Nach Notat zu Bett - Heinz Strunk - E-Book
SONDERANGEBOT

Nach Notat zu Bett E-Book

Heinz Strunk

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Drei Jahre lang hat Heinz Strunk öffentlich Tagebuch geschrieben, in der 'Titanic', es fing an als eine Art Parodie auf Diarien bedeutungsvoller Schriftsteller ("Nachmittags eine Gabe von Thee"), entwickelte jedoch bald ein ganz eigenes Leben in einem weiten Feld zwischen unernster Figurenrede, Kurzessayistik, Aphorismus, Quatsch, Trübsinn und auch nicht wenig Tiefsinn. Aus dieser Kolumne ist nun ein Buch geworden. Aufgeteilt in 12 Monate bringt Strunk hier weltenweit Entferntes zusammen: "Alltagsbeobachtungen", Lektüren, Privatfernsehabende bei viel Alkohol, Aphorismen, Selbstbeobachtung beim Altern, alberne "Karrieretipps", manchmal auch Poesie. Damit ist die "Intimschatulle" ganz große Humoristenklasse und in dieser Form ohne Vorbild.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinz Strunk

Nach Notat zu Bett

Heinz Strunks Intimschatulle

Über dieses Buch

Drei Jahre lang hat Heinz Strunk in einer Zeitschriftenkolumne öffentlich Tagebuch geschrieben, es fing an als Parodie auf Diarien bedeutender Schriftsteller («Nachmittags eine Gabe von Thee»), entwickelte jedoch bald ein ganz eigenes Leben in einem weiten Feld zwischen unernster Figurenrede, Kurzessayistik, Aphorismus, Quatsch, Trübsinn und auch nicht wenig Tiefsinn. Aus dieser Kolumne ist nun ein Buch geworden.

 

Aufgeteilt in zwölf Monate, findet hier weltenweit Entferntes zusammen: «Alltagsbeobachtungen», Lektüren anderer Autoren, Privatfernsehabende bei recht viel Alkohol, Reisenotizen, Selbstbeobachtung beim Altern, alberne «Karrieretipps», manchmal auch Poesie. Damit ist die «Intimschatulle» ganz große Humoristenklasse und in dieser Form ohne Vorbild.

 

«Tatsächlich bietet die ‹Titanic› zurzeit kaum Lesenswerteres als die lakonisch hingeworfenen und angenehm ironiefreien Berichte, Notizen und Einlassungen aus dem Alltag eines mit sich selbst hadernden Autors, alternden Entertainers und Bewohners eines eher bürgerlich erscheinenden Singlehaushalts in Hamburg-St. Pauli samt Nachbarhund, Beerenfrühstücken und quälenden Freundin-Ulla-Besuchen.»

(Fritz Tietz, KONKRET)

 

«Ein verlässlicher monatlicher Segen.»

ARNO FRANK, SPIEGEL ONLINE

Vita

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Hamburg geboren. Seit seinem ersten Roman «Fleisch ist mein Gemüse» hat er acht weitere Bücher veröffentlicht. «Der goldene Handschuh» stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrt.

Für Bertram Leyendieker

JanuarDer Biss des Zahnlosen

1.1. Bereits um 6.45 aufgewacht («wie eine Rakete im Bett»), Serotonin- und alle weiteren Spiegel vollkommen im Keller, schwere Morgen- und Neujahrs-Depression (obwohl ich gestern lediglich eine «party for one» gefeiert habe, die bereits gegen 1.30 mit einer Doppelfolge «Medical Detectives» endete). Nach einem Weiterschlafbier (gönne ich mir nur noch alle Jubeljahre) dann Gott sei Dank Durchschlaf bis 11.30. Zum Breakfast süß/herzhaft zwei dünne Scheiben gebutterter Toast/Konfitüre sowie eine Scheibe Graubrot mit polnischer Leberwurst & Tomatenachtel. Coffee & Cigarettengabe.

Milde, regnerische 9 Grad, der erhoffte Wintereinbruch lässt weiter auf sich warten. Die ewigen Lamenti darüber, dass der Winter «in diesem Jahr wohl ausfällt», gehen mir trotzdem auf die Nerven. Von mir aus könnten auch alle Skitourismus-Hotspots pleitegehen. Wintersport: lächerlich, dumm und überflüssig. Die Zukunft gehört den Darts.

Nachtrag zu Silvester: Könnte die unvermeidliche Meldung, dass Samoa das neue Jahr bereits so und so viele Stunden früher feiert, nicht mal durch eine andere ersetzt werden? Z.B. durch die Nachricht, dass Deutschland künftig in zwei Zeitzonen eingeteilt werde (DDR/BRD)? Ebenfalls sehr öde die Berichte/Bilanzen zum Thema Sylvesterunfälle: «Massenpanik, halb abgerissene Gesichter, fehlende Gliedmaßen, Druckwellen und Feuerbälle – Wer jetzt an Krieg denkt, der irrt.» Albern.

Mittags Kalbsschlegel in Sauce ravigote, dann Spaziergang um den Pudding, Kreislauf hochjazzen. Heute gönne ich mir noch eine Schonfrist, bevor ich morgen in aller Frühe die Arbeit aufnehme. Afternoon nap.

Anruf von Meyer-Schulau. Ob wir uns auf eine «kleine Neujahrspromenade» treffen wollen. Einverstanden, ja, gerne! Seit dem Tod seiner Frau vor bald drei Jahren ist unser Kontakt wieder enger geworden. Auf dem Rückweg kommen wir an unserem Stammcafé, dem «Café 2 Talk», vorbei, das leider geschlossen hat. Meyer-Schulau schlägt vor, zum Dinner ins glücklicherweise geöffnete Restaurant «Diverso» (Name ist Programm: Internationale Küche von/bis) zu gehen. Gebackene Kartoffeln mit Hering, Steak au four. Dazu Riesling. Obwohl wir uns bald zwanzig Jahre kennen, sind wir beim «Sie» geblieben, jetzt ist es eh zu spät. Trotzdem oder wohl gerade deshalb eine erprobte Verbindung. Guter Satz von MS: «Ich brauche keine Einfälle. Was mir einfallen muss, sind die richtigen Verknüpfungen.»

Wieder daheim, schreibe ich noch die Jahresleistungsbilanz, in der ich die Zahl meiner Auftritte (wo, wann, warum) notiere, wie viel ich geschrieben, veröffentlicht, eben «geschafft» habe, aber auch die Summe sportlicher Aktivitäten. Recht ansehnlich. Ich könnte stolz oder wenigstens zufrieden sein, stattdessen mal wieder Gefühl großer Vergeblichkeit. Dum spiro spero.

Abends TV, im Zweiten die Dramödie «Daddy hoch zehn», mit Helmut Zierl in seiner Paraderolle als sympathischer Volltrottel. Danach auf n-tv «Die lange Nacht der Schwertransporte». Schnaps (Ziegler Sauerkirsche exquisit) und Plundergebäck.

