Nachhaltige Kapitalmärkte -  - E-Book

Nachhaltige Kapitalmärkte E-Book

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Beschreibung

Ganzheitliche Nachhaltigkeit erfordert einen umfassenden Wandel von Produkten, Unternehmen und globalen Wertschöpfungsketten. Kapitalmärkte werden eine entscheidende Rolle dabei spielen, diese Transformation zu finanzieren und voranzutreiben. Aber wie? Hochkarätige Entscheiderinnen und Entscheider aus Politik und Praxis beziehen in diesem Buch Stellung: Sie formulieren klare Erwartungen aus Sicht aller relevanten Interessengruppen, schildern aktuelle Best Practices aus dem Kapitalmarktumfeld und leiten daraus Handlungsempfehlungen für die Zukunft ab. Mit der richtigen Strategie können Deutschland und Europa nicht nur die große Transformation meistern, sondern bei der Gestaltung globaler nachhaltiger Kapitalmärkte in Führung gehen.

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Seitenzahl: 338

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Stephan Leithner (Hg.)

Nachhaltige Kapitalmärkte

Die Transformation erfolgreich gestalten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Avigator Fortuner/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-82634-4

ISBN Print 978-3-451-39162-0

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

1. Die große Transformation als Aufgabe für den Kapitalmarkt

2. Vom nachhaltigen Finanzprodukt zum nachhaltigen Kapitalmarkt

3. Eine strategische Agenda für Europa mit globalem Anspruch

4. Gesellschaftliche ESG-Stakeholder: Politik, Verbände, Zentralbanken

Sustainable Finance – von der Nische in den Mainstream

Von Tarek Al-Wazir

Wir sind Zeitzeugen einer ­tiefgreifenden Veränderung der politischen und ökono­mischen Machtstrukturen

Von Friedrich Merz

Die Aufgabe der Finanzmärkte: Neue nachhaltige Technologien finanzieren und damit gleichzeitig Wohlstand schaffen

Von Bettina Stark-Watzinger

Nachhaltige Kapitalmärkte: Europäische Standards sind notwendig!

Von Markus Ferber

Nachhaltige Kapitalmarktfinanzierung für die deutsche Industrie – worauf es jetzt ankommt

Von Siegfried Russwurm

Anforderungen an Kapitalmärkte als Treiber der Transformation in Richtung Nachhaltigkeit aus gewerkschaftlicher Perspektive

Von Michael Vassiliadis

Innovation finanzieren, Wohlstand ­sichern: Wachstum durch nachhaltige ­Finanzsysteme

Von Sabine Mauderer

Gesucht: nachhaltige europäische ­Kapitalmärkte

Von Sylvie Goulard

Nachhaltige Kapitalmärkte und nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten: Transparenz, Wesentlichkeit und Governance bestimmen über den Erfolg

Von Christina Bannier

5. Angebotseite: Die Sicht von Emittenten

Grüne Bundeswertpapiere – Benchmark für nachhaltige Kapitalmärkte

Von Tammo Diemer

Nachhaltige Kapitalmärkte: Wie der Wunsch Wirklichkeit wird

Von Werner Hoyer

Nachhaltigkeit, Transformation, Einbindung der Kapitalmarktakteure

Von Hans-Ulrich Engel

Grüne Finanzierungen: Schubkraft für die industrielle Nachhaltigkeit

Von Toralf Haag

6. Nachfrageseite: Die Sicht von Investoren

Nachhaltige Kapitalmärkte und institutionelle Investoren im Spannungsfeld gegenwärtiger Politik

Von Oliver Bäte

Friedman revisited – welche Verantwortung haben Unternehmen?

Von Asoka Wöhrmann

Asset-Manager sind der Transmissionsriemen nachhaltigen Wandels

Von Michael Rüdiger

Green Deal – ohne Privatanleger geht es nicht!

Von Jella Benner-Heinacher

Anlegermotive und Marktpreise sind der Schlüssel für einen nachhaltigen ­Finanzmarkt: Einschätzungen aus der Perspektive eines Langfristanlegers

Von Christoph Kesy

Ethisch motivierte Investoren als ­Vorreiter von Sustainable Finance: Wie ein wertorientierter Asset-Manager Nachhaltigkeit umsetzt

Von Richard Böger und Helge Wulsdorf

7. Dienstleister: Marktinfrastrukturanbieter und Finanzintermediäre

ESG-Daten-Regulierung zwischen gut gedacht und gut gemacht

Von Maximilian Horster

Index- und Analytics-Anbieter

Von Holger Wohlenberg

Die richtigen Prioritäten setzen – ­Globale Standards und Technologie ­erhöhen die Messbarkeit

