In den Farben der Finsternis - Steffi Frei - E-Book

In den Farben der Finsternis E-Book

Steffi Frei

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Beschreibung

Blutrot - Der Auftakt zu einer modernen Urban-Fantasy-Vampirreihe. Ganz ohne Glitzer, dafür mit den Farben der Finsternis und einer Prise bissigen Humor. Von der Schönheit der Finsternis ... und ihren Abgründen Milena - eine Künstlerin der Finsternis. Gefangen in ihren eigenen Ängsten. Rico - ein einsamer Vampir. Voller Verachtung für die vor ihm liegende Ewigkeit. Zwei fremde Wesen. Eine zufällige Begegnung. Eine Abmachung, die einen hohen Preis fordert. Und dieser Preis ist in Blut zu zahlen ...

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Bisher von Steffi Frei erschienen:

Farben der Finsternis-Vampirreihe (Urban-Fantasy)

In den Farben der Finsternis: Blutrot

In den Farben der Finsternis: Tiefschwarz

Fearane-Trilogie (High-Fantasy)

Schicksal der Fearane: Die letzte Tiare

Schicksal der Fearane: Feder und Metall

Schicksal der Fearane: Kristallseele

Weitere Romane von Steffi Frei sind in Vorbereitung. Mehr Informationen zur Autorin unter https://steffifrei.de/Triggerwarnungen und Content Notes zu allen Büchern von Steffi Frei: https://steffifrei.de/trigger-und-content-notes-zu-meinen-buechern/

Für Tobi Mein Partner in Crime und Gefährte in der Finsternis

Playlist

Die folgende Playlist hat mich durch den Schreibprozess von »In den Farben der Finsternis« begleitet. Einige Lieder spielen eine Rolle innerhalb der Geschichte, andere passen thematisch oder atmosphärisch besonders gut dazu. Viel Spaß beim Reinhören!

Vampire –

Pretty wild

The Sound of Silence –

Disturbed

Bloodstream –

The Chainsmokers

The Fear –

The Score

Bitter Sweet Symphony –

The Verve

Be not so Fearful –

A. C. Newman

Dancing in the Moonlight –

Toploader

Dont Look Back in Anger –

Oasis

Blood Red –

The Maine

Bring me to Life –

Evanescence

Come as You Are –

Nirvana

SIN (DEMO) –

Labrinth

The Afterlive –

Bush

Monster –

Skillet

Vampire Heart –

HIM

Zur Spotify-Playlist:

Übersetzungen

In diesem Buch kommen vermehrt fremdsprachige Begriffe vor, die dem Sprachgebrauch der Protagonisten entsprechen. Überall, wo mir das Verstehen der Begriffe für die Geschichte bedeutsam erschien, habe ich eine Übersetzung im Text durch die Protagonisten vorgenommen. In anderen Fällen habe ich auf eine Übersetzung im Text verzichtet. Die meisten Begriffe dürften sich jedoch aus dem Kontext erschließen lassen, sodass ein ständiges Vor- und Zurückblättern nicht erforderlich ist. Trotzdem habe ich der Übersichtlichkeit halber und für alle, die es interessiert, eine Liste fast aller Begriffe samt Übersetzung zusammengestellt. Einzig bei den wenigen englischen Begriffen habe ich darauf verzichtet.

An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank meiner wunderbaren Autorenkollegin Paola Baldin und ihren Eltern, die meine Liste russischer Übersetzungen auf Korrektheit geprüft haben.

Russisch

Für die irisch-gälischen und ungarischen Wörter habe ich eine Übersetzungssoftware zurate gezogen und die Begriffe nach bestem Wissen und Gewissen übersetzt. Dennoch kann ich keine Garantie für die Korrektheit geben. Ich bitte, dies zu berücksichtigen.

Irisch-Gälisch

Ungarisch

Französisch

Spanisch

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Milena

Kapitel 2: Rico

Kapitel 3: Milena

Kapitel 4: Rico

Kapitel 5: Milena

Kapitel 6: Rico

Kapitel 7: Milena

Kapitel 8: Rico

Kapitel 9: Milena

Kapitel 10: Rico

Kapitel 11: Milena

Kapitel 12: Rico

Kapitel 13: Milena

Kapitel 14: Rico

Kapitel 15: Milena

Kapitel 16: Rico

Kapitel 17: Milena

Kapitel 18: Rico

Kapitel 19: Milena

Kapitel 20: Rico

Kapitel 21: Milena

Kapitel 22: Rico

Kapitel 23: Milena

Kapitel 24: Rico

Prolog

Sie blickte erwartungsvoll auf die drei Männer hinab, die vor ihr auf dem Boden knieten. Bedächtig schlug sie ihre Beine übereinander und richtete sich auf, die Finger eng um die gargoyleartigen Verzierungen an den Armlehnen ihres steinernen Thrones geschlungen. Erregt fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. »Sprecht!«, herrschte sie die drei jämmerlichen Gestalten zu ihren Füßen an und wedelte ungehalten mit einer Hand. Sie roch die Furcht und spürte den Widerstand der Männer, und genoss es zutiefst, ihren Willen allmählich brechen zu sehen.

»Als meine Herrin nehme ich Euch an, Euch will ich dienen für die Ewigkeit, nehmt mein Blut als Zeichen meiner Treue und Ergebenheit«, sprachen die drei im Chor.

Sie schlug sich in aufgesetzter Ergriffenheit eine Hand aufs Herz und seufzte. Gebannt verfolgte sie dann, wie die drei die eisernen Dolchklingen an ihre Hälse führten, um sich mit einer raschen Bewegung die eigenen Kehlen zu durchtrennen. Es waren besondere Klingen, geschmiedet in der Glut verbrennender Vampirleiber. Eine lang vergessene Schmiedekunst und die einzige Art, Metall zu einer für Vampire tödlichen Schneide zu verarbeiten. Es gab nur noch wenige Waffen dieser Art, dafür hatte sie gesorgt.

Als sie beobachtete, wie das Blut aus den aufgeschlitzten Kehlen quoll, entfuhr ihr ein kleiner Schrei der Verzückung. »Ja, lasst es fließen!«, rief sie und winkte aufgeregt ihre drei jungen Blutdienerinnen heran. Sie eilten herbei, um den dunkelroten Lebensnektar der Verblutenden mit silbernen Kelchen aufzufangen.

Die Männer röchelten und schwankten, doch sie hielt ihre Körper mit ihrer Willenskraft aufrecht, so konnte sie ihnen besser beim Ausbluten zusehen. Eigentlich war für das Ritual nur eine geringe Menge Blut erforderlich, aber sie genoss den Anblick zu sehr, als dass sie darauf verzichtet hätte. Der Geruch des frischen Blutes drang in ihre Nase und ließ sie vor Verlangen aufkeuchen. Es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, sich nicht auf die Männer zu stürzen und direkt aus der Quelle zu trinken. Aber sie war schließlich nicht irgendein niederes Geschöpf; sie war die Blutgräfin. Bei dem Gedanken lachte sie glockenhell auf.

Sobald die Kelche gefüllt waren, schnipste sie mit den Fingern und die drei Männer kippten zur Seite. Sie würde sie nicht vollständig ausbluten lassen, denn das würde ihre Regenerationszeit nur unnötig hinauszögern. Und schließlich brauchte sie kräftige Sklaven.

Die jungen Blutdienerinnen traten mit ehrfürchtigen Schritten auf sie zu, die blutgefüllten Kelche vor sich haltend. Sie ergriff einen und führte ihn bedächtig an ihre Lippen. Ihr Körper erbebte, als der erste Tropfen ihre Zunge traf. In kräftigen Zügen leerte sie das Gefäß und tupfte sich standesgemäß mit einer schneeweißen Serviette die Blutstropfen aus den Mundwinkeln. Hastig ergriff sie den zweiten Kelch und nahm auch dessen Inhalt gierig in sich auf. Den Letzten hingegen leerte sie gemächlich. Sie wollte jeden einzelnen Tropfen davon genießen.

Die Dienerinnen nahmen die geleerten Gefäße entgegen und entfernten sich. Wohlig seufzend erhob sie sich und schritt anmutig auf die drei sterbenden Männer zu, die zuckend auf dem Boden lagen. Vorsichtig führte sie einen ihrer schlanken Zeigefinger an den Mund, ließ die Spitze hineingleiten und über einen ihrer scharfen Eckzähne fahren. Sie zog den Finger wieder hervor, auf dessen Kuppe ein einzelner Blutstropfen wie ein winziger Rubin glitzerte.

