgt wurde. Doch nur die Eine, die echte Sonne, vermochte mich durch ihre Gunst zu einer Beschienenen zu machen, einem wahren Sonnenkind, einer Auserwählten, durch deren Körper die reine Magie floss. Die anstehende Prüfung würde zeigen, ob ich eine war oder dazu verdammt wäre, ein Leben als Unwürdige zu führen. Ich wäre nicht die Einzige, denn nur etwa die Hälfte aller Kinder trugen Sonnenmagie in sich. Trotzdem hatte ich mir nie vorstellen können, etwas anderes zu werden als eine Sol-Soldatin. Nein, entschied ich, ich würde auch nie etwas anderes sein! Nach Sonnenaufgang würde sich meine Bestimmung endlich offenbaren. Schon bald begann mein neues Leben!

Möge die Sonne dich durchdringen

Kurz vor Sonnenaufgang musste ich doch noch eingenickt sein, denn die Glocke des Sol-Tempels riss mich aus dem Halbschlaf. Mutter Nannik stieß die Tür auf und polterte in das Zimmer wie ein Erdbeben. »Rayana, Mikka! Eure Prüfungen stehen an!«, bellte sie, als ob wir daran erinnert werden müssten. »Zur ersten Sonnenstunde werdet ihr im Hof erwartet. Eilt euch, die Prüfenden dulden keine Verspätung!« Sie zerrte die Vorhänge auf und erlaubte den jungen, zarten Sonnenstrahlen den unverschleierten Einlass.

Die Kleine war erloschen und die Stadt in warmes Schummerlicht gehüllt. Wenngleich ich die Dunkelheit wie alle anderen fürchtete, mochte ich die kurzen Phasen der Dämmerung in der Früh und in der Späte. Doch das hätte ich natürlich niemals laut gesagt, schließlich empfanden die meisten diese zwielichtigen Zeiten als unangenehm und wünschten sich einen rascheren Übergang zwischen der Kleinen und der Einen. Laut den Heiligen Sonnenschriften dienten uns die kurzfristigen Lichteinbußen als Zeiten der Demut, in denen wir uns der Existenz der Dunkelheit entsinnen sollten, die außerhalb Sol-Dhanas stets lauerte wie ein hungriges Untier. Eine Erinnerung daran, was wir der Stadt verdankten: ewiges Sonnenlicht.

Ich brauchte etwas zu lange, um mich aus der Decke zu schälen und meinen übermüdeten Körper aus dem Bett zu hieven, und so war ich die Letzte am Wasserbottich. Man könnte ja erwarten, die anderen ließen mir den Vortritt, da mir ein wichtiger Sonnenverlauf bevorstand, aber die biestigen Gesichter der Mädchen hielten mich davon ab, sie überhaupt erst zu bitten. Außer Mikka hatten sie ihre letzten Prüfungen bereits hinter sich und waren allesamt als Unbeschienene daraus hervorgegangen. Sie verdankten es einzig Nanniks Duldsamkeit, dass sie noch hierbleiben durften, weil sie bislang keine Arbeit auswärts gefunden hatten. Dafür mussten sie härter schuften als alle anderen Waisenkinder. Dementsprechend missgünstig traten sie denen entgegen, die noch eine Chance auf ein besseres Leben hatten. Versagte ich an diesem Verlauf, würde ich eine von ihnen sein und hier ackern. Es sei denn Nannik machte ihre häufig geäußerte Drohung wahr, mich mit dem Erreichen meines achtzehnten Sonnenzyklus vor die Tür zu setzen, was kurz nach der zweiten Sonnenwende sein würde.

Ich verzog das Gesicht, als ich die Hände in das kalte Wasser tauchte, wohlwissend, dass der Schmutz meiner sieben Zimmergenossinnen darin schwamm, obwohl es oberflächlich sauber erschien. Zum Sonnenuntergang war das anders, wenn der Dreck zahlreicher Arbeitsstunden es in eine trübgraue Brühe verwandelt hatte. In der Akademie stünde mir stets fließendes und sogar warmes Wasser zur Verfügung, gespeist von den sonnenbetriebenen Wasserleitungen. Alle Haushalte und öffentlichen Gebäude, die den Beschienenen vorbehalten waren, wurden damit bespeist. Zwar verfügte auch das Waisenhaus über einen Anschluss, aber der lag in einem Gebäudeteil, der nur Mutter Nannik und den übrigen Arbeitskräften zugänglich war. Unser Wasser hingegen stammte aus einem Brunnen im Hinterhof.

Ich wusch mich nur oberflächlich und streifte rasch ein sauberes sandfarbenes Gewand über, das mich zweifelsfrei als Waisenkind auswies. Ungeschickt fuhr ich mit den Fingern durch mein braunes Haar und flocht es zu einem struppigen Zopf. Ich seufzte, nicht einmal mein Äußeres machte mich zu einer geeigneten Sonnenkind-Kandidatin. Ganz im Gegensatz zu Kalux, dessen Schopf in einem sonnengebleichten Blond erstrahlte. Dies entsprach neben den tiefschwarzen Haaren der Südvölker dem herrschenden Ideal, ebenso wie seine braungebrannte Haut. Obwohl ich genauso viel Zeit im Freien verbrachte wie er, war meine bleich und von rötlichen Flecken übersät. Doch zum Glück entschied nicht das Aussehen über den Erfolg der Prüfung. Letztlich zählte nur, ob die Sonnenmagie durch meine Adern floss.

Ich straffte mich und verließ das Zimmer. Eilig lief ich die Treppe hinab, die aus dem Mädchentrakt führte, und hinein in den Speisesaal. Der wimmelte von an die hundert Kindern jeglichen Alters und die Lautstärke war ohrenbetäubend. Normalerweise sorgten Nannik und die anderen Erwachsenen für Ruhe und Ordnung, doch kurz vor einer Prüfung konnte nicht einmal die Aussicht auf eine Strafe die Meute bändigen. Suchend schaute ich mich um, entdeckte etliche vertraute, aber auch einige unbekannte Gesichter. Beständig kamen neue hinzu, sodass ich von vielen nicht einmal die Namen kannte. Ich warf einen Blick auf die Essensauslage und fand nur noch trockene Brotkrumen vor.

»Raya!« Kalux winkte mir vom anderen Ende des Saales zu und deutete auf einen freien Platz neben sich. Der Anblick seines vor Aufregung glühenden Gesichtes versetzte mir einen unerwartet schmerzhaften Stich. Was, wenn dies unser letztes gemeinsames Frühstück war?

Schnell suchte ich mir einen Weg durch die hektische Menge beigegewandeter Leiber, bis ich Kalux erreichte. Vor dem leeren Platz an seiner Seite standen ein Teller mit einer Scheibe weichen, mit Nusscreme bestrichenen Brotes und einem Apfelschnitz sowie ein Becher Orangensaft auf dem Tisch bereit.