In den Psalmen gelesen. Wunsch: mein Christsein noch aktiver zu leben. Einschlafprobleme wg. heißer Füße (Burning-Feet-Syndrom), sommers wie winters eine große Plage.

2.1. Guter Durchschlaf, Punkt 9.00 klingelt der Wecker. Mor- gengymnastik (tiefe Rumpfbeugen, Seitstütz, Liegestütz). Gedoucht, Haarwäsche mit lauwarmem Bier. Biscuits, kalter Maulbeersaft.

Generalplan für dieses Jahr: Arbeit gleich an zwei Büchern, einem (hoffentlich) großen, preisverdächtigen (und dann auch preisgekrönten!) Roman und, parallel dazu, einem Erzählungsband, anknüpfend an das «Teemännchen». Der Erzählungsband soll/wird heißen «Der gelbe Elefant», Titel für den Roman steht noch aus.

Das Schreiben an gleich zwei unterschiedlichen «Projekten» hält, so stelle ich es mir vor, «obenrum» frisch und flexibel, Stichwort Multitasking, man läuft nicht ständig ins Leere, nutzt sich nicht zu sehr an einem Thema ab. Wenn einem zum einen Projekt nichts mehr einfällt, dann einfach zum nächsten, Methode Ping-Pong. Tägliches (selbstverständlich auch an den Wochenenden) Pensum dabei: netto vier Stunden. Gestoppt wird mit einem (analogen) Eierwecker.

Ein typischer Arbeitstag könnte demnach etwa so aussehen: Arbeitsbeginn Punkt 9.30. Erste Arbeitseinheit 90 Minuten (mehr schafft man, also ich, nicht am Stück), dann 45 Min. Pause. 60 Min. Arbeit, 45 Min. Pause. 45 Min. Arbeit, 30 Min. Pause. Letzte Einheit 45 Min. Feierabend. Wären netto 6 Stunden. Die Pausenzeiten «nicht in Stein gegossen», die Arbeitszeiten hingegen schon. En passant: «Nur dann zu schreiben, wenn man Lust dazu hat, ist das beste Mittel, sein Werk niemals zu schaffen» (Baudelaire). Und überhaupt: Muße, Eingebung, Geistesblitz, Geniestreich, oder wie sich Lieschen Müller das Schriftstellerdasein so vorstellt: «Amateurs wait for inspiration; the rest of us just go to work» (Philip Roth).

Jedenfalls: Erste Arbeitseinheit des Jahres von 9.45 bis 14.30, unterbrochen von nur kurzen Pausen, Ertrag gefühlt recht gut, aber das will nichts heißen, das meiste hält einer späteren Sichtung/Prüfung doch nicht stand: in der Regel ein einziges Gestottere, nichts Zusammenhängendes, höchstens mal ein Absatz gelungen. Der Rest Apfel Mülleimer.

Um 14.30 zu den Jungs von Willis Schwenk-Grill (mein Stamm-Imbiss, fußläufig erreichbar, ums Eck) auf eine «schnelle Wurst». Willi hält mit seinen zwei Mitarbeitern, Hauke und Marc, seit nunmehr vier Jahren (trotz oft widrigster Bedingungen) sommers wie winters die Stellung. Bewundernswert. Außerdem hat er – schon wieder, wo kommen die nur alle her? – einen neuen Spruch auf Lager: «In seinem Loch ist jeder Käfer Sultan.» Und gleich noch einen schießt er aus der Hüfte: «Manchmal ist es einfacher, ein Fenster zu öffnen, als eine Tür zu schließen.»

Spontaner (Impuls-)Kauf dünner belgischer Unterhosen. Abends Schälbraten mit Morchelgemüse und holländischer Sauce, Starkbier mit Zucker. Früh zu Bett, Lecture Stefan-Zweig-Tagebücher. «Irgendein Strang in meinen Willen ist gelockert. Wenn ich ihn nur wieder straffen könnte.»

3.1. Früh auf, Maisbrot mit sizilianischem Käse, Coffee & Cigarettengabe. Für die Jahreszeit zu warm. Regnerisch, windig, ausgesprochen ungemütlich. Ab 9.30 Arbeit am Roman heute quälend, unlustig und zerstreut. Mühsam ein paar schwache Sätze rausgewrungen. Apfel Mülleimer.

Mail von Wieland Kraemer, Agent meiner Konzertagentur «Powerline». Es geht um ein Engagement auf der Messe EUROTIER als sog. Impulsgeber. Ich nehme einmal an, dass ein Impulsgeber so etwas wie ein Influencer für ältere Menschen ist. Welche Impulse ich wohl zu geben imstande wäre? Mir fallen generell nur Sprüche ein. (Wenn dir die Tränen in den Augen stehen – nicht kullern lassen!/Der Trog bleibt, die Schweine wechseln./Mach eine Sache richtig statt viele falsch!) Egal, Gage lächerlich niedrig, Thema erledigt. Mich wundert auch, dass W. Kraemer (Spitzname Kleinkraemer) bereits «am Platz» ist. (Normalerweise wird die Arbeit bei Powerline erst Mitte Februar wiederaufgenommen, haha.)

Lunch (Gänsepfeffer, Mohnkuchen mit lauwarmem Schlagrahm) in «Manuels Taverne». Den Nachmittag vor dem Fernseher verdämmert, im ZDF «Bares für Rares». Moderator Horst Lichter bringt eine Vase zum Experten Colmar Schulte-Goltz, um diese von diesem schätzen zu lassen. H. Lichter (gespielt schnaufend): «Die Vase hab ich eigenhändig hochgetragen.» Colmar Schulte-Goltz nimmt die Vase, verzieht das Gesicht und sagt: «Huuh, ganz schwitzig.» Horst Lichter (beleidigt): «Das kann eigentlich nicht sein, ich hab relativ trockene Hände.» Phantastische Szene. Wer nicht weiß, was daran «geil» sein soll, dem ist auch nicht mehr zu helfen.

Zum Dinner saure Fleischklöße mit Pellkartoffeln. Gedanke: Je weiter ich im Leben fortschreite, desto mehr glaube ich, dass ich sterben werde, und desto mehr glaube ich zugleich, dass ich nicht sterben werde. Weiter in den Tagebüchern von André Gide. Nachtgebet.

4.1. Von Sodbrennen um 7.30 aufgewacht, Rumpfbeugen, Seitstütz. Mocca double und Spiegeleier, dann «einchecken am Schreibtisch» (abwechselnd Roman/Elefant). Erledige das Tagespensum (scheinbar) «spielend». Woran das wohl liegt, dass einem mal nichts, dann wieder etwas gelingt (zu gelingen scheint)? Gewisse Genugtuung stellt sich ein.