Galant beugte sie sich über den ersten Mann. Sanft streichelte sie ihm mit einer Hand die bleiche Wange. »Nimm mein Blut, als Zeichen unserer Verbindung. Möge mein Blut in deinen Adern dich stets daran erinnern, wem du zur Treue verpflichtet bist«, hauchte sie. Dann betupfte sie seine Lippen mit ihrer blutenden Fingerspitze.

Mit einem Mal riss der Sterbende die rotgeränderten Augen weit auf, die Pupillen in den tiefschwarzen Iriden fokussierten sie ehrfürchtig. Dann klappte der Kiefer des Mannes auf und scharfe Reißzähne kamen zum Vorschein. Blitzschnell fuhr die Zunge dazwischen hervor und leckte die feinen Blutspuren von den ausgetrockneten Lippen. Sein Leib erzitterte und ein dunkles, seliges Grollen drang aus den Tiefen seiner Kehle.

Sie lächelte zufrieden und tätschelte ihrem neugeborenen Sklaven die Wange. Er würde ihr fortan hörig sein, ganz gleich, was sie von ihm verlangte. Doch zunächst musste er wieder zu Kräften kommen. Sie winkte eine der Dienerinnen herbei, die sich auf leisen Sohlen näherte, ergriff ihre Hand und zog sie zu sich herab. Zärtlich strich sie der jungen Frau mit dem glasigen Blick die dunklen Haare nach hinten, um ihren Hals zu entblößen, und drückte ihren Kopf sanft hinab. »Trink, mein Liebster!«, hauchte sie.

Schon reckte sich der Oberkörper ihres jüngsten Sklaven empor. Seine Reißzähne drängen tief in die dünne Haut der wehrlosen Frau ein und rissen dabei ihre Halsschlagader auf. Die Dienerin keuchte einmal leise auf, leistete aber keinerlei Widerstand. Warum auch, ihr Lebenssinn bestand darin, ihrer Herrin zu dienen. Ihr unbedeutendes Leben zu geben war ihr höchstes Ziel. So hatte es die Blutgräfin all ihren Blutdienerinnen eingetrichtert.

Sie verabreichte auch den anderen beiden Männern einen Tropfen ihres Blutes und ließ sie sich anschließend an zwei weiteren Dienerinnen laben. »Stärkt euch, meine Sklaven, ihr werdet eure Kräfte brauchen«, wisperte sie, während sie zwischen den gierig saugenden Männern umher schritt. Sie roch das frische Blut, atmete den Duft tief ein, lauschte auf den abebbenden Herzschlag der niederen Frauen, die leise stöhnten und unter den Händen ihrer Todesbringer bebten. Als die beinahe blutleeren Leiber auf dem blanken Steinboden aufschlugen, wandten sich die drei genährten Sklaven ihrer Herrin zu. Sie winkte sie mit einer beiläufigen Handbewegung heran und schwelgte in dem Anblick der vor ihr knienden Männer, Ehrfurcht und blinder Gehorsam in den Augen.

»Wem dient ihr?«, fragte sie leise. Das aufsteigende Gefühl von Macht erregte sie zusehends und ihre Stimme zitterte leicht.

»Euch, Herrin«, verkündeten die drei Männer voller Inbrunst.

Ihr entfuhr ein Keuchen. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie den Sklaven nacheinander ihre Hand anbot, damit sie diese küssten. Sie stöhnte dabei ungeniert. »Für wahr, ich bin eure Herrin und ihr werdet mir nützliche Dienste erweisen. Wir haben einiges vor, meine Liebsten. Schon bald wird hier alles in Chaos versinken und ich, ich werde darüber herrschen!« Sie lachte. »Nun geht, bis ich euch rufe!«

Als die Männer sich folgsam erhoben, griff sie den mittleren beim Arm. Seine Oberarme waren überaus muskulös und sein bleiches Gesicht wies markante Wangenknochen auf. Er sah wie ein Mann aus, der es nicht gewohnt war, sich einer Frau zu unterwerfen, und sie würde Freude daran haben, es ihn zu lehren. Zudem hatte sein Blut vorzüglich gemundet. Sie zog ihn mit sich zu ihrem Schlafgemach. In dieser Nacht würde sie ihn gewiss noch viele Male aussaugen, daher ließ sie gleich ein ganzes Dutzend Blutdienerinnen und -diener in ihr Gemach bringen. Sie musste ihn bei Kräften halten, damit er all ihre Bedürfnisse befriedigen konnte. Und davon gab es viele, denn sie war eine gierige Frau – einige würden womöglich sagen: unersättlich. Und so würde in dieser Nacht das Blut wieder in Strömen fließen und sie würde darin baden.

Kapitel 1

Milena

Ich atme tief durch, konzentriere mich voll und ganz auf die Luft, die durch meine Nase in meine Lunge dringt, und bilde mir ein, dass sie mich mit Mut und Kraft füllt. Eins, zwei. Langsam lasse ich die Luft wieder entweichen und schicke gedanklich meine Angst mit ihr fort. Doch die ist hartnäckig und will sich nicht so leicht von mir lösen. Meine Hand liegt immer noch auf der Klinke der verschlossenen Wohnungstür, die schwitzigen Finger drohen abzurutschen, deswegen packe ich fester zu. In meinem Inneren breitet sich das allzu vertraute Kribbeln aus, als würde sich eine Million Ameisen auf LSD darin tummeln. Es ist ein wahres Tomorrowland der Insekten und in meinem Magen steht die Hauptbühne. Ich kann förmlich den Bass spüren, der beharrlich in mir wummert.

Äußerlich hingegen bin ich wie gelähmt. Bis auf das leichte Zittern meiner Hand an der Türklinke bin ich komplett unbeweglich. Ein ziehender Schmerz macht mich darauf aufmerksam, dass meine Muskeln in Schultern und Nacken seit geraumer Zeit angespannt sind. Ich versuche, sie bewusst zu lockern, doch ich habe das Gefühl, dass sie sich direkt wieder zusammenziehen. Ich könnte einfach hierbleiben, schießt es mir durch den Kopf. Dieser Gedanke verschafft mir kurzzeitige Linderung und ein kleines Lächeln spielt um meine Lippen. Ja, es wäre so leicht. Ich drehe mich einfach um und gehe zurück ins Wohnzimmer, setze mich an den Laptop, arbeite an meinem aktuellen Projekt. Die Deadline läuft ohnehin bald ab und ich sollte wirklich – Nein! Das wäre bloß der leichteste Weg.

»Ich lasse mich nicht von meiner Angst kontrollieren, ich kontrolliere meine Angst«, murmele ich vor mich hin, ohne wirklich daran zu glauben. Ich wiederhole das Mantra noch einige Male, obwohl es keinerlei Wirkung zeigt. Dann strecke ich meinen Körper, atme tief ein, halte die Luft für zwei Sekunden an und atme lautstark aus. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. LOS!

Ich drücke die Klinke so fest nach unten, dass meine schweißnassen Finger daran abrutschen. Dabei verliere ich das Gleichgewicht und schlage mir beinahe den Kopf an der Tür an. Die Situation ist so bescheuert, dass ich ein nervöses Kichern ausstoße. Zum Glück hat das niemand gesehen! Die kurzzeitige Erheiterung hat mich wenigstens so weit gelockert, dass ich kaum darüber nachdenke, bevor ich erneut die Klinke ergreife und die Tür aufziehe.

Mit einem schnellen Schritt trete ich in den Hausflur und ziehe die Tür ruckartig hinter mir zu. Noch einen Moment verweile ich vor der geschlossenen Wohnungstür, dann drehe ich mich um und laufe los. In flottem Tempo haste ich die Treppen hinunter. Im Flur riecht es nach Sauerkraut und verbrannten Rippchen. Der Geruch bringt mich zum Würgen, also halte ich für die restlichen Stufen den Atem an.

Endlich habe ich die zwei Etagen hinter mich gebracht und stürme durch die Haustür ins Freie. Gierig schnappe ich nach der frischen Luft und muss mich für einen Moment an der Hausfassade abstützen. Als mein Gehirn wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt ist, wird mir erst richtig bewusst, wo ich mich befinde: draußen – außerhalb der Sicherheit meiner vier Wände. Ich lasse den Blick schnell durch die Straße gleiten, aber sie ist menschenleer. Weder Fußgänger noch Autos sind unterwegs. Wie üblich. Der Wohnblock liegt abseits und die Straße ist nur für Anlieger frei. Das verschafft mir eine kurze Schonfrist, ehe der Moloch Stadt mich verschlingt.