»Ich war extra früh hier und habe für ein angemessenes Frühstück für uns gesorgt«, erklärte er grinsend. »Deine Portion habe ich unter Einsatz meines Lebens verteidigt.«

Ich zwang die Mundwinkel nach oben. Kalux dachte stets auch an mich. Eine Eigenschaft, die ihn gerade unter den Waisenkindern zu einem außergewöhnlichen Jungen machte. Daran hatte ich mich nie recht gewöhnt und mich vermutlich auch nie hinreichend dafür bedankt. Selbst jetzt kam mir nicht mehr als ein schnödes »Danke« über die Lippen.

Er winkte ab und klopfte auf den leeren Platz, also ließ ich mich daraufplumpsen und griff nach dem Brot. Obwohl es herrlich schmeckte, hatte ich einen faden Geschmack im Mund. »Kalux«, setzte ich an, aber es gelang mir nicht, auch nur eine meiner wogenden Gefühlsregungen in Worte zu fassen. Darin war ich noch nie gut gewesen und im Augenblick waren sie derart zahlreich und intensiv, dass ich keine davon hätte beschreiben können. Hilflos griff ich nach dem Stein an meiner Brust.

Kalux bemerkte es, lächelte verstehend und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß schon. Alles wird gut.«

Zögerlich nickte ich. Vielleicht würde es das, doch ich wurde das beklemmende Gefühl nicht los, dass ich die verbleibende Zeit nutzen sollte, um Kalux alles zu sagen, was es noch zu sagen gab – bevor es zu spät wäre. Würden mir die Worte doch nur nicht in der Kehle festklemmen …

Nach dem Frühstück hasteten Kalux und ich mit den fast sechzig anderen Prüflingen in den Innenhof. Dort wurden wir bereits von einer Schar akademischer Gehilfen erwartet. Ihre sonnengelben Gewänder ließen nicht erkennen, in welchen Professionen sie jeweils ausgebildet wurden, aber das eingestickte A in dem Sonnenemblem wies sie als Auszubildende der Akademie aus. Dann betraten die drei Prüfenden den Hof und mir stockte der Atem. Zum ersten Mal war eine Sol-Soldatin unter ihnen.

Mein Blick wurde von der mattgoldenen Rüstung angezogen. Sie glänzte im Sonnenlicht wie glühendes Metall, die wellenförmigen Strahlen der eingravierten Sonne auf ihrer Brust waren mit feinen Kristallen besetzt, die das Licht kaleidoskopartig reflektierten. Ich musste blinzeln, um dem grellen Anblick standzuhalten. Doch ich wusste, dass der Glanz ihrer Panzerung nichts war im Vergleich zu dem Sonnenschwert, das sie an ihrem Waffengurt sicher in einer Scheide trug. Zöge sie es, müssten wir allesamt die Augen abwenden, weil die glattgeschliffene Oberfläche uns beim Sonneneinfall sogleich blenden würde. Ich betrachtete die Soldatin voller Ehrfurcht, nicht nur, dass sie mit ihrer gebräunten Haut und dem sonnengebleichten Haar dem optischen Ideal eines Sonnenkindes entsprach; sie hatte zudem erreicht, wovon ich mein Leben lang träumte.

Nur mit Mühe schaffte ich es, auch die anderen beiden Prüfenden in Augenschein zu nehmen. Wie auch die der Soldatin war deren Haut braungebrannt, ihr kupfernes und sein angegrautes Haar von sonnengebleichten Strähnen durchwirkt. Die Frau trug ein Gewand in einem zarten Gelbton. Die aus feinen Goldfäden gestickte Sonne darauf funkelte und blitzte, wenn auch bei Weitem nicht so grell wie die Rüstung ihrer Kollegin. Inmitten des Sonnensymbols war ein Auge eingestickt. Das Zeichen, das sie als Magie-Erspürerin auswies. Als solche vermochte sie den Fluss der Sonnenmagie beim Gebrauch einer Gabe zu erspüren und somit wahre Sonnenkinder recht zuverlässig auszumachen.

Der Mann trug ein weißes Priestergewand, ebenfalls mit einer goldenen Sonne bestickt. Er hob die Hand, woraufhin das Getuschel um mich herum abrupt verstummte. »Nur ein wahres Kind der Sonne ist würdig, ihr zu dienen«, skandierte er feierlich den Leitspruch der Sol-Akademie. »Aus diesem Anlass sind wir hier: Um die wahren Sonnenkinder unter euch zu ermitteln. Jene, die von ihr durchdrungen und mit einer sonnenmagischen Gabe ausgestattet sind.« Er fuhr mit derselben Rede fort, die wir jedes Mal von einem der Prüfenden zu hören bekamen: »Ihre Heiligkeit, die Sonne, folgt bei der Wahl ihrer Kinder ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regeln, die wir mit unserem begrenzten menschlichen Verstand vermutlich nie vollkommen erfassen werden. Daher unterziehen wir zu jedem Zyklusbeginn alle unmündigen Sol-Dhanesen zwischen dem zehnten und achtzehnten Lebenszyklus einer umfangreichen Prüfung auf sonnenmagische Fähigkeiten. Wer sich in dieser Altersspanne als Sonnenkind entpuppt, ist wahrhaft beschienen. Alle anderen hingegen – nun, wen die Sonne nicht als Kind erwählt, wird auf ewig von ihr unberührt bleiben und als unbeschienen klassifiziert.« Er rümpfte die Nase, als hinterließe das Wort einen unangenehmen Geschmack in seinem Mund.

Unbeschienen hieß im Grunde nichts anderes als der Sonne unwürdig. Dabei traf dies auf ganz gewöhnliche Menschen zu, auf die Hälfte aller Sol-Dhanesen, wie zum Beispiel den Erwachsenen hier im Waisenhaus. Und obwohl ich Nannik nicht geringer schätzte als die Prüfenden oder die Auszubildenden, wollte ich keinesfalls enden wie sie – als Unbeschienene.

Der Priester fuhr mit seiner Ansprache fort: »Sonnenmagische Begabungen können in unterschiedlicher Form auftreten, sei es als körperliche, geistige, emotionale, techmagische, biomagische oder elementarmagische Fähigkeiten. Daher werdet ihr in all diesen Disziplinen die Gelegenheit erhalten, euch zu beweisen. Ungeschulte Gaben sind meist schwer zu erfassen, sie brauchen Übung und Zeit zum Reifen, deshalb werden wir euch in den nächsten Stunden besonders herausfordern, um selbst das geringste sonnenmagische Potential zu erfassen.

Jene von euch, die sich als magisch begabt erweisen, erhalten exklusiven Zugang zur Sol-Akademie und werden uns gleich im Anschluss an die Prüfungen dahin begleiten. Dort wird allen Sonnenkindern bis zur Vollendung des achtzehnten Lebenszyklus eine akademische Grundausbildung zuteil, ehe sie mit Erlangen ihrer Mündigkeit die Ausbildung in einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Sol-Profession beginnen.«

Unter den jüngeren Kindern brach nun wieder Geraune aus und auch mich durchfuhr ein aufgeregtes Kribbeln. Diese Prüfungen waren meine letzte Chance. Und natürlich setzte ich fest auf ein körperliches Talent. Wenn ich ein solches bewies, könnte ich noch in diesem Zyklus die Ausbildung zur Sol-Soldatin beginnen.