Ich trage daheim praktisch nur noch Gute Laune zum Anziehen: dicke, flauschige, sehr warme, gefüllte, gleichzeitig luftige, atmungsaktive Sachen, Übergrößen, Daunen, Gänsefedern, Stretch, alles Weite. Mode zum Wohlfühlen eben. Abends übergangslos in den kuscheligen «Schläfi» (Schlafanzug). Wobei es schon einen Übergang gibt, wenn man es so nennen will: nach der Abendtoilette bereits im Schlafanzug erst noch mal aufs Sofa, gegen zehn dann endgültiger Umzug ins Schafzimmer.

En passant: Bertolt Brecht hat immer weite graue Sachen und Filzpantoffeln getragen, wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zur Richtstätte. Stelle mir vor, dass Brecht seine Kleidung nie gewechselt hat, Tag und Nacht im selben Dress. Eigentlich ganz schön, würde ihm in dieser Hinsicht gerne nacheifern, geht natürlich nicht, weil es dann hieße, ich kopierte ein unerreichbares Vorbild. Dabei halte ich nicht viel von Brecht. Man sagt, seine ihm hörigen Frauen hätten fast alles geschrieben, er habe am Ende nur noch seinen Ernst August druntergesetzt, ansonsten gewichst und gefaulenzt. Ich glaube das bereitwillig, sofort, nur allzu gerne.

Abends Baumkuchen und schweren frz. Rotwein, dazu TV, «Skypelove – Ich liebe dich von fern», locker-leichte Unterhaltung mit Helmut Zierl in der männlichen Hauptrolle. Peter Hasselbrook (Helmut Zierl) entdeckt trotz seines Alters das Internet für sich und verliebt sich prompt virtuell in eine junge Frau aus Australien, die jedoch, wie sich herausstellen soll, das Ergebnis eines Seitensprungs vor 28 Jahren ist. Turbulent!

Leibschneiden an beiden Flanken, deshalb mit Wärmflasche früh zu Bett. Nachts schlechter Durchschlaf, Hals in der Tiefe schmerzend.

5.1. Um 8.30 auf. Milzspülung. Träumte, dass ich meine Lederhandschuhe suchte. Lustloser Versuch, die seit Weihnachten liegengebliebene Korrespondenz abzuarbeiten. Einen begonnenen Brief an Haneberg aus spezieller Unlust und allgemeiner Trägheit abgebrochen. Ohne Frühstück (nur Thee, ungesüßt) am Schreibtisch «eingelocht». Lustlos das Pensum durchgepeitscht, mäßige Ergebnisse.

Notiz an mich selbst: Nicht zu viele Figuren! Die ödesten Autoren sind nämlich diejenigen, die unaufhörlich Figuren vermehren; Zeichen von Talentlosigkeit und mangelnder Erfindungsgabe. Da wird in den eh schon scheißlangweiligen, sich über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte mühsam dahinschleppenden steinöden Familienromanen/-sagen/-chroniken auf Seite 426ff. ein neuer Akteur eingeführt, der a) die Handlung nicht vorantreibt, b) langweilig, unscharf ist und bleibt und c) bereits auf Seite 478 ebenso unmotiviert abtaucht, wie er aufgetaucht ist. Was soll das?

Da jetzt doch sehr hungrig, im Restaurant «Diverso» gebratenes Lendensteak mit Sauce forestière, Mirabellenkompott.

Nachmittags Lecture J. M. Coetzee, «Leben und Zeit des Michael K». Phantastisch, wie alles von Coetzee.

Abends TV. Stumpf, sehr, sehr stumpf. Zunächst die Fünfziger-Jahre-Komödie (besser: Klamotte) «Pension zum hölzernen Löffel», dann eine Comedyshow mit Paul Panzer (RTL). Das Lachen des Publikums erinnert bald an das schreckliche Glucksen eines Ertrinkenden, bald an das Bellen des Seelöwen vor der Fütterung. Explodiert schlagartig, bricht mit ebensolcher schaudererregenden Plötzlichkeit ab. Eine Art Schrei ohne Fröhlichkeit.

Bier & Schnaps (Ziegler Mirabelle exquisit), bei laufendem Fernseher auf dem Sofa eingeschlafen, in den frühen Morgenstunden ins Schlafzimmer geschleppt.

6.1. Um 6.45 (!!!!) auf, Gymnastik, Breakfast im Sitting-Room: Graubrot mit polnischer Leberwurst, Mocca double. Arbeite heute ausschließlich am Roman. Irgendwie fahrig, abgelenkt (warum?), dauernd fallen mir irgendwelche dümmlichen Sprüche ein: Der Neider sieht das Blumenbeet, aber nicht den Spaten./Du musst auch mal wieder zum Friseur, aber nicht wegen der Haare./Wie heißt der neue Film von Regielegende Werner Herzog, für den er zur allgemeinen Überraschung den Komiker Fips Asmussen verpflichtete? «Fipscarraldo»! O-Ton W. Herzog: «Fips wird mein neuer Kinski.» Tja. So verstreicht ergebnislos der Vormittag.

Anruf von Bertram Leyendieker, der seit gestern wieder im Lande ist. Er war zwischen den Jahren zur Insektenjagd auf Sumatra. Ob man sich zum Dinner in «Manuels Taverne» treffen wolle. Man will!

Er vertilgt mit großem Appetit Blutwurst mit heißen Apfelscheiben und Kompott (auf Sumatra gab’s wahrscheinlich nur geröstetes Kleinvieh/Insekten), erzählt, wie sehr es ihn immer wieder fasziniere, dass die Ozeane viel weniger erforscht seien als das außerplanetarische Universum. Über eine Milliarde Sonnensysteme wisse man genau Bescheid, aber nicht, was in achttausend Metern Tiefe vor sich geht. Restlichtzone, später Nulllichtzone. Dann fragt er mich, ob ich wisse, was ein Knallzeuge ist. Nein. Darunter, erfahre ich, versteht man jemanden, der einen Vorfall zwar nicht gesehen, aber gehört hat. Knallzeuge, was für ein schönes Wort. Abends noch im Neuen Testament gelesen.

7.1. Um acht auf, Seitstütz, Rumpfbeugen, Thee, ungesüßt. Pensum durchgezogen, Roman/Elefant. Arbeit am Elefanten fällt erwartungsgemäß etwas leichter (ein Text von acht Seiten ist eben besser in den Griff zu bekommen als ein «Blauwal», so heißen sie ab plus minus 1000 Seiten). Lunch Topfbraten mit Linsengemüse und Sauce universelle. Nachmittags Behördengänge, Einkäufe, Post etc. Was mich störte:

– auf dem Flur des Kundenzentrums Altona (früher Einwohnermeldeamt) mit übergeschlagenen Beinen dasitzen und das aufliegende Bein dauernd zurückbiegen müssen, damit die Vorübergehenden nicht darüber stolpern;

– bei Willis Schwenk-Grill beim Greifen der Serviette versagen und mehrmals nachfassen müssen;

– beim Suppeessen (mit Käseeinlage, die sehr lange Fäden zog) aus der Nase tropfende Flüssigkeit.

