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Am Ende des 19. Jahrhunderts reist ein junger Engländer nach Island, der sagenumwobenen Insel im Norden. Denn dort möchte er die Familie seiner Mutter finden und gleichzeitig das Land kennen lernen. Doch aus der geplanten abenteuerlichen Forschungsexpedition wird sehr schnell ein Höllentrip. Die schroffe Inselwelt und der bäurischer Menschenschlag sind nicht das, was er erwartet hat. Langsam realisiert der junge Mann, dass seine sentimentale Reise eine Lüge ist. Er ist nicht einfach nur ein abenteuerlicher Gentleman, er ist auf der Flucht. Dieser Roman, der lange die Bestsellerlisten anführte, erhielt seinerzeit den Literaturpreis der isländischen Zeitung DV.1957 wurde Gudmundur Andri Thorsson in Reykjavik geboren. Dort, sowie in Wien und Göteborg, studierte er Slavistik. Seit einigen Jahren lebt er nun, gemeinsam mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, in Island. Der junge Mann, der als Journalist, Literaturkritiker und Verlagslektor tätig war, arbeitet nun als freier Autor und Übersetzter. -
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Seitenzahl: 217
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Guðmundur Andri Thorsson
SAGA Egmont
Nach Island
Aus dem Isländischem von Helmut Lugmayr nach
Íslandsförin
Copyright © 2000, 2018 Gu∂mundur Andri Thorsson und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711586303
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Das Vergangene existiert nur als Erzähltes.
Steinn Steinarr: Lát huggast barn
Great things are done
when men and mountains meet.
William Blake: Gnomic Verse
„… dort gäbe es wenig zu holen, außer Träumen.
Dunklen Träumen, seltsamen Träumen.“
Du hast dich zur Ruhe gelegt, und wir haben noch immer nicht miteinander gesprochen. Morgen breche ich zu einer Expedition auf meine Abenteuerinsel auf, und du kamst nach dem Essen nicht zu mir herein. Schläfst du? Bei Tisch hast du mir nicht in die Augen geblickt, sondern still gelächelt, während ich ohne Unterlaß von meinem Norden daherredete. Hast du mich da vermißt? In diesem Augenblick bedeutet mir die alte Seele des Sagavolkes im jungen, bedrohlichen Land nichts … Unwirtliches Land, Feuer, Eis, Weiten, Einöden und Berge, die Katastrophen, die kernige Menschen formen, sind mir gleich – ein Wort …
Ein Wort aus deinem Mund, und nichts von all dem soll mich je wieder kümmern, selbst wenn ich dir unzählige Male lange Vorträge über die Insel im Norden gehalten habe, in anderen, helleren Stunden unseres Lebens, während deine Augen jeden Tag für mich leuchteten und ich aus deinen Bewegungen erriet, daß dein Körper unter dem weißen, weichen Kleid auf meine Hände und Zärtlichkeiten wartete, wach und warm. Ein Wort, Charlotte: Bleib.
Aber du hast mir nicht in die Augen geblickt, und wir haben noch immer nicht miteinander gesprochen, und du hast dich zur Ruhe gelegt. Meine Bücher stehen hier, so dunkel und still, und ich weiß, sie werden hier stehen, wenn ich zurückkehre. Seltsam, wie sehr ich an meinem alten Schreibtisch hänge, an meinem braunen abgewetzten Lehnstuhl, dem Kamin, der ständig verrußt, seinem Knistern – an dem alten Graham und Emma, meinen armen getreuen Bediensteten, meiner lebhaften Hündin, die jetzt nicht so bald wieder beim Rattenkampf zeigen darf, was in ihr steckt, an der alten Eiche vor meinem Fenster, dem Schlafrock, dem Federhalter, der Zigarettendose. Alles, was mir so lieb und teuer ist, wird hier noch unverändert sein, wenn ich im Herbst zurückkehre, aber ich fürchte, alle Dinge werden mir dennoch befremdlich erscheinen, weil wir nicht miteinander gesprochen haben.