Das Gemurmel versiegte, als die Erspürerin das Wort ergriff:

»Wir beginnen mit den Jüngsten, die zum ersten Mal geprüft werden. Tretet vor.«

Acht Kinder lösten sich aus der Menge der Prüflinge und wagten sich zaghaft nach vorn. Sie alle waren etwa zehn Sonnenzyklen alt und sichtlich nervös. Eines der Mädchen zitterte wie im Fieberwahn, ein Junge war so fahl im Gesicht, als fiele er jeden Moment in Ohnmacht. Viele der älteren Kinder machten sich einen Spaß daraus, den jüngsten Schauergeschichten über die Prüfungen zu erzählen. Daher konnte ich ihre Furcht verstehen, auch wenn sie unbegründet war. Ihnen drohte nichts Schlimmeres als das Urteil ›nicht bestanden‹ und ihnen blieben noch genügend Gelegenheiten, es zu revidieren – ganz im Gegensatz zu Kalux und mir. Ein Mädchen mit rotem Haar und blasser, von Sonnensprossen bedeckter Haut reckte das Kinn empor und ballte die kleinen Hände zu Fäusten. Ihre Kühnheit brachte mich zum Lächeln und ich bemühte mich, mir eine Scheibe von ihr abzuschneiden.

Die Neuprüflinge wurden fortgeführt. Ich wandte mich Kalux zu, doch keiner von uns brachte ein Wort hervor, also blieben wir einfach stumm. Die meisten taten es uns gleich, einige wenige begannen sogleich wieder zu tuscheln. Die Sonne stieg höher und höher. Nach und nach wurden die Kinder abgeholt, als Nächstes diejenigen, die bereits ihre zweite Prüfung ablegten, dann jene, die zum dritten Mal antraten und immer so weiter. Bis nur noch Kalux, Mikka, zwei andere Jungen und ich übrigblieben. Für uns alle würden die nächsten Stunden über den Rest unseres Lebens entscheiden. Entweder gingen wir danach als Sonnenkinder zur Akademie oder blieben als Unbeschienene zurück.

Allmählich knurrte mein Magen, gleichzeitig war mir jedoch so übel, dass ich ohnehin nichts runterbekommen hätte. Kalux spielte gedankenverloren mit seinem Steinanhänger, Mikka wippte auf den Fußsohlen und murmelte tonlose Worte vor sich hin. Die beiden Jungen feixten miteinander und lachten zwischendurch nervös auf. Ich erinnerte mich derweil beständig an das rothaarige Mädchen, doch es gelang mir nicht mehr, ihre souveräne Haltung nachzuahmen, geschweige denn, einen Funken Selbstvertrauen aufzubringen. Als ich drauf und dran war, mich vor lauter Anspannung zu übergeben, erschien eine Gehilfin im Hof und winkte uns mit sich. Meine Übelkeit wich heilloser Panik.

Kalux fischte nach meiner schwitzigen Hand und packte sie fest. »Möge die Sonne dich durchdringen«, raunte er mir zu.

»Dich ebenso«, presste ich hervor und war froh, dass mir dabei nicht gleich das Frühstück mit hochkam. Immerhin war die Situation nicht völlig aussichtslos, rief ich mir in Erinnerung. Es kam zwar nicht oft vor, dass sich die Magie so spät zeigte, aber im vergangenen Zyklus hatten sich immerhin drei von acht Letztgeprüften als beschienen bewährt.

Ich folgte der Gehilfin wie in Trance. Ehe ich mich versah, saß ich allein in einem kleinen Zimmer des Waisenhauses an einem Tisch, auf dem einige Papiere und ein Stift bereitlagen. Ein augapfelgroßes Sonnenmodell drehte sich knapp oberhalb der Tischplatte um sich selbst und beschrieb einen langsamen Bogen aufwärts. Sobald es in der zwei Handbreit entfernten Mulde in der Tischplatte verschwand, war meine Zeit abgelaufen, daher machte ich mich rasch an die Prüfungsbögen. Diesmal waren es nur drei Blätter, da ich bei den vergangenen Prüfungen bereits hinreichend theoretisches Wissen bewiesen hatte. Ich überflog die Aufgabenstellungen und nickte zufrieden. Endlich erlangte ich wieder etwas Zuversicht, denn zumindest diese Aufgaben waren ein Leichtes.

Mein Blick huschte zu dem kleinen Sonnenmodell, das bereits ein knappes Zehntel seiner Umlaufbahn hinter sich gebracht hatte, daher begann ich sogleich, meine Antworten auf das Papier zu kritzeln. Ich beschrieb die verschiedenen Sol-Professionen, in denen die Beschienenen tätig waren. Zu den vier bedeutsamsten gehörten die der Medizinerinnen und Mediziner, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der Priesterinnen und Priester und natürlich der Soldatinnen und Soldaten. Darüber hinaus gab es noch die Ökosystemikerinnen und Ökosystemiker, die Wolken, Regen und Stürme vom Himmel über Sol-Dhana fernhielten, um für ungetrübtes Sonnenlicht zu sorgen; der Erspürerinnen und Erspürer, die sowohl bei den Prüfungen als auch während der Bewährungszeiten an der Akademie für das Aufspüren von Magievorkommen zuständig waren; die Ingenieurinnen und Ingenieure, die allerlei techmagische Gerätschaften ersonnen und die Architektinnen und Architekten, die mit dem technischen und gestalterischen Entwurf von Sol-Dhanas Bauwerken betraut waren.

Ich fasste die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte Sol-Dhanas zusammen, beginnend mit der Gründung vor zweihundertdreiundsechzig Sonnenzyklen. Damals waren einige Umherziehende auf der Suche nach Erfüllung dem Ruf der Sonne gefolgt und hatten sich auf dem stets beschienenen Hügel niedergelassen, auf dem nun die Stadt aufragte. Sie trugen Erde aus den nördlichen Schattentälern ab, um den Hügel weiter zu erhöhen, ebneten die Spitze ein und errichteten darauf Sol-Dhana. Dafür nutzten sie den weißen Marmor aus dem östlich gelegenen Niemandsgebirge, um der Sonne eine ideale Fläche zum Strahlen zu bieten.

Trotz der sonnigen Lage litten die ersten Sol-Dhanesen unter der wiederkehrenden Dunkelheit, sie sehnten sich nach stetigem Sonnenlicht. Zudem erfanden sie mehr und mehr sonnenmagische Geräte und Systeme zur Versorgung der Stadt, wodurch der Bedarf nach Sonnenmagie stieg. Schließlich entwickelte der ehrwürdige Sol-Ingenieur Hermelis Baldomar eine Sonnenreplik, die sogleich als Speicher für Sonnenmagie und als ewige Lichtquelle diente und läutete das zweite bedeutsame Ereignis Sol-Dhanas ein: die Geburtsstunde der Kleinen und der damit einhergehenden Verbannung der Dunkelheit.