Zum Dinner Ungarisches Huhn mit Reis, Rotwein, im TV die ARD-Dramödie «Priester in Jeans». Helmut Zierl spielt einen kumpelhaften, unkonventionellen Geistlichen.

8.1. Kälteeinbruch, Bibberwetter de luxe. Zu diesem Zeitpunkt vor bald 70 Jahren hatten die Landser in Stalingrad bereits zweieinhalb Monate russischen Winters auf der Uhr. Stalingrad=Minusgrad. In dem Zusammenhang guter Titel für einen WK-II-Roman: «Landser hatten keine Heizpilze». Tagespensum mit kleinen Abstrichen durchgezogen. Abends portugiesischer Pudding, Rotwein. Lecture Erwin Strittmatter, «Nachrichten aus meinem Leben»: «Selbstmordgedanken, aber noch zu feige zur Tat. Es ist, als ob ich mir vom Leben noch etwas erwarten würde. Was denn?»

Wadenwickel gegen die heißen Füße.

9.1. Um neun auf, Beinbebrausung, Ham & Eggs, kalter Maulbeersaft, nebenbei TV. Zu Gast im ZDF-Morgenmagazin ist heute Peter Maffay. Auf die Frage, ob er Tag- oder Nachtmensch sei: «Ich stehe gerne morgens früh auf und ziehe mir dann den Tag rein.» PM in einem Satz, dachte ich mir. Ansonsten keine Lust auf gar nichts. Mache ich eben mal nix! Wie nennt man so einen? Chillkröte. Später treibt mich das schlechte Gewissen doch noch an den Schreibtisch. Arbeit am Roman in peinlichem Schneckentempo, wie ein Viertklässler.

Zum Thee Fr. Bodenstein. Sie erwartet ihren Sohn, der den Jahreswechsel in Chile verbracht hat, morgen zurück.

Abends Bier und «mit leerem Kopf» TV, das spanische Drama «Der Biss des Zahnlosen».

10.1. Spät auf (10.30), gebadet, das Haar gewaschen, Coffee & Cigarettengabe. Draußen unwirtlich. Nichts als Kälte, Nässe und Dunkelheit. Dafür heute mal zügige, ganz gute Arbeit.

Hervorragendes Mittagessen (Canapés à l’Amiral mit Flussgarnelen) bei Prof. Gesnado (Direktor des Ungarischen Instituts) in Gesellschaft von Ehepaar Marquart und F. Töbe, der nach dem Essen bemerkenswert Mozart, Liszt und die Ballade No. 4 von Chopin spielt. Prof. Gesnado: «Es ist nicht korrekt, von erbitterter Verteidigung zu sprechen. Das Wort erbittert muss dem Angriff vorbehalten werden.» Herr Marquart berichtet über wiedereinsetzende Zahnschmerzen. Espresso, Likör, gegen fünf zerstreut sich die Runde. En bref: ein schöner Nachmittag.

Abends im TV (NDR) Natur-Reportage über die Galapagos-Inseln. Wieder mal nicht fehlen dürfen Galapagos-Riesenschildkröten (Chelonoidis nigra): Ein Männchen kriecht vor Geilheit triefend zu einem Weibchen. Tja. Ewiges Rätsel Geilheit. Was finden die aneinander? Das Männchen: stecknadelgroßer Schrumpelkopf, Faltenhals. Das Weibchen: nichts als Panzer und eine Fett-/Fleisch-/Knorpel-Wucherung, winzige hässliche Füßchen/Krallen. Geil ist was anderes.

11.1. Früh auf (7.45), Waffles, Cornflakes, Mocca double im Sitting-Room. Arbeit am Roman/Elefanten halbwegs flüssig.

Beim Auswechseln einer Glühbirne ungeschickte Handbewegung, keine Ahnung, wie ich das wieder hingekriegt habe, muss jedenfalls mit Verdacht auf Skidaumen (Überdehnung des linken Daumens) zu meinem Hausarzt Dr. Bauch. Sechs Patienten vor mir, das kann dauern. Hänge meinen Gedanken nach. Frage mich z.B. wieder mal, nach welchen Selektionsmechanismen das Gehirn funktioniert. Mir scheint es so, als vergäße ich das Wesentliche, um Platz fürs Unwesentliche zu schaffen. Unauslöschlich etwa hat sich mir die erste Pressekonferenz eingebrannt, die Joachim Gauck als frischgebackener Bundespräsident gegeben hat (lange her, weiß ich selber, gerade deshalb erwähne ich es ja). Der Anruf von Kanzlerin Merkel, er solle die Nachfolge von Chr. Wulff antreten, habe ihn erst wenige Stunden zuvor auf der Fahrt von X nach Y erreicht. Und nun sitze er hier und habe noch nicht mal Zeit gehabt, sich zu waschen. Irritierend, die Öffentlichkeit wissen zu lassen, dass der designierte erste Mann des Staates vor sich hin müffelt, stinkt, ausdünstet. Frage mich seither immer, wenn Gauck irgendwo auftaucht, ob er gewaschen ist, und wenn nicht, wie er wohl gerade riecht: säuerlich-stechend, süß-sauer, zartbitter? Stelle mir weiterhin vor, dass er als Mann der alten Schule niemals duscht, sondern sich mit einem verschlissenen, harten, porösen Waschlappen vor dem Handwaschbecken stehend (nicht sehr gründlich!) «abseift». Drei-, viermal im Jahr Vollbad. Und Steinmeier? Vermutlich ebenfalls Kernseifentyp. Benutzt preiswertes Aftershave, Fußnägel zu lang.

Immer noch zwei Patienten vor mir. Blättere in den ausliegenden Zeitschriften und Zeitungen. Schlagzeilen (Auswahl): KLINIKPFLEGERENTLASSEN, WEILERBRÖTCHENASS/AUSKINDERLIEBE: ELTERNZÜCHTENIMKELLERDROGENFÜRIHRENSOHN/KUNDEIMSEXSHOPONANIERTEWEITER, OBWOHLESBRANNTE. Tja. Warten und warten und nochmals warten. Mich überkommt das beunruhigende Gefühl, möglicherweise zu der Klasse Patienten zu zählen, die niemals aufgerufen werden. Komme dann aber doch noch dran. Dr. Bauch ist schlecht gelaunt, meint, da könne man nichts machen, ich müsse mich in Geduld üben. Verschreibt schmerzstillende Salbe und entlässt mich mit einem fragwürdigen Ratschlag: «Rasieren Sie sich, und baden Sie jeden Morgen Ihre Augen in Zitronensaft.»