Ich genieße für einige Atemzüge die Stille um mich herum, lockere meine verkrampften Schultern und gehe los. Ein kühler Wind weht mir entgegen und ich winkele leicht die Arme ab, damit der Luftzug meine verschwitzten Achselhöhlen trocknen kann. Es ist ein düsterer Nachmittag, denn die Sonne hält sich hinter einer grauen Wolkendecke verborgen.

Kaum bin ich zwei Häuserblocks weit gekommen, ist es mit der Stille vorbei. Wenige Meter neben mir startet ein Kerl ratternd sein Motorrad. Der Auspuff knallt und ich ziehe instinktiv den Kopf ein. Auf der anderen Straßenseite streckt sich eine Frau weit aus einem Fenster und schreit etwas herunter, das ich nicht verstehen kann. Ein Junge auf einem Fahrrad schaut zu ihr hinauf und ruft Unverständliches zurück, dann fährt er auf die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Ein BMW kommt angerauscht und geht hart in die Bremsen, um den Fahrradfahrer nicht über den Haufen zu fahren. Lautes Hupen, gebrüllte Beleidigungen aus dem Inneren des Fahrzeuges. Die Frau aus dem Fenster kreischt ein paar hysterische Worte, der Junge auf dem Fahrrad lacht, dann radelt er weiter. Er saust so dicht an mir vorbei, dass mich der Lenker streift. Ich zucke zurück und gerate ins Wanken, stolpere vom Bordstein. Der BMW fährt mit quietschenden Reifen an, hupt, weil ich halb auf der Fahrbahn stehe, und donnert an mir vorbei. Erschrocken schaue ich mich zu dem Fahrer um, der mir den Mittelfinger entgegenstreckt.

Mein Herz rast und meine Beine fühlen sich an wie Gummi, als ich meinen Weg fortsetze. »Alles ist gut, nichts passiert«, murmele ich vor mich hin, um mir Mut zuzusprechen. Trotzdem werde ich das nagende Gefühl nicht los, dass es dumm war, rauszugehen. So dumm! Diese Welt ist zu rau, zu laut, zu gefährlich für mich. Wehmütig denke ich an die Sicherheit meiner warmen, beschaulichen Wohnung. Ich klammere mich an meinem Jutebeutel fest, als könnte er mir Halt geben, während ich mich weiter durch den Trubel um mich herum kämpfe. Ich konzentriere mich auf einen Punkt vor mir und versuche, den Rest auszublenden.

Aus dem Augenwinkel nehme ich drei Jugendliche wahr, die aus einem Kiosk gewankt kommen, jeder mit mindestens einer Pulle Schnaps und mehreren Flaschen Mischzeug in den Händen und unter die Arme geklemmt. Ein kleinerer Dicker schubst seinen großgebauten Kumpel in meine Richtung. Der Typ stolpert, fängt sich wieder und baut sich vor mir auf. Er macht Kusslaute und beugt sich näher heran, sülzt irgendwelche widerlichen Worte, aber ich weiche ihm reflexartig aus.

Du solltest mit mir zum Krav-Maga-Kurs kommen, mit ein paar gezielten Tritten und Schlägen kannst du jeden Penner umhauen, der dir zu nah kommt, höre ich Mellies Stimme in meinem Kopf. Es wäre schon verlockend, dem Typen eine reinzuhauen oder ihm wenigstens eine saftige Ansage zu machen – so, wie Mellie es tun würde. Stattdessen beschleunige ich meine Schritte, um schnell von ihm und seinen Freunden fortzukommen, während ihr Lachen unnatürlich laut in meinen Ohren nachhallt. Ich bin am ganzen Körper schweißbedeckt und mein Herz droht mir jeden Augenblick aus dem Brustkorb zu springen, dabei bin ich gerade einmal einige hundert Meter von meinem Wohnhaus entfernt. Am liebsten würde ich sofort wieder umdrehen und dorthin flüchten, aber ich zwinge mich, weiterzugehen.

Endlich erreiche ich die U-Bahn-Station. Mit einem erleichterten Seufzen lasse ich mich auf eine der Plastiksitzschalen gleiten. Es dauert zwar eine Weile, bis sich mein Puls etwas beruhigt hat, aber hier fühle ich mich einigermaßen sicher. Es ist ruhiger als oben auf der Straße und nur wenige Menschen stehen auf dem Bahnsteig. Ein paar Sitzbänke weiter hat sich ein junges Pärchen niedergelassen. Das Mädchen mit neongrünen Haaren sitzt auf dem Schoß des Typens, die Beine um seine Hüfte geschlungen. Der Typ sieht mit seiner Jogginghose und dem Muskelshirt aus, als würde er Werbung für ein Fitnessstudio machen. Seine aufgepumpten Arme schmiegen sich um sein grünhaariges Mädel, die Hände demonstrativ an ihrem Hintern platziert. Die beiden sind wild am Rummachen und ziehen mit ihrer Live-Peepshow die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich.

Ein paar pubertäre Jungs, die an den Gleisen rumhängen, johlen und pfeifen, einer hält die Kamera seines Smartphones auf das Pärchen. Eine ältere Frau, die gerade auf die Sitzplätze zusteuert, bleibt entrüstet stehen und schnalzt abschätzig mit der Zunge. Kopfschüttelnd wendet sie sich ab und sucht sich einen Platz möglichst weit weg von dem unanständigen Pärchen. Doch die beiden bemerken rein gar nichts von dem Wirbel, den sie auslösen; sie sind ganz ineinander vertieft. Eine Hand des Typens wandert langsam unter das Top des Mädels und sie quietscht vergnügt auf, ohne ihre Lippen von seinen zu lösen.

Ich muss schmunzeln. Aber es versetzt mir auch einen Stich, die beiden so zu sehen. Ich beneide sie um ihre ungezwungene Art; es ist ihnen egal, was die Leute denken. Sie machen, was sie wollen und wo sie es wollen. Ich war auch einmal so, bevor es passiert ist. Plötzlich fällt mir auf, dass ich schon eine Weile lang meinen Arm kratze. Ich halte abrupt in der Bewegung inne und schiebe mir die rechte Hand unter den Hintern, um zu verhindern, dass ich damit wieder unbewusst etwas Dummes anstelle. Ich begutachte meinen linken Unterarm. Vom Handgelenk bis zur Ellenbeuge ziehen sich dicke, rote Striemen über die Haut, genau über der feinen weißen Narbe. Schnell drehe ich den Arm um, sodass die Verschandelung aus meinem Blickfeld verschwindet. Frustriert beiße ich mir auf die Unterlippe.

Seit Monaten habe ich mich nicht mehr auf diese Weise gekratzt. Das zwanghafte Kratzen oder die Dermatillomanie, wie es Dr. Buzcow nennt, ist eine miese Angewohnheit, die mich seit Jahren begleitet. Sie wird durch Stress ausgelöst und davon habe ich jede Menge! Nicht, weil ich zu viel arbeiten oder ständig von einem Termin zum nächsten rennen würde. Nein, es gibt eine Reihe anderer Faktoren, die mich stressen. Ich sag’ nur: Posttraumatische Belastungsstörung, Zwangsstörung, generalisierte Angststörung, Depression, soziale Phobie … Um lediglich ein paar der Etiketten zu nennen, die Dr. Buzcow mir in den vergangenen neun Jahren auf die Stirn geklebt hat. Aber das mit dem Kratzen hatte ich in den Griff bekommen, ja, meine Haut am Arm war schon so gut wie verheilt. Auch sonst war ich auf einem guten Weg, zumindest bin ich klar gekommen – bis zu seinem Anruf. Das ist alles seine Schuld! Der Gedanke blitzt nur kurz auf, ehe ich ihn vehement von mir schiebe. Es ist nicht seine Schuld!

In dem Moment, in dem ich seine Stimme durch den Lautsprecher meines Smartphones gehört habe, ist mir das Herz stehen geblieben und meine Welt hat sich um einhundertachtzig Grad gedreht. Alles war plötzlich auf den Kopf gestellt und ich wusste nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Ich hatte diese Stimme seit Jahren nicht gehört, trotzdem habe ich sie sofort wiedererkannt. Wie lang hatte ich mir verzweifelt gewünscht, sie zu hören, aber irgendwann hatte ich damit aufgehört.

