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Cathy Williams

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Beschreibung

Plötzlich ist in Raoul Sinclairs Leben nichts mehr, wie es war: Rein zufällig trifft er auf Sarah, die Frau, die er einen Sommer lang innig liebte - und dann um seiner Karriere willen fallenließ. Schön wie damals sitzt sie nun vor ihm und gesteht, dass ihr Glück nicht ohne Folgen geblieben ist. Raoul ist Vater eines vierjährigen Sohnes! Der Selfmade-Millionär steht am Scheideweg: Will er dem Kleinen nahe sein, ist auch Sarah wieder Teil seines Lebens. Und was wird dieses Mal siegen - seine Sehnsucht nach ihr oder die Angst vor dem Wagnis der Liebe?

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Seitenzahl: 198

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Cathy Williams

Nach all diesen Jahren ...

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2012 by Cathy Williams Originaltitel: „The Secret Sinclair“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 2077 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Marietta Schröder

Fotos: RJB Photo Library

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-530-9

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY, STURM DER LIEBE

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PROLOG

So vorsichtig wie möglich drehte sich Raoul um und stützte sich auf den Ellbogen. Intensiv musterte er die Frau, die friedlich neben ihm schlief. Im Zimmer herrschte drückende Schwüle. Das Fenster stand offen, und auf der Kommode surrte ein Ventilator, aber das half trotzdem nicht gegen die feuchte Hitze der afrikanischen Nacht. Das Moskitonetz bot nur ungenügend Schutz vor den kleinen Blutsaugern. Einer dieser Plagegeister landete auf seinem Arm. Raoul zerquetschte ihn und setzte sich auf.

Sarah öffnete schlaftrunken die Augen. Sie lächelte ihn an. Wie unglaublich schön er ist! Nie hätte sie gedacht, dass dieses Wort auf einen Mann zutreffen könnte – aber bei Raoul Sinclair fiel ihr einfach kein anderes ein. Ein Blick hatte genügt, und es hatte ihr buchstäblich die Sprache verschlagen. Das war vor drei Monaten gewesen – und noch immer war sie seinem Zauber erlegen.

Er überragte alle anderen, die hier ein freiwilliges soziales Jahr absolvierten, mindestens um einen Kopf. Das erklärte jedoch noch nicht seine Faszination. Es war seine exotische Schönheit: die samtene, bronzene Haut, das rabenschwarze Haar, das ihm bis zur Schulter reichte und sein durchtrainierter, muskulöser Körper. Raoul strahlte eine gewisse, nicht genau zu definierende Macht und Präsenz aus. Obwohl nur ein paar Jahre älter als die anderen, lagen doch Welten zwischen ihnen – er war ein „Mann“.

Sarah ließ die Hand zärtlich über seinen Rücken gleiten.

„Dieses Netz ist absolut nutzlos“, meinte er lakonisch. „Die Moskitos fressen einen bei lebendigem Leib. Aber … wenn wir schon mal wach sind …“ Beim Anblick von Sarahs honigfarbener Haut und ihren vollen, weichen Brüsten regte sich sein Begehren erneut. Dabei hatten sie erst vor ein paar Stunden miteinander geschlafen.

Mit einem glücklichen Seufzen legte sie die Arme um seinen Nacken und zog ihn an sich.

Raoul hatte sie erweckt! Sie war noch Jungfrau gewesen, und als sie sich ihm hingegeben hatte, hatte jede seiner Berührungen neue, unbekannte und tiefe Empfindungen in ihr hervorgerufen. Ihr Körper erblühte förmlich unter seinen Händen.

Raoul schlug das dünne Laken zurück und genoss den Anblick ihres wundervollen weiblichen Körpers. Das sind die schönsten Brüste auf der ganzen Welt, dachte er. Leises Bedauern schlich sich in sein Herz. Diesen Busen werde ich vermissen. Obwohl – so stimmt das nicht ganz, gestand er sich ein. Ich werde sie vermissen!

Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte geplant, drei Monate in Mosambik zu arbeiten, bevor er sich für den Rest seines Lebens ins Arbeitsleben stürzte. Die Universität lag hinter ihm, und er hatte zwei hart erarbeitete Diplome in der Tasche: eins in Wirtschaftswissenschaften und eins in Mathematik. Bevor er die Welt eroberte, wollte er noch etwas Uneigennütziges tun und anderen helfen. Menschen, die – ebenso wie er – einen schweren Schicksalsschlag erlitten hatten, wenn auch unter ganz anderen Lebensunterständen.

Mit einer Frau Hals über Kopf ins Bett zu gehen, gehörte nicht zu diesem Plan.

Und von Sarah Scott hätte er niemals gedacht, dass sie seine eiserne Kontrolle erschüttern könnte. Mit dem ungebändigten blonden Haar und ihrer unschuldigen Ausstrahlung passte sie nicht in sein Beuteschema. Er bevorzugte erfahrene Frauen. Frauen, die einer kurzen und leidenschaftlichen Affäre nicht abgeneigt waren. Man begegnete sich, hatte Spaß miteinander, und dann trennte man sich ohne Bedauern. Frauen, die nichts von ihm erwarteten.

Ein Blick auf Sarah hatte jedoch genügt, um festzustellen, dass sie absolut nicht zu diesem Typ Frau gehörte. Allerdings hielt Raoul das nicht ab. Zwei Wochen lang hatte er sie unauffällig beobachtet und bemerkt, dass auch ihr Interesse geweckt war. Angesichts der besonderen Umstände, die sie zusammengeführt hatten – sie waren immerhin in einem exotischen Land –, dauerte es nur noch eine weitere Woche, bis er der Versuchung erlag.

Es zählte nur noch das Hier und Jetzt. Sie begehrten einander und lebten ihre Leidenschaft aus. Behutsam, zärtlich – und leise. Die Wände der Hütte, die sie sich zu sechst teilten, waren dünn wie Papier, und die Holzdielen reagierten auf jede Bewegung mit lautem Knarren.

„Sag mir, wie weit ich gehen kann, bevor du ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken kannst!“, bat Raoul.

„Sag so was nicht“, prustete Sarah los. „Du weißt genau, wie schwierig …“

„Genau das liebe ich an dir. Eine Berührung genügt, und du bist Wachs in meinen Händen.“ Wie zum Beweis zog er mit dem Finger zart eine Linie von ihren Brüsten über den Bauch zu ihren Schenkeln, bis sie sich unter der Berührung wand und die Hände in seinem Haar vergrub.

Jetzt folgte er mit den Lippen der Spur seiner Finger. Dabei bedeckte er ihren Mund mit der Hand und lächelte. Wie schwer es ihr fällt, nicht laut aufzustöhnen, dachte er.

Nur einige wenige Male konnten sie den alten, verbeulten Landrover nehmen und zum Strand fahren, wo sie sich eine geschützte Stelle suchten und sich ungestört lieben. Normalerweise fanden sie bei all der Arbeit keine Gelegenheit dazu und waren zu einem Liebesspiel gezwungen, das einem stark ritualisierten, hoch komplizierten Tanz ähnelte. Aber gerade das hatte seinen eigenen Reiz.

Sarah öffnete die Augen. Sie wollte, sie musste Raoul sehen. Seine tiefbraune Haut neben ihrer so viel helleren, das Spiel seiner Muskeln bei jeder seiner Bewegungen. Er wirkte stark, wild und doch so geschmeidig wie eine Raubkatze.

Das silberne Licht des vollen Mondes schien ins Zimmer und ließ alle Konturen deutlich hervortreten. Sie ließ die Augen nicht von Raouls markanten Zügen, während er mit den Lippen ihren Körper liebkoste.

Manchmal fühlte sie sich wie im Himmel. Noch immer ergriff sie ehrfürchtiges Staunen, diesem Mann begegnet zu sein und dieses Glück erleben zu dürfen. Das Schicksal musste es so für sie vorherbestimmt haben … sie hatte sich für diesen Mann bewahrt. Und er kam, sah … und eroberte ihr Herz.