Abends gefüllter Aal, Weißwein, Lecture Gerhart Hauptmann, «Diarium 1917–1933»: «Die Schlange läßt nicht los, bis das Opfer im Reflextod zuckt. Alsdann zieht sie sich zurück und nach einiger Zeit beginnt das Einspeicheln. Sie braucht 6–8 Stunden, bis sie ihr Opfer ganz verschlungen hat. Alsdann liegt sie ein Jahr, ohne Nahrung aufzunehmen. Wozu das? Welchen Zweck im Weltenplan füllt sie aus? Wozu dieser kostbare Organismus? Was geht in ihr vor, wenn sie während eines Jahres unbeweglich liegt? Das Krokodil. Man glaubt, es sei ausgestopft, so unbeweglich liegt es tagelang. Seine Augen sind offen, es schläft nicht. Es wird über 100 Jahre. Wozu dies alles?»

12.1. Weiter, weiter, immer weiter am Roman, Tempo machen. Mir gelingt eine ganz gute Passage: «Sie kennen sich seit einem Jahr, als sie ihn plötzlich fragt, welche Augenfarbe sie hat. Er ist ganz verdattert. Und tatsächlich weiß er die Antwort nicht. Blau, himmelblau, sagt sie, Tränen in den Augen.»

Lunch Hirschwildbret mit Brotpfeffer, nachmittags Spaziergang, Erledigungen, Impulskauf einer neuen Edelstahl-Porenzange.

Noch kurz im «Café 2 Talk» vorbeigeschaut. Meistens sitze ich auf meinem Stammplatz am Fenster und lese, wie die anderen Gäste auch, ein Stündchen in den ausliegenden Büchern, Zeiungen, Zeitschriften und Illustrierten. Warum heißt das Café dann eigentlich «2 (to) Talk?» Das wüsste ich auch gern. Irreführend. Egal, man hatte Zeit genug, sich dran zu gewöhnen. Schlagzeilen (Auswahl): MUTTERWARTETE 239 TAGEAUFDIETELEKOM/RAKETEN-BIKERSTIRBTAUFWASSERDAMPF-DREIRAD/ÜBERGEWICHTIGESTÜRZTAUFREHBOCKUNDBRICHTIHMDASGENICK.

Abends Rotwein, Schnaps (Ziegler Himbeere exquisit). Lecture Imre Kertész; «Kinder haben aus einem kleinen Vogel ein Spielzeug gemacht. Sie ziehen ihn an einer Schnur herum, die an einem Bein befestigt ist. Welche Vorstellung von der Welt sich so ein armer, aus dem Nest gefallener Spatz wohl machen wird, während der kurzen, von Leiden erfüllten Spanne seines Lebens?»

13.1. Zum Frühstück Süßes. Cranberry-Walnuss-Plätzchen Schokocreme, Kakao. Tagsüber Arbeit am Roman, am Abend mit Meyer-Schulau (hat Freikarten; woher?) zum Konzert von Howard Carpendale (73), der mitsamt 14-köpfiger Band im ausverkauften Hamburger Mehr!-Theater auftritt. «Howie» ruft, und alle kommen: Die Schiefen und Krummen und Versehrten und Verwirrten und Deformierten und Alten und Kranken. Ansage Howie: «Sie haben die ganze Woche gearbeitet. Seien Sie nicht nervös. Heute sind wir für Sie da. Ich wünsche uns einen unvergesslichen Abend.» Und es wurde wirklich ein schöner Abend, ganz im Ernst.

14.1. Von Sodbrennen geweckt. Andauer des Frostes, Neuschnee. Rumpfbeugen, Seitstütz. Frischkäse-Baguette mit Konfitürehaube. Einchecken am Schreibtisch. Nichts Zusammenhängendes hinbekommen, allenfalls einzelne Sätze. Apfel Mülleimer.

Seltsamer Traum: Anruf meiner Patentante, die mir erzählt, mein zweiter Vorname laute «Süleyman». Was sich meine Mutter damals wohl gedacht hat dabei, frage ich die Tante. Sie weiß es auch nicht. Traum Ende.

15.1. Um acht auf, Kniebeugen, Kerze. Zum Breakfast Spiegeleier, doppelt gebutterter Toast. bin nach dem Frühstück lange auf der Suche nach meiner Brille. Fleißige Arbeit, mäßige Ergebnisse, wie so oft.

Abends Lammfleisch mit jungem Hopfen, TV, ZDF-Info Reportage über die Klimaerwärmung («Totengräber der Arktis»). Weder gut noch schlecht.

16.1. Vormittags Dienst nach Vorschrift. Einige Telefonate erledigt, Einkäufe. Mir begegnen auf dem Weg (Zufall?) ungewöhnlich viele dicke, große Männer. Beim Anblick dicker, großer Männer werde ich von der Zwangsvorstellung geplagt, diese müssten, egal wie, zurück in den Bauch ihrer Mütter.

Auf dem Rückweg noch zu Willis Schwenk-Grill auf eine schnelle Wurst. Willi: «Ein niedriger Teller verliert die Suppe, ein tiefer versenkt den Braten.» Der Mann erweist sich wieder einmal als sprudelnder Quell für Sprüche, Schnacks, Witze und Lebensweisheiten.

Am späten Nachmittag noch Arbeit am Roman, danach Lecture J. M. Coetzee: «Eine alte Frau, krank und hässlich, die sich an das klammert, was ihr geblieben ist. Die Lebenden, ungeduldig mit der lange Sterbenden. Die Sterbenden, neidisch auf die Lebenden. Ein unappetitliches Schauspiel: hoffentlich bald vorbei.» Coetzee, der Meister, mein Meister.

17.1. Nach Frankfurt/Oder zum Geburtstag von Sebastian Salzgeber, dem alten Freund und Studienkollegen (Lausanne). Herrliches, klares, kaltes, trockenes Winterwetter, ideale Bedingungen also für eine Überlandfahrt. Auf Deutschlandfunk Kultur die Meldung, Peter Sloterdijk wolle seine Arbeit an den «Weltchroniken» aus Altersgründen einstellen. P. Sloterdijk wirft intellektuellen Widersachern gerne vor, sie hätten einen Lektürerückstand von 10000 Seiten (oder mehr). So lassen die sich hervorragend in Schach halten. Lektürerückstand, herrliches Totschlagsargument, tolles Wort.

Halt an der Autobahnkirche Brieselang. Außer mir ist noch ein anderer (gläubiger) Autofahrer im Gebet. Beim Verlassen der Kirche anregendes Gespräch. Wie sich herausstellt, kommt der Mitbetende, ein Herr Rasmus, aus Erfurt und hatte als aktiver Christ in der DDR einen schweren Stand. Er ist, wie ich, Mitglied im «Verein christlicher Automobilisten» (VcA). Wir kommen auf den unglaublichen Vorfall letzten Sommer zu sprechen, als ein Autofahrer auf der A 40 bei heruntergelassenen Scheiben laut christliche Musik hörte und damit einen Moslem derart in Rage versetzte, dass der dem Andersgläubigen einen Fausthieb ins Gesicht verpasste. Des Weiteren beginnen Herr Rasmus und ich eine Diskussion darüber, ob für christliche Autofahrer spezielle Verhaltensregeln gelten. Mir rutscht die etwas alberne Formulierung «dankend tanken» raus. Herr Rasmus lacht höflich.