Ich wollte mich wirklich über seinen Anruf freuen, doch zugleich ist dadurch so vieles in mir wieder aufgebrochen. Wunden, die mehr oder weniger verheilt waren, sind aufgerissen, mühsam verscharrte Gefühle wurden aufgewühlt und ich habe mich gefühlt wie damals, als er uns sitzenlassen hat. Wieso lässt ein Vater seine Tochter im Stich, wenn sie ihn am meisten braucht? Kaputt, verlassen, zerbrochen. Er hat mich einfach im Stich gelassen. Kaum war ich achtzehn, hat er sich aus dem Staub gemacht. Mellie war gerade zwanzig, hatte ihre erste eigene Wohnung und kurz zuvor mit dem Studium begonnen. Natürlich hat sie es sofort abgebrochen und mich bei sich aufgenommen. Ich war ein Wrack und sie musste uns irgendwie über die Runden bringen.

›Hey Kleines, ich bin’s, Papa …‹ Mehr hat es nicht gebraucht, um mein Leben aus den Angeln zu reißen. Jetzt werde ich ihn wiedersehen, nach sieben beschissenen Jahren. Kurz überlege ich, Mellie eine Nachricht zu schreiben und sie noch einmal zu bitten, mitzukommen. Aber ich weiß eh, dass sie mich nicht begleiten wird. Vorher schmeißt sie sich vor die U-Bahn, wie sie es so schön ausgedrückt hat. ›Lass mich in Ruhe mit diesem Arschloch. Für mich ist er gestorben‹, hat sie gesagt – oder vielmehr gebrüllt. Ich habe sie selten so ausrasten sehen, dabei ist sie sonst immer um Contenance bemüht. Sie hat mich für verrückt erklärt, weil ich zu ihm will. Es war das erste Mal, dass sie mich so bezeichnet hat - verrückt. Nicht das erste Mal, dass ich so genannt wurde, aber das erste Mal aus ihrem Mund. Es hat wehgetan – wie immer.

Die Bahn rollt mit lautem Getöse heran und kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Ich erhebe mich wie in Trance, wische mir die schweißnassen Hände an meiner Jeans ab und konzentriere mich auf meine Atmung, während ich die Bahn besteige. Ich suche mir ein leeres Abteil und lasse mich erschöpft auf einem der ausgeblichenen Sitze nieder. Ich fühle mich jetzt schon so ausgelaugt, dass ich gar nicht weiß, wie ich den Rest überstehen soll. Das Schlimmste kommt ja noch.

Ich ziehe mein Smartphone heraus, stecke Ohrstöpsel ein und stelle auf volle Lautstärke. Don’t Look Back in Anger von Oasis erschallt in meinem Kopf. Was Musik angeht, war ich noch nie auf der Höhe der Zeit. Gedankenverloren scrolle ich durch die Seiten meiner Lieblings-Indie-Künstler wie mARTin und pain(t)brush. Ich verteile hier und da ein paar Likes und beteilige mich rege am herrlich durchgeknallten und manchmal auch konstruktiven Austausch der düsteren Kunstnerds. Das hier ist meine Form der Konversation. Meine sozialen Kontakte tummeln sich in diesem einen kleinen Gerät. Darin existiert eine Blase, in der ich mich sicher bewegen kann und in die nichts reinkommt, was ich darin nicht haben will. Ich rufe auch meine eigene Seite auf, wühle mich erwartungsvoll durch eine Vielzahl an Kommentaren zu meiner neusten Arbeit, ein Albumcover für eine Heavy Metal Band. Ich habe für sie meine Version von Dantes Hölle entworfen. Ich liebe deinen düsteren shit, schrieb jj_tattoo_artist, what the fucking hell, meint living.la.vida.negra und blacksoul_art kommentiert mit: Diese Frau zeichnet sich die Seele aus dem Leib. Bitte mehr davon.

Lächelnd stecke ich das Smartphone zurück in meine Tasche und stelle erleichtert fest, dass ich fast da bin.

Die Bahn hält, die Türen gleiten auf und ich springe auf den Bahnsteig. Ich dränge mich an den anderen Aussteigenden vorbei und stürme die Treppe in das belebte Viertel von Wehring hoch. Ich hechte von einer Seite des Gehweges auf die andere, um den strömenden Passanten auszuweichen, und verschwinde in eine ruhigere Seitengasse. Der Lärm, der von der Hauptstraße zu mir dringt, lässt meinen Puls erneut hochschießen. Ich bleibe stehen und atme mühsam dagegen an, versuche, mich zu beruhigen.

Langsam setze ich mich wieder in Bewegung. In Gedanken gehe ich meine tägliche Checkliste durch: Zuerst meine eigene Adresse, dann meine Telefonnummer, weiter geht es mit der Adresse und Telefonnummer von Mellie und zuletzt die von Dr. Buzcow. Gebetsmühlenartig rattere ich die Adressen und Nummern im Geiste runter und lächele zufrieden, weil ich nicht ein Mal ins Stocken gerate. Ich fahre fort mit unserer alten Adresse in Halven und den Namen unserer dortigen Nachbarn. Selbst der Name des Dackels vom Naziopa gegenüber fällt mir problemlos ein. Ein Rauhaardackel namens Zwiebel, der unter chronischer Bronchitis litt und ganz scharf auf die Pudeldame Lady Di von der alten Frau Brunheim war. Wenn Lady Di die Straße entlang tingelte, bekam Zwiebel jedes Mal so schlimme Atemnot, dass der Naziopa ihn schnell hochnehmen und außer Sicht- und Riechweite bringen musste.

Die Erinnerungen schießen in der gewohnten Geschwindigkeit durch meinen Kopf und geben mir neues Selbstvertrauen. Es ist alles noch da. Ich habe alles im Griff!

Ich erreiche die letzte Kreuzung und bleibe stehen, als mein Ziel vor mir aufragt. Ich straffe die Schultern und lege den Kopf in den Nacken, um den riesigen, rechteckigen Betonklotz vor mir zu betrachten. Goliath, wie er hier genannt wird, ragt fünfundzwanzig Etagen und irgendetwas über hundert Meter in die Höhe. Direkt daneben steht David, ein zweites Hochhaus derselben Bauart mit zehn Stockwerken weniger. Die mit ihrem dünnschissfarbenen Anstrich abgrundtief hässlichen Bauwerke, die jedes andere Gebäude im Umkreis überragen und sogar weit außerhalb der Stadtgrenzen zu sehen sind, stellen so etwas wie das Wahrzeichen von Lietburg dar. Es ist peinlich, dass etwas derart Abscheuliches als Erkennungsmerkmal unserer Stadt gilt, aber so ist es nun einmal. Dabei hat Lietburg echt mehr zu bieten, vor allem die nahezu unberührten Naturschutzgebiete.

Aber hey, was ist schon Natur, wenn man riesige durchfallfarbene Betonklötze mit albernen Namen vorzuweisen hat? Jeder New Yorker würde sich über diese beiden Ausgeburten der Hässlichkeit kaputtlachen, die aussehen, als hätte das Empire State Building sie ausgeschissen.

Diese Vorstellung bringt mich zum Kichern, und sofort habe ich ein Bild vor Augen, das ich demnächst unbedingt zu Papier bringen muss. Das wird ein wahres Schmuckstück in meinem Portfolio der Skurrilität.

Grinsend reiße ich den Blick von Dünnschiss-Goliath los und trete auf seine breite Eingangstür zu. Neben der gläsernen Doppeltür erstreckt sich ein anderthalb Meter langes Klingelbrett mit rund einhundertfünfzig Namensschildern und Klingeln. Der Anblick erschlägt mich beinahe, doch dann entdecke ich die Zahlen am linken Rand, die die jeweilige Etage markieren. Dreizehnter Stock, hat Papa gesagt. Na wunderbar, eine richtige Glückszahl. Mit zittrigen Fingern suche ich die dreizehnte Reihe ab und verharre über dem Klingelschild, auf dem in winzigen Buchstaben Seiler steht.

Diesen Namen schwarz auf weiß vor mir zu sehen, verleiht dem Ganzen eine unangenehme Portion Realität und ich verspüre den unbändigen Drang, mir den Arm zu kratzen. Es bedarf meiner gesamten Willenskraft, stattdessen auf den Klingelknopf zu drücken. Einige Atemzüge stehe ich wie erstarrt da und hoffe fast, dass niemand öffnet. Die Namen auf den kleinen Schildchen vor mir verschwimmen und mein Pulsschlag erhöht sich auf ein bedrohliches Maß. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. Einatmen – eins, zwei – ausatmen. Einatmen – »Wer ist da?« Die verzerrte Stimme meines Vaters erschallt aus der Sprechanlage.

Ich schlucke hart und lecke mir über die ausgetrockneten Lippen. »Ich bin’s«, hauche ich leise.