Mein Vater hat mich heute zu sich bestellt und wollte offensichtlich bis zum letzten versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Er fragte, ob die unvorhergesehenen und sonderbaren Ereignisse, die zum Tod seines Kameraden Robert geführt hatten, irgendwie mit dieser Narretei, wie er sie zu nennen pflegte, zu tun hätten. Ich antwortete ihm in aller Ruhe, daß ihm mein tiefes Interesse für Island zur Genüge bekannt sein sollte, zu dessen Entwicklung er ja nicht zuletzt selbst beigetragen hatte, und daß auch er nicht ganz frei von diesem Interesse gewesen wäre, denn er habe ja bekanntlich vor vielen Jahren ebenfalls eine solche Fahrt mit den allseits bekannten Folgen unternommen. Das tragische Schicksal Roberts hätte mit meinem Entschluß oder meiner Person nicht im geringsten zu tun, zumal er es durch seinen ausschweifenden Lebenswandel selbst verschuldet hatte. Andererseits sei mir viel daran gelegen – und ich merkte, daß eine gewisse Schärfe in meinen Worten lag –, das letzte Land Europas mit eigenen Augen zu sehen, das noch nicht durch den Geist der Habgier verdorben sei und durch die Ausbeutung gewissenloser Banditen, die nur auf ihren momentanen Vorteil bedacht seien.
Ich sagte vieles mehr, doch das war der Kern meiner Rede. Der alte Mann seufzte und bot mir ein Glas Portwein an. Dann begann er mir von seinen Abenteuern auf Island zu erzählen, die ich mir geduldig anhörte, obwohl ich das meiste davon nur allzugut kannte. Seine Erzählungen schienen mir diesmal über alle Maßen verworren, und ich hatte den Eindruck, daß ihm seine Abenteuer aus verschiedenen Ländern durcheinander gerieten, aber plötzlich verstummte er und sah eine Weile verloren vor sich hin. Schließlich blickte er auf und sagte leise, während er das Glas verlegen in seiner Hand drehte: Du weißt, welchen Kummer es mir bereitet, eure Streitigkeiten mit anzusehen. Könnte es nicht sein, daß auch die Frau irgendwie Schuld daran trägt? Frauen wie sie verdrehen allen Männern den Kopf …
Ich sprang auf und ging raschen Schrittes zur Tür, aber gerade als ich sie öffnen wollte, hörte ich ihn mit leiser Stimme ein Wort sagen, das ich noch nie von ihm gehört hatte und von dem ich mir nicht hätte vorstellen können, es je aus seinem Munde zu hören: Verzeih.
Er deutete mir, wieder umzukehren, und ich ging einige Schritte ins Zimmer zurück, ohne mich aber zu setzen. Er sagte, er wolle nicht, daß ich eine so schwierige Reise in ein so primitives Land unternehme, ohne mir die Sache vorher gründlich zu überlegen; dort gebe es wenig zu holen, außer Träumen. Dunklen Träumen, seltsamen Träumen. Er erhob sich ungelenk und ging trotz seines hohen Alters immer noch groß und aufrecht auf mich zu. Er klopfte mir auf den Rücken und machte eine scherzhafte Bemerkung, doch mir schien seine Stimme klanglos. Der Glanz in seinen starken stahlgrauen Augen war verblaßt, die Pupillen waren kleiner und matter geworden und die Züge um die markanten Kieferknochen schlaffer; ich bemerkte gelbe Flecken auf seinen knochigen Händen, die mir bisher nicht aufgefallen waren, und mir stieg ein Geruch in die Nase, der mir unzweifelhaft bewies, daß er – auch er – sogar er – begonnen hatte zu altern.
Bald werde ich mich zur Ruhe begeben und die Kerze löschen, meine treue Hündin wie zum Abschied kraulen, den Schlafrock lockern und für einen Augenblick die kühle Brise des Abends auf mich einströmen lassen. Bald werde ich schlafen, und Träume werden mir aufsteigen, seltsame Träume von einem nebelverhangenen Land, dunkle Träume. Das Kratzen der Feder bereitet mir eigentümliche Lust, so als ob ich meinem pochenden Blut im Fluß der Tinte endlich freien Lauf lassen könnte. Der Ast der alten Eiche klopft behutsam ans Fenster, und ich höre das vertraute Rauschen in den Zweigen. Auf Island sind Wüsten, und die Menschen dort sind abgehärtet. Auf Island fließen die Tage im Sommer ineinander. Die Vögel zwitschern bei Nacht. Das Licht strahlt auf Mensch und Tier.