Weiterfahrt bei sehr kaltem, klarem Winterwetter. Guter Werbeslogan der Tischlerei Schmidt (gesehen auf Höhe Bad Saarow): «Gönnen Sie sich Holz schon zu Lebzeiten.» Die Feier (in kleiner Runde) recht schön. Nachts noch zurück. In den Nachrichten die Meldung, dass der mutmaßliche Attentäter Salah Abdeslam nach seiner Festnahme nicht verhört werden konnte, weil er zu müde war.

18.1. Mocca double und (dadurch?) überraschende «Gute-Laune-Attacke». Mir fallen lauter Dinge ein, mit denen ich eigentlich ganz zufrieden sein könnte: 1) Dass ich noch nie im Leben die Formulierung «Der Drops ist gelutscht» benutzt habe. 2) Dass ich untenrum (noch) dicht bin. 3) Dass ich mir genug zu essen und zu trinken und gelegentlich neue Anziehsachen kaufen kann. Lecture Richard Burton, «Tagebücher»: «Ich bin diese Scheißärzte leid. Man müsste mich schon auf wirklich unerträgliche Weise zu Klump schlagen, eh ich eins dieser schlecht ausgebildeten, betrunkenen, überheblichen, halbgebildeten Schweine an mich ranlasse.»

19.1. Früh auf, Morgengymnastik, gedoucht, schwer gefrühstückt (Scrambled Eggs, Bacon, Birchermüsli). Arbeit am Roman halbwegs flüssig,

Nachmittags Spaziergang. An der Volkshochschule wird ein Kurs «Kleben statt Bohren» angeboten. Aha. Stelle es mir demütigend vor, an dergleichen teilnehmen zu müssen.

Auf dem Rückweg auf einen «schnellen Cappuccino» ins «Café 2 Talk». Dort zwei sehr unangenehme Frauen (Typ Barbara-Schöneberger-Susanne-Fröhlich-Schreckschrauben), sich quasi fortwährend anschreiend. Frau 1: «Wenn ich mit jedem Mann schlafen würde, der nett zu mir ist, dann hätte ich schon den gesamten Starbucks durchgevögelt.» Frau 2: «Hahaha.» Widerlich. Abends Schnaps und TV, Naturreportage auf SWR: «Dem Allgäu verfallen».

20.1. Früh auf, Porridge, Grapefruitsaft. Klavier gestimmt, Arbeitsversuche, matt, ratlos, abgebrochen. Mit mir ist heute «nichts los», muss man auch mal akzeptieren. Tagsüber abwechselnd TV und Lecture André Gide, «Tagebücher 1939–1949»: «Man schweigt die Bedürfnisse des Fleisches, die notwendige Entlastung der Drüsen tot, für welche es nur einige Lösungen gibt, die man stillschweigend übergeht, und das aus gutem Grund: Onanie und spontaner Samenerguß während des Schlafes, befreiende Ausstoßungen. Hier mogelt Platon, selbst indem er alles in eine höhere Sphäre rückt, was eben doch im Materiellen vorhanden ist …»

Treffe im Treppenhaus zufällig meinen Nachbarn Wingolf Mahselschlag, Informatiker bei der DESY (Deutsches Elektronen-Synchotron), der vom «Gassigehen» mit seinem Cockerspaniel Spock kommt. Man stelle sich nur vor, man selbst müsste als Wingolf Mahselschlag durchs Leben gehen. Wirklich der kläglichste Name, den ich je gehört habe. Wingolf ist eine hagere, große Erscheinung, angenehm leer, ausdrucksloses, unbelebtes Gesicht. Zwei-, dreimal im Jahr sitzen wir bei einer Flasche Wein (meist werden es dann doch drei, vier) zusammen und huldigen dem Bacchus. Geredet wird wenig. Auch angenehm. Ob er neben dem Hund noch irgendwelche Hobbys oder gar eine Freundin hat, weiß ich nicht. Wohl eher ein Hagestolz aus Überzeugung. Er ist allerdings fanatischer Fahrradfahrer und (entsprechend) ebenso fanatischer Auto-Hasser. Beim Thema Auto rastet er regelrecht und regelmäßig aus und ist dann weder Herr über sich selbst noch über sein Vokabular: «VW Quaddel, Ford Anus, und Mitsubishi Wichser, das sind Drecksschüsseln, die unter Einsatz von extra viel frischer Ficksahne hergestellt wurden.» Bei jeder seiner vollkommen unangemessenen Tiraden hat er andere Modelle auf dem Kieker: «Die Lebensdauer von Volvo Kackhauf, Nissan Popel und Hyundai Klösschen erhöht sich erheblich, wenn sie regelmäßig mit frisch gezapfter Ficksahne aufgefüllt werden.» Er meint das keineswegs ironisch, nein, er schäumt regelmäßig vor Wut

Na ja. Ich sage meist nichts, sondern sehe zu, dass ich Land gewinne. Ansonsten ist er ein denkbar unauffälliger Zeitgenosse. Wenn er als Kandidat an einem TV-Quiz teilnehmen würde, stünde auf seiner Bauchbinde «Stromkunde», «Kommt ursprünglich aus Essen» oder «Hat zwei Semester Maschinenbau studiert».

Abends Dinner mit Meyer-Schulau im Restaurant «Diverso». Meyer-Schulau hat die Marotte, mir (glaube, ich bin der Einzige) eine ganz spezielle Art von Fragen zu stellen, die meisten nach der Devise «Was wären Sie für soundso viel Geld zu tun bereit?». Beispiel: «Würden Sie für 40000 Euro drei Monate nicht auf, sondern unter dem Bett schlafen?» Oder: «Würden Sie für 110000 Euro nie wieder Strümpfe tragen?»

Nun hat er diese Fragen im Laufe der Zeit immer weiter verfeinert. «Würden Sie sich für 9500000 Euro den Kopfumfang entweder a) um 10 Zentimeter vergrößern oder b) 10 Zentimeter verkleinern lassen. Also Riesen- oder Hamsterkopf?» Er legt allerdings größten Wert darauf, dass diese Fragen gewissenhaft beantwortet werden, egal, wie abstrus sie auch sein mögen. Nur dann macht es nämlich Spaß.

Vor zwei Jahren ist überraschend seine Frau gestorben. Ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen den Fragen und ihrem Tod gibt? Offenbar schon, denn diese «Marotte» hatte er zu ihren Lebzeiten noch nicht. Nur welchen? Fragen mag ich nicht.

