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Vier Frauen, die um ihren Platz in der Welt kämpfen, verbunden durch ein einzigartiges Bauwerk.
Während Mimi gebannt den Beginn der Bauarbeiten am Kanal verfolgt und sieht, wie die Pläne ihres Vaters Form annehmen, übernimmt Justine den väterlichen Eisenwarenladen und versucht, ihn als Hauptlieferant für den Kanalbau zu etablieren – allen Widerständen zum Trotz. Nach einer großen Enttäuschung flieht Regina aus ihrem alten Leben und findet in der Versorgung der Kanal-Arbeiter eine neue Aufgabe. Hier, hofft sie, ist sie mit ihrer Tochter sicher. Als es zu Manipulationen am Schleusenbau kommt, droht Sannes Geheimnis aufzufliegen. Und nicht nur das, auch der Mann, in den sie sich verliebt hat, ist in Gefahr. Bei dem verzweifelten Versuch, ihn und auch die Arbeiter vor einer Katastrophe zu bewahren, erfährt sie unerwartete Unterstützung von Regina. Am pompösen Festakt zur Eröffnung des Kanals 1895 durch den Kaiser höchstpersönlich nehmen alle vier Frauen teil, jede auf ihre ganz eigene Weise ...
Bestsellerautorin Lena Johannson verwebt gekonnt weibliche Schicksale mit Weltgeschichte.
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Seitenzahl: 589
Monate der Arbeit liegen hinter ihr, Sanne ist erschöpft, aber glücklich. Gemeinsam mit Rosario hat sie an den Konstruktionszeichnungen der Schleuse gearbeitet, nun sollen sie umgesetzt werden. So oft sie kann, schleicht sie sich zu der gigantischen Baustelle. Heimlich, denn um nichts in der Welt darf ihre Tarnung auffliegen. Unterdessen beginnt für Regina ein neues Leben, sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kanalarbeiter zu versorgen. Doch dann tauchen unliebsame Schatten der Vergangenheit auf. Auch Justine muss sich vergessen geglaubten Problem stellen, als sie das Geschäft ihres Vaters übernimmt. Nur ein radikaler Neuanfang kann sie jetzt noch retten. Mimi verfolgt, wie die Kanal-Pläne ihres Vaters Form annehmen, dann wird sie auf unverhoffte Weise selbst zu einem Teil der Menschen, die zum Gelingen des Bauwerks beitragen, wie die anderen drei Frauen …
Lena Johannson, 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren, war Buchhändlerin, bevor sie als Reisejournalistin ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen verbinden konnte. Sie lebt als freie Autorin an der Ostsee.Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Bestseller „Die Villa an der Elbchaussee“, "Jahre an der Elbchaussee", „Töchter der Elbchaussee“, „Die Frauen vom Jungfernstieg – Gerdas Entscheidung“, „Die Frauen vom Jungfernstieg – Antonias Hoffnung“, „Die Frauen vom Jungfernstieg – Irmas Geheimnis“, "Die Malerin des Nordlichts" und der erste Band der Nord-Ostsee-Saga „Zwischen den Meeren“ lieferbar, ihre Romane „Dünenmond“, „Rügensommer“, „Himmel über der Hallig“, „Der Sommer auf Usedom“, „Die Inselbahn“, „Liebesquartett auf Usedom“, „Strandzauber“, „Die Bernsteinhexe“, „Sommernächte und Lavendelküsse“ sowie die Kriminalromane „Große Fische“ und „Mord auf dem Dornbusch“.Mehr zur Autorin unter www.lena-johannson.de
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Lena Johannson
Nach den Gezeiten
Vier Frauen und ein Jahrhundertbauwerk, das die Welt verändert
Roman
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Inhaltsverzeichnis
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Widmung
Prolog — Mimi, 1889
Kapitel 1: Susanne — Brunsbüttel, Frühjahr 1889
Kapitel 2: Justine — Kiel, Frühjahr 1889
Kapitel 3: Regina — Kudensee, Brunsbüttel, Frühsommer 1889
Kapitel 4: Susanne — Brunsbüttel, Frühsommer 1889
Kapitel 5: Justine — Kiel, Oktober 1889
Kapitel 6: Mimi — Bonn, Pfingsten 1890
Kapitel 7: Justine — Preetz, Frühjahr 1891
Kapitel 8: Susanne — Brunsbüttel, Ende August 1891
Kapitel 9: Justine — Kiel, August 1891
Kapitel 10: Susanne — Brunsbüttel, September 1891
Kapitel 11: Regina — Brunsbüttel, Ende 1891
Kapitel 12: Mimi — Hamburg, Oktober 1891
Kapitel 13: Regina — Brunsbüttel, Spätsommer 1892
Kapitel 14: Susanne — Brunsbüttel, Januar bis Herbst 1892
Kapitel 15: Susanne — Brunsbüttel, Herbst 1892
Kapitel 16: Susanne — Brunsbüttel, Weihnachten 1892
Kapitel 17: Susanne — Brunsbüttel, Frühjahr 1893
Kapitel 18: Mimi — Hamburg, Sommer 1893
Kapitel 19: Justine — Kiel, Frühjahr 1893
Kapitel 20: Susanne — Brunsbüttel, Sommer 1893
Kapitel 21: Susanne — Brunsbüttel, Herbst 1893
Kapitel 22: Regina — Brunsbüttel, Herbst 1893
Kapitel 23: Susanne — Brunsbüttel, Herbst 1893
Kapitel 24: Regina — Brunsbüttel, Anfang September 1894
Kapitel 25: Susanne — Brunsbüttel, September und Oktober 1894
Kapitel 26: Mimi — Brunsbüttel, Oktober 1894
Kapitel 27: Regina — Brunsbüttel, Herbst 1894
Kapitel 28: Susanne — Brunsbüttel, Winter 1894 – Juni 1895
Kapitel 29: Justine — Kiel, Juni 1895
Kapitel 30: Regina — Brunsbüttel, 1895
Kapitel 31: Mimi — Hamburg und Kiel, Juni 1895
Wahrheit und Phantasie
Quellen
Dank
Impressum
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Den Erdarbeitern gewidmet. Sie sind die wahren Helden, denen wir den Kanal zu verdanken haben.
Mimi, 1889
Grau liegt der Rhein in seinem Bett. Es ist eine Lebensader, gewiss, wichtig für die Wirtschaft und damit für das Auskommen der Menschen, die hier wohnen. Doch sie kann sich nicht daran erfreuen. Sie vermisst das fröhliche Leuchten, die Vertrautheit eines alten Bekannten. Was die Besucher nur alle haben mit ihrem Gerede von Romantik. Immer mehr zieht es an das Gewässer, um eine Bootsfahrt zu machen oder am Ufer zu spazieren. Da kommt schon wieder eine Gruppe junger Männer und ihrer Begleiterinnen, die Kleider mit Spitze und Schleifen übersät. Lachend streben sie der Godesberger Fähre zu. Selbst heute an einem regnerischen Tag herrscht Betrieb. Mimi schlägt die andere Richtung ein, spaziert zwischen Birken und Buchen entlang, betrachtet die Wiesen zur Rechten und den Strand zur Linken. Ja, sogar einen schmalen Sandstreifen gibt es hier, von dem aus man ein Bad nehmen könnte. Das Blau des Frühlingshimmels versteckt sich hinter dicken grauen Wolken. Alles erscheint ihr grau. Wie das Pensionat. Schon als sie auf die höhere Töchterschule ging, war sie mit der nordischen Mythologie vertraut, konnte die Helden- und Götterlieder der Edda auswendig hersagen. An stürmischen Tagen bei Spaziergängen durch ihren geliebten Harvestehuder Weg, der jetzt so fern ist, fielen ihr Gedichte ein. Als sie auf das Mädchenpensionat in Bonn geschickt wurde, hatte Mimi sich so sehr gewünscht, mehr über Philosophen und über die Mystiker zu lernen. Sie hatte sehnlichst gehofft, jemand würde sich für ihre Verse interessieren und ihr Schreiben fördern. Doch weder Hoffnung noch Wunsch hatten sich erfüllt. Sie ist in ihrer Geburtsstadt und hat Freundinnen gefunden, trotzdem ist sie nicht recht glücklich. Vielleicht weil ihr das Blau fehlt. Alles ist grau, von den Schlafräumen, die sich jeweils vier Mädchen teilen, über die Schulstube bis hin zu den Fenstern aus Milchglas. Die Schülerinnen sollen nur nicht hinaussehen in die Welt, sollen nicht abgelenkt werden. Und noch wichtiger: Kein junger Mann soll hereinsehen können. Gut, dass es wenigstens die Dachluke gibt. Die Mädchen nennen sie Schwärmerfenster. Von dort können sie hinausschauen und von der Welt schwärmen. Wie ihre Mutter damals aus dem Dachfenster der alten Mühle über die Elbe schauen und von der Ferne träumen konnte. Mimi geht in die Knie, pflückt eine Pusteblume. Sie atmet ein und bläst die hauchzarten Schirmchen in den bleiernen Himmel. Eines für ihre Schwester Else. Sie ist nur ein Jahr jünger, immer wieder hält jemand die beiden für Zwillinge. Je ein Schirmchen für ihre drei Brüder, vor allem für Brüderchen Paul, dem sie doch die Mutter ersetzen wollte. So hatte sie es ihrer Mutter am Sarg still versprochen. Wie kann sie das tun, fern der Heimat und der geliebten Familie? Mindestens ein Schirmchen ist für Vater bestimmt. Sein Lebenswerk wird wahr, und doch kommt er nicht zur Ruhe. Sicher arbeitet er auch in dieser Minute wieder an seinen Vorschlägen, die das Durchfahren des Kanals regeln sollen.