Von Rebeca Minguela

ESG – drei Buchstaben, die auch die ­Derivatebörsen verändern

Von Michael Peters

Die EEX Group – globaler Handelsplatz für nachhaltige Energie- und Umweltmärkte

Von Peter Reitz und Robert Gersdorf

Sustainable Finance ist gekommen, um zu bleiben

Von Julie Becker

Beyond ESG – der systematische Ansatz des Green and Sustainable ­Finance Cluster Germany

Von Kristina Jeromin und Karsten Löffler

Ohne einen gemeinsamen Kapitalmarkt kein erfolgreicher Green Deal in Europa

Von Christian Sewing

Transformation gestalten – der KfW-­Beitrag zu einer nachhaltigen und klimagerechten Zukunft

Von Ingrid Hengster

Wie die DZ BANK nachhaltige und verantwortungsvolle Kapitalmärkte fördert

Von Cornelius Riese

Epilog – was bis 2030 geschah

Nachhaltige Kapitalmärkte – ein Rückblick aus dem Jahr 2030

Von Nicolaus Heinen

Über den Herausgeber, die Autorinnen und Autoren

Vorwort des Herausgebers

© Gerald Schilling

Der Umbau unserer Volkswirtschaften auf Nachhaltigkeit in allen Bereichen ist die zentrale Aufgabe der nächsten beiden Jahrzehnte. Wie dringlich es ist, unsere Ökonomien neu auszurichten, wird uns täglich vor Augen geführt: Dramatische Bilder der Auswirkungen von Naturkatastrophen rücken die Auswirkungen des laufenden Klimawandels an die Spitze der politischen Agenda. Berichte über soziale Spannungen und Forderungen nach einer gerechteren Einflussverteilung in Wirtschaft und Gesellschaft gewinnen an Fahrt – und führen zu entsprechenden gesetzgeberischen Reaktionen. Und nicht zuletzt geben grobe Verfehlungen in der Unternehmensführung mit der Finanzkrise, Bilanz- und Abgas-Skandalen Anlass für eine anspruchsvollere Compliance-­Kultur. Die öffentliche Debatte darüber bestimmt unser gesellschaftliches Leben und politisches Handeln, sie verändert die Produkte, die wir konsumieren, die Prozesse, in denen wir sie herstellen, und die Investitionen, die unsere Unternehmen dafür tätigen. Sie bewegt unsere Gesellschaft, unsere Politik und unsere Wirtschaft in gleicher Weise. Sie ist nicht nur Sache von Entscheidern; sie ist Sache von uns allen.

Die große Transformation, die vor uns steht, wird ökologische und soziale Standards einer neuen Qualität erfordern, und sie wird die Formen unserer Unternehmensführung grundlegend verändern. Die Trias Environmental, Social and Governance – kurz ESG – wird auch neue Maßstäbe am Kapitalmarkt setzen. Mehr noch: Ohne den Kapitalmarkt würde sich die Transformation nur allzu leicht in Bekundungen eines guten Willens erschöpfen – und in der unternehmerischen Praxis leerlaufen. Im Klartext: Der Kapitalmarkt spielt nicht nur eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der Transformation – er macht sie überhaupt erst möglich: Diese Überzeugung vereint alle, die zu diesem Buch beigetragen haben, bei allen Unterschieden in den Details.

Das gilt auch für diejenigen, die am Kapitalmarkt teilnehmen und ihn organisieren. Die Neuausrichtung der Finanzindustrie entlang der drei ESG-Dimensionen ist in vollem Gange. Aus äußerem Handlungsdruck und innerer Überzeugung entstehen täglich neue Initiativen, die den Kapitalmarkt entlang der drei ESG-Dimensionen auf Nachhaltigkeit umrüsten. Es ist leicht, hier den Überblick zu verlieren, und nicht alles ist so gut abgestimmt, wie das zu wünschen wäre. Das macht es umso wichtiger, über den eigenen Horizont hinauszublicken und einen Dialog all jener in Gang zu setzen, die ein legitimes Interesse an dieser Transformation haben.