»Hallo?!«

Ich räuspere mich und stelle mich auf die Zehenspitzen, um näher an die Gegensprechanlage heranzureichen. »Ich bin es, Milena.« Diesmal ist meine Stimme fester.

Statt einer Antwort ertönt ein surrendes Geräusch, das mich dazu auffordert, die Tür aufzudrücken und in das Innere von Dünnschiss-Goliath einzutreten. Einen Moment zögere ich, doch dann presse ich meine schweißfeuchte Handfläche gegen die Glastür, die sofort nachgibt und nach innen aufschwingt.

Ich betrachte meinen klebrig glänzenden Handabdruck auf dem zerkratzten Glas und atme noch einmal tief durch, ehe ich in den düsteren Hausflur eintrete.

Zögerlich setze ich ein paar weitere Schritte über den zerschlissenen Steinboden, bis ich vor zwei riesigen Aufzügen stehe. Ich trete an den erstbesten heran und drücke auf den Knopf, auf dem ein ausgeblichener, aufrechter Pfeil abgebildet ist. Der Knopf leuchtet auf und ich höre, wie die Aufzugsanlage im Inneren des Schachtes zum Leben erwacht und die Fahrkabine sich mit Quietschen und Ächzen in Bewegung setzt. Kein vertrauenserweckendes Geräusch und dennoch nehme ich es nur am Rande wahr. Es ist erstaunlich, denn obwohl mich die gewöhnlichsten Dinge ängstigen – die Wohnung zu verlassen, mit Menschen zu sprechen, Autofahren – fürchte ich mich weder vor beengten Räumen noch vor Höhen. Dabei belegen Klaustrophobie und Akrophobie die Plätze zwei und vier in den Top Ten der häufigsten Phobien.

Für mich stellt beides an diesem heutigen Tage die kleinstmögliche Hürde dar. Weit schlimmer war es, überhaupt hinauszugehen, in die Bahn zu steigen und herzukommen. Doch die größte Hürde liegt noch vor mir, wenn ich den Aufzug wieder verlasse. Ich habe keine Ahnung, wie ›die Angst vor dem Wiedersehen mit dem eigenen Vater nach sieben Jahren Funkstille‹ im medizinischen Jargon lautet, doch ich nehme mir vor, Dr. Buzcow bei unserem nächsten Termin danach zu fragen.

Wie belastend die bevorstehende Begegnung wirklich ist, zeigt sich, als ich die Aufzugskabine betrete, den Knopf mit der verblichenen Dreizehn drücke und mich daraufhin reflexartig am Arm kratze.

Ich starre wie hypnotisiert auf die Anzeige, die mir mit grell leuchtenden Zahlen anzeigt, auf welchem Stockwerk ich mich gerade befinde. Drei. Mein Puls beschleunigt sich und ich spüre, wie das Blut durch meine Adern rauscht. Fünf. Die Ameisen sind wieder da und lassen es ordentlich krachen. Das Kribbeln beginnt in meinem Bauch und breitet sich langsam in meinem ganzen Körper aus. Sieben. Mir wird schlecht und ich fürchte, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Neun. Meine Fingernägel schleifen mechanisch über meinen Unterarm. Ich nehme die stereotype Bewegung meines Armes wahr, das schabende Geräusch meiner Nägel, die unablässig über meine Haut fahren und rote Striemen hinterlassen – bloß den Schmerz, den spüre ich nicht. Elf. Ich ziehe mit aller Kraft meine Hand zurück und balle sie zur Faust, vergrabe meine Fingernägel tief in meiner Handfläche. Dreizehn. Ein leises Pling ertönt. Die Aufzugskabine hält an und ich habe das Gefühl, als bliebe die ganze Welt stehen. Ich verspüre einen Schwindel und werde mir bewusst, dass ich bereits seit einigen Etagen die Luft anhalte. Gierig atme ich ein, sauge den dringend nötigen Sauerstoff in mich hinein, während sich die Aufzugtüren ruckelnd öffnen.

Ich stehe da wie festgewachsen, unschlüssig, was ich tun soll. Soll ich aussteigen oder einfach wieder nach unten fahren? Meine Hand zuckt kurz, bereit, auf die Taste mit dem verblichenen E für Erdgeschoss zu hämmern.

»Milena?«, ruft eine Stimme aus dem Flur.

Ich zucke zusammen. Papa wartet anscheinend schon an der geöffneten Wohnungstür, als könnte er es nicht länger aushalten bis zu unserem Wiedersehen. Mein Herz macht einen Hüpfer und das kleine Mädchen in mir drängt darauf, zu seinem Papa zu rennen und ihm in die Arme zu springen.

Die Türen vor mir setzen sich in Bewegung, doch ehe sie sich gänzlich schließen, schießt meine Hand vor. Ein Sensor erfasst die Bewegung und lässt die verbeulten Schiebetüren mit einem Ruck wieder auseinanderfahren.

Mit wackeligen Beinen trete ich aus der Kabine in den Hausflur, in dem es nach Grünkohl und Linsensuppe riecht – und nach Katzenpisse. Ich atme durch den Mund und lausche darauf, wie sich die Aufzugtüren hinter mir schließen. Nun gibt es kein Zurück mehr! Unschlüssig, ob ich mich nach links oder rechts wenden soll, bleibe ich an Ort und Stelle stehen.

»Papa?«, frage ich in die Stille hinein. Dieses kleine Wort fühlt sich derart fremd in meinem Mund an, dass ich es noch zweimal stumm vor mich hinsage.

»Milena, hier entlang!«, ruft der Mann, dessen Bezeichnung sich so fremd anfühlt, von rechts, also wende ich mich in die Richtung und folge seiner Stimme.

Irgendwie bin ich peinlich berührt, als ich den Kerl mit dem untersetzten Bierbauch und dem grau melierten Drei-Wochen-Bart erblicke, der da erwartungsvoll im Türrahmen steht und mir unbeholfen zuwinkt. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber dieser Mann da hat wenig mit dem gemeinsam, den ich früher Papa genannt habe. Er sieht irgendwie abgeranzt aus, verbraucht, wie ein schlecht gepflegter Oldtimer. Jetzt lächelt er mich breit an, doch das Lächeln reicht nicht bis zu seinen tief liegenden Augen. Ungeduldig tritt er von einem Bein aufs andere, aber es scheint weniger an einer nervösen Vorfreude zu liegen als an genervter Ungehaltenheit.

Ich lächele zaghaft zurück und zwinge meine Füße weiter vorwärts. Eigentlich würde ich mich gern über das Wiedersehen freuen, aber sein Erscheinungsbild und sein Auftreten wecken Zweifel in mir. Mellies Worte schießen mir durch den Kopf: ›Du weißt, wie er ist. Triff dich lieber nicht mit ihm, du wirst es nur bereuen!‹ Sie muss es wissen, denn sie hat Papa vor ein paar Jahren einmal getroffen. Danach war sie wochenlang derart geladen, dass sie sich für ein Anti-Aggressionstraining angemeldet hat, um ihre angestaute Wut loszuwerden. ›Fünfzehn Minuten auf dem heißen Stuhl sind angenehmer als eine Sekunde mit diesem Mann‹, hat sie danach gemeint. Was auch immer das bedeuten soll.

Mellie besucht ständig solche Kurse und Workshops und will mich regelmäßig zu irgendwelchen Yoga-Retreats, Selbstfindungswanderungen oder Freundschaftsbändchen-fürdas-innere-Kind-Knüpf-Events mitschleppen. ›Das würde dir auch mal guttun‹, behauptet sie dann immer mit ihrem passiv-aggressiv militanten Blick, den ich jedes Mal nur mit einem Augenrollen quittiere. Sie weiß genau, dass ich mit diesen übermotivierten, immer positiv denkenden Strahlemenschen nichts anfangen kann, die solche Workshops für gewöhnlich leiten. Ein einziges Mal habe ich sie zu einem Glücks-Training begleitet und wäre nach nur fünf Minuten am liebsten laut schreiend weggerannt, als der Coach mit dem übertriebenen Dauergrinsen verkündete: ›Stellt euch vor, das Glück wäre ein Muskel. Wir werden nun gemeinsam lernen, wie ihr diesen Muskel trainieren könnt und am Ende dieses Trainings seid ihr alle Glücksfit.‹ Das Einzige, was ich an diesem Tag trainiert habe, waren meine Gesichtsmuskeln, denn Nicht-Grinsen war absolut verpönt und wurde mit einem mahnenden ›Zeig uns dein Glücksgesicht!‹, vor versammelter Mannschaft sanktioniert.