»Meine Schrift über die Ertragsfähigkeit eines Schleswig-Holsteinischen Seeschifffahrtskanals hat auch niemand bei mir in Auftrag gegeben, Mimi«, hat er ihr kürzlich erklärt. »Ich habe sie aus freien Stücken verfasst, weil ich der Ansicht war, der wirtschaftliche Aspekt war trotz seiner erheblichen Bedeutung in allen anderen Ausführungen über eine solche Wasserstraße zu kurz gekommen. Und so war es.« Mimi muss lächeln, wenn sie daran denkt, wie zufrieden Vater ausgesehen hatte, als er sagte: »Der Herr Geheime Oberbaurat Lentze, der für seinen Entwurf für einen Kanal sehr wohl einen Auftrag vom Handelsministerium hatte, gab zu, dass die Nachweise über den Schiffsverkehr darin gefehlt hätten. Aber letztlich ist es doch die Rentabilität der direkten Verbindung von West nach Ost, die es zu beweisen galt. Das habe ich getan, und der Kaiser hat dem Bau zugestimmt.« Natürlich konnte Vater nicht unerwähnt lassen, dass für Herrn Lentze außerdem die Streckenführung von Eckernförde an die Elbe die richtige gewesen sei, statt von Kiel, wie Vater es vorgeschlagen hatte. Und so würde es nun auch kommen, ein blaues Band von Brunsbüttel bis nach Kiel.
»Nun mache ich es wieder so«, hatte Vater gesagt, »ich arbeite ein Regulativ aus, in dem die Fragen zur Durchfahrt ebenso aufgeführt sind wie die Tarife für das Durchqueren, Geschlepptwerden, Schleusen. Du wirst sehen, Mimi, spätestens bei der Eröffnung wird man es mir danken.«
Sie lässt den nackten Stängel des verblühten Löwenzahns ins Gras fallen und seufzt. Gewiss mutet sich Vater wieder einmal zu viel zu, schläft und isst zu wenig. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Bisher hat ihm die Planung des Kanals schließlich noch keinen Reichtum beschert. Gerade mal die hohen Kosten, die sich in sieben langen Jahren der Vorbereitung angehäuft hatten, wurden ihm ersetzt. Man hat ihm nur sein Vermögen erstattet, das er investiert hat, um durchs Reich zu reisen und Menschen von seinem Plan zu überzeugen, um zu messen, zu zeichnen, zu entwerfen. Es war auch Mutters bescheidenes Vermögen. Sie hat die Grundsteinlegung nicht mehr erlebt. Dabei wollte Vater doch für sie Ost und West näher zusammenbringen, um ihr die ganze Welt zu Füßen legen zu können. Ein Ausflugsschiff gleitet vorüber, gleich darauf rollen kleine Wellen mit leisem Rauschen ans Ufer. Das Wasser ist Vaters Element. Vielleicht weil er in Hamburg geboren wurde. Wasser und Feuer. Vater war zwei Jahre alt, als der Große Brand etwa ein Viertel der Hansestadt verwüstete. Seine Eltern hatten vier Tage zuvor ein neues Haus bezogen, Kisten und Koffer waren noch nicht einmal vollständig ausgepackt, als das Feuer ausbrach, das war ihr Glück. Sie wurden eilig über den Alsterdamm aus der Stadt hinaus in Sicherheit gebracht. Auf einem dieser Koffer ein zweijähriger Junge, Mimis Vater. Er hat oft behauptet, er könne sich an die Gewalt der Flammen erinnern. Feuer ist eine mächtige Gefahr, auch heute noch. Auch Schiffe kommen dadurch zu Schaden. Vielleicht hatte Vater auch das im Sinn, als er den Deutschen Reedereiverein gründete. Er hat möglich gemacht, dass die Mitglieder, hauptsächlich Ostseereeder, eine Seeversicherung mit erschwinglichen Prämien bekamen und von englischen Anbietern unabhängig wurden. Wie beim Kanal hat er sich Vorschläge überlegt, sie niedergeschrieben und umgesetzt. Typisch Vati! Er ist Freimaurer, Fürsorge gehört zu ihren festen Werten. Noch immer hat er den Vorsitz des Reedereivereins inne, dabei hat er vor drei Jahren auch noch den Nordischen Bergungsverein ins Leben gerufen. Vaters Dampfer und die flachen Bergungsprähme retten Kähne, die nicht mehr aus eigener Kraft an ihr Ziel kommen, oder holen gesunkene Schiffe wieder an die Oberfläche. Bis Russland sind sie unterwegs und seit Kurzem auch im Mittelmeer und im Roten Meer. Vater verdient gutes Geld damit. Endlich. Der Kanal würde ihm erst bei der Eröffnung den verdienten Lohn bringen, bis dahin waren es noch Jahre. Mimi betet insgeheim, dass man ihn mit einer Summe bedenken möge, die es ihm erlauben wird, weniger zu arbeiten. Ein Häuschen im Grünen, das er für Mutter, für Mimi und ihre Geschwister hatte kaufen wollen, lockt ihn heute wohl nicht mehr. Doch Mimi weiß, wie sehr er Spaziergänge in der Natur liebt. Wie schön wäre es, wenn er dafür mehr Zeit hätte. Sie bleibt stehen und lässt ihren Blick über den Rhein wandern. In seiner glücklichen Zeit mit Mutter hier in Bonn hat Vater mal einen Walzer komponiert. Die Sehnsucht nach Vater und nach seinem Kanal, der jetzt in Brunsbüttel und Kiel und an vielen Orten an der zukünftigen Linie gleichzeitig begonnen wird, raubt ihr fast den Atem. Sie stellt sich vor, wie die gewaltige künstliche Wasserstraße den Norden des Kaiserreichs verändern wird. Gewiss nicht nur den, sondern das gesamte Reich. Und die Menschen, die ihn erschaffen.
Kapitel 1
Brunsbüttel, Frühjahr 1889
Sanne war längst wach, als die Sonne sich zaghaft mit ihren ersten Strahlen über das Land tastete. Sie schlich sich aus der Kammer, in der ihre vier jüngeren Geschwister noch schliefen. Nicht zum ersten Mal. Es kam ihr beinahe vor, als würde sie zwei Leben führen. Sie war die Tochter des Zimmermanns Herwart Schmidt und führte mit ihrer Mutter Maria den kleinen Haushalt, putzte, wusch, stopfte, kochte und kümmerte sich um die Lütten. Im Nutzgarten der Familie bauten sie Salat, Gemüse und Kräuter an und sorgten dafür, dass Vorräte für den Herbst und Winter in der Erdmiete lagerten. Gleichzeitig war sie die Konstrukteurin der Schleusenanlage Brunsbüttel! Natürlich nicht offiziell. Doch das machte ihr nichts aus. Die Leute würden schon noch früh genug erfahren, dass sie es war, die die Pläne ihres Urahnen zugrunde gelegt und die Anlage für den Nord-Ostsee-Kanal berechnet hatte. Zusammen mit Rosario.
Rechts und links vom Alten Braakdeich hing Nebel über den Feldern, als hätte sie jemand über Nacht zugedeckt. Sanne setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, im ersten Dämmerlicht des Tages konnte man leicht stolpern. Was hatte sie für ein Glück gehabt! Durch eine Verwechslung war Steinmetz und Sprengmeister Rosario als Schleusenbauer eingestellt worden. Weil er davon nicht genug verstand, war Sanne ihm schnell auf die Schliche gekommen. Und jetzt trugen ein Schwindler und eine Frau die Verantwortung für einen der wichtigsten und zugleich schwierigsten Bauabschnitte des Nord-Ostsee-Kanals. Selbst Sannes Eltern durften natürlich nichts davon wissen. Sie glaubten wahrscheinlich, sie hätte sich ein bisschen in den Italiener verguckt, so oft, wie sie sich mit ihm traf. Vielleicht hofften sie sogar, dass was Festes draus wurde, immerhin wäre er keine üble Partie. Sollte ihr recht sein. Das führte zwar zu diesem anstrengenden Doppelleben, denn Mutter ahnte nichts von der Herausforderung, die Sanne zu bewältigen hatte, und schonte sie folglich auch nicht, doch Sanne kümmerte es nicht. Im Gegenteil, sie hätte sich nichts auf der Welt mehr gewünscht. Ein Studium war ihr als Frau verwehrt, doch ihr Einsatz an der Schleuse war viel besser. Jeden Tag lernte Sanne etwas Neues und schon sehr bald konnte sie direkt am Objekt sehen, ob all ihre Berechnungen und Überlegungen richtig gewesen waren.
