Nach der Ausbeutung - Kocku von Stuckrad - E-Book

Nach der Ausbeutung E-Book

Kocku von Stuckrad

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Beschreibung

Mensch und Natur neu denken Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass sich die Erde in einem gewaltigen Transformationsprozess befindet. Die globale Klimakatastrophe hat einen Punkt erreicht, an dem die Lebensfähigkeit vieler Ökosysteme und Arten, und auch das Überleben des Menschen, auf dem Spiel steht. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass es eine radikale Veränderung im Verhältnis zwischen dem Menschen und der nichtmenschlichen Welt geben muss, wenn wir eine lebendige Zukunft des Planeten sicherstellen möchten. Wie können wir unser Wissen über die Welt erweitern und so gestalten, dass es die Verletzlichkeit des Lebens respektiert und den Menschen als Teil einer planetarischen Lebensgemeinschaft begreift? Welche Konsequenzen hat ein solcher Ansatz für Wissenschaft, Gesellschaft und Politik? Dies sind die Fragen, denen Kocku von Stuckrad in seinem neuen Buch nachgeht. Dabei argumentiert er auf der Grundlage heutigen Wissens und erschließt zugleich Neuland für zukünftige Diskussionen. Das Buch ist in gut zugänglichem Stil geschrieben und bietet im Anhang Hinweise zur weiteren Vertiefung des Gelesenen. Durch die Einbeziehung poetischer "mitweltworte" des Autors und anderer Zeugnisse aus Kunst und Literatur stellt das Buch zudem ein Beispiel dafür dar, wie Wissen entstehen kann, das sich Ausbeutungsregimen verweigert und in seiner Bewegung immer suchend und verletzlich bleibt.

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EUROPAVERLAG

Kocku von Stuckrad

NACHDERAUSBEUTUNG

Wie unser Verhältniszur Erde gelingen kann

EUROPAVERLAG

1. eBook-Ausgabe 2024

© 2024 Europa Verlag, ein Imprint der Europa Verlage GmbH,

München Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,

Zürich, unter Verwendung eines Aquarells des Autors, © Kocku von

Stuckrad Lektorat: Annette Barth, Hamburg

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-603-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

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ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

TEIL I: Verletzlichkeit: Mensch und Erde neu denken

Kapitel 1: Geschichte der Ausbeutungsregime: Wie konnte es so weit kommen?

Die toxische Trennung von »Natur« und »Kultur«

Die Unterwerfung des Weiblichen: Patriarchat

Extraktives »Entbergen«: Kapitalismus

Globalisierte Gewalt: Kolonialismus

Kapitel 2: Das Ende der Großen Trennung in den Wissenschaften

Ein neues Miteinander: Relationale Wende und agentieller Realismus

Ökologie als relationales Werden

Das Beziehungsgeflecht menschlichen Lebens: Animismus und Dekolonialisierung

Kapitel 3: Poetische Wissenschaft

»Ich hörte einst von alten Zeiten reden«: Die Neuentdeckung romantischer Naturwissenschaft

Zeitgenössische Kunst als Visionärin der Zukunft

Relationales Wissen in der Literatur

TEIL II: Das Mitweltwissen der Zukunft gestalten

Kapitel 4: Auf der Suche nach einem verletzlichen Wissen

Mit Welt denken: Wissenschaft und Weltbeziehung

Eckpunkte einer Mitweltethik

Kapitel 5: Mitweltwissen: Wie wir in Zukunft wissen wollen

Kein Streit der Fakultäten: Die posthumanistische Neuordnung der Universitäten

Von den Unis in die Gesellschaft (und zurück)

Der Mitwelt Raum geben: Intra-aktive Ethik in der Forschungspraxis

Kapitel 6: Gelingende Weltbeziehung: Neue Ansätze in Politik, Wirtschaft und Bildung

Die rechtliche Anerkennung nichtmenschlicher Personen

Die politische Emanzipation der Mitwelt

Eine globale Wirtschaft ohne Ausbeutung

Verletzliches Wissen der Erde: Bildung als Einheit von Wissenschaft, Kunst und Ethik

Tipps zum Weiterlesen

Abbildungsnachweise

Anmerkungen

Register

Vorwort

Dieses Buchistein Wagnis. Es ist der Versuch, die Verletzlichkeit des Lebens auf unserem Planeten nicht nur zu beschreiben, sondern auch meine eigene Teilhabe an dieser Verletzlichkeit sichtbar zu machen. Seit vielen Jahren arbeite ich als Religionswissenschaftler an der Frage, wie Menschen ihr Verhältnis zur Welt einrichten, sei dies über religiöses Gemeinschaftshandeln, philosophisches Nachdenken, wissenschaftliche Forschungen, künstlerisches Schaffen, politisches Handeln oder spirituelle Praxis. Oft gehen diese unterschiedlichen Perspektiven und Tätigkeiten ineinander über. Sie sind Teil der menschlichen Suche nach Sinn und nach den tieferen Zusammenhängen allen Lebens auf der Erde und im Kosmos. Und genau diese tieferen Zusammenhänge stehen heute zur Disposition. Wir stehen vor den Trümmern einer gescheiterten menschlichen Beziehung zur Welt, die nicht nur eine nie da gewesene Spur der Zerstörung durch alle Lebensformen auf dem Planeten zieht, sondern auch die Existenz menschlichen Lebens bedroht.

Gefühle von Hoffnungslosigkeit, Trauer und Wut über die brutale Ausbeutung, mit der Menschen den Planeten überziehen und dabei an dem Ast sägen, auf dem sie selber sitzen, sind heute weit verbreitet. Auch in der Wissenschaft gibt es viele, die täglich mit ihnen zu tun haben. Ich begegne solchen Gefühlen nicht nur bei mir selbst, sondern auch im Austausch mit Studierenden und im kollegialen Umfeld. Wie sollen wir damit umgehen, solange das Leitbild von Wissenschaft immer noch darin besteht, eine objektive und emotionslose Beschreibung der Welt zu liefern?

Deshalb sind die Neuorientierungen in den Wissenschaften, die ich in diesem Buch als »relationale Wende« beschreibe, eine Befreiung. Zwar gibt es sie noch, die Gralshüter der wissenschaftlichen Wahrheit, die jede Offenheit für spirituelle Weltbeziehungen oder das Eingeständnis subjektiver Faktoren in der Wissensproduktion als Verrat an der Wissenschaft betrachten. Aber immer häufiger stehen diese Menschen vor dem Problem, dass sich in den wissenschaftlichen Theoriebildungen selber der Schwerpunkt von Objektivität zu Intersubjektivität bewegt, von Beobachtung zu Teilhabe und von Isolation zu Relationalität, also einem Beziehungsgeflecht. Zunehmend setzt sich die Einsicht durch, dass unser Wissen nur möglich ist, weil wir von der Welt sind. Unser Sein und unsere Erkenntnis gehören untrennbar zusammen, und deshalb haben auch unsere Emotionen einen festen Platz im Gefüge des Wissens.