Als sein Drängen fordernder, der gemeinsame Rhythmus ihrer Körper stärker wurde, gab es keinen Raum mehr für Gedanken. Selbst die beunruhigenden Gedanken der letzten Tage verflogen. Es gab nur noch sie beide. Sie wurden eins. Die Woge der Erregung trug sie höher und höher. Sie schlang die Beine um seine Hüften, klammerte sich an ihn. Die Welle erreichte ihren höchsten Gipfel. Sarah unterdrückte einen Schrei. Ihr Körper bebte … und die Welt explodierte.

Nach und nach wurde ihr Atem ruhiger, und sie nahm ihre Umgebung wieder wahr. Sie sah Raouls gepackte Koffer, die wie zwei Wächter neben dem altmodischen Kleiderschrank standen. Plötzlich kehrten die nagenden Zweifel mit voller Macht zurück.

Raoul barg seinen Kopf an ihrem Hals, und sein Körper entspannte sich. Dann stemmte er sich hoch und legte sich neben sie. Er umarmte sie und zog sie an sich. Einen Moment herrschte absolute Stille. Wie lange es wohl dauert, bis die Moskitos feststellen, dass es jetzt einen viel größeren Landeplatz gibt, überlegte er angenehm schläfrig, während er unter halb geschlossenen Lidern das zerwühlte Laken und das weit geöffnete Moskitonetz betrachtete.

„Ich … ich muss mit dir reden“, sagte Sarah leise.

Alles in ihm erstarrte. Seiner Erfahrung nach war dies der Auftakt zu einem Gespräch, das er absolut nicht führen wollte.

„Ich merke schon, dass du nicht gerade begeistert bist. Trotzdem müssen wir etwas klären. Ich meine … deine Koffer sind gepackt. Du reist in zwei Tagen ab! Und … und was wird dann aus uns?“

Raoul legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Diese Frage hatte ja kommen müssen! Bis jetzt hatte er den Gedanken an diesen Moment jedoch erfolgreich verdrängt. Immerhin hatte Sarah ihn derart gefesselt, dass er auf sein übliches Sprüchlein – keine Beziehung, keine Verpflichtung – verzichtet hatte. Jedes Mal, wenn er in diese smaragdgrünen Augen blickte, erstarben ihm die Worte im Mund.

Unwillig drehte er sich auf die Seite und sah Sarah an. Ihr honigblondes Haar umrahmte in einem wilden Lockenkranz ihr Gesicht, und er strich ihr behutsam eine Strähne aus der Stirn.

„Ich weiß nicht.“ Er seufzte.

„Du weißt es nicht …“

Seine Worte wirkten wie eine eiskalte Dusche auf Sarah. Aber tapfer beschloss sie nachzuhaken. Sie hatte keine andere Wahl. Es konnte nicht sein, dass mit Raouls Abreise plötzlich alles zu Ende sein sollte. Sie hatten in der kurzen Zeit so viel gemeinsam unternommen. Mehr als manches Paar in einem ganzen Leben. Sie weigerte sich zu akzeptieren, dass das alles in zwei Tagen nichts mehr gelten sollte.

„Als ich hierherkam, hatte ich nicht vor, eine Beziehung anzufangen“, gestand Raoul widerstrebend. Zum ersten Mal verließ ihn seine gewohnte Nonchalance. Er war es einfach nicht gewohnt, über Gefühle zu sprechen. Mit niemandem. Zumindest hatte er es noch nie getan. Er hielt sich für absolut unfähig dazu. Aber jetzt sah Sarah ihn an, mit diesen großen unschuldigen Kinderaugen … und wartete auf eine Antwort.

„Ich doch auch nicht! Ich wollte einfach nur noch etwas erleben, etwas Sinnvolles tun, bevor ich anfange zu studieren. Das weißt du doch! Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich nicht vorhatte …“ Sie brach abrupt ab. Beinahe hätte sie gesagt: Dass ich nicht vorhatte, mich zu verlieben. Aber eine warnende Stimme hielt sie zurück. Raoul hatte ihr nie gesagt, dass er sie liebte. Das schloss sie einfach aus seinen Gesten und der Art, wie er sie ansah. Wie er mit ihr lachte, wenn sie etwas Lustiges sagte oder ihn aufzog. „Ich meine, dass ich im Traum nicht daran gedacht habe, hier jemanden kennenzulernen. Unverhofft kommt eben oft, wie man so schön sagt.“