Der Wind pustete ihr ordentlich ins Gesicht, als sie in Richtung Josenburg abbog. Nun war es nicht mehr weit bis zu dem Ausläufer der Braake, an dem sie sich mit den Männern treffen und eins der wichtigsten Experimente überhaupt durchführen wollte. Heute würde sich herausstellen, ob ihre Schleusenkonstruktion fehlerfrei funktionierte, eine Frage, die für ihr weiteres Vorgehen natürlich entscheidend war. Allein bei dem Gedanken spürte sie ein Kribbeln im ganzen Körper. Schon als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, wenn ihr Großvater ihr Zeichnungen und Pläne seines Großvaters gezeigt und erklärt hatte. Seit einigen Monaten fertigte sie nun endlich selbst welche an und würde irgendwann sogar dabei zusehen können, wie ein echtes Bauwerk daraus entstand. Sie durfte sich mit dem beschäftigen, was ihr die größte Freude bereitete. Mindestens ebenso wichtig: Sie würde allen beweisen, dass Frauen nicht weniger konnten als Männer, nur weil angeblich ihr Gehirn kleiner war, wie ihr Vater behauptete. Heute würde sie einen Vorgeschmack darauf bekommen, wie es sein würde, wenn das Werk einmal vollendet war. Zusammen mit Rosario und Andreas Kolbe hatte sie in nächtelanger Arbeit ein funktionsfähiges Modell gebaut, eine Schleuse für Zwerge sozusagen. Kolbe, der am Kanal mitbuddeln wollte, nur dummerweise lange bevor die Aushubarbeiten begonnen hatten, nach Brunsbüttel gekommen war, hatte ein Händchen für Miniaturausgaben großer Gebäude. Seinem Bruder hatte er auch einmal ein Haus im Kleinformat gebastelt, ehe es an die große Version ging, in der der Bruder nun wohnte. Während Sanne und Rosario die Anlage auf Papier gebracht hatten, war Kolbe es gewesen, der die Umsetzung geleitet hatte. Nach und nach hatten sie die Schleuse errichtet. Dafür hatten sie sich eine Stelle mit viel Gestrüpp an einem verschlafenen Nebenarm der Braake gesucht. War immer’n büschen ungemütlich, zwischen dem Gesträuch herumzuklettern, dafür war ihre kleine Schleuse aber gut versteckt. Trotzdem hatte Sanne jedes Mal mordsmäßig Angst, jemand könnte sie doch entdeckt und ihre ganze Arbeit zunichtegemacht haben. Als ob sie nicht so schon genug Bammel hatte, dass ihr ganzer schöner Plan auffliegen könnte. Mit Schrecken dachte sie an den unheilvollen Abend zurück, an dem sich Rosario und Kolbe in der Gaststätte von einem Fremden zu Köm hatten einladen lassen und dabei möglicherweise, so genau konnten sich beide nicht mehr erinnern, ausplauderten, dass Rosario nicht der Schleusenbauer war, den alle sehnlich erwartet hatten. Noch Wochen später hatte Sanne allein bei dem Gedanken gezittert, dass der geheimnisvolle Fremde, zu dem die beiden allzu vertrauensselig gewesen waren, wieder in Brunsbüttel auftauchte und ihr Geheimnis verriet.
Am Treffpunkt angekommen, stand sie einen Moment nur da und blickte in Richtung Ostermoor. Die Sonne hatte den Nebel aufgelöst, so dass sie eine herrlich freie Sicht hatte. Von Rosario und Kolbe noch keine Spur. Sanne sah sich um. Ein paar Männer waren an der neuen Straße zugange. Das musste man sich mal vorstellen, eine Zufahrt, die nur für die Baufahrzeuge, die Material oder Arbeiter heranschafften, entstand, und die wieder verschwinden würde, wenn der Kanal fertig war. Sie hörte Metall auf Stein hämmern und stellte zufrieden fest, dass niemand Notiz von ihr nahm. Also konnte sie es wagen, unter den langen gebogenen Ästen einer Trauerweide hindurchzuschlüpfen. Wie immer blieb sie kurz stehen und lauschte. Nichts. Nur das Klopfen der flink geführten Werkzeuge, das Pfeifen eines Mannes und das Zwitschern und Rascheln der Vögel, die in den Bäumen den Frühling begrüßten. Sie atmete auf. Die Erleichterung war umso größer, als sie einen Blick auf die unter Zweigen verborgene Schleuse warf. Gottlob hatte offensichtlich niemand die Finger dran gehabt. Sie spitzte noch einmal die Ohren, doch Rosario und Kolbe waren noch nicht in der Nähe. Wären sie es, könnte Sanne sie hören. Die beiden hatten immer etwas zu reden und zu lachen. Wahrscheinlich waren sie deshalb auch nie pünktlich. Sie trat wieder aus dem Versteck, sah sich noch einmal vorsichtig um und machte sich auf den Weg in Richtung Ostermoor. Wie sehr sich hier in den letzten Monaten alles verändert hatte! Bis vor bummelig einem Jahr hatte es nichts gegeben als Wiesen, soweit man gucken konnte. Und die alte Mühle natürlich, deren Dachstuhl Vater in Ordnung gebracht hatte. Aber jetzt? Sanne konnte schon den Bahnhof sehen, den ein Unternehmer aus Berlin hatte anlegen lassen, mit allem Drum und Dran. In einer Schmiede und einer Schlosserei loderten täglich die Feuer, und das emsige Schlagen von Metall auf Metall war weit zu hören. Ein Trockenbagger stand auch schon bereit. Sanne konnte es kaum erwarten, bis der zum Einsatz kam. Er würde sich eigenständig auf Schienen bewegen können. Den langen Arm mit dem Paternosterwerk und den Eimern daran konnte er heben oder auf die gewünschte Tiefe senken, hatte sie gehört. War ja auch logisch, je mehr Erde mit ihm abgetragen wurde, desto weiter in der Tiefe musste der Aushub erfolgen und abtransportiert werden. Sie stellte es sich faszinierend vor, wie viel die Maschine in kurzer Zeit würde leisten können, und das mit nur wenigen Männern, die sie bedienten.
Je näher sie dem einstmals verschlafenen Dorf Ostermoor kam, desto deutlicher konnte sie verschiedene Loks erkennen, die auf den Gleisen warteten, bis sie endlich die vielen Kippwagen würden ziehen dürfen, die alle bis zum Rand mit Erde gefüllt sein würden. Es kam ihr beinahe vor, als wären die Schienenfahrzeuge nicht weniger ungeduldig als sie selbst. Ehe nur an den eigentlichen Schleusenbau zu denken war, mussten Mengen von Bodenaushub bewegt werden. Von hier bis rüber nach Kiel an der Ostsee war das so. Wie lange das wohl dauern würde? Das noble Kontorhaus kam in ihr Sichtfeld, das neben dem Bahnhof ebenfalls neu entstanden war. Sanne beneidete diesen Berliner Unternehmer und seine Mitarbeiter, die dort täglich sitzen durften und beim Blick aus dem Fenster bestimmt immer wieder neue aufregende Dinge zu sehen bekamen. Sie hatten den Fortschritt direkt vor der Nase! Neben das Kontorhaus, in dem der Unternehmer auch wohnte, war noch ein deutlich bescheidenerer Bau gesetzt worden. Vier Eingänge, jeder führte in eine schmale Wohnung, die sich aber fast wie ein kleines eigenes Haus anfühlte. Das wusste Sanne genau, denn in einem davon lebte Rosario, seit er den Holthusen-Hof hatte verlassen müssen. Sanne war nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt, als diese sich öffnete und Rosario mit Kolbe ins Freie trat. Spät dran wie immer, aber wenigstens hatten sie die Eimer nicht vergessen.
»Ah, da sind sie ja, die Gebrüder Klön und Schnack.«
»Entschuldige, Sanne, sind wir etwas spät.« Rosario setzte eine zerknirschte Miene auf, dann stutzte er. »Brüder … wie?«
Kolbe griente nur breit. Zu dritt machten sie sich auf den Weg.
Andreas Kolbe war bei Rosario untergekommen, als der noch im Haus des alten Holthusen gewohnt hatte. Das war inzwischen abgerissen, Rosario umgezogen. Auch in dem neuen Zuhause hatte Kolbe Unterschlupf gefunden, jedenfalls solange er bei Sannes Vater arbeitete und Gerüste und Zäune baute. Doch bald würde er an einem der Bagger schuften. Das hoffte er wenigstens, aber zur Not würde er das Bett für den Kanal auch per Hand und allein schaufeln, behauptete er. So war er, ein Aufschneider, wie er im Buche stand. Aber ein netter. Außerdem waren seine Worte nicht nur heiße Luft, er konnte wirklich tüchtig anpacken, ihr Vater war sehr zufrieden mit ihm. Dabei ging es Kolbe wie ihr. Auch er musste zwei Aufgaben bewältigen, als Helfer des Zimmermanns Herwart Schmidt und als Modellbauer für Rosario und sie.
An ihrem Versteck angekommen, fing Kolbe sogleich an, Zweige zur Seite zu ziehen, um ihr Schleusenmodell freizulegen. Das war immer der Moment, in dem Sanne staunte, wie groß allein die kleine Ausgabe war. Wie gewaltig würde erst das Original sein.
»Ich konnte kaum schlafen«, gab sie zu, »so aufgeregt war ich. Heute ist der Tag der Tage! Heute werden wir hoffentlich sehen, ob all unsere Berechnungen richtig waren.«
»Typisch Frau«, meinte Kolbe spöttisch. »Was soll schon schiefgehen?« Er zuckte mit den Achseln, als bedeutete das alles nichts. Gleichzeitig ließ er sämtliche Fingerknochen knacken, vom Ringfinger bis zum kleinen Finger, an beiden Händen parallel. Sanne lächelte, sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass auch er nicht so gelassen war, wie er tat.
»Ist ein großer Moment, finde ich auch«, stimmte Rosario ihr zu und strahlte sie an. Er war der einzige Mensch, in dessen Gesicht dermaßen die Sonne aufgehen konnte. Das lag bestimmt nicht an seinen auffallend weißen Zähnen, sondern an seiner Heimat. Dort schien die Sonne das ganze Jahr, hatte er behauptet. Würde sie zu gern mal sehen. Überhaupt träumte sie davon, die Welt zu bereisen, bedeutende Bauwerke zu bestaunen. Die Pyramiden vielleicht oder die berühmten italienischen Kirchen.