Da sich nicht alle Sol-Dhanesen als würdig erwiesen, die Magie der Sonne zu nutzen, folgten im fünfzehnten Sonnenzyklus von Sol-Dhana die Erbauung der Sol-Akademie und die Einführung der Prüfungen. Die Bevölkerung spaltete sich in Beschienene und Unbeschienene, die der Gesellschaft und Sonne fortan dienten.

Ein weiterer bedeutender, wenn auch zugleich schrecklicher, Vorfall war der Schattenangriff im siebenundsechzigsten Sonnenzyklus, bei dem sogenannte Schattenkinder aus den nördlichen Tälern die Stadt angriffen, um Dunkelheit über sie zu bringen. Der Sonne sei Dank konnten sie siegreich vertrieben werden. Kurz darauf wurde mit dem Bau der Stadtmauer begonnen, die seither den gesamten Hügel umschließt, und die Profession der Sol-Soldaten eingeführt, um die Stadt künftig vor derlei dunklen Kriminellen zu schützen. Dadurch hatte es seit fast zweihundert Zyklen keinen vergleichbaren Angriff mehr gegeben.

In der nächsten Aufgabe führte ich alle bisherigen Stadträte auf, endend mit jenen, die dieses Amt derzeit bekleideten: Malinda, die Bürgermeisterin Sol-Dhanas und Vorsitzende des wissenschaftlichen Instituts, Hohepriester Kadesh, Raimond, der General der Streitkräfte und Rektor der Sol-Akademie, und Petania, die Leiterin des medizinischen Zentrums.

Im Anschluss an die historischen Meilensteine führte ich die grundlegenden Fakten der Sonne auf, wie ihre Entfernung, Größe und Beschaffenheit. Ich berechnete den Strahlenfluss in Abhängigkeit von Sonnenstand und -höhe und erläuterte, wie sich die Bestrahlungsstärke auf die Stadt während eines bestimmten Sonnenverlaufes im Zyklus veränderte und wie diese Veränderungen zustande kamen.

Kaum dass ich den Stift niederlegte, versank das Sonnenmodell in der Mulde der Tischplatte und die Gehilfin von vorhin trat ein.

Mit einem knappen Nicken erklärte sie den Theorieteil für beendet. »Mitkommen!«

Ich seufzte erleichtert. Der erste Teil der Prüfung war geschafft, doch die eigentliche Herausforderung stand mir noch bevor.

Die Gehilfin führte mich in den kümmerlichen Garten des Waisenhauses, wo uns der Priester bereits erwartete. Die anstehenden Prüfungen sollten offenbaren, ob ich fähig war, die Elemente zu beeinflussen. Im Gegensatz zu Kalux hatte ich noch nie ein elementarmagisches Talent gezeigt. Wie erwartet gelang es mir daher weder, die Temperatur des in einer Schale bereitstehenden Wassers zu verändern, noch einen Samen in der Erde zum Austreiben zu bringen. Ebenso wenig schaffte ich es, per Gedankenkraft eine Feder durch die Luft fliegen zu lassen oder eine Kerze zu entzünden. Falls Kalux dieses Wunder wie versprochen vor den Augen der Prüfenden vollbracht hatte, war ihm der Platz an der Sol-Akademie bereits sicher.

Das Einzige, worin ich wirklich geschickt war, war das Kämpfen. Mir blieb also nur zu hoffen, dass sich hinter meiner körperlichen Gewandtheit und Stärke ein sonnenmagisches Talent verbarg. Doch ehe ich diese Fähigkeiten präsentieren konnte, musste ich noch eine Reihe ernüchternder Aufgaben bewältigen. Keine davon ließ mich als annähernd beschienen dastehen. Weder meine fruchtlosen Versuche, Sonnenmagie von einer aufgeladenen Lampe in eine entladene zu übertragen, noch mein Bemühen, die vorhandene Magiekonzentration verschiedener sonnenbetriebener Geräte zu erspüren – mit etwas Glück hatte ich hier und da vielleicht richtig geraten. Aber das reichte wohl kaum aus, um den Verdacht zu erwecken, ich sei techmagisch begabt. Einzig bei der Reparatur eines kaputten Strahlenmessgerätes konnte ich technisches Verständnis und Geschick beweisen, allerdings würde auch das nicht genügen.

Mein verzweifeltes Bemühen, ein Kaninchen dazu zu bringen, sich von einer Seite seines Geheges auf die andere zu bewegen, war ebenso wenig von Erfolg gekrönt, wie das, eine kleine Schnittverletzung am Finger eines der Studenten zum Verheilen zu bringen. Auch in allen anderen Bewährungsproben des biomagischen Prüfungsteils fielen meine Ergebnisse ernüchternd aus.

In einigen der Prüfungsaufgaben, die dem Aufzeigen einer besonderen mentalen Befähigung dienten, schlug ich mich ziemlich gut. So bewies ich eine rasche Auffassungsgabe, detaillierte Wahrnehmung und eine schnelle Reaktionsfähigkeit. Aber offensichtlich war ich in keinem der Bereiche so auffällig begabt, dass ich den Prüfenden mehr als ein müdes Nicken abgerungen hätte. Ich behielt vor allem die Erspürerin im Auge, die sich während der verschiedenen Übungen nur zu unregelmäßigen Stippvisiten blicken ließ, um ein etwaiges Magieaufkommen zu erhaschen. Doch ihr Gesicht glich einer Maske, an der sich rein gar nichts ablesen ließ.

Am schwierigsten fielen mir die emotionsbezogenen Prüfungsteile. Ich war aufgerufen, die Gefühle einiger Gehilfen zu erspüren oder zu beeinflussen. Meine Versuche, sie in eine heitere Stimmung zu versetzen, brachten mir bloß Schnauben und Kopfschütteln ein. Ich war nicht einmal in der Lage, meine eigenen Emotionen zu beherrschen, wie sollte ich da auf die anderer einwirken? Es war ja schon ein Lichtblick, wenn ich Kalux zum Lachen brachte, und das geschah meist unbeabsichtigt.

Obwohl ich mir meiner Unzulänglichkeiten hinreichend bewusst war, zermürbte mich diese Aneinanderreihung an Misserfolgen und ich wäre am liebsten auf ewig im Schatten versunken. Ich kam mir vor wie eine elende Versagerin. Die missfällige Miene des Priesters war dabei auch nicht gerade förderlich. Mit jeder Aufgabenstellung sank mein Mut. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an den letzten Halm: meine Kampfkunst. Immer wieder erinnerte ich mich daran, dass ich mich nur in dieser einen Disziplin beweisen müsste. Dann wären all meine übrigen Schwächen belanglos.

Als es schließlich so weit war, wurde mir flau im Magen, denn zum ersten Mal erschien die Soldatin höchstpersönlich, um mich für den nächsten Prüfungsteil abzuholen. Mit wackeligen Beinen folgte ich ihr zum Übungsplatz. Nun war sie endlich gekommen: meine Chance, zu zeigen, was wirklich in mir steckte.