Wenn unser ganzes Sein und Wissen mit den uns tragenden Lebenssystemen verbunden ist – die ich in diesem Buch als »Mitwelt« bezeichne –, dann verändern sich auch ethische Maßstäbe von Wissenschaft. Wir sind nicht mehr »nur« der Wahrheit und der menschlichen Perspektive verpflichtet, sondern müssen im Sinne von Gegenseitigkeit und Einverständnis die Perspektiven aller Lebensformen berücksichtigen und aktiv in den Prozess unserer Erkenntnissuche einbeziehen. Das Kollektiv, dem wir uns erklären müssen, wird auf die nichtmenschlichen Subjekte ausgedehnt, was einer Revolution von Wissenschaft und Gesellschaft gleichkommt. Mein Buch ist der Versuch, diese wissenschaftlichen Entwicklungen einem breiteren Publikum näherzubringen und zugleich die Auswirkungen der relationalen Wende zu beschreiben, die sich erst in Umrissen abzeichnen und unsere aktive Gestaltungskraft benötigen.

Wenn ich die »Situiertheit« oder auch Subjektivität allen Wissens ernst nehme, muss ich mit meinen eigenen situativen Zugängen offen umgehen. Das ist der Grund, warum ich immer wieder meine persönliche Lebenswelt mit einbringe, besonders in den Vignetten, die jedem Kapitel vorangestellt sind. Dies sind keine »Anekdoten aus dem Leben eines Wissenschaftlers«, sondern wichtige Fäden im Gewebe des Argumentes, Teil des Arrangements, das Wissen hervorbringt.

Auch das Wissen, welches in Kunst und Literatur vermittelt wird, gehört zu diesem Arrangement. Ich versuche diesen Sachverhalt nicht nur sachlich zu beschreiben, sondern auch durch die Aufnahme von künstlerischen Darstellungen sichtbar zu machen (soweit dies im Medium des Buches möglich ist). Die lyrischen Texte zu Beginn jeden Kapitels nenne ich nicht »Gedichte«, sondern schlicht »mitweltworte«, ein bescheidener Versuch, Gedanken in assoziativer Sprache auszudrücken.

Und schließlich gehört zu meiner eigenen Situiertheit auch, dass ich nur einen kleinen Ausschnitt des Mitweltwissens erforschen kann und dies auch nur im Rahmen meiner persönlichen Lebenssituation. Als weißer, männlicher, deutscher Wissenschaftler mit einer festen Stelle in den Niederlanden und einem Wohnsitz in Berlin ist mein situiertes Wissen durch unzählige Privilegien gekennzeichnet. Hinzu kommen biografische Faktoren, etwa die Tatsache, dass ich als Kind einer Missionarsfamilie meine ersten Lebensjahre in Ghana verbrachte und dadurch eine emotionale Verbindung zu Themen wie Kolonialismus und Religion aufgebaut habe. Auch meine jahrzehntelange eigene spirituelle Suche außerhalb christlicher Prägung – von erdzentrierten spirituellen Praktiken bis zur Astrologie – gehört zu meiner Biografie und beeinflusst mein Wissen und Sein in vielfältiger Weise.

Ich sage das hier nicht, um Nabelschau zu betreiben oder die Lesenden mit meiner Lebensgeschichte zu langweilen. Vielmehr geht es mir um die Sichtbarmachung der Verletzlichkeit und Vorläufigkeit allen Wissens, wofür ich in diesem Buch werbe. Zwar untermauere ich meine Behauptungen mit Argumenten, die hoffentlich überzeugend sind, doch das Arrangement von Wissensbeiträgen, das ich hier präsentiere, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Die Auswahl von wissenschaftlichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Argumentationssträngen, die ich zusammenwebe, ist Ausdruck meiner eigenen Perspektive. Ich erhebe auch nicht den Anspruch, die Perspektiven anderer »wahrheitsgetreu« wiederzugeben, die sich stark von meiner eigenen unterscheiden. Das gilt insbesondere für Beiträge von nichteuropäischen Intellektuellen; nicht nur, dass meine Kenntnis dieser vielfältigen Perspektiven begrenzt ist, meine eigene Situiertheit beeinflusst zudem das Bild, das ich in der Begegnung mit diesem Wissen erhalte. Das kann auch gar nicht anders sein.

Die Vorläufigkeit unserer Welterkenntnis wird noch offensichtlicher, wenn es um Mitweltwissen geht, das von nichtmenschlichen Subjekten wie Gletschern, Mauerseglern oder Kunstwerken ins System eingespeist wird. Alle diese Wissensstränge kommen in meinem Buch vor und bilden einen wichtigen Teil des argumentativen Arrangements. Wofür ich werbe, ist nicht ein »objektives« Verständnis für diese Perspektiven, sondern die Schaffung von Strukturen, in denen die mit diesen Perspektiven verbundenen Akteure sich selber einbringen können. Die Emanzipation und gleichberechtigte Teilhabe der Mitwelt ist Aufgabe für Wissenschaft und Gesellschaft. Wenn wir diese Aufgabe mit aller Entschiedenheit angehen, so mein Argument, können wir eine gelingende Beziehung zur Mitwelt aufbauen.

Vielehabenmichbeim Wagnisdieses Buchesunterstützt. Da ist zunächst meine wissenschaftliche Community, in der heute so viele neue Ideen entwickelt werden. An der Universität Groningen habe ich das Glück, mit Joram Tarusarira, Elena Mucciarelli, Gorazd Andrejč, Andrew Irving, Mathilde van Dijk, Sven Gins, Stefan Mekiffer, Tanja van Hummel, Klaran Visscher, Ann-Sophie Lehmann und vielen anderen einen anregenden Gedankenaustausch pflegen zu dürfen, der diesem Buch gutgetan hat. Dasselbe gilt für meine Studierenden, denen ich für ihre Beiträge und Fragen dankbar bin. Von den vielen internationalen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden möchte ich vor allem Bron Taylor, Jay Johnston, Tim Rudbøg, Dylan Burns, Rüdiger Sünner, Hans G. Kippenberg, Anne Koch, Lisa Sideris, Marion Grau, Siv Ellen Kraft, Teya Brooks Pribac, Graham Harvey, Fabian Scheidler und Marcia Pally erwähnen, die meine Arbeit auf ihre je eigene Art begleitet haben. Ein ganz besonderer Dank gilt Whitney Bauman, der sich mit mir zusammen auf das Abenteuer »Counterpoint: Navigating Knowledge« eingelassen hat – seine Freundschaft, sein Wissen und seine Kollegialität sind eine große Bereicherung für mich.

Wenn unser Wissen und unser Sein eingebettet ist in selbstwirksame Netzwerke, die viel mehr umfassen als unsere menschlichen Perspektiven, dann haben unzählige Individuen an diesem Buch mitgewirkt. Einige von diesen nichtmenschlichen Akteuren kommen in meinem Buch ausdrücklich zu Wort, anderen zolle ich Dankbarkeit in meiner täglichen Begegnung mit ihnen.