Ich konnte seinen Kummer nie verstehen, habe seine Unrast niemals begriffen. Er hat mich immer wieder verlassen und kam stets wieder zu mir zurück, immer unterwegs durch die Welt, um neue Länder zu erforschen und neue Abenteuer zu bestehen. Warum fuhr ein gutsituierter, kinderloser Kaufmann um die Vierzig nach Island? Dort saß er an Festtafeln mit vornehmen Herren und ritt auf munteren Pferden durch das Land, überquerte Flüsse und sah, wie sich die Berge im Wasser spiegelten: Abenteuer. Er traf Priester, die sich mit ihm in Latein unterhielten und sich mit ihm im Steineheben maßen. Das Land der Geschichten, sagte er zu mir in der kleinen Bibliothek an einem Winterabend, während das Feuer im Kamin knisterte. Gerade zurückgekehrt von Indien, sprach er dennoch nur von dem fernen Thule: das Reich der Königin Saga. Der Norden, der kalt, einsam, schön und wehmütig ist. Er war durchdrungen vom Geist dieses Landes.
„Ultima Thule“, sagte er, „ein poetisches Land, umhüllt von Geheimnissen und uralten Rätseln.“ Ungeheuer gleiten durch die nebelverschleierten Seen, Riesen hausen in den schneebedeckten Bergen, Elfen in den Hügeln, Wassergeister auf den Schären und Zwerge in der Lava. Unberührt von allem Fortschritt. „Und die Menschen dort“, sagte er zu mir, „werden neunhundert Jahre alt. Sie sterben und werden wieder neu geboren. Dieselben Menschen, wieder und wieder. Dieselben Geschichten, dieselben Schicksale.“
Er kämpfte mit Wegelagerern, die im Hinterhalt lauerten und ihn berauben wollten, aber er überwältigte sie, und sie schworen ihm hinterher einen Treueid und wollten ihm folgen, erzählte er mir, während wir an einem Juniabend im Eßzimmer zu zweit bei Tisch saßen und er gerade aus Afrika zurückgekommen war.
Die Geschichte eines Herbstabends, Abenteuer: er allein unterwegs am Strand bei Nacht. Irgendwo im Osten von Island. Es herrscht Stille, sagte mein Vater. Und die Stille ist unwirklich, so wie sie ist, wenn es hell ist und alles schläft. Er sieht in der Ferne, wie ein Mann langsam am Meer entlangreitet. Er hat den Hut tief ins Gesicht gezogen, daß er die Augen verdeckt. Er kommt näher. Als er auf Hörweite herankommt, ruft ihm mein Vater einen Gruß zu. Der Fremde antwortet nicht und kommt immer näher. Und im selben Augenblick, da mein Vater erkennt, daß sich unter dem Hut kein Gesicht befindet, ist der Mann verschwunden. Nicht aber das Pferd. Es kommt ganz auf meinen Vater zu, bleibt dicht vor ihm stehen und schnaubt ihn freundlich an.
„Und was hast du gemacht, Vater?“ fragte ich.
Er blickte in das erlöschende Kaminfeuer und strich mir über den Kopf.
„Es war kein Gesicht unter dem Hut, nur Schwärze“, murmelte er.
Er war erfüllt vom Geist dieses Landes, das von Geheimnissen und uralten Rätseln umhüllt ist. Als er nach Hause zurückkehrte, folgte ihm eine junge Frau. Sie trug ein blaues Gewand. Sie trug ein rotes Gewand. Und ihr goldenes Haar fiel dicht über ihre Schultern herab und reichte weit auf den Rücken hinunter. Sie trug ein weißes Gewand. Und er nahm sie zur Frau, und ich wurde geboren, als sie starb.
Dieselben Menschen, wieder und wieder: Ich bin neunhundert Jahre alt.