Vielleicht, dachte Raoul skeptisch. Aber nicht in meinem Leben. Hinter ihm lag eine Kindheit, die ausschließlich aus unverhofft eingetretenen Ereignissen bestand – und eins davon schlimmer als das andere. Hätte er eine Liste erstellen müssen, was es absolut zu vermeiden gab, würde der Punkt „Das Unerwartete“ diese anführen. In einem jedoch musste er Sarah recht geben: Ihre Begegnung wirkte wirklich wie eine Fügung des Schicksals. Er nahm sie in die Arme und suchte nach den richtigen Worten. Wie konnte er ihr verständlich machen – ohne sie zu verletzen –, dass jetzt jeder sein eigenes Leben leben musste?

„Ich hätte es nicht tun sollen, Sarah.“

„Was hättest du nicht tun sollen?“

„Du weißt schon … mich auf dich einlassen.“

„Wie kannst du so etwas sagen! Das klingt, als ob alles ein riesengroßer Fehler war. Wir hatten doch so viel Spaß!“ Ihre Stimme klang verzagt.

Raoul nahm ihre Hand und küsste die Fingerspitzen – Finger für Finger, bis sich wieder dieses strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht zeigte, das ihn sofort angezogen hatte.

„Natürlich hatten wir viel Spaß.“ Er holte tief Luft, denn er wusste, dass er ihr gleich sehr wehtun würde. „Aber dies hier, das ist nicht die Realität! Es ist eine Ausnahmesituation. Das hast du doch selbst gesagt. Jetzt müssen wir ins wirkliche Leben zurückkehren. Auf dich wartet die Universität und auf mich …“ Er zögerte. Eigentlich hätte er sagen müssen: Auf mich wartet die ganze Welt. „… ein Job“, fuhr er fort. „Ich hatte so gehofft, dass uns dieses Gespräch erspart bleibt. Ich wünschte, du könntest die Situation sehen wie ich. Die Zeit zusammen war toll, aber es ist eben eine Urlaubsaffäre.“

„Eine Urlaubsaffäre?“ Sarahs Stimme klang ganz klein.

Seufzend fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. Diese Mähne muss ab, sobald ich wieder in der Zivilisation bin, dachte er.

„Bitte, Sarah. Das klingt ja, als ob ich ein Monster wäre. Ich gebe zu, die Zeit mit dir war einfach unglaublich. Es waren die schönsten drei Monate in meinem ganzen Leben.“ Er brach ab. Normalerweise sprach er nicht über seine Vergangenheit. Schon gar nicht mit einer Frau. Aber jetzt verspürte er einen unwiderstehlichen Impuls weiterzureden. „Du hast Gefühle in mir ausgelöst … unglaubliche Gefühle. Aber das weißt du sicherlich.“

„Woher denn? Du hast ja nie darüber geredet?“ Trotzdem weckten seine Worte eine leise Hoffnung in ihr.

„Ich … ich bin einfach nicht gut in … in Situationen wie dieser, wo es um hochdramatische Gefühle geht. Ich hatte genug Dramen in meinem Leben …“

„Was meinst du damit?“ Sarah kannte gerade mal ein paar Eckdaten aus seinem Leben. Er hingegen wusste alles über ihres. Sie hatte ihm ihre Kindheit in den buntesten Farben geschildert – ihre selbstverständlich „glückliche“ Kindheit. Ihre Eltern hatten die Hoffnung auf Kinder schon aufgegeben, als ihre Mutter doch noch schwanger wurde – mit einundvierzig.

Raoul hingegen bemühte sich, das Thema Kindheit völlig zu vermeiden. Er beschränkte sich auf die Mitteilung, dass er keine Eltern hatte. Ansonsten sprach er ausschließlich über die Zukunft – was ihr sehr entgegenkam, so wie sich die Geschichte zwischen ihnen entwickelte. Auch wenn sie zugeben musste, dass ihr Name im Zusammenhang mit diesen Zukunftsplänen nie fiel. Aber sie hegte die Hoffnung, an seiner Seite zu sein. Egal wo.