Auf meiner lernenden Reise durch die Mitwelt, durch Traurigkeit, Wut und Verletzlichkeit, aber auch durch Freude, Hoffnung und Liebe, war und ist mir Alissa Jones Nelson eine ständige Begleiterin. Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. »She moves among the sparrows / And she walks across the sea / She moves among the flowers / And she moves something deep inside of me.«

Kocku von Stuckrad

Berlin, im Mai 2024

428 ppm CO2

Kapitel 1

Geschichte der Ausbeutungsregime: Wie konnte es so weit kommen?

schadensmeldung

entborgene welt

entborgte geborgte verborgte welt

gewalt der sprache gewalt

des denkens gewalt

des handelns

entrissene zerbrochene erbrochene welt

nicht klagend nur wartend

bergen tut not

Es ist kalt und windig. Völlig erschöpft lasse ich meinen Rucksack von der Schulter gleiten. Er ist schwer, mit Proviant für drei Wochen Wanderung. Ich werfe mich neben ihn ins Gras, erleichtert, dass wir diese Flussüberquerung hinter uns haben. Wenn man im Sarek-Nationalpark in Nordschweden unterwegs ist, ist man ganz dem Wetter und der Landschaft überlassen. Da es keine Wege oder Brücken gibt, können sich Flussdurchquerungen als Überraschung herausstellen, und manchmal muss man einen ganzen Tag am Fluss entlanglaufen, um eine gute Stelle zu finden, vielleicht sogar nach ganz oben, wo der Fluss aus dem Gletscher herauskommt. Diesmal war das Wasser nur knietief und trotz der starken Strömung hatten wir keine Probleme, den Fluss zu durchwaten.

Ich besuche diese Landschaft seit 40 Jahren, mein Leben ist mir ihr verwoben. In den letzten Jahren fällt mir auf, dass die Gletscher immer kleiner werden und sich das Wasser in den Flüssen verändert. Seit 65 Millionen Jahren prägen die Berge, Wälder, Flüsse und Gletscher das Bild der Landschaft hier, doch wie lange wird es sie noch geben? Es tut weh, wenn man feststellt, dass ein Menschenleben ausreicht, um massive Veränderungen im Ökosystem zu beobachten, Veränderungen, die maßgeblich von Menschen ausgelöst wurden und werden. Auf meinen langen Wanderungen im Sarek, im ständigen Zwiegespräch mit der Landschaft in mir und um mich herum, spüre ich Scham und Dankbarkeit, Trauer und Hoffnung zugleich. Ich fühle mich verletzlich, und ich fühle die Verletzlichkeit dieser Landschaft. Ich fühle die Winzigkeit des Menschen gegenüber der Größe des Lebens – das gibt mir Hoffnung, trotz der Wut und der Verzweiflung über das, was Menschen diesem Leben antun.

Vielleicht ging es den Menschen in Island ähnlich, die im August 2019 zusammenkamen, um das Begräbnis von Okjökull zu begehen. Okjökull ist der erste Gletscher in Island, der für tot erklärt wurde. Offiziell geschah dies 2014, als sein Eis nicht mehr dick genug war, um sich fortzubewegen. Etwa 700 Jahre lang hat Okjökull als Gletscher gelebt, aber jetzt ist nur noch ein kleiner Fleck Eis auf einem Vulkan übrig. Mehr als 100 Personen nahmen an der Zeremonie teil, darunter Premierministerin Katrin Jakobsdottir, Umweltminister Guðmundur Ingi Guðbrandsson und die ehemalige irische Präsidentin Mary Robinson. Es gab Lesungen, Reden, eine Schweigeminute und die Anbringung einer Gedenktafel mit einem »Brief an die Zukunft« (s. Abbildung 1). Darauf steht: »Dieses Denkmal soll zeigen, dass wir wissen, was geschieht und was zu tun ist. Nur ihr wisst, ob wir es getan haben.« Die Inschrift, verfasst vom isländischen Autor Andri Snaer Magnason, endet mit dem Datum der Zeremonie und der Angabe der Konzentration von CO2 in der Erdatmosphäre – 415 ppm (parts per million).

Abbildung 1: »Ein Brief an die Zukunft« auf der Gedenktafel für den isländischen Gletscher Okjökull, August 2019

Wie konnte es so weit kommen? Das ist der Leitgedanke dieses ersten Kapitels.

Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass sich die Erde in einem gewaltigen Transformationsprozess befindet. Die globale Klimakatastrophe hat einen Punkt erreicht, an dem die Lebensfähigkeit vieler Ökosysteme und Arten und auch das Überleben des Menschen auf dem Spiel stehen. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass es eine radikale Veränderung im Verhältnis zwischen dem Menschen und der nichtmenschlichen Welt geben muss, wenn wir eine lebendige Zukunft des Planeten auch für den Menschen sicherstellen möchten. Die Zeremonie für Okjökull im Jahr 2019 bringt dies sehr eindringlich zum Ausdruck. Es reicht angesichts existenzieller Bedrohungen nicht mehr, lediglich Krisenmanagement zu betreiben, ohne die strukturellen Ursachen der globalen Krisen ernsthaft anzugehen. Und die reichen weit in unsere Gesellschaften und unsere Geschichte hinein.

Die heutige Situation ist das Ergebnis von Denkmodellen, die den Menschen künstlich, aber systematisch vom Rest des planetarischen Lebens abgegrenzt haben. Die Trennung zwischen »Natur« und »Kultur« ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie ist tief in unsere Lebenswelten eingeschrieben und beeinflusst selbst scheinbar banale Dinge des Alltags. Das wurde mir noch einmal klar, als ich Helen Macdonalds jüngstes Buch Vesper Flights las. Darin schreibt sie: »Absichtlich die falschen Tiere zu füttern – Spatzen, Tauben, Ratten, Waschbären, Füchse – ist eine Übertretung sozialer Normen, die dazu führen kann, dass man von aufmerksamen Nachbarn angezeigt wird, die sich um die Unordnung, die Gesundheit oder den Lärm sorgen oder von bloßer Empörung getrieben sind.« In ihren Essays darüber, wie wir die Welt der Tiere und Pflanzen erleben, sie beschreiben und mit ihr interagieren, legt Macdonald gnadenlos unsere Vorurteile und tief verwurzelten Wahrnehmungsgewohnheiten offen. Diese Gewohnheiten beeinflussen, wie im oben zitierten Beispiel, sogar unsere Vorstellungen darüber, welche Tiere wir im Winter füttern sollten. Macdonald erklärt dies damit, dass in Gärten und Hinterhöfen »die imaginären Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen häuslichem und öffentlichem Raum« überbrückt werden.1

Die Assoziation von »Natur« mit passiven, materiellen, irrationalen, sinnlichen und emotionalen Eigenschaften, während »Kultur« für aktive, dominante, zivilisatorische und geistig-rationale Eigenschaften steht, hat sich über viele Jahrhunderte zu einem Grundpfeiler europäischen Weltverständnisses entwickelt. Dies ist einer der Gründe, warum man in Europa davon ausgegangen ist, dass die Natur zivilisiert, erzogen und kontrolliert werden muss. Auf der anderen Seite hat man die »wilde« Natur als das erhabene »Andere« der menschlichen Zivilisation auch idealisiert.