»Wenn wir nur eine Kleinigkeit übersehen haben, klappt nixe.«
Sein Deutsch war sehr viel besser geworden, seit Rosario in Brunsbüttel lebte. Manchmal fand Sanne das fast ein bisschen schade, weil sein Akzent so nett klang und er die lustigsten Wörter erfunden hatte. Sanne bückte sich, um Geäst zur Seite zu ziehen, mit dem sie eine Mulde abgedeckt hatten. Sofort war Rosario an ihrer Seite.
»Nicht du, das mache ich!«
Zwar war sie es gewohnt, körperlich zu arbeiten und hatte auch nicht wenig Kraft, trotzdem mochte sie es, dass er so’n Kavalier war. Weil Kolbe sich allerdings jedes Mal sofort darüber lustig machte, ließ sie sich meist nicht helfen.
»Geht schon, danke!« Sie lächelte ihn kurz an und zog den letzten Ast beiseite. »Hier hätten wir also die Baugrube«, sagte sie. »Die gibt’s ja schon, in Wirklichkeit, meine ich.«
»Si, richtig. Da kommt der Schwimmbagger rein, und der buddelt ganz tief.« Rosario legte die Stirn in Falten. »Wie viel Meter müssen die noch runter?«
Sanne antwortete ihm nicht, denn ihr fiel auf, dass der Grund ihrer Mulde irgendwie eigenartig aussah.
»Moment, was ist denn das? Man könnte meinen, das wäre feucht da unten«, sagte sie.
Kolbe ließ sich auf die Knie fallen, beugte sich weit vor und legte die Handfläche auf den Sand.
»Das sieht nicht nur so aus, das ist nass.« Er wandte den Kopf und blickte von einem zum anderen.
»Wir haben doch alles grundlich abgedichtet.« Rosario fuhr sich durch das schwarze wellige Haar.
»Wo kann denn bloß Wasser eindringen?« Sanne spürte ihren eigenen Herzschlag und begann plötzlich zu schwitzen. »Es liegt noch nicht einmal hoher Druck auf unserer Konstruktion«, sagte sie und hörte selbst die Verzweiflung in ihrer Stimme.
»Die Staumauer ist dicht«, erklärte Rosario, nachdem er sie nicht nur gründlich betrachtet hatte, sondern auch noch mit den Fingerspitzen langsam an sämtlichen Kanten und Übergängen entlanggefahren war.
Kolbe hatte die verschließbare Öffnung mit dem Rohr daran der gleichen Überprüfung unterzogen und verkündete, auch dort sei alles trocken. Sanne seufzte.
»Das kann nicht sein.« Rosario schien genauso ratlos zu sein wie sie.
»Ist aber so«, sagte Kolbe und schnaufte. »Irgendwo kommt Wasser rein.«
Kaum, dass er aufgestanden war, kniete Sanne sich hin und inspizierte ihr Modell.
»Vorsicht, pass bitte auf dich auf!« Rosario klang ehrlich besorgt.
»Sie fällt schon nicht hinein«, beruhigte Kolbe ihn, wieder mit diesem Spott in der Stimme. »Und wenn doch, wird sie höchstens ’n büschen dreckig.«
Sanne ließ die beiden reden. Inzwischen war nicht mehr nur der Boden feucht, es hatte sich eine richtige kleine Pfütze gebildet. Sie fixierte deren Oberfläche angestrengt. Das Wasser stand nicht einfach still, es war leicht in Bewegung, erkannte sie.
»Siehst du da etwas?«, wollte Rosario wissen.
»Allerdings!« Sie nickte, stand auf. »Das dringt nicht von außen ein«, erklärte sie den beiden, »das drückt von unten hoch.«
»Du meinst …?« Kolbe sah ziemlich verwirrt aus.
Rosario dagegen verstand. »Ich hätte nicht gedacht, dass sich das in unserer kleinen Grube auch bemerkbar macht. Wir sind so weit von der Elbe weg.«
»Einerseits, andererseits«, meinte Sanne nachdenklich. »Wenn du zu Fuß von hier zum Elbdeich laufen und womöglich noch was Schweres schleppen sollst, kommt dir der Weg weit vor. Wenn du aber mal überlegst, wie schnell der Pegel bei Flut steigt, dann wäre das Wasser so fix hier, als hätte es nur einen Katzensprung zu überbrücken. Wahrscheinlich ist gerade Flut, und der Druck steigt. Sonst wäre die Pfütze schon da gewesen, als wir die Mulde aufgedeckt haben.«
Rosario nickte langsam.
»Und was jetzt?« Kolbe wirkte nervös. »Heißt das etwa, wir müssen noch mal von vorn anfangen?
»Auf jeden Fall haben wir ein Problem«, meinte Sanne finster. »So wie es gedacht war, wird es in der echten Baugrube schon gar nicht funktionieren. Überlegt doch mal, es ist nicht nur die Elbe, sondern gleich dahinter die Nordsee. Die drückt das Wasser mit einer Gewalt in den Kanal, da läuft die Grube bestimmt gleich voll. Da kriegen die Männer nasse Füße und Schlimmeres.«
»Das müssten die Ingenieure doch wissen«, wandte Kolbe ein. »Haben die nicht extra viele Löcher gebohrt, um die Bodenbeschaffenheit ganz genau zu kennen?«
»Fast vierzig Stuck, ja, allein neun im Bereich unserer Schleuse.«
»Fünfundzwanzig Prozent der Löcher in der Schleuse«, sagte Sanne leise. Kolbe verdrehte die Augen.
»Wie kann man so vernarrt in Zahlen sein?«
»Bin ich nicht«, protestierte sie. Er ging nicht darauf ein, sondern verschränkte die Arme vor der Brust.
»Und?«
Sanne hätte wetten mögen, dass er gleich wieder über die Schlaumeier schimpfen würde, die sich für ihre gemütliche Tätigkeit am Schreibtisch fürstlich bezahlen ließen, aber keine Ahnung von dem hatten, was auf einer Baustelle vor sich ging.
»Zuerst haben wir ungefähr drei Meter Ziegelerde mit Torfschichten dazwischen, dann kommt Marschklei, ungefähr fünfzehn Meter dick«, referierte Rosario. »Der Boden ist fest und tragfähig, aber es ist logisch, dass das Grundmauerwerk sehr hohen Druck ausübt und die Bodenschichten zusammenpresst.« Wie immer, wenn Rosario wiedergab, was er von den Ingenieuren gelernt hatte, saugte Sanne jedes Wort auf. Für sie war das alles so interessant. Jede Kleinigkeit konnte am Ende eine große Bedeutung haben. Sie wollte auf keinen Fall irgendwas übersehen. »Deshalb kommen zuerst die Spundwände, dann die Mauern. Wenn die sich hingesetzt haben, werden die Kammerböden betoniert.«
»Wenn die sich gesetzt haben«, korrigierte Sanne ihn lächelnd.
»Ja, sage ich doch. Der Grund der Kuhle bekommt eine Betondecke, das ist das Wichtigste. Das Wasser kann nicht mehr von unten durch.« Er sah sehr zufrieden aus.
»Wie dick soll die werden?«, wollte Sanne wissen, er hob die Schultern. »Du musst dir die Zahlen über den zu erwartenden Wasserdruck und die geplante Dicke der Betonsohle unbedingt geben lassen. Die setze ich in die Berechnung meines Urururgroßvaters ein.« Ihr fiel noch etwas ein. »Du sagst, die Spundwände werden zuerst errichtet, dann die Mauern und danach das restliche Fundament«, überlegte sie laut. »Gehen die davon aus, sie könnten die Sohle im Trockenen betonieren?«
»Das wollen sie versuchen, ja. Naturlich müssen sie kräftig entwässern, das ist ihnen bewusst.«
»Haben sie auch einen zweiten Plan, falls die schöne Entwässerung nicht reicht?«, fragte Kolbe.
»Dann muss der Beton eben unter Wasser geschüttet werden. Aber das wäre nicht gut, weil das die Qualität vom Material mindert.«
»Hauptsache, die Herren haben das im Blick.« Sanne seufzte. »Sonst bist du ja da, um ein Auge drauf zu haben.«
Kolbe sah von einem zum anderen. »Dann wollen wir mal, oder? Die Trockenübungen haben die Tore doch bestens bestanden, wollen mal sehen, ob sie sich gleich auch noch so gut öffnen und schließen lassen. Wasser marsch, würde ich sagen.«
Sie sollten ihr Experiment starten, ehe doch noch jemand sie hörte und neugierig wurde. Aber Sannes Gedanken wanderten immer wieder zu der Frage, welche weiteren Konsequenzen ihre neue Erkenntnis haben könnte.
»Eine Sekunde noch«, sagte sie. »Könnte der Druck nicht auch für die Schleusenanlage selbst ein Problem werden?« Die beiden Männer sahen sie stumm an. »Ich meine, wenn sich die Mitteltür schließt …«, sie deutete auf die entsprechende Platte, die mit Scharnieren befestigt war, »… dann presst das Wasser mit Schmackes dagegen. Das machen die Tore nicht lange mit und die Mechanik schon gar nicht. Das haben wir nicht einkalkuliert. Zumindest haben wir nicht mit einer solchen Kraft gerechnet.«
»Was wäre denn, wenn wir Öffnungen in die Mitteltüren bauen würden?«, schlug Kolbe vor und knackte schon wieder mit den Fingern. »Da könnte dann das Wasser durch, und das würde den Druck mindern.«
»Sehr gute Idee!« Rosario nickte begeistert. »Naturlich mussen die sich aber auch schließen lassen.«
»Logisch!« Kolbe zog kurz die Augenbrauen hoch.