Zwei Schritte vor meinem Papa – oder dem, was aus meinem Papa geworden ist – bleibe ich stehen und denke über Mellies Worte nach. ›Dieser Mann ist ein Glückssauger. Je länger du in seiner Nähe bist, desto mehr Glück saugt er dir ab. Wie ein Dementor.‹ Ich musste lachen, als sie das sagte, aber langsam frage ich mich, ob ich nicht besser auf sie gehört hätte.

Doch da greift mein Vater auch schon ungeduldig nach meinem Arm und zieht mich in seine Wohnung. »Nun komm schon rein, Milena, oder willst du hier draußen Wurzeln schlagen?«, fragt er lachend. Aber es ist kein echtes Lachen, er überspielt damit bloß seine Frustration wegen meines Verhaltens. Vermutlich wird ihm gerade bewusst, dass seine jüngere Tochter sich noch immer so merkwürdig benimmt. Die Enttäuschung, die in seinem Blick aufblitzt, versetzt mir einen Stich.

Doch meine Enttäuschung entgeht ihm, ebenso wie mein schmerzhaftes Aufkeuchen, weil er mich an meinem wundgekratzten Arm hinter sich herzieht. Als er mich endlich loslässt, wird mir klar, was für ein riesen Fehler es war, herzukommen. Hilflos drehe ich mich zur Wohnungstür um, die genau in diesem Moment vor meiner Nase ins Schloss fällt. Der Fluchtweg ist versperrt.

»Milena, wie geht’s dir denn? Mensch, nu’ komm doch mal her!«, sagt der Mann namens Papa und zieht mich in eine knappe, wenig einfühlsame Umarmung. Mein ganzer Körper verkrampft sich, während mich seine stämmigen Arme an den Bierbauch drücken.

Kurz darauf sitzen wir an seinem Küchentisch, auf dem noch das dreckige Geschirr vom Mittagessen steht und trinken dünnen Kaffee aus angeschlagenen Tassen. Da es mir überflüssig erscheint, ihn nach Soja- oder Hafermilch zu fragen, trinke ich meinen schwarz – oder eher transparentbraun. Ein unangenehmes Schweigen breitet sich zwischen uns aus, welches die Küchenuhr hinter mir mit ihrem hämischen Ticken noch unterstreicht. Ich überlege fieberhaft, was ich sagen könnte, doch mir fällt beim besten Willen kein unverfängliches Thema ein, über das wir uns mehr als wenige Wimpernschläge lang unterhalten könnten.

»Bist du gut hergekommen?«, fragt Papa, der offensichtlich bereits aufgegeben hat, ein solches Thema zu finden.

»Hm? Jaja, bin mit der U-Bahn gekommen. Ich musste nicht mal umsteigen, also kein Problem«, gebe ich nickend zurück.

»Fährst du immer noch kein Auto?«, fragt er verständnislos und verzieht das Gesicht. Natürlich muss er den Finger direkt in die Wunde legen.

Eine unangenehme Hitze kriecht mir über die Wangen und meine Finger zucken in Richtung meines Unterarmes, bereit, die dünne Haut zu zerkratzen. Wieder einmal setze ich mich auf die aufmüpfige Hand und räuspere mich. »Nein«, presse ich hervor und schiebe ein knappes Lächeln hinterher.

Er seufzt. »Ach, Lenchen. Du musst auch mal darüber hinwegkommen!«

Diese Aussage ruft unterschiedliche Gefühle in mir hervor. Einerseits rührt es mich, dass er seinen alten Kosenamen für mich benutzt. Aber der Rest seiner Bemerkung ist der reinste Schlag ins Gesicht. »Ich hab ein Trauma erlitten, das überwindet man nicht einfach so«, wende ich ein und wiederhole damit die Worte, die Dr. Buzcow mir viele hunderte Male vorgekaut hat, ehe ich sie selbst akzeptiert habe.

»Mensch, Milena. Das ist neun Jahre her!«, ruft er unbeherrscht und haut mit der Faust auf den Tisch.

Ich zucke zusammen und bemerke erst, dass ich wie wild meinen Arm kratze, als Papa einen angewiderten Blick darauf wirft.

»Herrje, Milena. Das kann doch nicht wahr sein! Wozu habe ich dich eigentlich immer zu dieser Therapeutin geschleift? Versteckst du dich etwa immer noch zuhause und zerkratzt dir die Arme? Ich dachte, du wärst mittlerweile erwachsen geworden.«

Krampfhaft ziehe ich meine Hand zurück und schiebe sie wieder unter den Hintern. Mit glühenden Wangen starre ich auf den Tisch und kämpfe gegen die Tränen an, die in mir aufsteigen wollen. Keinesfalls werde ich jetzt vor ihm losheulen. Als ich mich endlich wieder im Griff habe, hebe ich den Blick und mache meinem Unmut Luft. »Meine Therapie läuft sehr gut, ich habe große Fortschritte gemacht. Vielen Dank der Nachfrage. Wenn du es genau wissen willst, ging es mir hervorragend, bis zu deinem Anruf vor zwei Tagen. Leider hat mich das anstehende Treffen mit dir nach sieben Jahren Funkstille wohl etwas durcheinandergebracht.« Damit habe ich nun den Finger in seine Wunde gelegt und ihm hoffentlich den Wind aus den Segeln genommen.

Tatsächlich reibt sich Papa über den Nacken und verzieht schuldbewusst das Gesicht. »Schon gut, schon gut, Milena. Ich wollte dich nicht so anfahren.« Er tätschelt mir über den Tisch hinweg die Hand.

Danach macht sich wieder Stille breit. Ich lege mir gerade Worte zurecht, um mich schnell aus dem Staub zu machen, da wagt Papa einen neuen Versuch. »Und, Lenchen, womit verdienst du so dein Geld?« Er schiebt ein gepresstes Lächeln hinterher, doch die Art, wie er auf die Uhr hinter mir schielt, verrät mir, dass es ihn nicht wirklich interessiert.

Na fein, die nächste Tretmine. »Ich entwerfe Cover und Illustrationen für Bücher und Musikalben. Manchmal auch Logos oder Werbematerialien«, murmele ich. Er hatte nie viel übrig für meine groteske Schmiererei, wie er es nennt, und ist sicher nicht begeistert darüber, dass ich es mittlerweile hauptberuflich mache.

Er nickt und brummt etwas vor sich hin, das wie »schön, schön« klingt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er mir überhaupt richtig zugehört hat.

»Und wie verdient man dabei so? Ist doch bestimmt anständig, oder?«, fragt er weiter. Diesmal scheint er jedoch mit vollem Interesse bei der Sache zu sein.

Ich zucke mit den Schultern. »Na ja, ich zahle nebenbei noch den Kredit für mein Fernstudium ab, aber ich verdiene zumindest genug, um damit über die Runden zu kommen. Ich kann zwar keine großen Sprünge machen, aber ich komme zurecht und bin frei in dem, was ich tue. Ich –«

An der Stelle unterbricht er mich. »Jaja, hmm. Aber sag mal, meinst du, du könntest deinem alten Herrn vielleicht einen kleinen Kredit geben? Nicht viel, vielleicht so fünf- bis zehntausend?«

Ich starre ihn mit großen Augen an. Abgesehen davon, dass ich ganz sicher keine paar tausend Euro herumliegen habe, kann ich einfach nicht fassen, dass er mich so etwas tatsächlich fragt. Er will nur Geld von mir! Er wollte mich gar nicht wiedersehen oder an unserer Vater-Tochter-Beziehung arbeiten. Mellie hatte recht. Er interessiert sich überhaupt nicht für mich!

Für einen Moment tut diese Erkenntnis tief in meinem Herzen beschissen weh, doch dann kommt die Wut in mir hoch, zusammen mit den Tränen. Halb blind springe ich auf, wie von der Tarantel gestochen, und haue dabei mit dem Knie gegen das Tischbein. Meine Kaffeetasse kippt um und die ekelhafte Plörre ergießt sich über die Tischplatte.

»Mensch, Milena, pass doch auf! Was soll denn das, Herrgott nochmal?«, poltert der Mann, der sich gerade das Recht verspielt hat, sich Vater zu nennen, und wischt sich über das knittrige, mit Kaffeespritzern übersäte Hemd.