Die Stilisierung des Menschen als über dem Rest der natürlichen Welt stehend ging einher mit verschiedenen Ausbeutungsregimen, allen voran der patriarchalischen und der kapitalistischen Weltordnung, die das Leben auf unserem Planeten heute bestimmen. Auch die koloniale Ausbeutung nichteuropäischer Gesellschaften ist Teil dieser Weltordnung, die durch philosophische, religiöse, wissenschaftliche und politische Denkweisen über Jahrhunderte gestützt wurde. Wie das alles zusammenhängt, möchte ich in diesem Kapitel umreißen. Es geht mir darum, einen schonungslosen Blick auf den angerichteten Schaden zu werfen, mit dem wir es zu tun haben. Erst dann können wir Strategien entwickeln, um tiefgreifende Veränderungen zum Positiven zu bewirken. Das wird Okjökull nicht wieder lebendig machen, aber vielleicht können wir vom Tod des Gletschers lernen.

Die toxische Trennung von »Natur« und »Kultur«

Sind Nationalparks wie der Sarek in Schweden Natur oder Kultur? Ist Okjökull ein Naturdenkmal, das aufgrund der Einwirkungen von Kultur verschwunden ist? Macht nicht erst die menschliche Kultur etwas zu einem Naturdenkmal?

Die Trennung von Natur und Kultur gehört zu den einflussreichsten Entscheidungen europäischen Denkens und Handelns. Schon in frühgeschichtlicher Zeit entwickelte sich in den Gebieten des Mittelmeerraums und Vorderasiens die Auffassung, dass der Mensch als ein Handelnder der Natur gegenübersteht und diese nach seinen Vorstellungen formt und gestaltet. Man kann vielleicht sogar noch weiter zurückgehen und dieses Denken in der Entstehung von Ackerbau und Tierhaltung verorten, einer »kulturellen« Revolution, die die bisherige Lebensform des Sammelns und Jagens grundlegend veränderte. In dieser Zeit – also vor rund 12.000 Jahren – bildete sich jenes Verständnis, das noch heute unser Denken dominiert. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie stark wir die Begriffe Ackerbau und Landwirtschaft mit »Kultur« verbinden, während all das, was »unkultiviert« ist, als der »Natur« zugehörig gilt. Wir »kultivieren« das Land, wir unterscheiden »Kulturlandschaften« von natürlichen Landschaften (oder isolieren diese als »Naturschutzgebiete«), und in der Land-Wirtschaft werden Tiere zu »natürlichen Ressourcen«, die nach menschlichem Gutdünken gezüchtet und getötet werden können.

Es zeigt die lange Vorgeschichte dieses Denkens, dass die Begriffe »Natur« und »Kultur« auf die lateinischen Worte natura und cultura zurückgehen. Schon in der griechisch-römischen Antike hatten die Begriffe ähnliche Bedeutung wie heute in praktisch allen europäischen Sprachen. Und die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur war Gegenstand philosophischen Denkens. Dabei gab es durchaus unterschiedliche Meinungen zur Frage, wie die Natur genau zu verstehen sei, ob als dem Menschen letztlich unverfügbare Welt unter der Herrschaft der Göttinnen und Götter oder aber als ein Bereich der Wirklichkeit, den der Mensch ergründen und damit auch kontrollieren und verändern kann. Letzteres wird von Aristoteles (384–322 v.u.Z.) vertreten, der im ersten Satz seiner berühmten Metaphysik schreibt: »Alle Menschen streben von Natur (physei) nach Wissen« (980a.21).2 Es sei also ein dem Menschen angeborener Drang, die Natur zu ergründen und Wissen über die Welt zu generieren, wobei schon bei Aristoteles der Mensch als Beobachter und Beurteiler dem Objekt Natur gegenübergestellt ist. Auch die Sonderstellung des Menschen wird von Aristoteles klar herausgestellt: »Die anderen Lebewesen leben nun mit Vorstellungen und Erinnerungen und haben nur geringen Anteil an Erfahrung, das Geschlecht der Menschen dagegen lebt auch mit Kunst und Überlegungen« (980b.21). Kein Wunder, dass diese griechische Denktradition oft als Vorläuferin der heutigen »Naturwissenschaft« betrachtet wird.

Dass sich ein solches Denken gegenüber alternativen Ansätzen durchsetzte – etwa der Überzeugung der antiken stoischen Philosophie, dass der Mensch nur ein kleines Element eines unverfügbaren kosmischen Ordnungsrahmens ist –, liegt auch daran, dass es durch religiöse Mythologie gestützt wurde. Mit der Ablösung der Lebensweise des Sammelns und Jagens durch Ackerbau und Tierhaltung kamen in ganz Europa und Vorderasien mythologische Erzählungen auf, die die Sonderstellung des Menschen sozusagen als gottgewollt festlegten. Zwar gab es Unterschiede zwischen einzelnen Mythologien, doch es setzten sich jene Erzählungen durch, die den Menschen als Beherrscher der nichtmenschlichen Welt hervorhoben. Historisch relevant wurde dabei bekanntlich vor allem die biblische Mythologie, deren Schöpfungserzählung den Menschen nicht nur vom Rest der Schöpfung unterscheidet, sondern ihn geradezu auffordert, sich die Welt zu unterwerfen und verfügbar zu machen. Nach Genesis 1:26 soll der Mensch über alle Tiere »herrschen«, und der Gottessegen in Vers 1:28 fordert die Menschen auf, sich zu vermehren, die Erde zu füllen und sie sich »untertan« zu machen. Zwar versuchen heutige Theologien bisweilen, dies als eine Aufforderung zur »Bewahrung der Schöpfung« und damit als eine verantwortungsvolle Ökologie zu interpretieren, doch die eingeschriebene Herrschaftsstellung und Abspaltung des Menschen vom Rest der Welt lässt sich kaum noch rückgängig machen.

Die Trennungzwischendemkulturschaffenden Menschenundderzur Kulturunfähigen Natur hatte weitere schwerwiegende Konsequenzen. Eine davon ist die Stilisierung von Rationalität und Seele als allein dem Menschen zugehörige Merkmale. Schon Teile der antiken griechischen Philosophie, besonders der Platonismus, hatten alles Körperliche (und damit die Natur) gegenüber der menschlichen Seele als minderwertig angesehen, und die christliche Philosophie des Mittelalters – die Scholastik – verstärkte diese Unterscheidungen, die noch immer einen wichtigen Aspekt der christlichen Theologie darstellen, einschließlich der Vorstellungen über Natur und Ökologie.