»Aber erst, wenn die zweite Mitteltür geschlossen ist«, pflichtete Sanne bei. »Dann wirkt nicht mehr eine so hohe Kraft darauf ein, die Mechanik wird weniger belastet.«
»Si, das könnte funktionieren.«
»Wie gut, dass du deinen Zauberkasten mitgebracht hast.« Sanne seufzte erleichtert. Kolbe hatte immer ein Köfferchen mit ein paar Werkzeugen und einigen Schrauben, Nägeln, Bändern und anderen nützlichen Kleinteilen dabei. Sonst hätten sie ihren schönen Probelauf jetzt vergessen können.
»Es ist immer das Gleiche mit euch Theoretikern«, schimpfte Kolbe. Sanne und Rosario wechselten belustigte Blicke, denn sie wussten beide, was nun kam. Und sie wussten, dass er es nur ein wenig ernst meinte. »Ihr macht es euch gemütlich, und ich darf mal wieder die Kohlen aus dem Feuer holen.«
»Von wegen gemütlich, wir helfen dir natürlich«, erklärte Rosario.
Fast zwei Stunden sägten und schraubten sie, passten an und kontrollierten, ob sich auch niemand ihrem Versteck näherte.
»Ich müsste die Klappen eigentlich viel besser abdichten«, brummte Kolbe schließlich, »aber dafür fehlt mir das Material. Um die Funktion zu testen, wird es auch so gehen.«
Endlich konnten sie es wagen. Sie schlossen das erste Tor und mussten als Nächstes die Kammer füllen. Kolbe legte seine Hand an den Schieber einer Öffnung, Sanne ihre an den Schieber der zweiten Öffnung, mit denen das Rohr bisher verschlossen war.
»Auf drei«, kommandierte Kolbe. Die beiden sahen sich in die Augen, während er zählte: »Eins, zwei, drei!« Sie legten die Sicherungshebel um und zogen die Schieber nach oben, das Wasser, das sie zuvor aufgestaut hatten, schoss hervor und drang langsam in die Kammer ein, da es von den neu eingesetzten Öffnungen durchgelassen wurde. Nachdem der erste große Schwall durch war, betätigte Kolbe seine aus Drähten und einem Stab bestehende Hilfsmechanik und drückte damit das Fensterchen in der Mitteltür zu. Sanne musste sich zwingen, ruhig zu atmen. Alles sah gut aus, doch sie hatte riesige Angst, dass plötzlich doch noch etwas schiefging. Konzentriert behielt sie das kleine Modellboot im Auge, das fröhlich schaukelte und immer weiter nach oben getragen wurde. Schließlich schlossen sie den Zulauf durch das Rohr wieder und öffneten das zweite Schleusentor. Wäre es darum gegangen, einen Höhenunterschied auf einem Kanal zu überwinden, wäre es geglückt. Ihre Konstruktion funktionierte!
»Wir haben es geschafft!« Sanne fiel Kolbe um den Hals, er drückte sie an sich, nicht grob, und doch ahnte sie, dass er sie zerquetschen könnte, wenn er nur wollte. Mit einem Schlag hatte sie ein Bild vor Augen. Im letzten Winter hatte sie Rosario und Kolbe vom Gasthaus Busch abgeholt und nach Hause gelotst. Die beiden waren voll gewesen wie die Elbe bei Hochwasser. Sie würde nie vergessen, wie sie sich zu dritt durch Sturm und Regen zum alten Holthusen-Haus gekämpft hatten. Die beiden Männer waren auf der Stelle in ihre Betten gefallen und hatten geschnarcht, dass ’n Lied hätte draus werden können. Sie war bis auf die Knochen nass und durchgefroren gewesen, hatte ihre Kleider vors Feuer zum Trocknen gehängt, sich unter einer Wolldecke verkrochen und war eingenickt. Als sie aufgewacht war, hatte Kolbe in der Tür gestanden und sie wortlos angesehen. Keinen Ton hatte er gesagt. Auch danach nicht. Beide hatten diese seltsame Situation nie angesprochen. Sanne hatte schon geglaubt, sie hätte das vielleicht nur geträumt, doch als er sie jetzt so festhielt, spürte sie das gleiche fremde Kitzeln im Bauch und war sicher, er hatte die gleiche Erinnerung im Kopf.
Sie löste sich von ihm. Rosario stand da wie ein geprügelter Hund. Statt Freude über ihr gelungenes Experiment war aus seinem Gesicht nur Enttäuschung zu lesen. Kolbe hatte nur einen Schritt von ihr entfernt gestanden, deshalb hatte sie zuerst ihn umarmt. Schnell trat sie auf Rosario zu und breitete die Arme aus.
»Es hat wahrhaftig funktioniert«, sagte sie strahlend zu ihm. »Das war eine reife Leistung, die du da abgeliefert hast.« Er zögerte nicht länger, sondern zog sie an sich.
»Wir habe die Leistung abgeliefert«, sagte er atemlos. »Sind wir eine gute Gespinst.«
Sanne lachte. »Ein gutes Gespann, meinst du.«
»Ja, auch.« Seine Arme lagen noch immer um ihre Taille.
»Ich hoffe, ihr sprecht nicht von einem Zweiergespann«, sagte Kolbe.
»Auf keinen Fall!« Rosario schüttelte den Kopf. »Wenn wir dich nicht hätten!« Sanne nickte eifrig.
»Schön, dass ihr’s einseht. Übrigens könnt ihr euch langsam mal wieder loslassen. Oder wollt ihr zusammenwachsen?«
Sanne spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie machte eilig einen Schritt zur Seite und blickte konzentriert auf ihre Schleuse, die ihre Probe mit Bravour bestanden hatte.
Es wurde schon dämmrig, also bedeckten sie ihr Modell wieder mit Zweigen, krochen zwischen dem Gesträuch hervor, sahen sich um und machten sich auf den Weg nach Brunsbüttelhafen, wo sie zur Feier des Tages im Gasthaus zusammen essen wollten.
Es herrschte eine eigentümliche Spannung zwischen ihnen, als sie den Ostermoorweg entlanggingen. Obwohl sie jubeln sollten und aufgedreht sein müssten, liefen sie schweigend nebeneinanderher. Sanne fuhr erschrocken zusammen, als Kolbe doch noch den Mund aufmachte.
»Ja, ja, was wärt ihr ohne mich? Bloß, was nützt es mir, dass ihr wisst, wie dringend ihr mich braucht?« Er trat mit der Schuhspitze gegen einen Stein, der im hohen Bogen durch die Luft flog. Sanne und Rosario wechselten schnelle Blicke. »Ich meine, ihr verdient das große Geld, ich dagegen kriege nur ein paar Kröten dafür, mir auf der Baustelle meine Knochen zu ruinieren. Das bleibt so, auch wenn ich hundert Modellschleusen gebaut habe.«
»Das große Geld!« Sanne lachte auf. »Das verdiene ich vor allem! Null Komma nix kriege ich. Wenn du das viel findest …?«
»Du weißt, wie ich es meine. Diejenigen, die klug schnacken können und verhandeln und so, die bestimmen die Löhne und sorgen dafür, dass ihresgleichen ein ordentliches Auskommen hat. Wer es eher hier hat als hier«, er deutete erst auf seinen muskulösen Oberarm, dann tippte er sich an den Kopf, »der muss sich mit dem zufriedengeben, was sie ihm zuteilen. Ist das etwa gerecht?«
»Die Welt ist nicht gerecht«, erklärte Rosario ruhig. »Auf der anderen Seite hat jeder selbst in der Hand, wie weit er es bringt.« Kolbe atmete hörbar ein, kam aber nicht zu Wort, denn Rosario sprach schon weiter: »Du hast es auch hier.« Damit legte er seinen Zeigefinger kurz an Kolbes Stirn. »Du musst die Ohren spitzen und immer lernen, dann zeichnest du irgendwann selbst Pläne und bist für die Berechnungen zuständig. Dann kriegst du auch mehr Geld.«
»Als ob das so einfach wäre.«
»Nicht einfach, aber möglich«, behauptete Rosario überzeugt. Sofort musste Sanne an Louis Favre denken. Er war eigentlich ein Zimmermann gewesen, hatte aber die gesamte Verantwortung für den Bau des Gotthard-Tunnels getragen. Rosario hatte jahrelang zu dessen Mannschaft gehört und sich unter Lebensgefahr kilometerweit durch den Felsen gegraben und gesprengt. Dieser Favre hatte nie eine Universität von innen gesehen. Das beeindruckte Sanne mächtig. Sie würde wahnsinnig gern studieren. Dummerweise war das Frauen nicht erlaubt. Favre hätte studieren können, hatte jedoch darauf verzichtet und sich stattdessen alles selbst beigebracht. Auch für ihn war es nicht leicht gewesen, aber er hatte bewiesen, dass es stimmte, was Rosario sagte: Alles war möglich, man musste sich manchmal nur kräftig dafür anstrengen und durfte nicht aufgeben. Gerade wollte sie Favre erwähnen, als sie Männerstimmen hörte, die ziemlich aufgeregt klangen.
»Was ist denn da los?«, fragte Rosario im gleichen Moment.
Sie waren eben in den Landweg gebogen und liefen nun auf das Schürfloch zu, das nicht nur als Beginn des Nord-Ostsee-Kanals ausgebuddelt worden war, sondern auch als Probestück. Im Grunde genau wie ihre Miniaturschleuse. An dem hundert Meter langen Abschnitt wollten die Ingenieure sehen, wie steil sie die Böschung anlegen konnten, was beim Aushub zu beachten war und einiges mehr. Aus genau der Richtung kam der Tumult, wenn Sanne nicht irrte.