Kein Irgendwann

Zusammen mit der Soldatin betrat ich den Übungsplatz im Hinterhof des Waisenhauses. Auf einem Tisch lagen zwei hölzerne Übungsschwerter bereit, deren Anblick ein aufgeregtes Kribbeln in mir auslöste. Doch zunächst musste ich meine physische Konstitution unter Beweis stellen, was ich mit Leichtigkeit bewältigte: ein Balanceakt über einen schmalen Balken, den ich unaufgefordert mit einem Radschlag beendete, ein kurzer Sprint sowie verschiedene Kletter- und Kraftübungen.

Ich verlangte mir so viel ab, dass ich schon fürchtete, mich völlig zu verausgaben, ehe ich von dem Schwert Gebrauch machen durfte, doch die Soldatin forderte mich rechtzeitig zu einer Pause auf. Zuerst wollte ich ablehnen, weil ich mir nicht sicher war, ob es sich dabei nicht nur um einen weiteren Test handelte, und ich keine Schwäche zeigen wollte, aber dann dämmerte mir, dass die Prüferin auf etwas wartete. Natürlich: meinen Gegner. Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Bereitete mich innerlich darauf vor, wie üblich einem Rekruten oder einer Rekrutin der Streitkräfte gegenüberzutreten. Doch es war der Priester, der den Übungsplatz nach einer Weile betrat – allein. Verwirrt sah ich zu der Soldatin.

Sie fing meinen Blick auf und wie zur Antwort löste sie die Scheide mitsamt dem Sonnenschwert von ihrem Gürtel, legte beides auf dem Tisch ab und griff sich stattdessen eines der hölzernen Übungsschwerter. Mit einem Nicken hieß sie mich, mir das andere zu nehmen. Fassungslos starrte ich sie an. Ich musste gegen sie antreten? Eine echte Sol-Soldatin? Eine ausgebildete Kämpferin mit sonnenmagischer Begabung?

Ein Räuspern riss mich aus der Starre. »Nun, worauf wartest du? Wir haben nicht den ganzen Verlauf Zeit. Nimm dir ein Schwert und kämpfe!«, schalt mich der Priester.

Ich schluckte schwer und nickte. Mit zitternden Beinen näherte ich mich dem Tisch und griff nach dem Holzschwert. Panik wallte in mir auf. Wie sollte ich gegen die strahlende Soldatin bestehen? Doch kaum schlangen sich meine schwitzigen Finger um das vertraute Heft des Schwertes, fiel die Angst von mir ab. Schlagartig erstarb das Zittern meines Körpers und ich richtete mich auf. Das ist sie, Rayana, sagte ich mir, die Chance, auf die du dein Leben lang gewartet hast. Nun kannst du wahrhaftig zeigen, was du drauf hast! Ich atmete tief durch und spürte, wie mich eine unbestimmte Kraft durchdrang – war sie das, die Sonnenmagie?

Entschlossen wandte ich mich der Sol-Soldatin zu, die mich musterte und anerkennend nickte. Sie trat an ein Ende des Übungsplatzes und wog ihr Holzschwert dabei locker in der Hand. Im Gegensatz zu mir war sie die speziellen, sonnenmagisch geladenen und vergoldeten Stahlschwerter gewohnt, vielleicht verschaffte mir das einen Vorteil. Ich stellte mich in zwei Schritt Abstand ihr gegenüber auf und nahm Kampfhaltung ein: die Füße etwas mehr als schulterbreit voneinander entfernt, beide Beine leicht gebeugt, den Schwertarm seitlich erhoben.

Das glitzernde Sonnenemblem auf der Rüstung der Soldatin blendete mich und für einen kurzen Moment drohte mich die Ehrfurcht erneut zu überwältigen. Irgendwie erschien es mir anmaßend, mich einer wahrhaften Sol-Soldatin im Kampf zu stellen. Aber was blieb mir anderes übrig? Doch schließlich verdrängten meine Instinkte alle anderen Gedanken und rangen die letzten Bedenken nieder. In meinen Augen schrumpfte die erhabene Sonnenkriegerin zu einer gewöhnlichen Gegnerin. Dies hier war ein Kampf wie jeder andere, und ich würde glänzen – so wie immer.

Der Priester trat nun als Schiedsrichter hinzu, hob einen Arm in Richtung Sonne und ließ ihn in einer pfeilschnellen Bewegung abwärtssausen, wie um die Luft zwischen uns zu zerschneiden. Dann zog er sich rasch zurück. Der Kampf begann – jedenfalls offiziell, denn weder die Soldatin noch ich rührten auch nur einen Finger. Wir standen völlig reglos da, taxierten uns gegenseitig und warteten. In einem Kampf mit einem unbekannten Gegner war es entscheidend, wer sich zuerst bewegte. Die Art und Weise des ersten Zuges sagte viel über das Gegenüber aus und verriet meist mehr als beabsichtigt. Wollte man sich also nicht gleich zu Beginn entblößen, galt es, Ruhe zu bewahren.

Doch das fiel mir zunehmend schwerer. Was, wenn der Priester – dem die Feinheiten des Kampfes gewiss fremd waren – meine Reglosigkeit als Schwäche oder Inkompetenz wertete? Daher tat ich den ersten Schritt. Ich vollführte keine richtige Attacke, sondern täuschte nur einen Schlag an, um mich sogleich wieder zurückzuziehen, doch da zuckte die Klinge der Soldatin vor und erwischte mich am Arm.

Mir entwich ein Zischen, nicht vor Schmerz, sondern Überraschung. Die Bewegung der Soldatin war so rasch erfolgt, dass ich sie kaum gesehen hatte, geschweige denn, ihr hätte ausweichen können. Ihre Gabe musste in der Geschwindigkeit liegen. Für einen Augenblick brachte mich dieser Umstand aus dem Gleichgewicht, doch ich fand meinen sicheren Stand umgehend wieder. Nun wusste ich wenigstens, womit ich es zu tun hatte. Wollte ich mich beweisen, galt es nun, alles in diesen Kampf zu stecken, was ich zu bieten hatte.

Also preschte ich vor, täuschte abermals einen Schlag an, um einen anderen auszuführen und sogleich den nächsten folgen zu lassen. Die Soldatin wirkte überrascht, wenn auch kein bisschen überrumpelt, und ihre Mundwinkel zuckten, als freute sie sich, dass der Kampf endlich richtig Fahrt aufnahm. Mit einer Seitdrehung entging ich ihrer pfeilschnellen Klinge und griff gleich wieder an. Das Knallen, mit dem die Holzschwerter aufeinanderschlugen, hallte in dem Hof wider, gemischt mit unserem Keuchen und dem leisen Klirren ihrer Rüstung. Es war die reinste Musik in meinen Ohren. Ich tanzte dazu im Takt, stach, schlug und trat, drehte mich, sprang hoch und sank in die Knie. Dabei vergaß ich völlig, wo und wer ich war, einzig darauf konzentriert, den übernatürlich schnellen Attacken der Soldatin auszuweichen und meinerseits einen Treffer zu landen – es gelang mir nicht, aber ich steckte zumindest keinen weiteren mehr ein.