Der im 13. Jahrhundert wirkende Thomas von Aquin spielt bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle. Seine Lehre, die die katholische Kirche bis heute als ihre offizielle Psychologie anerkennt, geht von zwei Seelen im Menschen aus. Mit der Geburt entsteht die anima vegetativa, eine Seele, die auch Tiere und sogar Pflanzen haben. Erst mit der Taufe jedoch, in einer Art göttlichem Schöpfungsakt, erhält der Mensch die anima rationalis oder anima intellectiva, eine dem Menschen eigene rationale Seele. Damit wurde die »Vernunftseele« als Alleinstellungsmerkmal des Menschen festgeschrieben. Anthony Nixon sprach für viele seiner Zeit, als er 1616 in The Dignitie of Man (»Die Würde des Menschen«) festhielt, die Vernunft sei »der herrschende Teil der Seele« und »Prinz und Magistrat über alle anderen Teile und Eigenschaften der Seele«.3 Was wir hier sehen, ist der Versuch, eine Eigenschaft einer Spezies – die anima rationalis des Menschen – herauszugreifen und sie als Vergleichskriterium für die Beurteilung anderer Spezies zu verwenden. Für diese Strategie hat der australische Philosoph Peter Singer den Begriff »Speziesismus« populär gemacht.4

Unterscheidungen zwischen Kultur und Natur, zwischen Seele und Körper, sind einflussreiche Beispiele für solche Werturteile. Die wertenden Unterscheidungen verstärkten sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Dies ist auch die Zeit, in der das Wort »Kultur«, das schon zuvor in lateinischer Form Teil deutscher Texte war, vollständig in die deutsche Sprache integriert wurde, mit den Bedeutungen, die es noch heute hat. Es ist kein Zufall, dass dies auch die Epoche der kolonialen Expansion Europas war. Die Trennung von Kultur und Natur wurde zum Instrument kolonialer Ausbeutung.

Systematisch untermauert wurde die Diskussion im 17. Jahrhundert durch die Schriften von René Descartes und der Gruppe von Philosophen, mit denen er verbunden war. In seinem Werk Discours de la méthode (erstmals 1637 auf Französisch erschienen und 1644 ins Lateinische übersetzt) stellte Descartes ein neues System des Denkens vor, eine neue »Wissenschaft«, die Unstimmigkeiten der älteren Philosophien überwinden sollte. Das kommt auch im vollen Titel des Werkes zum Ausdruck: Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen. Die Spekulationen über die menschliche Vernunftseele sind zentrale Bausteine seiner Argumentation, und Teil 5 der Abhandlung ist auch der Natur der Tiere gewidmet. Im Discours und in anderen Schriften, insbesondere in seinem letzten Aufsatz mit dem Titel Die Leidenschaften der Seele (1649), stellte Descartes Thesen über die Seele, die Natur und die Materie auf, die große Auswirkungen auf die spätere Philosophie und Wissenschaft hatten.

Von besonderem Interesse für unser Thema sind Descartes’ begriffliche Unterscheidungen zwischen Körper und Seele, Materie und Geist sowie Mensch und Tier. Die Dualität von Körper und Seele spiegelt sich begrifflich in Descartes’ Unterscheidung zwischen res cogitans (lateinisch für »das denkende Ding«) und res extensa (lateinisch für »das ausgedehnte Ding«) wider: Materielle Dinge können nicht denken, und das denkende Selbst – die Seele – kann keine physische Ausdehnung haben. Folglich ist alles in der natürlichen Welt, da es durch physische Ausdehnung definiert wird, letztlich seelenlos und kann weder Geist noch Bewusstsein haben. Diese Charakterisierung gilt für Tiere, Pflanzen und auch für den menschlichen Körper, der sich von der rationalen Seele als dem Wesen des Menschen unterscheidet. Tiere können zwar bestimmte Dinge besser als Menschen, aber ihre Handlungen sind auf einfache Funktionen ihres Gehirns zurückzuführen, zeigen keine Anzeichen von Selbstbewusstsein, das für Descartes die Voraussetzung für Wissenschaft ist und nur durch die rationale Seele möglich ist.

Mit seiner neuen Philosophie wollte Descartes der Verwirrung, die viele seiner Zeitgenossen in Bezug auf die Fähigkeiten der Tiere empfanden, ein Ende setzen. Wie die Tierhistorikerin Erica Fudge bemerkt: »In Abkehr von Aristotelismus, Plutarchismus und Skeptizismus bot Descartes seinen Leserinnen und Lesern in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Vision von Tieren, in der diese nicht mehr unvernünftig, vernünftig oder auch protovernünftig waren; Descartes’ Tiere waren Automaten.«5 Seine »Tier-Maschinen-Hypothese« hatte einen nachhaltigen Einfluss, von der Philosophie und Wissenschaft der Aufklärung (mit Immanuel Kant als einem ihrer wichtigsten Vertreter) bis hin zur Missachtung der emotionalen und selbstreflexiven Eigenschaften von Tieren, die noch heute Philosophie und Wissenschaft sowie die wirtschaftliche Ausbeutung von Tieren prägen. Man kann daran erkennen, dass Ideengeschichte nicht nur Ideen betrifft, sondern auch mit konkreten Handlungen und Weltdeutungen verwoben ist, in denen diese Ideen sich materialisieren und Wirklichkeit werden.

Der Klärungsbedarf, den Descartes und seine Philosophenzunft verspürten, ist ein deutliches Indiz dafür, dass es alternative Möglichkeiten gab, die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Rest der natürlichen Welt zu denken. Tatsächlich legen neuere Studien nahe, dass die vorherrschende Tier-Maschine-Hypothese unsere Aufmerksamkeit nicht von konkurrierenden philosophischen Argumenten ablenken sollte. Gerade diese Alternativen sind es, an die heute vielfach wieder angeknüpft wird. Hierauf komme ich in Kapitel 2 zurück.

Auch bei der Frage der Beseeltheit nichtmenschlichen Lebens zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen wissenschaftlichphilosophischen und religiös-theologischen Anschauungen. So wie die Ansicht, nur der Mensch verfüge über eine (vollständige, rationale) Seele, von der christlichen Theologie abgesegnet wurde, hielten christliche Denker auch die gesamte natürliche Welt (außer den Menschen) für »seelenlos«. Da der christliche Gott als transzendent galt und als Schöpfergott nicht zugleich Teil seiner eigenen Schöpfung sein sollte, konnte die Natur zwar die göttliche Macht offenbaren, nicht jedoch selber göttliche Qualität haben. Genau darum wurde der »Pantheismus« (also die Auffassung, »alles ist göttlich«) von der offiziellen Theologie als Häresie, als vom christlichen Glauben abweichende Lehre, bekämpft. Der transzendente Gott kann nicht in der materiellen Wirklichkeit »verkörpert« sein; nur der transzendente »Geist« kann als göttlich betrachtet werden.