„Ich bin in einem Pflegeheim aufgewachsen. Ich bin eines dieser Kinder, von denen man immer in der Zeitung liest. Kinder, die man ihren Eltern wegnimmt, weil diese sich nicht um sie kümmern.“

Abrupt setzte Sarah sich auf. Sprachlos starrte sie ihn an. Seine Worte taten ihr weh, und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

„War denn keiner der beiden in der Lage, sich um dich zu kümmern?

„Es gab nur einen beziehungsweise eine. Meine Mutter.“ Es lag nicht in seinem Naturell, seine Seele zu offenbaren, darum bemühte er sich, betont sachlich zu sein. Er hatte schon früh im Leben gelernt, seine Gefühle nicht zu verraten, auch nicht durch die Stimme. „Unglücklicherweise hatte sie ein kleines Suchtproblem. Das brachte sie um, als ich fünf war. Mein Vater? Keine Ahnung, wer das ist. Irgendein Typ eben.“

„Oh, mein Gott! Du Armer!“

„Ich betrachte meine Kindheit einfach als ‚Härtetest‘. Letztlich hatte ich noch Glück. Das Pflegeheim war gar nicht so übel. Jetzt habe ich den Faden verloren.“ Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Kurzzeitig war ihm tatsächlich entfallen, was er eigentlich sagen wollte. „Ich möchte keine Beziehung. Nicht jetzt – wahrscheinlich nie. Ich wollte dir wirklich nichts vormachen, Sarah. Irgendwie … ist mir die Situation entglitten. Ich fühlte mich einfach zu stark zu dir hingezogen. Und all das hier hat nun wirklich nicht dazu beigetragen, mich wieder zur Vernunft zu bringen.“

„Was meinst du damit?“

„Dieses Land, die Hitze … die engen Wohnverhältnisse.“

„Soll das heißen, an jedem anderen Ort der Welt wäre nichts zwischen uns passiert?“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme schrill.

„Das ist jetzt wirklich eine sehr hypothetische Frage.“

„Du könntest trotzdem versuchen, sie zu beantworten.“

„Ich weiß es einfach nicht!“ Er konnte ihren Schmerz förmlich fühlen. Aber was sollte er tun? Versprechen geben, die er doch nicht halten würde? Was für eine verfahrene Situation! Warum habe ich es nur so weit kommen lassen? fragte er sich ärgerlich. Sarah war nicht die Frau, die sich auf ein flüchtiges Abenteuer einließ. Und wo war eigentlich seine berühmte Selbstbeherrschung? Auf und davon – sozusagen. Ein Blick hatte genügt, um ihn um den Verstand zu bringen.

Und die Entdeckung, dass sie noch Jungfrau war! Hatte die ihn etwa gebremst? Im Gegenteil. Ein eigenartiges Glücksgefühl hatte ihn bei dem Gedanken überkommen. Am liebsten hätte er sein Glück von den Dächern der Stadt gerufen. Sehenden Auges hatte er sich in eine Romanze gestürzt, was er sonst aufs Äußerste verurteilte. Die üblichen Aufmerksamkeiten wie Pralinen und Schmuck konnte er Sarah unter den Umständen zwar nicht bieten – und hätte sie sich auch nicht leisten können –, aber sie führten lange Gespräche und teilten denselben Humor. Einmal hatte er sogar für sie gekocht, als der Rest des Teams ein Wochenende am Strand verbracht hatte.

„Du weißt es nicht?“, fragte Sarah ungläubig. „Bin ich vielleicht nicht dein Typ?“

Raoul zögerte mit der Antwort – offensichtlich zu lange.

„Das ist es also!“ Sie schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte unter dem Moskitonetz hervor.

„Wo willst du denn hin?“

„Ich habe genug von diesem Gespräch.“ Sie suchte ihre Sachen zusammen und zog sich hastig an. Ein altes T-Shirt, Jeansshorts und Flip-Flops – fertig. „Ich brauche frische Luft.“

Einen kurzen Moment rang Raoul mit sich, ob er ihr nachgehen sollte. Dann sprang er aus dem Bett, schlüpfte in die Jeans und rannte zur Tür.