»Da wird doch nichts passiert sein?« Rosario beschleunigte seine Schritte.
»Doch, genau so hört sich das an«, meinte Kolbe.
»O nee, hoffentlich kein Unfall. Das wäre aber auch wirklich Pech. Zwei Baggerfirmen sind schon pleite. Wenn nun der dritten ein Unglück zustößt …« Sie mochte es sich nicht ausmalen.
»Pech oder doch das Böse, das sein Unwesen treibt«, sagte Kolbe mit einer ganz komischen Stimme. »Immerhin war schon der erste Spatenstich ein Fiasko.«
»Das ist wahr«, pflichtete Rosario ihm eifrig bei. »Und man hört so gruselige Dinge …«
»Was soll gruselig daran sein, wenn ein Holzgriff durchbricht?«, wollte Sanne wissen.
»Zuerst hieß es, der Spaten sei extra geschmiedet worden«, erinnerte Kolbe, »dann war die Rede davon, er käme aus einem Laden, in dem es spukt.«
»Si, stimmt, habe ich auch gehört, aus einem Trödelladen mit lauter alten Sachen.« Auch Rosario veränderte jetzt seine Stimme. Als wäre er auf einen Schlag heiser geworden, krächzte er: »Vielleicht stammen die aus Häusern, in denen es nicht mit rechten Dingen zugegangen oder in denen jemand auf schreckliche Weise gestorben ist.« Er legte eine Hand an seine Kehle und röchelte. »Abgemurkst, vielleicht.«
»Genau, bestimmt ist mit dem Spaten mal jemand erschlagen worden«, meinte Kolbe nun. »Darum war der Griff schon gerissen.«
»So ein Blödsinn!« Sanne schüttelte den Kopf. »Kein Mensch kauft einen Spaten in einem Trödelladen, schon gar nicht, wenn derjenige von der Kanalverwaltung höchst offiziell losgeschickt wurde, um ein Werkzeug für den besonderen Moment zu besorgen, für den allerersten Spatenstich am Nord-Ostsee-Kanal«, sagte sie feierlich. Sie wäre zu gerne dabei gewesen. Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hatte, aber es war doch das gewaltigste Bauvorhaben von ganz Europa. Und es hatte quasi vor ihrer Haustür seinen Anfang genommen.
Die Männer feixten. Bestimmt bildeten sie sich ein, sie hätten Sanne ins Bockshorn gejagt mit ihren Gruselgeschichten. Von wegen. Allerdings verging ihnen das Grinsen schlagartig, weil nun Schreie zu hören waren, die einem wirklich eine Gänsehaut über den Rücken jagen konnten.
Die drei rannten die letzten Meter zum Schürfloch und blieben dort stehen, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Zwei Männer steckten am Fuß der Kuhle in Sand und Geröll fest. Dem einen reichte der Schotter bis zur Brust, von dem anderen guckte nur noch der Kopf heraus. Es sah aus, als würden sie untergehen und ertrinken, bloß fehlte das Wasser.
»Was ist denn passiert? Können wir helfen?«, riefen Rosario und Kolbe durcheinander.
»Wir können jede helfende Hand gebrauchen«, brüllte einer der Arbeiter zurück, die nicht verschüttet worden waren. »Aber bleibt bloß von der Böschung weg, sonst kommt noch mehr runter.«
Tatsächlich, das, was einmal das Kanalufer hätte sein können, war abgerutscht. Hätte nicht viel gefehlt, und die Mischung aus Kies, Lehm und Steinen hätte die Männer alle komplett unter sich begraben.
»Buddelt ihr eure Kollegen aus, wir kümmern uns darum.« Kolbe deutete auf den aus den Fugen geratenen Erdwall. Sie rannten ein gutes Stück am Rand des Schürflochs entlang bis zu einer Leiter und stiegen dort auf den Grund hinab. Zu dritt eilten sie sofort zur Unfallstelle. Kolbe und Rosario begannen damit, breite Bretter und Holzplatten heranzuschaffen. Rosario war kräftig. Doch nicht zum ersten Mal staunte Sanne, welche Gewichte Kolbe scheinbar mühelos bewegte. Um sich auch nützlich zu machen, bot sie den Arbeitern ihre Hilfe an.
»Ist nett von Ihnen, aber wir haben nur drei Schaufeln. Drei Mann, drei Schaufeln.« Der Arbeiter zuckte ratlos mit den Achseln.
»Hier müsste doch jede Menge Werkzeug herumliegen«, sagte sie aufgebracht.
»Nee, herumliegen darf hier gar nix. Ist schon Glück, dass die noch nicht weggeräumt waren.« Der Mann hob seinen Spaten. »Ist eigentlich schon Feierabend, die anderen Sachen sind deshalb weggeschlossen. Wir wollten nur noch schnell …«
»Sabbel nicht!«, unterbrach ihn ein anderer und stieß das Blatt seiner Schaufel gefährlich nah an dem Mann in den Geröllhaufen, der bis zur Brust verschüttet war. Der stöhnte auf. Schwer zu sagen, ob er womöglich das Werkzeug abbekommen hatte.
»Passen Sie doch auf!«, rief Sanne. Sie erntete einen bösen Blick. »Vielleicht besser, ich grabe bei ihm erst mal mit den Händen«, fügte sie schnell dazu, deutete auf den anderen, der bis zum Kinn im Sand steckte, und machte sich auch sofort an die Arbeit. Sie formte ihre Handflächen zu Schaufeln und begann an seinem Hals, das Material zu sich heranzuziehen. Größere Steine packte sie und schleuderte sie fort. Es war grauenvoll. Sanne musste dem Gesicht des Verschütteten sehr nah kommen. Sie hörte sein gequältes Röcheln, sah, wie er immer wieder die Augen öffnete, die Augäpfel wegrollten, so dass sie nur noch auf zwei weiße Kugeln blickte. Er brauchte einen Arzt, schoss es ihr durch den Kopf, und zwar fix. Noch schneller musste er allerdings aus dieser schlimmen Lage befreit werden. Sein Keuchen wurde immer schwächer, als ginge ihm bald ganz die Puste aus. Dafür schrie der andere Verschüttete umso lauter. Es war zum Verzweifeln. Hilfesuchend sah sie sich um und wischte sich immer wieder mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Rosario und Kolbe hatten Pfähle am Fuß der Böschung in den Boden getrieben. Sah fast aus, als wollten sie einen Zaun bauen. Einer der drei Arbeiter hatte seinen Spaten zur Seite gelegt und half ihnen. Zu dritt klemmten sie Platten und Bretter hinter die Pfähle, um die Böschung zu sichern. Das war jetzt das Wichtigste. Hier und da rieselten noch Sand und Steine den Hang herunter, einmal geriet sogar ein ganzer Abschnitt in Bewegung. Es rauschte und staubte beängstigend. Wenn das nicht aufhörte, wurden sie am Ende noch alle unter Schutt begraben. Nee, von den dreien konnte keiner in den Ort laufen, um Hilfe zu holen. Das musste sie übernehmen. Aber erst musste der Mann vor ihr bis zum Brustkorb frei sein, damit er atmen konnte. Es kam ihr vor, als würde sie Stunden graben. Ihre Hände hatten erst gebrannt, dann hatte jeder Einzelne Knochen schrecklich wehgetan, jetzt spürte sie sie nicht mehr. Irgendwann war es geschafft, die Kollegen der Verschütteten hatten den einen vollständig befreit und konnten nun mit ihren Werkzeugen auch den zweiten aus dem restlichen Geröll bergen.
»Ich hole einen Arzt«, verkündete Sanne und rannte auch schon los. War glücklicherweise nicht weit bis nach Brunsbüttelhafen. Trotzdem fühlte sie sich, als hätte sie das Schürfloch allein ausgehoben, als sie zurück war, den Doktor im Schlepptau und vier Flaschen Wasser in den Armen. Kolbe und Rosario war es tatsächlich gelungen, den Hang zu sichern. Nachdem sie den beiden Verunglückten etwas zu trinken gegeben und die Flaschen anschließend an die anderen Arbeiter gereicht hatte, ließ sie sich völlig erschöpft auf einen Sandhaufen fallen. Endlich ausruhen. Sie konnte nichts mehr tun.
Rosario und Kolbe setzten sich zu ihr, einer an ihrer linken Seite, der andere an der rechten.
»Gut gemacht!«, lobte Kolbe sie.
»Ja, wirklich, ganz prima«, stimmte Rosario ihm zu. »Hast du gegraben wie ein Schaufelbagger.«
Der Arzt hatte unterdessen mit ernster Miene die beiden Männer versorgt.
»Bloß gut, dass Sie mich gerufen haben. Für den einen wäre es um ein Haar zu spät gewesen. Beide werden gleich abgeholt und in die Baracke gebracht. Dort gibt es Krankenzimmer, habe ich mir sagen lassen. Wie geht’s Ihnen?«
»Alles bestens«, verkündete Kolbe. »Ein kühles Bier und ein gutes Essen, dann sind wir bereit fürs nächste Abenteuer.«
»Ja, ja, uns geht es gut«, erklärte auch Rosario. »Auf solche Abenteuer verzichte ich in Zukunft allerdings gern.«
Der Arzt wandte sich an Sanne: »Zeigen Sie mal Ihre Hände her!«
»Die müsste ich erst mal waschen«, sagte sie leise, streckte sie aber doch vor und öffnete die Fäuste.