Diesetheologischen Entscheidungenarbeiten Ausbeutungsregimenindie Hände. Sie haben jenen historischen Prozess in Europa erst möglich gemacht, den der Soziologe und Philosoph Bruno Latour die »Große Trennung« nennt. In seinem Buch Wir sind nie modern gewesen unterscheidet er eine innere und eine äußere Form der Großen Trennung, die miteinander verbunden sind:

»Die innere Große Trennung erklärt daher die äußere: Wir sind die einzigen, die einen absoluten Unterschied machen zwischen Natur und Kultur, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Alle anderen, ob Chinesen oder Amerindianer, Azande oder Barouya, können dagegen in unseren Augen nicht wirklich trennen zwischen dem, was Erkenntnis, und dem, was Gesellschaft ist; zwischen dem, was Zeichen, und dem, was Sache ist; zwischen dem, was von der Natur als solcher kommt, und dem, was ihre jeweilige Kultur verlangt. […] Die innere Einteilung zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen definiert eine zweite, diesmal äußere Einteilung, welche die Modernen von den Vormodernen trennt.«6

Die Abspaltung des Menschen vom Rest der natürlichen Welt und die Unterwerfung und Ausbeutung der nichtmenschlichen Natur nahmen seit dem 17. Jahrhundert immer dramatischere Züge an. Sie standen im Zeichen der rhetorischen Trennung von Kultur und Natur. Die Objektivierung der Natur erst machte die technische und wissenschaftliche Entwicklung möglich, die heute allgemein als »fortschrittlich« und »modern« betrachtet wird. Für den Philosophen Martin Heidegger ist das Neue des technischen Zeitalters darin zu sehen, dass es im »Entbergen« die Ressourcen der Natur ausbeutet. »Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.«7

Im Zuge der technischen Nutzbarmachung der Natur etablierte sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch die Arbeitsteilung zwischen Naturwissenschaften einerseits und Kultur- und Geisteswissenschaften andererseits, eine Arbeitsteilung, die sowohl Spiegel als auch Legitimierung und Festschreibung der Trennung von Natur und Kultur ist. Was in der Zeit Johann Wolfgang von Goethes noch unterschiedliche Aspekte einer einheitlichen Naturforschung oder Naturphilosophie waren, zerfiel nun in unterschiedliche Disziplinen und Weltbilder. Die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Forschung hat dem Wissen über die Welt wesentliche neue Einsichten beschert, zugleich stehen wir heute vor den Trümmern einer ehemals einheitlichen Naturerkenntnis. Wer heute eine Naturwissenschaft studiert, wird kaum mit philosophischen, ethischen oder spirituellen Fragestellungen behelligt; und wer sich für eine Geisteswissenschaft entscheidet, bekommt kaum etwas mit von den revolutionären Erkenntnissen experimenteller Naturforschung.

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die zunehmende Professionalisierung und Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Fächer Fahrt aufnahm, gab es immer wieder Rufe nach einer besseren Integration von Disziplinen und Wissensmodellen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht man noch Bestrebungen, so etwas wie eine Einheitswissenschaft zu formieren, die Geistes- und Naturwissenschaften in einem einzigen Wissenssystem vereinigte. Mit zunehmender Komplexität wissenschaftlicher Theorie und Praxis war solchen Visionen allerdings kein Erfolg beschieden. Stattdessen versuchte man mit Stichworten wie »Interdisziplinarität«, »Transdisziplinarität« und »Multidisziplinarität« die Isolation von Wissenssystemen zu überwinden. Doch man kann nur zwischen Disziplinen und Wissensgebieten vermitteln, wenn man diese Disziplinen zunächst einmal festgelegt und definiert hat; daher bedeutet der Ruf nach interdisziplinärer Zusammenarbeit – wenn auch ungewollt – eine Verstärkung disziplinärer Grenzen.

Um dieser paradoxen Situation zu entgehen, gibt es seit einiger Zeit radikalere Ansätze zur Reform wissenschaftlichen Arbeitens und zur Gestaltung universitärer Strukturen. Da die Trennung von Natur und Kultur tief in europäischen Wahrnehmungen und Handlungen eingeschrieben ist, scheinen tatsächlich nur solche radikalen Neuorientierungen einen Weg aus der Sackgasse zu weisen. Wie das in der Praxis aussehen kann, werde ich im zweiten Teil dieses Buches erläutern.

Das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht auf die Große Trennung von Natur und Kultur beschränkt. Vielmehr geht diese Trennung mit anderen Differenzierungen einher, die ihrerseits Regime der Ausbeutung hervorgebracht und legitimiert haben. Der Publizist Fabian Scheidler spricht in diesem Zusammenhang von einer »Megamaschine«, die das heutige Weltsystem prägt und die Unterwerfung von Mensch und Erde in Form von verschiedenen »Tyranneien« systematisch betreibt. Scheidlers »Geschichte einer scheiternden Zivilisation« beschreibt die Ausgangssituation, die auch meinem Buch zugrunde liegt.8 Für mich sind es vor allem drei Ausbeutungsregime, die sich aus der Großen Trennung von Natur und Kultur ergeben und die in Europa zu einem toxischen Trio geworden sind: Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus.

Die Unterwerfung des Weiblichen: Patriarchat

Esgehtmirhierumdie Beschreibungeines Gesamtphänomens, das sich in Europa in den letzten etwa 600 Jahren herausgebildet hat und in dieser Zeit zu einem weltumspannenden System geworden ist. Ein System, das maßgeblich für die planetarische Krise verantwortlich ist, in der wir uns heute befinden. Deshalb interessiere ich mich vor allem für die inneren Zusammenhänge zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialismus. Was das Patriarchat angeht, müssen soziale Systeme unter männlicher Vorherrschaft (wörtlich bedeutet Patriarchat »die Herrschaft von Vätern«) natürlich nicht zwangsläufig zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem führen. Man denke an marxistische Systeme oder alternative Wirtschaftsformen in vorindustriellen Gesellschaften. Sieht man sich jedoch in der Geschichte von Handel und Wirtschaft um, stellt man sehr schnell fest, dass Kapitalismus und Patriarchat seit einigen Jahrhunderten fest miteinander verbunden sind.