Im Bett noch in den Tagebüchern Kafkas gelesen. «Wie wäre es, wenn man an sich selbst erstickte? Wenn durch die drängende Selbstbeobachtung die Öffnung, durch die man sich in die Welt ergießt, zu klein oder ganz geschlossen würde?»

21.1. Vormittags die lang erwartete Lieferung des neuen, dunkelbraunen Handtuch-Ensembles. Nachmittags Einkäufe in der Innenstadt. Ein altes, verbittertes Ehepaar im Fischrestaurant Daniel Wischer. Sie, ihn böse fixierend: «Ich weiß nicht, woran es liegt, aber alles, was du anfasst, ist danach total verdreckt.» Was für eine Bilanz am Ende eines Ehelebens!

Zum Dinner Steckrübeneintopf (Winteressen), Quarkpudding, noch einen Planters Punch gemixt. Im Bett TV, «Welt der Wunder»: Angeblich gibt es namhafte Wissenschaftler, die behaupten, Gorillas würden sich dümmer stellen, als sie sind, weil sie Angst haben, sonst von der Menschheit versklavt zu werden. Steile These, wer’s glaubt.

22.1. In schlechtem Zustand aufgewacht, Hustenreiz, Bronchienpfeifen, fiebrig, Tremor im linken Arm, zitternde Oberlippe. Unfähig zur Arbeit, deshalb in Botho Strauß, Oniritti Höhlenbilder. Etwas Unverständliches lesen regt an. Was meint er bloß, denke ich und komme dann selbst auf Gedanken: Fotzentum (statt Fürstentum) Monaco. Sehr, sehr schlechter Ein-Euro-Gag. Das ist nun das, was mir einfällt. Peinlich. Ausgesprochen schlechte Laune darüber. Ich vermag kaum in Worte zu fassen, wie schlecht. Wird noch schlechter durch «Deluxe Music». In dem Spartensender (lt. Selbstdarstellung «echtes Musikfernsehen») moderiert Jennifer Weist, im Hauptberuf Sängerin der DDR-Band Jennifer Rostock. Eine ganz und gar abstoßende Person.

Nachtgedanke: Im Grunde erwarte ich immer noch, dass sich das Dasein innerhalb der Lebensspanne eines Menschen zu einem Sinn hin entwickelt. Infantiles Wunschdenken.

23.1. Etwas besser zuwege. 3,5 Stunden Arbeit am Roman/Elefanten (netto). Danach Kauf von Kerzen aus echtem Bienenwachs beim Drogeriemarkt Budnikowski. Die Kassiererin: «Viel Freude mit den schönen Kerzen.» Damit rechnet man nicht, eine Geste, die mich bewegte.

Auf dem Rückweg ins «Café 2 Talk», bei Kaffee & Gebäck Zeitschriften-/Zeitungslecture. Bleibe, wie so oft in letzter Zeit, bei der Zeitschrift MOTIVATIONTÄGLICH hängen: Wie langsam du wirklich bist, merkst du erst, wenn du von jemand Schnellerem überholt wirst./Es ist einfacher, alles zehnmal besser als nur 10 Prozent besser zu machen./Die meisten Menschen investieren mehr Zeit in die Planung ihres Wochenendes als in die Planung ihres Lebens.

Abends Weißwein und Lecture Peter Rühmkorf «Tabu II»: «Versuch, Tagebuch zu schreiben: noch fallfrisches Laub zusammenfegen, und darauf hoffen, dass sich aus welken Blättern schließlich ein Komposthaufen bildet.» Gegen die «Füße in Flammen» lauwarmes Fußbad mit basischen Zusätzen.

24.1. Unwohlsein (Sodbrennen, Ohr recht schlimm und verschwollen, entzündet auch außen). Kräuterrührei mit Mushrooms, Toast. Übelkeit. An Arbeit nicht zu denken. Deshalb «rumeiern», «rumscrollen», «surfen». Facebook-Posting eines (mir bekannten) Comedians, der z.Zt. als «Hundi aus Burundi» auf der Mein Schiff 6 das Witze-Programm bestreitet. Viele erfolglose Comedians (sog. Kreuzfahrtcomedians: Engagements auf Urlaubsschiffen als Ende der Fahnenstange) tun gerne und oftmals täglich auf Facebook, Twitter, Instagram usw. kund, wie «Hammer» ihr letzter Auftritt, wie sehr die Leute aus dem Häuschen gewesen seien, dass sie sich vor Lachen «eingepisst» hätten. Und Riesenvorfreude schon jetzt auf die nächsten Auftritte. Zum Beispiel im Comedy-Bus: «Eine Stadt, eine Show. Humor ist die Basis der rollenden Showrundfahrt. Wenn Sie auf Humor abfahren, dürfen Sie diesen Bus nicht verpassen!» Diverse deutsche Städte seien «von der witzigsten Seite» zu erleben, denn: «Jede Sehenswürdigkeit liegt auf dem Weg zum Zwerchfell.» Und wem Singen so wichtig sei wie Ablachen, für den gebe es den Karaoke-Bus. Außerdem im Angebot: die Sonderfahrt Biererlebnis Dresden.

Ziemlich geil alles, schätze ich.

Abends zur Stimmungsaufhellung in einen edlen farbigen Seidenschlafanzug geschlüpft, Nudelauflauf mit Salzgurke, Weißwein, TV: «Ich war einmal ein Bumerang», Selbstfindungskomödie mit Helmut Zierl, der glaubt, in einem früheren Leben nepalesischer Schafshirte gewesen zu sein.

25.1. Um 7.45 auf. Nicht wohl, schlechter Leib. Einstellung des Morgenkaffees vorläufig geboten. Quälende Arbeit am Schreibtisch. Zum Lunch gebratene Bücklinge.

Lese mit großem Interesse und Nutzen die Abhandlung Gedankenkeile von Norbert Gänsslein, die mir Wilfried Jensen hat zukommen lassen durch die Vermittlung der so liebenswürdigen Dr. Ankele. Abends Whist mit Meyer-Schulau. Lecture Julien Green, «Tagebücher 1943–1954»: «Ich werde das Stück Der Leutnant Jan nennen. Oder Süden. Oder Regina!»

25.1. Insgesamt etwas besser beisammen, tagsüber (Fleiß.) Arbeit am Roman.

Am Abend meinen Schulfreund Tobias Schüttgeier besucht. Er bewohnt in der Nähe von Winsen an der Luhe ein auf einem idyllischen Waldgrundstück (7000 Quadratmeter!) gelegenes Haus (Stein auf Stein, unterkellert). Inmitten herrlichster Einöde, früher hätte man «Einödhof» gesagt. Mittlerweile hat er es bis zum Amtsrat (oder gar Oberamtsrat?) gebracht, kürzlich feierte er seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag. Jetzt gilt es, das Ding (Leben) nach Hause zu schaukeln. Im Grunde genommen ist alles in trockenen Tüchern und auf den wohlverdienten Ruhestand ausgerichtet. Immer, wirklich immer statten wir auch dem «hiesigen Griechen» (Taverna Plankton oder so ähnlich) einen Besuch ab, wo ich mich bereits seit dreißig Jahren immer für einen Maryteller (11 Sorten Fleisch) entscheide, auf den ich mich immer sehr freue.