Die Welt um uns herum verlor an Bedeutung, es existierten nur noch die Soldatin und ich. Immer häufiger zuckten ihre Mundwinkel nach oben – sie genoss diesen Kampf ebenso wie ich. Ihre Zufriedenheit befeuerte mich darin, mehr und mehr zu geben. Ich wollte nicht siegen, war nur noch darauf aus, sie zu beeindrucken. Der Schweiß rann mir in Strömen über den Leib und tränkte mein Gewand. Mein Schwertarm brannte von den heftigen Zusammenstößen unserer Waffen, die ich bis in die Zähne spürte. Dennoch gab ich nicht auf, bis der Priester den Kampf für beendet erklärte. Erst als die Soldatin das Schwert sinken ließ, begriff ich, dass es vorbei war. Der Übungsplatz, der weiße Marmor ringsum und der Himmel mit seiner strahlenden Königin traten wieder in mein Bewusstsein. Japsend stemmte ich die Hände in die Hüften und rang nach Atem. Mein gesamter Körper zitterte vor Erschöpfung.

»Unentschieden« verkündete der Priester.

Das Wort hallte in mir wieder und pochte in meinem Schädel mit meinem rasenden Pulsschlag um die Wette. Ein Jubelschrei stieg mir die Kehle hinauf, doch heraus kam nur ein atemloses Keuchen. Ich hatte sie nicht besiegt, aber sie war schließlich eine ausgebildete Sol-Soldatin mit sonnenmagischer Schnelligkeit. Damit war es bereits ein wahrer Triumph, dass ich nicht verloren hatte.

Sie trat auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. Auch auf ihrem Gesicht glänzte ein feiner Schweißfilm und ihr Atem ging stoßweise. Einige hellblonde Strähnchen hatten sich aus ihrem strengen Zopf gelöst und klebten ihr an der Stirn. Diesmal zuckten ihre Mundwinkel nicht nur, sondern hoben sich zu einem aufrichtigen Lächeln. »Gut gekämpft!«

Mein Magen flatterte, während ich die dargebotene Hand mit zittrigen Fingern ergriff. »Danke«, hauchte ich. In diesem Moment hatte ich keinerlei Zweifel, dass mich die Magie der Sonne durchströmte, es fühlte sich an, als leuchtete ich von innen heraus. Ob die Soldatin es ebenfalls spürte? Falls es so war, ließ sie es sich nicht anmerken.

Sie zog ihre Hand mit einem Nicken zurück.

Ich schaute mich nach der Erspürerin um, doch die war nirgends zu sehen. Hatte sie den Kampf mitverfolgt? Ich hatte nicht auf sie geachtet, hoffte aber, sie war zum richtigen Zeitpunkt hier gewesen. Sie musste einfach etwas gespürt haben!

Nachdem ich mich vollkommen verausgabt hatte, wäre ich am liebsten sogleich ins Bett gefallen, doch das war natürlich ausgeschlossen: Die Verkündung der Ergebnisse stand noch aus. Daher versammelten wir Prüflinge uns abermals im Innenhof, während die Prüfenden sich zur Beratung zurückzogen. Von der einstigen Aufregung war nichts mehr zu spüren, alle waren ebenso erschöpft, verschwitzt und hungrig wie ich. Dennoch lag eine stille, beinahe spürbare Anspannung in der Luft.

Ich entdeckte Kalux in der Menge und griff nach seinem Arm. Er drehte sich herum und trug ein breites Grinsen im hochroten, glänzenden Gesicht.

»Und?«, fragte ich atemlos.

»Du zuerst!«

Ich holte tief Luft. »Es war solarisch! Ich habe in meinem Leben noch nicht so gekämpft wie gegen die Soldatin. Ich war so dermaßen gut und habe nicht verloren! Du hättest es sehen müssen! Und ich habe sie gespürt – die Magie. Sie hat mich angeheizt bis in die Haarspitzen.« Ich war so aufgeputscht, dass mir ein kindliches Lachen herausrutschte.

Kalux lachte ebenfalls und schlang die Arme um mich. »Ich wusste es!« Er drückte mir einen schweißfeuchten Kuss auf die Wange.

Vor Überraschung wich ich zurück und wischte mir über die getroffene Stelle. So etwas hatte Kalux noch nie getan. Und obwohl es nicht unangenehm gewesen war, hätte er es auch jetzt lieber bleiben lassen sollen. Vor allem hier, inmitten der anderen. Doch zu meiner Erleichterung hatte niemand etwas davon bemerkt; sie waren allesamt zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Kalux schaute verlegen drein und hob entschuldigend die Schultern.

Um die Peinlichkeit zu überspielen, fragte ich: »Erzähl! Wie war es bei dir? Hast du … du weißt schon?«

»Also, mein Kampf war auch nicht übel, aber bestimmt nicht halb so strahlend wie deiner. Dafür ist es mir gelungen, den Prüfer zu überzeugen, die Kerze selbst anzuzünden, damit ich sie erlöschen lassen könnte.«

»Und?« Ich platzte beinahe vor Aufregung.

Kalux grinste. »Ich hab’s geschafft! Ich habe sie drei Mal hintereinander erlöschen und wieder entfachen lassen.«

Ich klatschte in die Hände. »Oh, beim Licht, Kalux. Dann ist dir die Sol-Akademie sicher!« Diesmal war meine Freude echt und ungetrübt.

»Genauso wie dir. Ich kann es kaum erwarten, mit dir auf dem Sonnenplatz zu feiern.«

Ich lachte abermals, trieb auf einer Wolke der Euphorie dahin, die durch Kalux’ Begeisterung noch höher wogte, bis ich sogar leicht ins Wanken geriet.

»Das ist das Beste daran«, meinte Kalux zufrieden.

»Was?«

»Dein Lachen. Das habe ich schon viel zu lange nicht mehr gehört.«

Etwas befangen hielt ich inne. Wie so oft verunsicherte es mich, dass Kalux mein Wohlergehen mehr zu bedeuten schien als sein eigenes. Doch ich kam nicht dazu, etwas zu erwidern oder meiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen, denn die Prüfenden betraten den Innenhof.

Die Stille wurde noch drückender, während sie sich mit ernsten Mienen und Zetteln bewaffnet vor uns aufstellten. An die sechzig erwartungsvolle Paare Kinderaugen verfolgten jede ihrer Regungen.

»Die Entscheidungen sind gefallen«, verkündete die Erspürerin. »Wir haben die Prüfungsergebnisse ausgewertet und jene Kinder ermittelt, die über ein sonnenmagisches Potential verfügen. Wir rufen die Namen besagter in derselben Reihenfolge auf, in der auch die Prüfungen erfolgten. Wer aufgerufen wurde, begibt sich unverzüglich zum Haupteingang und wartet dort auf uns.«

Einige der Prüflinge nickten stumm, doch ich war zu keinerlei Regung fähig.

»Wir beginnen mit den Erstgeprüften«, kündigte der Priester an. »Darunter fand sich ein Sonnenkind: Katnirr. Herzlichen Glückwunsch! Bitte begib dich zum Eingangstor!«

Zu meiner Freude löste sich das rothaarige Mädchen aus den Reihen der Kinder, schritt selbstsicher an den Prüfenden vorbei und verschwand durch eine Tür Richtung Haupteingang.