„… Er hielt es für nötig, mich in die
komplizierten Familienverhältnisse
auf dem Hof, wo er geboren wurde,
einzuweihen …“
Mit wunden Füßen Felsen erklimmen und umherirren, ausgehungert; vom furchtbaren Schweigen des Landes erdrückt, durchdrungen von der Kälte des ewigen Frostes … und feindselige Geister flüstern mir mit archaischen Worten Verwünschungen zu; allein schlage ich mein Lager in einer abgeschiedenen Höhle auf; draußen pfeifen die Winde, und ganz nahe heulen Wölfe; ganz nahe ertönt Hufschlag; ganz nahe verbergen sich Wegelagerer …
Excelsior!
Auf raschen Pferden in hellen Nächten durch ein herrliches Tal reiten. Den Nachkommen der Sagahelden Gunnar und Njál begegnen und den Menschen, welche die Lieder der Edda überliefert haben und in sich noch ihren Geist tragen, die Nachkommen von Sigurd dem Drachentöter und Gudrun. Jene Stelle betreten, wo Gunnar umkehrte. Das Althing besuchen, auf dem freie Bauern in Brüderlichkeit ihre Entscheidungen trafen und keiner über den anderen erhaben war. Den Geysir sehen und die Kraft der unbändigen Natur spüren, die niemandem gehorcht außer den Geboten Gottes oder des Teufels. Die Nachkommen von Odin selbst treffen!
Während uns die Kutsche durch das Gedränge und den Lärm der Stadt trug, saßen wir uns gegenüber, schweigsam, und schienen beide eine unruhige Nacht verbracht zu haben. Widersprüchliche Gefühle rangen in mir. Immer noch schien es, als würde ich auf etwas warten – ein Wort – eine Andeutung – einen Blick –, das diese Fahrt trotz jahrelanger Vorbereitung zunichte machte. Charlotte. Charlotte. Charlotte. Meine Stute, mein Wildpferd: Sie ist anders als die blassen und geistlosen Herrentöchter, denen man auf Gesellschaften begegnet. Sie lacht mich aus. Unsere erste Begegnung: Robert stellte mich ihr vor, und ich beugte mich zu ihrer Hand hinab und spürte ihren Zeigefinger rasch und ganz leicht über mein Kinn streichen … danach gab es für mich kein Zurück mehr. Dabei hätte ich mir eine Junggesellenzeit unter jungen Mädchen meines Standes verdient …
Wußte Robert, wohin es sie des Nachts trieb?
Während uns der Pferdewagen durch die Stadt nach King’s Cross trug, versuchte ich, alle unangenehmen Erinnerungen an ihn aus meinem Gedächtnis zu tilgen. Ich sah sie die ganze Zeit an. Schwarze Locken waren der Spange entschlüpft und fielen über ihre zarten Wangen. Weiße Handschuhe ruhten im Schoß und verbargen kleine Hände. Die grünen Augen ruhten auf den Gestalten draußen, sie war blaß. Trotz des Schweigens war eine Unruhe in ihr, die ich zu meinem Bedauern nicht zu besänftigen vermochte. Vor dem Fenster sah ich die Zweige den Himmel umarmen, Blumen, die die Erde umarmten, Vögel, die den Wind umarmten. Und Kinder. Sie waren herausgeputzt, und die Sonne umarmte sie alle. Alles liebt und umschwärmt sich.
Weiß ich, wohin es dich des Nachts treibt?
Alles Gepäck war bereits im Zug verstaut, und ich war in Hochstimmung, wie gut Cameron und ich alles bedacht hatten, sowohl was den Proviant als auch die Ausrüstung betraf. Wir sind auf alles vorbereitet. Jetzt können wir uns nur noch auf uns selbst verlassen, denn auf Island wird es keine Bediensteten geben, welche die Dinge für uns erledigen. Wir müssen unser Essen selbst zubereiten, unseren Tee kochen, unser Lager aufschlagen. Es wird ein Abenteuer.