Ein gemeinsamer Nenner von Patriarchat und Kapitalismus ist darin zu sehen, dass es in beiden Systemen um Privatbesitz geht. Patriarchalische Rechtssysteme gründen darauf, dass der Mann die Verfügungsgewalt über die Frau hat. Diese Ausbeutungssituation hat die Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem feministischen Grundlagenwerk Das andere Geschlecht (im französischen Original Le Deuxième Sexe) schon 1949 klar herausgearbeitet:

»Nachdem die Frau durch das Aufkommen des Privateigentums entthront worden ist, bleibt ihr Geschick durch Jahrhunderte an eben dieses gebunden; größtenteils fällt ihre Geschichte mit der des Erbrechts zusammen. Man begreift die grundlegende Wichtigkeit dieser Einrichtung, wenn man sich ständig vor Augen hält, daß der Eigentümer seine Existenz in seinen Besitz projiziert; er mißt ihm größere Wichtigkeit bei als sogar seinem Leben […]. Der Mann wird sich also nicht darauf einlassen, mit der Frau sein Hab und Gut oder die Kinder zu teilen. Er wird nicht immer und vollkommen seine Ansprüche durchsetzen können, aber sowie das Patriarchat die herrschende Rechtsform geworden ist, entzieht er der Frau ihren Anspruch auf Besitz und Vererbung der Güter.«9

Seit der Antike – und verankert in religiösen und staatlichen Rechtstexten in vielen Gesellschaften – wird die Heirat als eine Übertragung von Besitz geregelt: Die Frau geht in den Besitz des Mannes über; der Bräutigam bezahlt dafür einen »Brautpreis«, also einen Geldbetrag oder einen Besitz, an den Vater der Braut. Diese Praxis wird schon in der 3700 Jahre alten babylonischen Gesetzessammlung Codex Hammurapi erwähnt, und in der Bibel wird dies ebenfalls gebilligt, beispielsweise in Exodus 22:15–16, wo es heißt: »Wenn jemand ein noch nicht verlobtes Mädchen verführt und bei ihm schläft, dann soll er das Brautgeld zahlen und sie zur Frau nehmen. Weigert sich aber ihr Vater, sie ihm zu geben, dann hat er ihm so viel zu zahlen, wie der Brautpreis für eine Jungfrau beträgt« (Einheitsübersetzung). Dem Brautpreis wiederum steht die »Mitgift« (von mittelhochdeutsch mitegift, »das Mitgegebene«) oder die »Aussteuer« gegenüber. Damit ist ein Vermögen gemeint, das der Vater der Braut, meist in Form von Gütern und Hausrat, an den Vater des Bräutigams oder auch direkt an das Ehepaar übergibt.

Der Heiratsvertrag regelt zwar auch Schutzrechte für die Frau, doch geschieht dies in Abhängigkeit von der Verfügungsgewalt des Mannes. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es einer verheirateten Frau in Europa und Nordamerika verboten, ohne Einverständnis ihres Ehemanns Verträge abzuschließen oder ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. Und auch heute noch geraten viele Frauen nach der Scheidung oder dem Tod des Ehemanns in eine Armutsfalle, besonders wenn sie wegen der Kinderbetreuung (die im kapitalistischen System unbezahlt ist) kein eigenes Einkommen erwirtschaftet haben. Die kapitalistische Ausbeutung geht hier mit der Ausbeutung weiblicher Arbeit eine toxische Verbindung ein. Die Tatsache, dass die bürgerliche Ehe patriarchalische Machtstrukturen festschreibt, ist genau der Grund, warum viele in der LGBTQ+-Bewegung die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als einen Pyrrhussieg oder bestenfalls als eine Zwischenlösung betrachten. Letzten Endes muss es einer postpatriarchalischen Bewegung um die Aufhebung der bürgerlichen Ehe als Rechtsform gehen, was die Politologin und Aktivistin Emilia Roig jüngst in ihrem Buch Das Ende der Ehe anschaulich vorgeführt hat.10

Wie hängt diese patriarchalische Machtordnung mit dem Gegensatz von Natur und Kultur zusammen? In der Geschlechterforschung hat sich seit den 1970er-Jahren eine besondere Forschungsrichtung etabliert, die sich genau dieser Frage widmet. Als »Ökofeminismus« (oft auch in der englischen Form, als ecofeminism) bekannt, geht diese Bewegung, in der sich intellektuelle Analyse mit politischem, sozialem und ökologischem Engagement verbindet, den tiefer liegenden Zusammenhängen von Patriarchat, Kapitalismus und Umweltzerstörung nach. Und man braucht nicht lange zu suchen, um in der euro-amerikanischen Geschichte auf die enge Verflechtung dieser Deutungssysteme zu stoßen. Tatsächlich sind die zugrundeliegenden Denkstrukturen so fest in unseren Gesellschaften verankert, dass sie oft als selbstverständlich angenommen und nur selten hinterfragt werden.

Ein Grundpfeiler dieses Denkens ist die Assoziation von Weiblichkeit mit Natur, während Männlichkeit mit Kultur in Verbindung gebracht wird. Analog zum Gegensatzpaar von Natur und Kultur wird in diesem Ordnungssystem Weiblichkeit mit Passivität (oder »Empfänglichkeit«), Emotionalität, Irrationalität, zyklischen Strukturen und Altruismus gleichgesetzt. Das männliche Prinzip steht demgegenüber für Aktivität, Geistigkeit, Rationalität, lineare Strukturen und Egoismus (»Durchsetzungsvermögen«). Die australische Philosophin Genevieve Lloyd hat schon vor 40 Jahren diese Grundstruktur in der europäischen Philosophiegeschichte eindrücklich nachgezeichnet, von den antiken Griechen bis hin zu Friedrich Nietzsche. Doch Lloyd war nicht die Erste, die solche männlichen Fantasien kritisch kommentierte. Sie kann sich auf Simone de Beauvoir beziehen, die in Das andere Geschlecht prägnant auf die Differenz zwischen der männlichen »Kultur« und der weiblichen »Natur« aufmerksam gemacht hatte.11

Ebenso wie die Natur »kultiviert« werden muss und dabei dem »kulturschaffenden« Menschen verfügbar gemacht wird, wird auch die Frau im Patriarchat von der männlichen Vernunft gleichsam »kultiviert« (bis hin zum weitverbreiteten Mansplaining), was ebenfalls mit ihrer »Zähmung« oder Verfügbarmachung einhergeht. Eine Frau, die in ihrem Verhalten männliche Stereotype an den Tag legt, wird pathologisiert und sofort wieder in ihre Schranken gewiesen. Wie oft habe ich es in Berufungskommissionen an der Universität erlebt, dass eine offensiv auftretende Kandidatin als »schwierig« oder »anmaßend« eingeschätzt wurde, während dasselbe Verhalten bei ihrem männlichen Mitbewerber als »selbstbewusst« und als Zeichen für eine echte »Führungspersönlichkeit« gewertet wurde. Übrigens werden auch Männer, die weibliche Stereotype zeigen, einer solchen verletzenden Pathologisierung und »Kultivierung« ausgesetzt.