Das Schlafzimmer war klein und eng, und in seiner Eile stolperte er über seine Schuhe. Er fluchte leise vor sich hin. Was tue ich da nur? fragte er sich. Warum gehe ich ihr nach? Zu dem Thema war doch alles gesagt. Er würde die Quälerei nur noch verlängern. Aber nachdem sie so Hals über Kopf den Raum verlassen hatte, handelte er instinktiv.

Ihr Quartier bestand aus einem quadratischen Betonbungalow, zu dem eine lange Treppe hinaufführte. Letztere sollte das Haus vor einer Überschwemmung schützen, wenn ein Zyklon wütete.

Raoul holte Sarah auf der untersten Stufe ein. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stemmte die Arme in die Seiten. „Also? Was ist denn dann dein Typ?“

„Mein Typ?“

„Die Frauen, auf die du normalerweise stehst!“

„Das spielt doch jetzt keine Rolle.“

„Für mich schon!“ Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihm ins Gesicht. Warum sie sich so an diesem Detail festbiss, hätte sie selbst nicht sagen können. Er hatte ja recht. Im Grunde war es egal, ob er auf große Schwarzhaarige oder kleine Blonde stand. Er machte Schluss! Schrieb sie ab! Warf sie weg wie ein altes Paar Schuhe! Dabei war er ihr Ein und Alles! Wie soll ich ohne ihn weiterleben? Das geht doch gar nicht! Der Gedanke daran, morgens ohne ihn aufzuwachen, war einfach unvorstellbar.

„Beruhige dich doch bitte!“ Raoul strich sich die Haare zurück. Die Hitze war einfach unerträglich. Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

„Ich bin ruhig!“ Sarahs Stimme klang plötzlich eine Oktave höher als sonst. „Ich hätte nur gern gewusst: Wie ist es eigentlich, jemanden drei Monate lang auszunutzen? Hat es Spaß gemacht?“

Sie drehte sich um und strebte dem Dorfplatz zu. Dort standen die in einem Kreis angeordneten Hütten, in denen die Klassenräume untergebracht waren. Zwanzig Kinder kamen täglich zum Unterricht. Raoul hatte mit der Schule nichts zu tun. Er war einer der Helfer, die schwere körperliche Arbeiten verrichteten. Es gab weitere Hütten zu bauen, Felder zu bestellen und die Ernte einzubringen.

„Hast du einfach nur das Beste aus der Situation gemacht? Angesichts der Tatsache, dass es hier nicht gerade viel Auswahl gibt?“

„Jetzt sei doch nicht so!“ Raoul packte Sarah am Arm und zog sie zu sich heran.

„Ich weiß, dass ich nicht gerade ein Vamp bin. Wahrscheinlich umschwärmen dich sonst die tollsten Frauen.“ Sarah biss sich auf die Lippen. Am liebsten hätte sie sich in einem Mauseloch verkrochen. „Eigentlich kam mir das alles von Anfang an komisch vor. Aber wahrscheinlich musste es so kommen, da ich die Einzige war, mit der du reden konntest. Die anderen sprechen ja alle kein Englisch.“

„Hör auf!“ Er verstärkte den Griff um ihren Arm, fühlte, wie sie zitterte, und musste sich beherrschen, um sie nicht einfach zu küssen. „Wenn du darauf bestehst, dann sage ich dir, welchen Typ Frau ich normalerweise bevorzuge. Ich suche mir immer Frauen, die nichts von mir erwarten. Ich sage das ohne jede Wertung. Es ist einfach so. Natürlich waren alle attraktiv, aber keine hatte eine Ausstrahlung wie du.“

„Und die wäre?“, fragte Sarah sarkastisch. Insgeheim gestand sie sich jedoch ein, dass sie nach einer liebevollen Bemerkung hungerte. Sie wäre sogar bereit zu bitten und zu betteln. Auch wenn ihr Stolz das eigentlich verbot, doch für ein kleines Fünkchen Hoffnung würde sie selbst das tun.