Ich hatte Cameron rasch am Bahnhof erspäht, wie er stattlich und mit dunklem Haar eine Versammlung von alten Tanten überragte, die gekommen waren, ihm Lebewohl zu sagen. Er schien über die Maßen froh, mich zu sehen, und beeilte sich, die alten Damen zu verabschieden. Der Isländer Jón Hólm war dagegen nirgends zu entdecken. Wir kauften drei Fahrkarten und mußten uns mit der dritten Klasse begnügen, weil es keine anderen Plätze mehr gab. Ich sagte zu Cameron, es sei nur angebracht, die Reise auf diese Weise zu beginnen, da uns später wohl noch größere Unbequemlichkeiten erwarten dürften. Er meinte, es seien in der Tat verlockende Aussichten, dritter Klasse zu reisen. Ich hatte das Gefühl, er wolle mich verspotten. Nirgends auch nur eine Spur von Hólm. Cameron begann die Beherrschung zu verlieren und machte mir Vorwürfe, daß ich einem Einheimischen so sehr vertrauen konnte. Die Isländer seien ein gutgesittetes und altes Kulturvolk, sagte ich, und Hólm hätte ein außerordentlich gutes Zeugnis von Leuten erhalten, denen ich unbedingt vertraue. Cameron sagte, ich hätte den Mann dennoch vorher treffen und ihn mir ansehen sollen. Darauf wußte ich keine Antwort, und ich war heilfroh, als ich eine Minute vor Abfahrt einen Mann im offenen Wagen kommen sah, auf den die Beschreibung von Hólm paßte. Die Freude schlug allerdings rasch in Entsetzen um, als er mit dem Kutscher um den Fahrpreis zu feilschen begann, gerade so, als ob es keinen Grund zur Eile gäbe. Ich lief zu ihnen hin, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß es sich um jenen Jón Hólm handelte, der es übernommen hatte, unser Reisebegleiter zu sein, bezahlte ich dem Kutscher, was seiner Meinung nach noch auf den Fahrpreis fehlte – er sah mir unheimlich aus, hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen, so daß nichts als ein häßlicher, zahnloser Mund zu sehen war, der sich zu einem schmierigen Grinsen verzog, als ich ihm das Geld hinhielt.
Dann verschwand er, als hätte ihn die Erde verschluckt.
Hólm schien das hingegen nicht im geringsten zu kümmern, und es hatte den Anschein, als hätte er sich aus reiner Langeweile auf diesen Streit eingelassen. Trotz allem machte der Mann im ganzen einen sympathischen Eindruck auf mich, und sein Handschlag war fest. Er scheint ein guter Vertreter seines Volkes zu sein. Er hat ein ungewöhnlich schönes Gesicht und wirkt auf seine Art weltmännisch und gleichzeitig jungenhaft, wie sein Schnauzbart, der üppig gewachsen ist, aber vielleicht doch besser in das reifere und ausdrucksvollere Gesicht eines etwas älteren Mannes passen würde. Er ist groß und kräftig, stämmig und muskulös, und sein ebenmäßiges Gesicht strahlt Aufrichtigkeit und Eifer aus, wie er mir so im Zug gegenübersitzt und ebensowenig Schlaf zu finden scheint wie ich.
Schläfst du?
Schwarze Locken, die über ihre sanften Wangen herabfielen. Es gelang mir, sie an mich zu ziehen, bevor sie sich zum Gehen wandte. Ich umarmte sie voller Leidenschaft. Ich spürte, wie mich ihre Arme umschlossen. An meiner Wange spürte ich ihre Wärme. Ich wußte, was uns ein Leben lang verbindet, würde auch das sein, was uns letztendlich voneinander trennt.
Auf dem Weg nach Norden. Stundenlang, und draußen ein trüber Morgen über einer trostlosen Landschaft. Abgrundhäßliche Erzschmelzen. Baufällige Hütten, Ebenen, Kohle. Alles schwarz, naß, häßlich; alles grau in grau.