»Au, verdammt!«, entfuhr es Kolbe. Rosario zog nur die Luft zwischen den Zähnen ein. Sanne erschrak, das sah ja noch schlimmer aus, als sie erwartet hatte. Ihre Handflächen waren blutig und schwarz vor Dreck. Der Arzt ließ sich eine Wasserflasche geben, spülte ihre Haut wenigstens grob ab.
»Das kann jetzt etwas brennen«, kündigte er an, als er ein Fläschchen aus seiner Tasche holte und daraus Flüssigkeit auf einen Wattebausch träufelte. Ihr stieg ein scharfer Geruch in die Nase, in der nächsten Sekunde brannte es wie Feuer. Sanne schossen Tränen in die Augen, sie schluckte sie herunter. »Sie sind sehr tapfer. Das ist eine Salzlösung mit Essig, sehr nützlich, um eine Wunde zu reinigen.«
Nachdem die Prozedur erledigt war, gab der Arzt noch eine Tinktur auf die verletzten Stellen, die nicht nur viel besser duftete, sondern den Schmerz auch schnell linderte, dann verband er ihre beiden Hände mit Mullbinden und verabschiedete sich.
Während des Essens hatten sie kaum gesprochen. Sie hatten einen Mordshunger und sich geradezu auf Scholle und Kartoffelsalat gestürzt, kaum dass der Wirt die Teller vor ihnen abgestellt hatte.
»Jetzt noch’n Köm zum Verdauen, dann ins Bett«, sagte Kolbe und lehnte sich zufrieden zurück.
»Ich weiß nicht, ich furchte, ich kann noch gar nicht schlafen.« Rosario schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er alles erlebt hatte. »Erst unser prima Experiment. Das hat aber auch alles … Au!«
Sanne hatte ihm nur einen drohenden Blick und ein »Psst!« zugeworfen, Kolbe dagegen schien ihn unter dem Tisch getreten zu haben. »Ich sage doch gar nichts«, verteidigte sich Rosario. »Und dann noch der schlimme Unfall«, beendete er seinen Satz.
»Komisch ist das alles schon«, meinte Sanne nachdenklich. Sie war als Einzige noch nicht fertig, weil sie das Besteck mit den verbundenen Händen schlecht halten konnte. »Auch wenn ich nicht an Gespenster glaube. Erst der Spaten, dann zwei Pleiten, jetzt das Unglück. Wären wir nicht zur Stelle gewesen … Ich mag mir nicht vorstellen, was alles …« Sie sprach nicht weiter.
Gastwirt Busch trat zu ihnen an den Tisch. Mit ihm kam eine Wolke aus Tabakgeruch, die die drei einhüllte.
»Hab gehört, da ist was passiert, draußen an dem verdammten Loch.«
»Kann man wohl sagen«, erklärte Kolbe und warf sich in die Brust. »Um ein Haar wären zwei Männer qualvoll erstickt. Im letzten Moment konnten wir sie mit bloßen Händen ausgraben.«
»Sie hat bloß mit Händen gebuddelt«, stellte Rosario richtig und deutete auf Sannes Verbände. »Wir mussten die Böschung sichern, damit die anderen Männer der Baggerfirma nicht auch noch unter Sand und Zeug begraben werden.«
»Dann habe ich ja echte Helden zu Gast«, rief Busch laut aus. »Und ein Teufelsweib noch dazu. Alle Achtung!« Er schob drollig die Unterlippe vor und nickte bedächtig. »Darauf gebe ich eine Runde aus.« Er ging zum Tresen und schnappte sich eine Flasche Köm.
»Von mir aus auch zwei«, sagte Kolbe und zwinkerte Sanne und Rosario zu.
»Das Schürfloch hat nicht vergessen, dass man es gleich mit dem ersten Spatenstich beleidigt hat«, mischte sich ein Mann ein, der allein am Nebentisch saß. Er trug eine abgewetzte Jacke und eine Schiffermütze auf dem Kopf. Seine Nase war groß und von dicken roten Adern durchzogen, sein Blick glasig. »Wenn nur die zwei Unternehmen pleitegegangen wären!« Er lachte bitter. »Aber es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte das dritte die Arbeit auch nicht fertig gekriegt. Ich sage: Der Kanal steht unter einem schlechten Stern. Das geht da nicht mit rechten Dingen zu.«
»Immer die gleiche Leier«, flüsterte Sanne und seufzte. »Ein paar komische Zufälle und alle sehen Gespenster.« In dem Augenblick kam Busch mit dem Tablett und stellte vor jeden von ihnen einen Klaren hin. Für sich selbst hatte er auch einen mitgebracht.
»Auf die Helden vom Schürfloch! Prost!«
»Trinkt mal lieber auf ’n Kanal«, kam es vom Nebentisch. »Sonst sterben die Arbeiter da in den nächsten Jahren wie die Fliegen.«
Der Köm brannte in Sannes Kehle. Sie schüttelte sich und hatte offensichtlich ein Gesicht gezogen, das Kolbe zum Schmunzeln brachte.
»Der tat gut«, brachte sie krächzend hervor. Jetzt lachten alle.
»Ist aber was Wahres dran«, nahm Busch den Faden wieder auf. »Ich habe die blauen Flämmchen selbst gesehen, die nachts an den Böschungen getanzt haben.« Sanne legte die Stirn in Falten. »Wenn ich’s doch sage! Erst dachte ich auch, das wären nur Märchen meiner Gäste, die mehr intus hatten, als sie vertragen. Aber dann habe ich die Geisterflammen mit eigenen Augen beobachtet. Unheimlich war das«, sagte er, schenkte sich nach und stürzte den Köm runter. Kolbe hielt sein leeres Glas hoch, doch es blieb leer.
»In dat ole Lock, spökt dat«, murmelte Busch, während er zurück hinter seinen Tresen ging.
»Nix spukt da«, meinte Rosario und kicherte. »Das sind Gase, weiter nichts.«
»Habe ich auch gehört«, sagte Kolbe. »Aber was denn für Gase? Wo sollen die herkommen? Verstehe ich nicht.«
»Die sind an mehreren Stellen im Boden, sind sogar in den Plänen eingezeichnet inzwischen.«
Rosario blickte von einem zum anderen. Sanne sah ihn gebannt an. Sie hatte auch schon was von Gasen gehört, konnte sich aber nichts drunter vorstellen.
»Los, erzähl schon!«, drängte sie ihn.
»Also«, begann Rosario, »Erdboden ist ja nicht einfach nur Sand. In vielen Hunderten von Jahren sind da Pflanzen gewachsen und gestorben, haben sich abgelagert und eine Schicht gebildet. Die Reste vergären, dabei entstehen Gase. Wie in diesen Gruben, diese … wie sagt ihr dazu?«
»Jauchegruben«, antwortete Sanne sofort. Während sie ihm zugehört hatte, musste sie genau daran denken. Auch in den Gruben unter Misthaufen bildete sich Gas. Jeder wusste das, denn es konnte für Bauern genau wegen dieser Dämpfe gefährlich werden, in die oft tiefen Gruben hinabzusteigen.
»Richtig!« Rosario lächelte sie an.
»Und die brennen, oder was?«, hakte Kolbe nach.
»Das passiert häufig, wenn sie an die Luft kommen, ja.«
Der Kerl am Nebentisch hatte ihnen offensichtlich die ganze Zeit zugehört, denn er knurrte: »Irrlichter sind das, Totenlichter. Wenn die auftauchen, passiert ein Unglück. Habt ihr ja gesehen heute.«
Kapitel 2
Kiel, Frühjahr 1889
Noch immer hielten diese elenden Gerüchte um den zerbrochenen Spaten an. Auch Wochen nach Beginn der Arbeiten am Kanal musste Stine sich gegen den hartnäckigen Aberglauben der Leute wehren, die behaupteten, das Werkzeug sei verflucht gewesen, Thams’ Eisenwaren seien verflucht. Wie konnten sie nur wissen, dass der Spaten aus ihrem Geschäft stammte? Wahrscheinlich trug sie selbst die Schuld daran. Sie hatte sich doch so gefreut, hatte geglaubt, es wäre eine Ehre, wenn bei einem so bedeutenden Akt wie dem ersten Spatenstich Ware aus ihrem Laden zum Einsatz käme. Das hatte sie nicht für sich behalten können und zwei, drei Kunden unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon erzählt. Dafür musste sie nun teuer bezahlen. Was auch immer das Leben noch für sie auf Lager hatte, in Zukunft würde sie öfter mal ihren Mund halten. Stine warf einen Blick auf die Uhr. Es war Zeit aufzusperren. Weder Thorin noch ihr Bruder waren da. Pünktlichkeit war nicht gerade ihre Stärke. Sie strich ihren Rock glatt, klemmte eine Strähne des dunkelbraunen Haars, das sie zu einer Steckfrisur aufgetürmt hatte, hinter das Ohr und atmete tief ein, ehe sie das Schild an der Ladentür umdrehte. Geöffnet.
Schrauben, Nägel, Muttern, Haken und weitere Kleinteile waren fein säuberlich nach Größe und Ausführung sortiert. Die größeren Waren hatte sie erst letzte Woche abgestaubt. Neue Bestellungen waren nicht aufzugeben, nicht, ehe sie einen nennenswerten Umsatz zu verzeichnen hatten. Die Bücher waren auf aktuellem Stand. Auch heute würden die Minuten wieder zäh verstreichen. Stine machte sich mit dem Fingernagel an einer klebrigen Stelle auf dem Verkaufstresen zu schaffen. Da hörte sie eine Tür klappen, gleich darauf kam Jobst durch den schmalen Flur, der Laden und Wohnhaus verband, in das Geschäft.