Zu diesem Dialog möchten wir mit dem vorliegenden Buch beitragen. Es ist uns gelungen, über 30 bedeutende Führungspersönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zusammenzubringen, die zu dem Thema etwas zu sagen haben. Investoren, kapitalsuchende Unternehmen, Banken und Marktinfrastrukturbetreiber schildern nicht nur ihre persönlichen Vorstellungen von der Transformation; sie skizzieren auch konkrete Best Practices, übertragen sie auf den Gesamtmarkt und leiten konkrete Anforderungen an und Empfehlungen für die nächste Etappe ab. So entsteht ein Austausch über die bestmöglichen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Transformation unserer Wirtschaft mithilfe der enormen Schubkraft, die allein ein gut organisierter Kapitalmarkt zu entfalten imstande ist. Die Konkretheit, die Breite und die Wucht der Initiativen, die bereits angelaufen sind oder unmittelbar bevorstehen, geben Anlass zur Zuversicht. Die hier entwickelten Handreichungen für notwendige nächste Schritte lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig; wir sollten sie ernst nehmen. Wir hoffen, dass der hier begonnene offene Diskurs zu einer breiteren öffentlichen Diskussion beiträgt.

Ich danke den Autorinnen und Autoren an dieser Stelle sehr herzlich für ihr Engagement und unseren Austausch während der letzten Monate. Ich danke auch Dr. Nicolaus Heinen, Leiter der ESG-Strategie der Gruppe Deutsche Börse, ohne dessen Impuls und unermüdliches Engagement dieses Buch nicht entstanden wäre, Achim Brosch für seine Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts insbesondere auch in der inhaltlichen Ausarbeitung der ersten Kapitel. Vielen weiteren Personen inner- und außerhalb der Deutschen Börse gebührt Dank für den regen Ideenaustausch: Die Vielseitigkeit des Geschäftsmodells und der Mitarbeiterschaft, durch die sich die Deutsche Börse auszeichnet, ist ein ideales Umfeld, um ein solches Buch zu erarbeiten und der Öffentlichkeit vorzulegen. Und nicht nur das: Sie ist auch das beste Rüstzeug für alle Herausforderungen der großen Transformation, die die Deutsche Börse nicht nur für sich aktiv gestaltet, sondern mit ihren Kunden als Marktinfrastrukturdienstleister gemeinsam mit dem Blick auf unsere Verantwortung über unsere Generation hinaus erfolgreich meistern wird.

Dr. Stephan Leithner

Mitglied des Vorstands

Deutsche Börse AG

1. Die große Transformation als Aufgabe für den Kapitalmarkt

Die Umstellung der Ökonomien weltweit auf ein nachhaltiges Wirtschaften ist die größte Aufgabe, die wir in unserer Zeit zu meistern haben. Diese Einsicht ist in unserem noch jungen Jahrhundert aus den Rändern des öffentlichen Diskurses in dessen Mittelpunkt gerückt. Umweltthemen dominieren die mediale Berichterstattung in einer neuen gesellschaftlichen Breite. Große Teile der Bevölkerung – und ganz besonders der jungen Generation – nehmen den Klimawandel und andere Bedrohungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch den mangelnden Fortschritt zu einer gerechteren, demokratischen Welt zum Anlass, sich in neuer Qualität einzubringen: in ihrem Konsumverhalten und in einem seit den 1970er und 1980er Jahren nicht gekanntem politischen Engagement. Sie stellen Fragen nach unserer Verantwortung für künftige Generationen, die für Führungskräfte in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik nicht von der Hand zu weisen sind. Viele Jugendliche gehen für umweltpolitische Ziele auf die Straße, und breite Bevölkerungskreise üben über soziale Medien mit oft hoher Professionalität Druck auf die traditionellen Verantwortungsträger aus. Mit Erfolg: Innerhalb weniger Jahre ist ökologische Nachhaltigkeit zur obersten Priorität vieler politischer Akteure auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene geworden. Das zeigt sich nicht nur am Green Deal der Europäischen Kommission; auch der zurückliegende Bundestagswahlkampf war stark vom Thema Nachhaltigkeit bestimmt.

Auch überkommene parteipolitische Gewichtungen haben sich vor diesem Hintergrund verschoben. Neu ist vor allem, dass Nachhaltigkeit inzwischen allgemein als dringlich anerkannt wird: Es hat sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens gebildet, dass uns die Umstellung innerhalb einer Generation gelingen muss: also in den nächsten 25 Jahren. Selbst unabhängige Organe wie das Bundesverfassungsgericht mit seinem jüngsten Grundsatzurteil bestätigen diese Sicht der Dinge. Sie nehmen die Politik in die Pflicht, über die aktuelle Generation hinaus zu handeln und z. B. den Abbau der Treibhausgasemissionen ab 2031 besser zu regeln. Diese Breite der Dynamik hat eine neue Qualität gewonnen und gibt der Transformation einen disruptiven Charakter.