Cameron schläft, und währenddessen unterhalten wir beide uns. Hólm ist außerordentlich offenherzig. Er hielt es für nötig, mich in die komplizierten Familienverhältnisse auf dem Hof, wo er geboren wurde, einzuweihen. Dort schien ein jeder mit jedem Kinder zu zeugen, wie es sich gerade ergab, Knechte, Mägde, der Hausherr – alle, bis auf die Herrin des Hauses, die bereits aus dem Gebäralter heraus war und es ertragen mußte, daß ihr Mann eine Magd nach der anderen schwängerte und es dann seinen eigenen Knechten oder andern in die Schuhe schob. Hólm war eines dieser Kinder. Seine Mutter war eine junge Dienstmagd gewesen, die im Kindesalter von ihrer Mutter getrennt worden war und sich von da an selbst für ihr Brot abschuften mußte, mißbraucht, geknechtet, unfreie Magd auf immer. Als sie diesen Jungen bekam, erklärte sie einen Knecht dort am Hof zum Vater, und dieser bekannte sich auch dazu, obwohl sich alle darüber einig waren, daß es ein Kind des Hausherrn war. Hólm selbst will dem keinen Glauben schenken, sondern meint, der Pfarrer der Gegend sei sein Vater. Es war weithin bekannt, daß dieser Mann, der sich um einen christlichen Lebenswandel der Menschen hätte kümmern sollen, selbst ein berüchtigter Hurenbock war, der jeder Frau nachstellte, die in seine Nähe kam. Und wie hätte sich ein junges, unerfahrenes Mädchen, das von niemandem Hilfe erwarten konnte, gegen einen solchen Mann wehren sollen? Andererseits, sagt er, habe sich ihm der Pfarrer später als gut erwiesen. Er nahm ihn zu sich und ließ ihm Bildung zuteil werden. Seine Mutter sah er nie, da sie aus der Gegend fortzog.
Die Menschen seien ihm nicht gut gewesen. Trotzdem ist Gentleman das Wort, das Hólm am häufigsten in den Mund nimmt, wenn er über Menschen und deren Tun spricht – er unterscheidet beharrlich zwischen den Menschen, die in seinen Augen eine solche Bezeichnung verdienen, und jenen, die ihrer nicht würdig sind.
Er spricht ununterbrochen von Island. Er sagt, die ersten Wochen, als er in ferne Länder aufgebrochen war, habe er jeden Abend geweint, so unsäglich sei es ihm nahegegangen, nicht in seinem geliebten Lande zu sein. Und das, obwohl er sich zu Hause, auf Island, stets danach gesehnt hatte, die Sitten und Bräuche anderer Völker kennenzulernen. Er scheint wahrhaftig sein ganzes Leben dem einen Zweck gewidmet zu haben, die Entwicklung auf Island voranzutreiben. Ich unternahm einen Versuch, mein ärmliches Isländisch, das mir der alte Jón in meiner Kindheit beigebracht hatte, hervorzukramen, und erntete dafür bei Hólm Begeisterung und Freudenrufe. Er lobte mein Isländisch in höchsten Tönen, obwohl er mich zugegebenermaßen da und dort korrigieren mußte, und bald unterhielten wir uns wieder auf Englisch, nachdem wir uns köstlich über meine Bemühungen amüsiert hatten – so köstlich übrigens, daß Cameron davon erwachte und mir im Spaß einen Hieb versetzte.
Faszinierend, dieses starke Heimweh der Isländer. Genauso war der alte Jón auch gewesen. Oft habe ich ihn bitterlich weinen gesehen, und wenn ich ihn fragte, was ihm so zu Herzen gehe, sagte er jedesmal, er habe gerade an Island gedacht.
Hólm war nun richtig in Fahrt gekommen, stand auf und stolzierte im engen Zugabteil auf und ab, während er mir isländische Gedichte vortrug, die – wenn ich es recht verstanden habe – von ihm selbst stammten und prunkvoll und pathetisch klangen, obwohl ich ehrlich gesagt einige Schwierigkeiten hatte zu verstehen, worum es dabei eigentlich ging. Er rezitierte dann noch ein recht langes Gedicht eines isländischen Poeten namens Matthías Jochumsson, angeblich ein Freund von ihm und der größte Dichter des Landes, doch ich verstand auch von dieser Dichtung kaum mehr als vorhin, was aber vielleicht daran gelegen haben mochte, daß mich langsam eine gewisse Müdigkeit überkam.