»Ihr übrigen Erstlinge könnt euch zurückziehen. Fahren wir fort mit den Zweitgeprüften …«

Die sieben aussortierten Kinder verließen den Hof mit hängenden Köpfen in Richtung der Unterkünfte. Mir lagen Worte des Trostes auf der Zunge, die ich ihnen gern nachgerufen hätte: Macht euch nichts draus; zum nächsten Zyklus folgen neue Prüfungen; ihr habt noch so viele Chancen vor euch … All die Phrasen, die ich selbst schon so oft zu hören bekommen hatte. Doch ich brachte keinen Ton hervor. Zum einen lag mir derlei nicht, zum anderen war ich viel zu angespannt.

Nach und nach liefen über zwanzig weitere Auserwählte durch die Tür, die zuvor Katnirr durchschritten hatte, und etwa genauso viele zogen enttäuscht in Richtung Unterkünfte ab. Schließlich standen mit Ausnahme der Prüfenden nur noch Kalux, Mikka, die zwei anderen Jungen in unserem Alter und ich im Hof. Ich suchte den Blick der Soldatin, in der Hoffnung darin irgendein Anzeichen für meine Beurteilung zu finden, aber sie wich mir aus, ob bewusst oder nicht, konnte ich nicht sagen.

Der Priester legte eine lange Pause ein, in der er jeden von uns der Reihe nach ausdruckslos musterte, ehe er fortfuhr: »Dies war eure letzte Prüfung. Damit hat sich endgültig entschieden, wer von euch die Sol-Akademie besuchen und wer sie niemals von innen sehen wird. Zwei von euch haben sich als zweifelsfrei von der Sonnenmagie durchdrungen erwiesen. Die Übrigen tragen fortan den Status ›unbeschienen‹.«

Die Worte hatten die Wirkung eines Schlages in die Magengrube. Mein Inneres krampfte sich zusammen. Nur zwei von uns – ob ich darunter war? Kalux streifte meine Hand und ich schnappte unwillkürlich nach seinen Fingern. Unauffällig schielte ich zu den drei anderen Prüflingen hinüber, doch in deren Gesichtern ließ sich weder übertriebene Zuversicht noch anbahnende Enttäuschung ablesen.

»Das erste Sonnenkind ist …«, setzte die Soldatin an. Ich starrte sie an, als könnte ich sie zwingen, meinen Namen auszusprechen. »… Kalux. Herzlichen Glückwunsch.«

Mir entwich ein Keuchen und mein Blick schnellte zu ihm. Seine Lippen bewegten sich tonlos, formten etwas wie »bis gleich«. Ich nickte schwach. Erst da bemerkte ich, dass ich immer noch seine Finger umklammert hielt. Nach einem letzten Drücken gab ich sie frei. Mit steifen Schritten verließ er den Hof, unsere Blicke trafen sich, ehe er durch die Tür in Richtung Haupteingang verschwand.

Blieb noch ein letzter Name. Ohne Kalux’ Hand schien mir plötzlich der Halt zu fehlen, also klammerte ich mich stattdessen an den Steinanhänger an meinem Hals.

Die Erspürerin räusperte sich. »Das letzte Sonnenkind ist …«

Mit angehaltenem Atem wartete ich auf den allerletzten Namen. Doch als sie endlich den Mund öffnete und ihn verkündete, schien mein Gehör auszusetzen. Ich sah die Regungen ihrer Lippen, aber ich verstand nicht, was sie sagte.

Erst als ich das Fluchen der beiden Jungen neben mir vernahm und meine Zimmergenossin sich in Bewegung setzte, hallte der Name dröhnend und in ständiger Wiederholung durch meinen Kopf: Mikka, Mikka, Mikka, Mikka …

Schon verschwand sie in der Tür zum Haupteingang und die Prüfenden waren im Begriff, ihr zu folgen. Das konnte nicht wahr sein!

»Moment!«, rief ich und rannte ihnen nach.

»Die Prüfungen sind beendet, die Erwählten stehen fest, Unbeschienene«, wehrte die Erspürerin ungerührt ab. Die Bezeichnung traf mich wie ein Schwerthieb.

Unbeirrt setzten sie und der Priester ihren Weg fort, doch die Soldatin blieb stehen. »Ich komme gleich nach«, teilte sie den beiden anderen mit, ehe sie sich an mich wandte. Inzwischen war der Hof verlassen, nur die Soldatin und ich standen einander gegenüber wie vorhin auf dem Übungsplatz. Aber diesmal nahm keine von uns Kampfhaltung ein. Sie wirkte ebenso erschöpft und enttäuscht wie ich.

»Das verstehe ich nicht«, setzte ich unbeholfen an. »Dieser Kampf … Ich war hervorragend, besser denn je. Und ich habe förmlich gespürt, wie die Sonne –« Mehr bekam ich nicht hervor, da die Prüferin mir eine Hand auf den Mund presste.

»Sprich nicht so! Du bist nun eine Unbeschienene, maße dir nicht an, dich als von der Sonne erwählt darzustellen!« Dem Klang ihrer Worte nach meinte sie es eher als Warnung, denn als Rüge. Sie seufzte. »Es tut mir leid. Dein Kampfstil und deine körperliche Konstitution sind wirklich außerordentlich, aber es wurde keine sonnenmagische Begabung festgestellt. Gerade die körperlichen Sonnengaben sind in der Regel leicht zu erfassen und die Erspürerin hat bei dir nicht den geringsten Magiefluss registriert. Somit sind die Ergebnisse eindeutig.« Sie hob entschuldigend die Hände.

Ihre aufrichtig wirkende Bekümmerung brachte mich zunächst aus dem Konzept. Doch rasch fand ich zu meinem Anliegen zurück. »Aber der Kampf. Ich war geschickt, schnell und stark und das in einem Maße, dass nur von …« Diesmal war es ihr mahnender Blick, der mich verstummen ließ.

Sie nickte traurig. »Das bist du, aber nicht, weil die Sonnenmagie dich durchdringt. Du besitzt viel Talent und das verdankst du allein dir selbst, nicht der Sonne. Vermutlich tröstet dich das nicht, aber vielleicht lernst du eines Sonnenverlaufes, es dennoch zu schätzen.«

Ihre Worte brachten mich nur noch mehr zur Verzweiflung. »Aber ich habe es doch gespürt …« Nie war ich mir einer Sache so sicher gewesen wie der Magie in meinem Körper während unseres Kampfes.

Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir wirklich leid, die Ergebnisse waren eindeutig. Ich wünschte, es wäre anders, doch das Urteil steht fest. Üb weiter! Wenn du fleißig bist, kannst du vielleicht irgendwann …« Diesmal unterbrach sie sich selbst – vermutlich, weil sie genauso wie ich wusste, dass es keine Alternative gab. Ebenso wenig wie ein ›Irgendwann‹. Ganz gleich, wie gut ich noch würde. Als Unbeschienene waren meine Möglichkeiten begrenzt.

»Viel Glück!«, murmelte sie und verschwand, bevor ich noch einmal hätte Einwand erheben können. Das war es also?