Die Diskussionen über Nachhaltigkeit beschränken sich nicht auf den Klimawandel. Wir beobachten zugleich eine völlig neue Dynamik und Schärfe in der Auseinandersetzung über Gerechtigkeit und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die Covid-19-Pandemie der letzten beiden Jahre hat nicht nur die reale gesellschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch den Kontrast zwischen sozialer Ausgrenzung und eingebildeter Überlegenheit verstärkt und so die Debatten über soziale Inklusion weiter verstärkt. Nach fünf Jahrzehnten mäßigen Fortschritts in der Gleichberechtigung der Geschlechter hat die Debatte zur Anerkennung von Diversität und zur Rolle von Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft eine deutlich schärfere Form angenommen. Auch internationale Ungleichgewichte werden offen adressiert: Ungleiche Standards in der Beschäftigung, von denen globale Unternehmen bislang zumindest indirekt über die weltweite Arbeitsteilung profitieren konnten, werden infrage gestellt und gesetzgeberisch zunehmend eingeschränkt, wie zuletzt im deutschen Lieferkettengesetz.

Gleichzeitig sehen wir im Zuge der Aufarbeitung verschiedener Skandale aufgrund mangelnder Compliance und Fälle des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht, dass Nachhaltigkeit auch Fragen zur guten Unternehmensführung aufwirft – wie etwa beim Abgasskandal deutscher Automobilfirmen oder bei der spektakulären Insolvenz des Zahlungsdienstleisters Wirecard. Keines dieser Themen ist heute aus den Agenden von Geschäftsführungs-, Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen wegzudenken. Gleichzeitig haben sich an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik die Transparenzanforderungen für den Dialog mit verschiedenen Anspruchsgruppen erhöht: den Kapitalgebern, der Kundschaft, internationalen Nichtregierungsorganisationen etc. Damit wird deutlich: Nachhaltigkeit umfasst Umweltthemen ebenso wie Soziales und Unternehmensführung, englisch Environment, Social, Governance – ESG. ESG ist zum bestimmenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Thema unserer Zeit ­geworden.

Das bedeutet zugleich: ESG ist als Umsetzungsanforderung in der Realpolitik angekommen. Der European Green Deal, auf den sich die Europäische Union im Dezember 2019 einigte – in sicher nicht zufälliger Analogie zum großen Aufbruch des New Deal in den USA der 1930er Jahre –, sieht jährlich zusätzliche Investitionen von 260 Milliarden Euro oder 1,5 Prozent des EU-weiten Bruttoinlandsprodukts vor. Er setzt dabei auf den öffentlichen ebenso wie auf den privaten Sektor. Auch in den USA hat sich die Biden-Administration nach einem zeitweiligen Rückschritt in der Trump-Ära des Themas wieder beherzt angenommen. Die USA sind zum Pariser Klimaschutzabkommen zurückgekehrt. Bidens Clean-Energy-Plan sieht vor, in den nächsten vier Jahren über zwei Billionen US-Dollar in den Klimaschutz zu investieren. Und auch beim jüngsten G7-Gipfel in Cornwall stand neben der Coronapandemie der Umweltschutz im Fokus der Gespräche auf höchster politischer Ebene. Nur wenige Wochen nach dem Erscheinungstermin dieses Buchs stehen mit dem UN-Klimagipfel COP 26 im schottischen Glasgow weitere Weichenstellungen an. Kein Zweifel: Die nachhaltige Transformation unserer Gesellschaften und Volkswirtschaften ist im Gang.

Von Transformation zu reden ist das eine; sie auch umzusetzen ist das andere. Notwendige Bedingung für den Wandel ist seine Finanzierbarkeit. Die Investitionssummen, die hier im Spiel sind, zeigen: Diese Transformation wird es nicht umsonst geben. Die Internationale Energieagentur IEA geht davon aus, dass die jährlichen Investitionen im Energiesektor von jährlich zwei Billionen US-Dollar auf fünf Billionen US-Dollar jährlich erhöht werden müssen, um bis 2050 das Pariser Klimaziel einer Erderwärmung von maximal 1,5° C zu erreichen.1 Und das sind nur die Summen für die ökologische Nachhaltigkeit: für das »E«. Schätzungen für den erforderlichen Wandel bei »S« und »G« liegen noch gar nicht vor. Aber auch sie werden kommen.