Es hemmte den Redefluß Hólms nicht, daß ich immer schweigsamer wurde. Er war jetzt bei Jón Sigurdsson angelangt, von dem mir auch mein Vater schon erzählt hatte. Jón ist der Rebellenführer im Lande. Ich war begierig, mehr über den Freiheitskampf der Isländer zu erfahren, und fragte, ob sich die Aufständischen in Gruppen organisiert hätten, ob sie sich in den Bergen versteckt hielten und von dort gezielte Angriffe führten und ob sie große Unterstützung in der Bevölkerung fänden.
Aber ich werde wohl noch etwas auf die spannenden Erzählungen blutiger Kämpfe und heldenhafter Taten der tapferen Vaterlandsfreunde auf dem Feld der isländischen Geschichte warten müssen, denn Hólm überging meine Fragen. Dagegen schien ihm viel daran gelegen zu sein, mir die Weisheit und Weitsicht Jón Sigurdssons vorzuführen, die er mir nun in langen und ausführlichen Worten schilderte. Dann folgte ein Bericht von seiner Bekanntschaft mit Jón, die ihren Anfang nahm, als er noch ein junger Bursche auf dem Hof des Pfarrers gewesen war. Er war nicht mehr als ein einfacher Knecht, aber als Jón zu Besuch kam, durfte auch er mit den andern in der Wohnstube sitzen und sich mit dem Anführer unterhalten. Er zeigte schon damals wenig Respekt vor den Obrigkeiten und ließ viele große Worte über die Unterdrückung durch die Dänen fallen. Jón Sigurdsson gefiel diese Rede so, daß er ihn tags darauf beiseite nahm, und nachdem sie sich lange unterhalten hatten, sagte er etwas in der Art: Du gefällst mir gut, und ich habe vor, einen Kaufmann aus dir zu machen. So wirst du unserem Volk am besten nützen. Angeblich hat sich Jón daraufhin an den Pfarrer gewandt, und gemeinsam hätten sie beschlossen, den Burschen auf die Schule zu schicken.
Hólm sagt, es gebe keine isländischen Kaufleute und aller Gewinn fließe in die Taschen der Dänen. Er nannte viele unschöne Beispiele, wie dieses Herrenvolk seine Hauptstadt Kopenhagen aus dem Erlös des Islandhandels erbaut habe und sich am Verkauf vieler wertvoller Gegenstände aus der Zeit bereichere, als die Isländer ein stolzes und mächtiges Volk waren, das über alle Meere der Welt segelte.
Und Hólm war nicht untätig gewesen. Was er von seinen ersten Versuchen im Geschäftsleben erzählte, war höchst interessant und ist es wohl wert, hier festgehalten zu werden.
Jón Sigurdsson hatte Hólm auf eine Handelsschule in England geschickt, denn er meinte, daß man die Geschäftsverbindungen Islands mit Europa, vor allem aber mit dem mächtigen England, stärken müsse. Ich war überrascht zu hören, welch großes Interesse Jón an Handel und Geschäft hat und daran, Anschluß an die europäische Wirtschaft zu finden; wahrscheinlich ist er nicht allzugut mit diesen Dingen vertraut und merkt nicht, welche Hölle auf Erden die Geldgier den Menschen bereitet hat – ich freue mich auf eine Unterhaltung mit ihm, falls er mit seinen Männern unsere Wege auf Island kreuzt. Hólm weiß bestimmt, wo er sich versteckt hält.