Und jetzt Folgendes. Tobias sagt, er wolle schon mal den Wagen aus der Garage holen, ich solle hier warten, müsse ja draußen nicht unnötig frieren. Mittlerweile ist es dunkel. Ich warte und warte und warte. Nach zwanzig Minuten fährt ein winziger SEAT vor, in den der massige Ein-Meter-neunzig-Riese nur mit Mühe hereinpasst. Ich springe ebenfalls hinein. Wir fahren los, doch irgendwas ist. Aber was? Dann, beim Aussteigen, werde ich gewahr, dass sich mein Freund extra für den Restaurant-Besuch noch umgezogen hat, und zwar – Achtung, jetzt kommt’s: KOMPLETTINBEIGEDERGANZEMANN! Hose, Schuhe, Hemd, Jacke und natürlich die charakteristische Trucker-/Rentner-(Cargo-)weste in einer Beige-Hellbraun-Ocker-Sandfarben-Kombination. Oberbegriff: Sauerkrautpalette. Auf einen Schlag fünfzehn Jahre älter, ein kühner Vorgriff auf die herbeigesehnte Rentnerzeit. Hochzufrieden lässt er es sich schmecken, im Reinen mit sich und der Welt. Irgendwann erwischt es jeden, wann also mich?

26.1. Heute nichts. Gilt im Grunde genommen auch für alle anderen Tage, an denen scheinbar etwas passiert, in Wahrheit natürlich: nichts.

27.1. Ohrensausen tagsüber. Schöne Formulierung im ARD-Morgenmagazin: Perforierte Erwerbsbiographien. Alles immer gleich aufschreiben. «Bock», mal kulinarisch was Neues auszuprobieren. In der Chefkoch-App Rezepttipp für «raffinierte Zuckerschoten koreanische Art» gefunden. Wollte mich schon an die Zubereitung machen, bis ich den Profilnamen des Verfassers oder der Verfasserin las: Sabberschnecki. Da musste es doch ein anderes Rezept sein. Lecture Walter Kempowski, «Hamit»: «Wurde von einem BMW-Fahrer mit der Faust bedroht, obwohl ich ganz still und freundlich vor mich hinfuhr. Ich fuhr von hinten an ihn ran und tat so, als ob ich mir seine Autonummer notierte. Da fiel er zurück hinter mich, überholte mich wieder, zeigte mir den Vogel und äffte mich nach, wie ich da schreibe – also doch wohl ein origineller Mensch.»

28.1. Früh auf, Glieder lange gedehnt. Halsübel noch sehr belästigend, aber egal. Zweifach getoasteter Rosinenfladen, dann an die Arbeit. Geht besser als befürchtet, immerhin 3,5 Stunden (netto).

Nachmittags Brainstorming. Ich sammle konsequent Ideen, die dann irgendwann (oder auch nie) zum Einsatz kommen:

– Sinnvoller Rechtschreibvorschlag: Geburztag.

– Ich könnte die Welt bereisen, habe aber kein Verlangen danach.

– Alltagsfrage: Warum gibt es eigentlich Linkshänder?

– Verballhornung: «GenussNIESER.» Da kann man sich doch gleich was drunter vorstellen!

– Wie könnte ein mittelalterliches Singspiel heißen? «Der Knilch und die Milf».

Gute Ausbeute.

Abends TV. Auf n-tv Interview mit Carsten Maschmeyer. «Aus einfachen Kunden gilt es Bestands- und Wiederholungskunden zu machen.»/«Meine Realität ist facettenreich.» Dann auf Kabel 1 Sechziger-Jahre-Krimi-Schinken «Der Irre von Worms». Lebkuchen, Schnaps (Ziegler Mirabelle exquisit).

Nachtgedanke: Die Materie nimmt im leeren Weltall einen so kleinen Raum ein, dass sie sich zum All so verhält wie eine Sekunde zu einer Million Jahren. Heiße Füße (Burning Feet).

29.1. Tagsüber ganz gutes Pensum. Nachmittags im «Café 2 Talk» am Nebentisch ein Mann, der sehr ernst einen langen Brief studiert. Nachdem er zu Ende gelesen hat, schneuzt er sich in den Brief, schmeißt ihn zu Boden und geht. Was da wohl drinstand?

Nachmittags TV-Schiene (TVwie auf Schienen: «ZDF-Küchenschlacht», «Bares für Rares»), abends Lecture (Kafkas Tagebücher): «Wäre ich ein Fremder, der mich und den Verlauf meines Lebens beobachtet, müßte ich sagen, daß alles in Nutzlosigkeit enden muß, verbraucht in unaufhörlichen Zweifeln, schöpferisch nur in Selbstquälerei. Als Beteiligter aber hoffe ich.»

Liege noch lange wach. Die schweren Panikanfälle, die mich über so viele Jahre begleiteten, haben aufgehört, sind gewissermaßen ausgeschlichen. An ihre Stelle getreten ist eine dumpfe und ständige Beklemmung, Gedanke: Was wird wohl zuerst in mich eindringen, die Verrücktheit oder der Tod? Lecture Albert Camus, «Tagebücher»: «Was ist ein berühmter Mann? Einer, dessen Vorname nebensächlich ist.»

30.1. Um zehn (spät) auf, Rückengymnastik, Seit- und Liegstütz. Thee, Rühreier, Baguette im Sitting-Room.

Erste Zwischenbilanz: Das Konzept «Arbeit an gleich mehreren Büchern/Projekten» scheint aufzugehen. Roman 50 Seiten (natürlich nur unbehauenes Rohmaterial, stilistisch noch völlig unzulänglich), Elefant zwei Geschichten fertig, dazu Fragmente und Ideen. Das ist nicht nichts. Grund genug also, mir heute mal wieder eine «Party for one» zu gönnen: sogleich Einkauf von Zutaten für eine Bologneser Soße, danach «schnippeln». Die Soße (sprich SOOOSE) muss minimum zwei Stunden selig simmern, köcheln, schmurgeln. Währenddessen eine Flasche teuren, sehr schweren Rotweins (Amarone) eingeatmet. Im ZDF «Die Bergretter» (geht auch: «Der Bergdoktor»). Ganz großes, reines ALKOHOLGLÜCK für etwa eine Stunde (20 bis 21 Uhr), ein Zustand nahezu vollkommener Seligkeit. Dann plötzlich unvermittelt einsetzender, brüllender Hunger, Starkappetit, unbezwingbare Gier. Mahlzeit also in rasender Geschwindigkeit vertilgt. Formel: je rasender, desto besser. Langsame Esser können