„Jung, unschuldig und immer ein Lächeln auf dem Gesicht.“ Er ließ sie los und strich ihr übers Haar. „Genau aus diesem Grund hätte ich beide Beine in die Hand nehmen sollen, als du mich mit deinen großen grünen Augen angesehen hast. Aber ich konnte einfach nicht. Du stehst für alles, was ich mir geschworen habe zu meiden – und trotzdem hatte ich nicht die Kraft, dir zu widerstehen.“

„Das musst du nun auch nicht mehr.“ Sarah brachte einen Sicherheitsabstand zwischen sich und Raoul und setzte sich auf einen Baumstamm, der als Bank diente.

Ihr schlug das Herz bis zum Hals, und irgendwie schien zu wenig Sauerstoff in der Luft zu sein. Sie blickte nicht auf, als sich Raoul neben sie setzte.

Die Nacht war voller Geräusche. Insekten umschwirrten sie, und Frösche quakten, aber zumindest war es um einiges kühler als in dem stickigen Zimmer.

Nach einer Weile sagte sie zaghaft: „Ich bitte dich ja gar nicht darum, dich endgültig festzulegen und mich zu heiraten.“ Wem mache ich hier eigentlich gerade etwas vor, dachte sie gleich darauf, denn genau das hätte sie am allerliebsten getan. Sie zwang sich, gelassen zu erscheinen. „Aber du musst doch nicht gleich völlig aus meinem Leben verschwinden. Wir können doch zumindest in Kontakt bleiben.“ Sie versuchte ein tapferes Lächeln. „Dafür gibt es Handys und E-Mails und all diese sozialen Netzwerke.“

„Wie oft haben wir denn über den Sinn und Unsinn dieser Netzwerke gesprochen? Ich halte nichts davon, meine Privatangelegenheiten vor der ganzen Welt auszubreiten.“

„Du bist wirklich der reinste Neandertaler.“ Sie lächelte und dachte an die Nächte, die sie diskutiert hatten. Engagiert und humorvoll hatten sie sich einen Schlagabtausch nach dem anderen geliefert. Eine verbale Kissenschlacht sozusagen. Vertrat Raoul erst einmal einen bestimmten Standpunkt, war es unmöglich, ihn davon abzubringen. Sarah hatte ihn ständig wegen seiner „Sturheit“ aufgezogen. Aber sie liebte es, mit ihm zu scherzen, zu lachen … es war wundervoll.

„Und damit wärst du zufrieden“, unterbrach Raoul ihre Gedanken. Wäre sie das wirklich, würden wir jetzt nicht diese Unterhaltung führen.Dann würde sie nämlich zu den Frauen zählen, die eine kurze Affäre genießen und anschließend ohne Bedauern weiterziehen.

Einen kurzen Moment erlaubte er sich den Luxus, darüber nachzudenken, wie es wohl wäre, wenn er Sarah tatsächlich mitnähme. Doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Diesbezüglich machte er sich nichts vor: Er war einfach zu sehr von der Vergangenheit geprägt – und dementsprechend würde er sein Leben gestalten.

Von frühester Kindheit an war er widrigen Umständen ausgesetzt. Sicherheit und Geborgenheit hatte er nie kennengelernt, und das machte ihm grausam klar, dass er sich auf nichts und niemanden verlassen konnte – außer auf sich selbst. Er hätte den Moment nicht benennen können, in dem er sich gelobt hatte, nie ein Spielball des Schicksals werden zu wollen. Er würde sein Leben in die Hand nehmen, es kontrollieren – und zwar mit seiner Ausbildung und seinem Verstand. Das Leben in den verschiedenen Kinderheimen hatte ihm eine wichtige Lektion erteilt: Vertraue niemandem!

Während die anderen Kids einfach nur herumhingen oder in Selbstmitleid versanken, weil ihre Eltern nicht zu dem vereinbarten Besuchstermin erschienen, hatte Raoul sich in seine Schulbücher vertieft und gelernt, selbst im größten Chaos höchste Konzentration aufzubringen. Dank seines scharfen Verstands legte er jede Prüfung mit Auszeichnung ab. Und als er endlich volljährig und unabhängig von der Vormundschaft der Behörden war, arbeitete er noch mehr, um auf die Universität gehen zu können.