Ich starrte auf die Schwielen an meiner Hand, die von den unzähligen Stunden herrührten, in denen meine Finger das Schwertheft umschlossen gehalten hatten. Ich dachte an all die blauen Flecken, die Prellungen, Knochenbrüche und Tränen, den Schmerz, Schweiß und die Nerven, die mich die etlichen Übungsstunden in den vergangenen Sonnenzyklen gekostet hatten. All das, was ich für meinen Traum aufgebracht hatte, war mit einem Mal nichts mehr wert. All die Mühen, die Kalux und ich auf uns genommen hatten – Kalux!

Plötzlich kam Bewegung in mich. Ich hetzte der Soldatin hinterher, fand den Eingangsbereich jedoch verlassen vor. Ich rannte durch die Pforte nach draußen, wo mich entgegen meiner Erwartung niemand aufhielt. Hektisch schaute ich mich um und entdeckte einen der sonnenbetriebenen Wagen der Akademie, der sich rasch vom Waisenhaus in Richtung Stadtmitte entfernte.

»Kalux«, schrie ich und lief dem Gefährt hinterher. Jemand packte meinen Arm und ich wurde mitten im Lauf zurückgerissen. Gerando, eine Wache des Waisenhauses, hielt mich in seinem festen Griff. »Nicht so hastig!«, schnaufte er.

Ich schaute über die Schulter nach dem Wagen und sah aus einem der Seitenfenster einen blonden Haarschopf im Sonnenlicht aufblitzen. Ich reckte meinen freien Arm in die Luft, alle fünf Finger wie Sonnenstrahlen ausgestreckt. Eine Hand schoss aus dem Fenster des Wagens und erwiderte den Sonnengruß, doch sie verschwand mitsamt dem Kopf wieder im Inneren. Und schließlich verschwand auch der Wagen hinter einem weißen Gebäude.

Er war fort.

Kalux war fort und ich allein!

»O nein«, plärrte Gerando und schniefte gekünstelt. »Geht dein Kalux etwa ohne dich an die Akademie?« Seine bekümmerte Miene hielt nicht lange an, denn ein gehässiges Lachen wischte sie fort. »Hast du ernsthaft geglaubt, du hättest das Zeug dazu?« Er zog mich grob zurück zum Waisenhaus. Dabei grinste er breit und ergötzte sich an meinem Leid, bis sein spöttisches Gesicht vor meinen Augen verschwamm.

Zum ersten Mal, seit ich hergekommen war, weinte ich. Die Tränen rannen mir sintflutartig an den Wangen hinab, während Gerando mich durch die Eingangspforte schubste und sie hinter mir verschloss. Ich hörte den Riegel einrasten und fiel auf die Knie. Die Hand fest um den Stein an meinem Hals geschlossen, konnte ich nur an eines denken, immer und immer wieder: Kalux war fort und ich würde niemals eine Sol-Soldatin sein.

Besser, als Kartoffeln zu schälen

Ich blieb den Feierlichkeiten fern, die nach dem Gebet zum Sonnenhöchststand stattfanden. Das gesamte Waisenhaus hatte sich im Hof versammelt, um das erste Gleichschein zu feiern, den Beginn eines neuen Zyklus, an dem es ebenso viele Sonnenstunden gab wie sonnenferne. Fortan würden die Sonnenverläufe immer länger werden und das feierte ganz Sol-Dhana. Kalux und die anderen neuentdeckten Sonnenkinder begingen dieses Fest zusammen mit all den Beschienenen auf dem Sonnenplatz in Sol-Dhanas Zentrum, ehe sie ihre neuen Unterkünfte in der Akademie bezögen.

Doch für mich gab es keinen Anlass zur Freude, meine Zukunft war beendet, meine Träume zerschlagen. Ich kauerte inmitten ihrer Scherben in einem Abstellraum im Keller des Waisenhauses, starrte zu der darin hängenden Sonnenlampe und versuchte, den Lärm der fröhlich lachenden und singenden Kinder auszublenden. Sicher gab es wie zu jedem Fest frischen Saft und andere Köstlichkeiten und alle durften bis nach Sonnenuntergang aufbleiben. Während der Dämmerung würden sie sich dicht zusammendrängen, sich gegenseitig anstachelnd, wer sich in die Schatten ringsum des Hofes vorwagte, bis die Kleine sie mit ihrem Aufleuchten verbannte.

Nichts davon hatte eine Bedeutung. Ich ballte die Fäuste und spielte mit dem Gedanken, die Lampe zu zerschlagen, um mich der Dunkelheit auszuliefern. Sollte sie mich doch verschlingen, ich war ohnehin nichts wert. Bloß eine Unbeschienene, ohne einen einzigen Funken Magie in sich. Die Worte der Sol-Soldatin schlichen durch meinen Kopf: Du besitzt viel Talent und das verdankst du allein dir selbst, nicht der Sonne. Was, bei der verdammten Finsternis, konnte ich damit schon anfangen?

Ich sprang auf die Beine und meine Faust preschte in die Höhe, ohne dass ich sie bewusst steuerte. Meine Knöchel und die transparente Oberfläche der Sonnenlampe knirschten, als beide aufeinanderprallten. Schmerz durchzuckte meinen Arm und ich hieß ihn willkommen, doch nur für einen Moment, denn dann zerbarst die glühende Lampe und erlosch mit einem letzten kläglichen Flackern. Klirrend fielen die Einzelteile zu Boden, Sonnenmagie verteilte sich zischend im Raum und ich versank in vollkommener Dunkelheit. Mein Puls schoss in die Höhe und die Panik schnappte wie ein hungriges Ungeheuer nach mir, legte ihre Klauen um meinen Hals und schnürte mir die Kehle ab. Blind tastete ich um mich, die Augen so weit aufgerissen, dass sie mir aus den Höhlen zu springen drohten. Erfolglos japste ich nach Luft, denn die hatte das Licht scheinbar mitgenommen. Stolpernd arbeitete ich mich vorwärts, ich musste hier raus!

Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis ich endlich die Tür fand, die Klinke hinunterdrückte und in den hellerleuchteten Flur stolperte. Meine Beine gaben nach und ich brach schlotternd auf dem Marmorboden zusammen, die blutverschmierte Faust auf mein immer noch hämmerndes Herz gepresst. Gierig sog ich die Luft ein, die Augen starr auf die Lampe über mir gerichtet. Was war ich doch für eine herausragende Kriegerin, dass mich ein wenig Dunkelheit wimmernd in die Knie zwang.

Erst nachdem die feierliche Kulisse draußen verklungen war, erhob ich mich und kehrte in mein Zimmer zurück. Ich lauschte lange an der Tür, bis ich mir sicher war, dass meine Mitbewohnerinnen schliefen, dann erst wagte ich mich hinein. Erschöpft fiel ich ins Bett, die Kälte des Steinbodens und der Schreck steckten mir tief in den Knochen. Eine Weile noch genoss ich das seichte Licht der Kleinen, das durch das Fenster hineinfiel. Dann wurde ich von einem unruhigen Schlaf übermannt, der mir aufwühlende Träume bescherte – von Kalux, mir als Sol-Soldatin und immer wieder von der alles verschlingenden Dunkelheit.