Hólm fiel das Studium nicht schwer. Er stach unter den ausländischen Schülern hervor, weil er keinerlei Scheu vor den Lehrern zeigte und ihnen, wenn es sich so ergab, schon mal aus vollem Halse antwortete, wodurch er sich schließlich deren Vertrauen und letztendlich auch deren Freundschaft erwarb. Einer dieser Männer hieß Miller, und nach Abschluß der Schule begann Hólm für ihn in Schottland zu arbeiten. Miller verfügte zusammen mit seinem Partner über drei Dampfschiffe, und als Jón Sigurdsson an Hólm schrieb, daß man ihn gebeten habe, einen Käufer für tausend Islandschafe zu suchen, gelang es dem jungen Geschäftsmann, das Interesse der Kaufleute an diesem Handel zu wecken – seine Überzeugungskraft und sein Eifer waren so überwältigend, daß sie beschlossen, so viele Schafe von Island zu kaufen, wie sie nur kriegen könnten; auch Pferde, Rinder und Kühe. Hólm reiste mit dieser guten Nachricht sofort nach Island, und dort wollen natürlich alle verkaufen, was immer sie können. Bisher war noch nie ein derartiges Geschäft zustande gekommen. Viele Bauern hatten jetzt plötzlich die Aussicht, zum erstenmal in ihrem Leben Geld zu Gesicht zu bekommen. Eine neue Zeit war angebrochen – das goldene Zeitalter stand vor der Tür. Und was nicht gerade das schlechteste an der Sache war: hier war es Hólm gelungen, einen tüchtigen Keil in das Handelsmonopol der Dänen zu treiben. Das großartigste nach Hólms Ansicht aber war, daß sich nun eine Möglichkeit für regelmäßige Schiffsverbindungen mit Island geöffnet hatte.
Hólm plante insgesamt vier Fahrten, um das Vieh von Reykjavík abzuholen. Voll Freude fährt er nach England zurück, aber dort erwarten ihn vernichtende Neuigkeiten. Miller und sein Geschäftspartner waren plötzlich bankrott gegangen und hatten sich zerstritten. Sie beschuldigten sich gegenseitig, den anderen um sein Geld betrogen zu haben, und es bestand keine Aussicht auf Einigung. Nun war für den jungen verwegenen Mann, der soeben das Jahrhundertgeschäft zwischen Island und einer ausländischen Nation abgeschlossen hatte, guter Rat teuer. Er würde vor seinem Volk als Verräter dastehen, als Hochstapler und Großmaul, und die Stadt Reykjavik versinkt in blökender, wiehernder und muhender unverkaufter Ware.
Als es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, beschließt Hólm, an Jón Sigurdsson zu schreiben, ihm seine Leidensgeschichte mitzuteilen und ihn um Hilfe zu bitten. Jón läßt ihn auch diesmal nicht im Stich. Es gelingt ihm, Hólm mit einem gewissen Alistair, einem reichen Landbesitzer, in Verbindung zu bringen. Hólm sucht ihn auf, und mit seiner Überzeugungskraft und dem ihm eigenen Charme gewinnt er den Mann für sich. Und das so gründlich, daß Alistair nach ihrer Begegnung fest davon überzeugt ist, daß das einzige, was ihm bisher noch gefehlt hatte, Islandschafe seien, um sie hierzulande zu verkaufen.
Die Ware befindet sich bereits auf dem Weg nach Reykjavík, und Hólm und Alistair zögern nicht lange, ein Schiff zu chartern. Aber das Schiff strandet kurz nach der Abfahrt vor der Küste Schottlands. Sie reisen in aller Eile nach Glasgow, und mit Hartnäckigkeit gelingt es ihnen, ein anderes Schiff aufzutreiben, das dreitausend Schafe transportieren kann. Endlich scheint die ganze Sache unter Dach und Fach. Aber als das Schiff auslaufen will, stellt sich heraus, daß es nicht versichert ist, und daran ist nicht zu rütteln. Und kein anderes Schiff ist zu finden, außer einem, das mit Rindern von Portugal auf dem Weg sein soll.
So vergeht die Zeit, bis alles zu spät ist.
Die isländischen Bauern hatten mit viel Mühe ihre Schafe, Pferde und Rinder nach Reykjavík getrieben, aber das Schiff von Schottland traf niemals ein, und keiner wollte die Erklärungen Hólms hören. Man warf sich erneut in die Arme der dänischen Ausbeuter.
Nachdem Hólm seine ergreifende Erzählung beendet hatte, sagte Cameron, der inzwischen aufgewacht war, voller Anteilnahme, er sei davon überzeugt, den Isländern werde es in Zukunft besser gelingen, ausländisches Kapital ins Land zu bringen. Ich versuchte zu lächeln, zitierte meinen Longfellow und sagte leise:
„Excelsior!“
Er lachte herzlich, steckte sich eine Zigarre an, pustete heftig, lachte abermals und schüttelte den Kopf, murmelte das Wort vor sich hin und nickte lebhaft dazu.