Wieschweresist, derpatriarchalischen Wissens- und Handlungsordnungtatsächlichzuentkommen, hat die Geschlechterforschung selbst erleben müssen. Zunächst schuf man in den 1970er-Jahren ein Analyseinstrument, das dabei helfen sollte, patriarchalische Muster zu identifizieren und womöglich zu verändern: Das biologische Geschlecht (englisch sex) wurde vom sozialen Geschlecht (englisch gender) unterschieden. Dadurch wurde es möglich, stereotype Handlungsmuster von »männlich« und »weiblich« nicht mehr als vererbte, »natürliche« Eigenschaften zu betrachten (wie dies bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gang und gäbe war), sondern als sozial konditionierte Eigenschaften, die historischem Wandel unterliegen. Das war ein Durchbruch für die Geschlechterforschung. Die Crux der Sex-Gender-Unterscheidung ist jedoch – und das haben nicht nur ökofeministische Forschungen im Laufe der Zeit immer deutlicher herausgearbeitet –, dass sie ungewollt die Trennung von Natur und Kultur fortschreibt. Das »natürliche Geschlecht« wird als unwandelbar vorgegeben betrachtet, während das »soziale Geschlecht« ebenjener »Kultur« unterliegt, die auf die vorgegebene »Natur« einwirkt. Im Englischen kommt dies prägnant in der Unterscheidung von nature (»Natur«) und nurture (»Erziehung/Pflege«) zum Ausdruck.

Tatsächlich ist es aber so, dass das natürliche Geschlecht gar nicht so »natürlich« ist, wie die Kategorie Sex es suggeriert. Vielmehr ist auch das, was wir als »natürliches Geschlecht« betrachten, Gegenstand von sozialer Konstruktion und historischem Wandel, und unser Gehirn (als imaginärer Ort von biologischem Geschlecht) ist ein Organ, das ständig mit der Umgebung interagiert und sich auf Umweltbedingungen einstellt. Auch die Konstruktion eines sozialen Geschlechts ist keineswegs losgelöst von biologischen Faktoren und Bezugspunkten in der materiellen Realität, nur dass diese eben nicht auf die vereinfachte Struktur von männlich – weiblich reduziert werden können. Kurzum, im Laufe der Zeit wurde die Unterscheidung zwischen Sex und Gender immer mehr als Hindernis betrachtet, wenn man die komplexen Prozesse der Herstellung von Geschlechteridentitäten adäquat analysieren möchte. In den heutigen Queer Studies und verwandten Feldern der Geschlechterforschung wird diesem Umstand Rechnung getragen, und die kritische Analyse von Begriffen, die auf der Trennung von Natur und Kultur beruhen, spielt dabei eine wichtige Rolle.

Gerade in jenen feministischen Analysen, die der Unterscheidung von Sex und Gender kritisch gegenüberstehen und eine stärker »intersektionale« Betrachtung in der Geschlechterforschung anmahnen – vor allem durch die Einbeziehung der Kategorien der ethnischen Zugehörigkeit (race), gesellschaftlichen Klassenbildung (class), körperlichen Möglichkeiten (ability) und dem Lebensalter –, wird immer wieder auch der Zusammenhang zwischen Patriarchat und Kapitalismus herausgestellt. Die humanistische Tradition, die dem Menschen die Verfügungsgewalt über die Natur einräumt, setzt unterschwellig den »Menschen« mit dem »Mann« gleich. Schon in den 1980er-Jahren wiesen Denkerinnen wie bell hooks und Donna Haraway darauf hin, dass sich feministische Analyse nicht darauf beschränken kann, die gesellschaftliche Ausrichtung auf den Mann zu kritisieren (also den »Androzentrismus«), dass vielmehr der Androzentrismus häufig mit einem Anthropozentrismus (der Ausrichtung auf den Menschen) einhergeht, der deshalb ebenfalls Gegenstand feministischer Kritik sein muss. Das heißt dann auch, dass Wissensordnungen, die sich der männlich geprägten humanistischen Tradition verdanken, allen voran die Trennung von Natur und Kultur, durch eine Wissensordnung abgelöst werden müssen, die auf eine Zentralperspektive insgesamt verzichtet und die »Situiertheit« von Wissen aus unterschiedlichen Perspektiven als selbstverständlich betrachtet. Patriarchat und Kapitalismus sind zwei Formen desselben Ausbeutungsregimes, was in der heutigen ökofeministischen Forschung unumstritten ist.12

Extraktives »Entbergen«: Kapitalismus

Grundideekapitalistischerundneoliberaler Wirtschaftsformenistdie Gewinnmaximierung. Zwar gibt es ein großes Spektrum konkreter kapitalistischer Systeme (vom »Gründerkapitalismus« zur »sozialen Marktwirtschaft«), doch alle teilen die Grundannahme, dass eine »gesunde« Wirtschaft auf Gewinn ausgerichtet ist und einem klaren Wachstumsmodell folgen muss. Ein negatives Wirtschaftswachstum gilt selbst in der sozialsten Form der »freien« Marktwirtschaft als ein schlechtes Zeichen, dem eine konsequente Investition in weiteres Wachstum folgen muss. Dass dieses System auf Dauer nicht funktionieren kann, ist klar. Ein endloses Wachstum gibt es nicht; stattdessen führt ein solches Denken zwangsläufig in die ökologische Katastrophe. Dass sich die Grundidee des Kapitalismus so lange hat halten können und sie noch immer die Triebfeder der reichsten Ökonomien des Planeten ist, hat natürlich viele Gründe. Dem System liegt ein anthropozentrischer Modus zugrunde, der nicht nur die nichtmenschlichen Lebensformen ausklammert (solange sie nicht »Ressourcen« darstellen), sondern auch die menschlichen Lebensformen außerhalb des eigenen Wirkungskreises sowie jene der folgenden Generationen. Diese Sichtweise wird durch eine Wissensordnung gerechtfertigt, die der »Kultur« des Menschen das subjektive Recht einräumt, über die »Natur« als Objekt nach Belieben zu verfügen.

Und, wie sollte es anders sein? Die Religionen haben auch hier zur Rechtfertigung von Ausbeutung beigetragen. Die dahinterliegende Dynamik hat der Soziologe Max Weber vor mehr als 100 Jahren beschrieben. Weber wies darauf hin, dass eine bestimmte Form von Protestantismus der kapitalistischen Wirtschaftsethik zugrunde liegt, eine »innerweltliche Askese« nämlich, die in der Anhäufung von Kapital nichts Verwerfliches sieht, sondern geradezu ein Zeichen göttlicher Erwählung. Diese These könnte zumindest teilweise erklären, warum es gerade die protestantisch geprägten Länder waren, in denen der »Turbokapitalismus« so dominant wurde.

Es zeigt sich hier erneut das Kennzeichen des technischen Zeitalters, das Heidegger als »Entbergen« und »Heraus-Fordern« der Natur bezeichnet hat. Es ist so tief in europäische Vorstellungs- und Handlungswelten eingeschrieben, dass es Teil des Systems geworden ist. Selbst in Umweltschutzmaßnahmen und »grüner« Politik zeigt sich oft noch dieselbe anthropozentrische Grundannahme, für die ein »Weniger« bei Wirtschaftswachstum und Bruttoinlandsprodukt schlechterdings undenkbar ist. Heute wird die zugrunde liegende Dynamik oft auch als extractivism(»Extraktivismus«) bezeichnet, nämlich als ein Entbergen, das die uneingeschränkte Ausbeutung natürlicher Lebenssysteme mit sich bringt.