Ich überlege fiebrig, welche Erwiderung ich ihm an den Kopf knallen könnte, suche verzweifelt nach etwas, mit dem ich ihm wehtun kann, doch mir fällt nichts ein. Ich bin nicht Mellie, verbale Auseinandersetzungen sind nicht meine Stärke. Physische erst recht nicht, also versuche ich gar nicht erst, ihm eine reinzuhauen, obwohl die Vorstellung mehr als verlockend ist. Ich balle die rechte Hand zur Faust und bemerke dabei, dass ich schon die ganze Zeit meinen Arm kratze. Dunkelrote Striemen ziehen sich darüber. Bei ihrem Anblick beiße ich mir auf die Unterlippe. »Das ist alles nur deine Schuld!«, zische ich meinem Erzeuger entgegen. »Du Dementor!«

Er starrt mich verständnislos an, doch das ist mir egal.

Ich stürme um den Tisch herum zur Wohnungstür. »Ruf mich nie wieder an!«, keife ich, ehe ich die Tür aufreiße und schwungvoll hinter mir zuschlage.

Mit wild pochendem Herzen finde ich mich im Flur wieder und hechte zu den Aufzügen, betätige mit zitternden Fingern einen der Knöpfe und bete, dass mir der fiese Glückssauger nicht hinterherkommt. Doch dazu ist er vermutlich zu feige. Mein ganzer Körper bebt, während ich auf den Aufzug warte, und in meinem Hals wächst ein Kloß heran, der mich fast erstickt. Heiße Tränen laufen an meinen Wangen herab, doch ich wische sie wütend mit dem Handrücken weg. Ich ziehe mein Smartphone aus der Tasche. Ganze drei Anläufe brauche ich, ehe ich den Entsperrcode korrekt eingegeben habe. ›Scheiß auf den Penner!‹, tippe ich als Nachricht an Mellie und drücke auf Senden.

Obwohl ich höre, dass sich einer der Aufzüge bewegt, habe ich das Gefühl, schon ewig hier zu warten. Dabei will ich nichts außer so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Weg von diesem Scheißkerl in diesem Dünnschisshaus. Kurz überlege ich, die Treppen zu nehmen, doch ein einziger Schritt in Richtung Treppenhaus reicht, um diese Idee wieder zu verwerfen. Meine Beine sind wie Weingummi, wenn ich nur einen Fuß auf die oberste Treppenstufe setze, bin ich wahrscheinlich schneller unten, als mir lieb ist.

Also stehe ich ungeduldig da, konzentriere mich auf meine Atmung – einatmen – eins, zwei – ausatmen; einatmen – eins, zwei – ausatmen; einatmen – eins, zwei – ausatmen – bis endlich die Aufzugstüren aufgleiten. Ich stürme in die Kabine, drücke auf E wie Erdgeschoss und lasse mich gegen die kühle Rückwand fallen. Ich schließe die Augen und lausche dem rhythmischen Geräusch des hinabfahrenden Aufzuges. Erst als die Kabine innehält, öffne ich sie wieder. Etage Zehn, wie mir die Leuchtanzeige mitteilt.

Ich fluche leise, weil ich jetzt absolut keinen Bock habe, mit irgendeiner fremden Person hier in dieser winzigen Box eingesperrt zu sein. Andererseits bin ich lieber zehn Etagen lang mit jedem x-beliebigen Spinner in dieser Kajüte eingeschlossen, als nur eine einzige weitere Minute mit meinem Erzeuger in seiner Wohnung zu verbringen. Ich atme noch einmal tief durch, während sich die Türen des Aufzuges in Bewegung setzen, um mir den auserwählten Spinner zu präsentieren.

Kapitel 2

Rico

Voller Abscheu gleitet mein Blick durch die versiffte Wohnung. Die Fenster sind mit dunklen Tüchern verhangen und verweigern dem ohnehin dürftigen Sonnenlicht das Eindringen in dieses dreckige Loch. Dumm nur, dass ich über eine hervorragende Nachtsicht verfüge, sonst bliebe mir wenigstens der Anblick des schlimmsten Dreckes erspart. Überall liegen schmutzige Klamotten verteilt, Müll stapelt sich auf jeder Ablagefläche und es stinkt, als hätte hier seit Monaten niemand mehr gelüftet – und als wäre vor geraumer Zeit ein Tier unter der Couch verreckt. Genau genommen sieht die Couch selbst aus wie ein verendetes Tier. Sie ist so fleckig und pelzig, dass ich lieber stehen bleibe.

»Also, was ist?«, frage ich und wende mich Sneaky G zu, der wie ein Häufchen Elend auf diesem ranzigen Sofa kauert und sich immer wieder nervös mit den Händen durch das bleiche Gesicht fährt. Er nennt sich selbst Snaky G. Er hat jedoch mehr von einem Kriecher als von einer Schlange, darum heißt er für mich Sneaky G.

»Mann, wenn ich es dir doch sage, ich hab nichts gemacht. Ich hab kein Zeug vertickt, das kannst du mir glauben, Bruder«, plärrt er mit seiner weinerlichen Stimme.

Ich verziehe angewidert das Gesicht. Nichts hasse ich mehr, als von Abschaum wie diesem Bruder genannt zu werden. Bei der bloßen Vorstellung, mit diesem kleinen Wichser verwandt zu sein, würde ich am liebsten kotzen – wenn ich es denn noch könnte.

Ich fixiere ihn mit meinem Blick, was ihn dazu veranlasst, unruhig auf dem Sofa herumzurutschen. Er versucht, mir standzuhalten, aber seine umschatteten Augen zucken unkontrolliert umher. Der Schwanz des Schlangentattoos, das sich über eine seiner Schläfen erstreckt, windet sich dabei hin und her.

»Ich weiß, dass du auf Schlangenblut bist und dass irgendjemand das Zeug an ein paar Leute im Krovi vertickt hat. Und stell dir vor, das Scheißzeug war gestreckt. Soll ich dir verraten, was mit denen passiert ist, die sich diesen Dreck reingezogen haben? Die sind ausgerastet, in einen totalen Blutrausch verfallen – mitten im Krovi. Eines von Wladimirs Blutmädchen ist dabei fast hopsgegangen. Ihr wurde die Kehle zerfetzt. Das hat Wlad gar nicht gefallen, das kann ich dir sagen. Und ich sage dir noch was: Ich glaube, dass du hinter dem gestreckten Zeug steckst!«, blaffe ich den wimmernden Junkie an.

Sneaky drückt sich immer tiefer in die siffige Couch und windet sich hin und her. Beinahe wie eine Schlange, aber eher wie ein mickriger Wurm. Dann hebt er beschwichtigend die Hände. »Ey, Rico, komm schon. Klar nehme ich Schlangenblut, das ist doch nicht verboten. Ich brauch das, Mann. Aber ich schwöre, ich habe das Zeug weder gestreckt noch vertickt. Echt nicht.« Er streckt mir die gefalteten Hände entgegen, als würde er mich anbeten.

Ich hasse diesen Kerl wie die Pest. Ich hasse diese Wohnung. Ich hasse diesen Auftrag. Ich hasse all das hier. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und fluche. Es ist spät, ich sollte schon längst wieder bei Lugh sein. Normalerweise wäre ich erst nachts hergekommen, aber da der Tag eh wolkenverhangen war, wollte ich es schnell hinter mich bringen. Doch jetzt drängt die Zeit und ich muss zusehen, rechtzeitig bei Lugh anzukommen, bevor der Durst sich bemerkbar macht.

Ich baue mich drohend vor Sneaky auf. »Pass auf, ich gebe dir eine letzte Chance. Aber sollte so etwas noch einmal vorkommen und ich habe nur den leisesten Verdacht, dass du dahintersteckst, dann verrate ich Wladimir deinen Namen und deine Adresse. Dann schickt er seine Leute her und die werden keine Fragen stellen. Und weder ich noch Lugh werden sie aufhalten, wenn sie dir einen Holzpflock in deinen schlangenblutverseuchten Körper jagen. Hast du das kapiert?«, knurre ich.

Sneaky zittert jetzt und seine Augen sind so groß wie Untertassen, seine vom Rausch geweiteten Pupillen verstärken diesen Eindruck noch. »Hey Bruder, das wirst du doch nicht wirklich machen, oder? Weil ich war’s echt nicht und –«, beginnt die Made zu stammeln.

»Hast du mich verstanden?«, brülle ich, um sein erbärmliches Gewimmer abzuwürgen.

Sneaky nickt hektisch.

Ich nicke ebenfalls und wende mich von dem kriecherischen Junkie ab. An der Wohnungstür angekommen, halte ich noch einmal inne und drehe mich zu ihm um. »Und nenn mich nie wiede wieder Bruder«, knurre ich und schlage die Tür hinter mir zu.