»Moin, Stine.« Ihr Bruder sah an diesem Morgen noch mürrischer aus als sonst. Früher hatten sie sich prächtig verstanden. Doch das Zerwürfnis zwischen ihrem Vater und Jobst hatte sich auch auf das Verhältnis der Geschwister zueinander ausgewirkt. Sie hatten sich einfach viel seltener gesehen, seit Jobst das Elternhaus verlassen hatte. Gleichzeitig waren Stine und ihr Vater enger zusammengerückt. Dass Vater nicht seinem Erstgeborenen, sondern seiner Tochter das Geschäft vererbt hatte, war dann zu viel des Guten gewesen. Jobst hatte getobt, sich nicht damit abfinden wollen, dass er leer ausgehen sollte. Am liebsten hätte er den Laden mit allem, was darin war, versilbert. Bloß wäre nach Rückzahlung der Schulden nichts übrig gewesen. Stine war froh, dass sie ihn davon hatte überzeugen können, das Geschäft zu behalten und gemeinsam dafür zu sorgen, dass es Profit abwerfen würde. Dummerweise gestaltete sich das nach der Sache mit dem gebrochenen Spaten als schwierig.
»Schläfst du noch?« Er sah sie an. »Siehst aus, als wärst du mit den Gedanken noch im Traum.«
»Von wegen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin schon seit mehr als einer Stunde hier.«
»Wozu das? Es kommt doch sowieso keiner.«
»Genau darum bin ich so früh aufgestanden. Erst kann ich nicht einschlafen, weil ich darüber nachgrüble, wie wir dafür sorgen können, dass die Leute diese blöde Angelegenheit vergessen, dann wache ich alle naselang auf und schlafe schließlich gar nicht mehr ein.«
»Kann ich verstehen«, gab er bissig zurück. »Wenn ich so große Töne gespuckt hätte, dass ich den Laden zum Laufen bringen kann und darum alle Entscheidungen treffen will, würde ich auch …« Das Glöckchen über der Ladentür unterbrach ihn. Gott sei Dank! Sonst hätten sie gleich wieder gestritten wie die Kesselflicker.
»Guten Tag, der Herr, wie kann ich Ihnen helfen?« Sie schenkte dem Mann, der soeben hereingekommen war, ein strahlendes Lächeln.
»Ich brauch ’ne Schaufel. Und ’ne Schiebekarre. Ach ja, ein paar Eimer müsste ich auch noch haben.«
Stine hätte ihm um den Hals fallen mögen, aber das ließ sie natürlich lieber bleiben.
»Sehr gern, mein Herr!« Sie kam um den Ladentisch herum. »Die Schaufeln finden Sie hier drüben. Welche Größe soll es denn sein?«
»Hm, mal sehen«, murmelte er und nahm ein Exemplar zur Hand.
»Schauen Sie gern in Ruhe. Danach zeige ich Ihnen unsere Schubkarre. Wir haben ein sehr schönes Modell aus Eisen vorrätig. Ganz modern. Wenn Sie lieber eine gute alte Schiebekarre aus Holz hätten, müsste ich sie Ihnen besorgen. Ich würde Ihnen dann eine empfehlen, die sich seitlich aufklappen lässt. Sehr praktisch!«
Die Schaufeln schienen ihm alle nicht zuzusagen. Stines Zuversicht sank.
»Die hier ist nicht übel für meine Zwecke«, sagte er schließlich doch noch und betrachtete das Werkzeug konzentriert. Stine ahnte, was als Nächstes geschehen würde und hatte recht. Er legte den Stiel über das Knie und übte probehalber Druck aus.
»Das ist stabiles Holz, der bricht nicht so schnell«, erklärte sie und verkniff sich jeden weiteren Kommentar.
»Garantieren können Sie mir das aber nicht«, stellte er fest. »Kann ich mir alles erst mal ausleihen?«
»Wie bitte?«
»Wenn’s solide ist, bezahl ich’s. Sonst bring ich’s zurück.«
»Tut mir sehr leid, aber wir sind kein Leihhaus, sondern ein Fachgeschäft. Ich versichere Ihnen, …«
»Nee, danke, davon kann ich mir nix kaufen.« Er stellte die Schaufel zurück und ging grußlos.
»Du hättest ihm seinen Willen lassen sollen!« Jobst funkelte sie herausfordernd an. »Der Kunde ist König.«
»Dann muss er sich auch so benehmen«, entgegnete sie aufgebracht.
»Hat er das etwa nicht? Er wollte nur eine gewisse Sicherheit.«
»Wie stellst du dir das vor? Soll ich benutztes Werkzeug anbieten, das jemand zurückgebracht hat?«
»Aha, du bist von der Qualität unserer Waren also nicht überzeugt!«
»Natürlich bin ich das.«
»Dann hättest du dich auf das Geschäft einlassen können.«
»Wie kann ich wissen, dass er nicht nach ein paar Tagen alles erledigt hat, was er wollte, und die Sachen nur wieder abgibt, um sich das Geld zu sparen?«
Wie so oft, standen sie sich gegenüber und waren unterschiedlicher Meinung. Sie war die Erbin, doch Jobst war ihr Vormund, der nicht nur im Laden anpackte, sondern vor allem die Verträge unterschreiben musste, die Stine schließen wollte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie nach einer gewissen Eingewöhnungsphase an einem Strang ziehen würden, doch danach sah es nicht aus. Wieder ertönte die Türglocke, Thorin erschien zur Arbeit, mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen, wie üblich.
»Guten Morgen allerseits«, rief er und machte Anstalten, Stine zur Begrüßung einen Kuss zu geben. Sie wich ihm aus.
»Wie schön, dass du es einrichten konntest, vor der Mittagspause hier zu erscheinen«, sagte sie kiebig.
»Habt ihr euch mal wieder in der Wolle?«, fragte er ungerührt und ging nach hinten, um seine Jacke aufzuhängen.
»Stimmt schon«, räumte Jobst kleinlaut ein, »kannst nie wissen, ob die Kundschaft dich nicht nur ausnutzen will. Weißt noch, der Petersen, der früher immer seine missratenen Gören bei Großvater gelassen hat, um in Ruhe seine Einkäufe zu erledigen?«
»Als ob ich den vergessen könnte. Seine Bengel schon gar nicht. Wenigstens hat Petersen manchmal etwas mitgenommen, wenn er schon mal im Laden war.« Sie seufzte. »Entschuldigung, du hast ja recht, ich hätte dem Kunden sagen sollen, dass er sein Geld für Schaufel oder Schubkarre zurückbekommt, falls tatsächlich ein Mangel vorliegen sollte. Wir können es uns nicht leisten, uns einen Verkauf entgehen zu lassen.« Jobst zuckte mit den Achseln. Stine fiel etwas ein. »Thorin?«, rief sie. Er kam zu ihr.
»Na, meine Hübsche, kann man dir wieder näher kommen, ohne dass du die Krallen ausfährst?«
»Sehr komisch. Ist eben alles nicht einfach, da kann man doch wohl mal gereizt sein, oder?«
»Wird’s dadurch einfacher?« Thorins braune Augen funkelten belustigt.
»Nee, bestimmt nicht«, gab sie zu und lächelte. »Aber vom Sabbeln wird auch nichts besser. Friedhelm Ehlers braucht eine kleine Axt und einen Kuhfuß. Er hatte gestern aber schon beide Arme voller Zeug, deshalb habe ich ihm versprochen, dass wir ihm heute beides vorbeibringen. Bist du so lieb?«
Als Thorin fort war, sprach Stine Jobst noch einmal an: »Wir müssen uns wirklich mehr zusammenreißen und uns gemeinsam überlegen, wie wir das Geschäft ankurbeln können. Wenn unsere Einnahmen nicht endlich deutlich wachsen, war alles umsonst. Dann müssen wir schließen und haben womöglich nichts mehr außer Schulden.«
»Ich denke, du überlegst dir was, wenn du abends in deinen komischen Märchenschrank kletterst.«
»Du weißt, dass ich …?«
»Das Haus ist nicht sonderlich groß«, entgegnete er und verzog das Gesicht. »Hella und ich hören es, wenn Mutter stöhnt, weil ihr die Füße wieder wehtun. Wir hören es, wenn Jens weint, weil er schlecht geträumt hat, und wenn du in Vaters Ordnern wühlst oder eben in den Alkoven kriechst. Was treibst du da drin?«
»Nachdenken.« Er musste nicht wissen, dass sie dort nichts von Eisenwaren wissen wollte. Es war ihr Rückzugsort, dessen Zauber sie in fremde Welten entführte, in denen es keine Sorgen gab und nicht Arbeit von früh bis spät. Dort schrieb Stine kleine Szenen, die irgendwann in Thams’ Traumtheater gespielt werden sollten.
»Worüber, wenn nicht über das Geschäft?« Jobst wurde schon wieder lauter. »Wie lange soll es so gehen, dass wir alle unter einem Dach hocken, ohne Geld, ohne genug zu tun für drei Mann?«
»Wenn du dich langweilst, kannst du auch gern überlegen, wie wir Kunden anlocken sollen.«
»Ich kenne mich mit dem Laden nicht aus, das hast du selbst gesagt. Lass du dir etwas einfallen!«
Nur nicht gleich der nächste Streit! Stine atmete ein paar Mal tief durch.
»Ich dachte, ihr bekommt ein bisschen Geld von Heiner Nissen. Der Verkauf seiner Katenstelle an die Kanalverwaltung müsste ihm doch einiges eingebracht haben. Ist schließlich nicht wenig Land dabei.«
»Hör bloß damit auf!«
»Wieso, bekommt er weniger als erwartet?«
»Er bekommt überhaupt nichts.«