Wenn mich eines an diesem Job ankotzt, dann ist es der Umgang mit Abschaum wie Sneaky G. Ein kleiner Junkie, der Probleme verursacht, die wir einfach nicht gebrauchen können. Ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich hinter dem gestreckten Schlangenblut steckt. Eigentlich traue ich ihm so viel Gewieftheit gar nicht zu. Der Pisser würde sich eher einscheißen, als so etwas durchzuziehen. Aber vielleicht hat ihn jemand in die Sache reingezogen. Ich sollte ihn jedenfalls im Auge behalten, bevor uns die ganze Scheiße um die Ohren fliegt. In Gedanken versunken haste ich den Flur entlang, auf die Tür zum Treppenhaus zu, da öffnet sich direkt neben mir einer der Aufzüge. Was auch immer mich in diesem Augenblick antreibt, es lässt mich abbiegen und in den Fahrstuhl steigen.

Erst als die Türen sich schließen, bemerke ich, dass die Kabine nicht leer ist. Ach, fuck! In der hinteren Ecke steht eine junge Frau, die sich so dicht an die Wand drängt, dass sie beinahe mit ihr verschmilzt. Ich erwäge, auf der nächsten Etage direkt wieder auszusteigen, aber da mich die Frau ohnehin keines Blickes würdigt, kann mir ihre Anwesenheit auch egal sein. Also ignoriere ich sie ebenfalls und starre auf die Leuchtanzeige, wie um sie zu zwingen, die Etagen schneller vorbeiziehen zu lassen. Neun, acht, sieben, sechs – plötzlich erschüttert ein Ruck die kleine Kabine und sie kommt schwankend zum Stehen.

Ungläubig gaffe ich auf die Anzeige, auf der nur noch eine halbe Sechs zu sehen ist und der obere Strich einer Fünf. Das darf doch nicht wahr sein! Ich werfe einen kurzen Blick auf die Frau in ihrer Ecke, die nun ebenfalls panisch die Leuchtanzeige fixiert. Der Geruch von Angstschweiß erfüllt den engen Raum und ich höre überdeutlich, wie ihr Puls in die Höhe schnellt. »Keine Sorge, es geht bestimmt gleich weiter«, sage ich bemüht locker, weil ich es jetzt echt nicht gebrauchen kann, dass sie einen hysterischen Anfall bekommt.

Sie zeigt keine Regung auf meine Worte, ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mich überhaupt gehört hat.

Ein Blick auf meine Armbanduhr lässt mich innerlich fluchen. Noch dreizehn Minuten bis Sonnenuntergang und damit bis zum Erwachen meiner dunklen Triebe. Kein günstiger Zeitpunkt, um mit einer blutjungen Frau in einer Zelle wie dieser festzustecken – weder für sie noch für mich.

Ich wippe ein wenig mit den Beinen und übe leichten Druck auf den Boden der Kabine aus, in der Hoffnung, dass sie sich dadurch wieder in Bewegung setzt. Aber alles, was ich damit erreiche, ist, dass sie zu Wanken beginnt und die Frau sich panisch an die Wände klammert. Noch mehr Angstschweiß steigt mir in die Nase und ihr Puls rast wie verrückt.

»’tschuldigung«, murmele ich in ihre Richtung.

Ich könnte diese Kabine mit bloßen Händen zerlegen, aber dann war’s das mit unauffällig. Ich muss versuchen, hier herauszukommen, ohne Aufsehen zu erregen. Ich drücke ein paar Knöpfe auf dem Bedienfeld des Aufzuges. Tür öffnen, E – nichts geschieht. Ein weiterer hektischer Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch etwa elf Minuten habe. Verfluchter Drecksscheiß!

Ich presse beide Hände gegen die Aufzugtüren, um sie aufzustemmen. Dabei wende ich nur so geringe Kraft an, wie sie ein Mensch aufbringen könnte. Doch ich merke schnell, dass ich mit einem Kraftaufwand menschlichen Ausmaßes rein gar nichts ausrichten kann. Sollte ich es wagen, meine vollen Kraftreserven anzuzapfen? Aber wie soll ich das später erklären? Lugh würde das jedenfalls gar nicht gefallen. Aber es würde ihm noch weniger gefallen, wenn ich mich auf eine unschuldige Frau im Fahrstuhl stürze, weil mich der Durst überkommt. Okay, das ist vielleicht etwas übertrieben; es ist ja nicht so, dass ich mich überhaupt nicht im Griff hätte. Trotzdem wäre ich lieber weit weg von dieser Frau, wenn die Gier sich regt. Während ich noch überlege, tritt sie vorsichtig an mich heran und drückt einen kleinen roten Knopf auf dem Aufzugbedienfeld. Den Notfallknopf.

Ich stöhne innerlich auf. Ich hätte es gern vermieden, noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber vielleicht kommen wir so wenigstens schnell hier raus.

Ein Knacken ertönt. »Hallo, Sie befinden sich in einer akuten Notlage?«, fragt eine freundliche, weibliche Stimme durch den Lautsprecher.

»Ja, ähm, hallo. Wir stecken im Fahrstuhl fest«, sagt die junge Frau neben mir etwas unbeholfen. Ihre Stimme klingt belegt und irgendwie rau. Sie verströmt einen fruchtigsüßen Geruch, gemischt mit Angstschweiß – verlockend. Hastig trete ich einen Schritt von ihr fort.

»In Ordnung, bitte bewahren Sie Ruhe und haben Sie etwas Geduld. Ihr genauer Standort wurde mir bereits übermittelt und ich schicke schnellstmöglich einen Techniker zu ihnen. Können Sie mir sagen, auf welcher Etage sie feststecken?«, fragt die Stimme aus der Anlage. Sie redet so unbefangen und heiter, als würde sie unsere Essensbestellung aufnehmen.

»Zwischen der fünften und sechsten, wenn die Anzeige stimmt«, antwortet die Frau neben mir.

»Befinden sich noch weitere Personen bei Ihnen?« Knister, knister.

»Ähm, ja, ein Mann ist bei mir«, erwidert meine Leidensgenossin und wirft mir einen flüchtigen Blick zu. So wie sie es ausspricht, klingt es eher danach, als wäre ein Monster bei ihr – was ja gar nicht mal so verkehrt ist.

In dem Moment, in dem sie mir ihr Gesicht zuwendet, fällt mir auf, wie blass sie ist. Getrocknete Tränenspuren ziehen sich über ihre Wangen, Augen und Nase sind leicht gerötet. Sie ist auf eine unaufdringliche und natürliche Weise schön, auch wenn sie mich an ein verschrecktes Reh erinnert. Ihre rotbraunen Haare sind nachlässig zu einem unordentlichen Knoten an ihrem Hinterkopf gebunden. Mit ihren verwaschenen Jeans und dem schlichten schwarzen Top könnte man sie als unscheinbar bezeichnen, doch irgendetwas an ihrer Ausstrahlung verrät mir, dass es sich hier um eines der sagenumwobenen stillen Wasser handelt. Und die sind bekanntermaßen tief. Ich sollte mich jedenfalls davor hüten, darin baden zu gehen.

»Befindet sich einer von Ihnen in einer medizinischen Notlage? Benötigen Sie ärztliche Versorgung?«, fragt die Unbekannte aus der Sprechanlage.

Die stille Rehfrau schaut mich abermals an. Diesmal ruht ihr Blick länger auf mir, eine Augenbraue ist hochgezogen und eine stumme Frage liegt auf ihren geschwungenen Lippen. Es dauert eine Weile, bis mir aufgeht, dass sie eine Reaktion von mir erwartet. Ich räuspere mich und schüttele den Kopf.

Sie wendet ihren Blick rasch von mir ab. »Nein, es gibt keinen medizinischen Notfall«, spricht sie in Richtung der Sprechanlage.

»In Ordnung. Ich habe jemanden losgeschickt, der sie innerhalb der nächsten dreißig Minuten befreit. Bewahren Sie bitte weiterhin Ruhe und unterlassen Sie jeglichen Versuch, sich eigenständig aus dem Fahrstuhl zu befreien. Warten Sie auf den Techniker! Sollten Sie doch medizinische Hilfe benötigen oder sich etwas an Ihrer Lage ändern, zögern Sie nicht, erneut den Notfallknopf zu drücken«, leiert die Notfalltante herunter.

Dreißig Minuten?!

»Okay«, erwidert das Reh.

Das ist ganz und gar nicht okay! Ich habe gerade einmal acht Minuten, bis jede Zelle in mir nach Blut verlangt.