Eines ist schon heute gewiss: Diese enormen Summen wird die öffentliche Hand nicht allein stemmen können: weder von den Volumina noch von den Planungskapazitäten her. Auch die öffentlichen Banken und Förderinstitute stoßen hier an ihre Grenzen und sind im Sinne unserer marktwirtschaftlichen Grundkonzeption auch nicht gedacht als Träger einer Neuausrichtung. Um das Ziel einer Netto-Null-Wirtschaft zu erreichen, dürften weltweit Investitionen in Höhe von 50 bis 100 Billionen US-Dollar nötig sein; das geht aus Angaben des Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen und des Vermögensverwalters BlackRock hervor.2

Damit wird deutlich: Die grüne Transformation wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, im großen Maße privates Kapital für sie zu mobilisieren. Auch hier gilt aber: Banken allein können diese enorme Finanzierungsaufgabe nicht bewältigen. Sie sind keine Eigenkapitalgeber, und aufgrund der politischen Bemühungen um eine Stabilisierung und Regulierung ihrer Bilanzen im Gefolge der Finanzkrise nach 2007 sind auch ihren Fremdkapitalkapazitäten enge Grenzen gesetzt. Gerade in Europa besteht darüber hinaus eine unveränderte politische Sorge über eine im internationalen Kontext zu große und einseitige Abhängigkeit von Banken auch im Kontext potenzieller Krisen. Allerdings kann der Kapitalmarkt als einzige Ergänzung und Alternative zu Staat und Banken bei der Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung des Umbaus eine zentrale Rolle spielen und auch die damit verbundenen Risiken in den Griff bekommen. Es führt kein Weg daran vorbei: Die ökologische Transformation ist nicht zu schaffen, ohne dass diejenigen konsequent in die Pflicht genommen werden, die über die nötigen Mittel und das nötige Netzwerk verfügen, um langfristige Veränderungen voranzutreiben. Das sind die Kapitalmarktteilnehmer, und für sie heißt es vor allem: das dafür nötige Kapital bereitzustellen und ihre Portfolios am Kapitalmarkt entsprechend auszurichten.

Gerade weil die Veränderung so tiefgreifend und die Unsicherheit über die richtigen Ansätze in der Praxis zur Umsetzung hoch ist, gilt: Wir müssen die Schumpeter’sche Kraft der schöpferischen Zerstörung und Kreativität des Kapitalmarkts für die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit noch besser nutzen. Es sind ergebnisoffene, dezentrale Entdeckungsprozesse, koordiniert über offene und transparente Märkte, die unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem so erfolgreich machen. Zentrale Steuerungssysteme wären mit komplexen Prozessen dieser Größenordnung schlicht überfordert. Der Staat muss Ziele setzen, einen klaren Rahmen vorgeben und in Einzelfällen auch Marktversagen korrigieren bzw. selbst investieren. Doch bei allem, was darüber hinaus geht, sollten ihm in unserer marktorientierten Wirtschaftsverfassung enge Grenzen gesetzt sein. Gerade bei der Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit kann sich daher einmal mehr die Stärke und globale Bedeutung der gerade für Deutschland so prägenden sozialen Marktwirtschaft zeigen – sofern es ihr gelingt, auch das volle Potenzial des Kapitalmarkts auszuschöpfen. Dieses Potenzial gründet sich nicht nur auf seine Fähigkeit, Finanzmittel zu mobilisieren, sondern auch auf seine Kapazität zur schnellen Verarbeitung von Informationen, seine weltweite Vernetzung und seine Kompetenz darin, rasch auf Veränderungen im konjunkturellen oder geschäftlichen Umfeld zu reagieren. Es liegt also in unser aller Interesse, das volle Potenzial des Kapitalmarktes für die Transformation der Gesellschaft und der Industrie zu nutzen.

Die Finanzbranche und alle Kapitalmarktteilnehmer haben zudem ein hohes Eigeninteresse daran, strukturellen Reformbedarf rechtzeitig vorwegzunehmen und umfassend voranzutreiben. Wenn die Industrie diese Transformation heute mangels Zugang zu notwendigen Finanzierungen versäumen sollte, kommt sie morgen auch nicht mehr als Kundschaft der Finanzbranche infrage: Unbewältigte Transformationsaufgaben würden zu grundsätzlichen, unakzeptablen Risiken auch aus Sicht von Kredit- und Kapitalgebern führen. Übersteuert der Kapitalmarkt jedoch kurzfristig, und entstehen unter öffentlichem oder politischem Druck unrealistische Anforderungen für den Zugang zu Finanzierungen, bestehen umgekehrt erhebliche Risiken einer kurzfristigen Kapitalverknappung für Staaten, Wirtschaftsbereiche und Unternehmen, die für die Transformation mehr Zeit brauchen.

Hier gilt es, klare Ziele zu formulieren, konkreten Handlungsbedarf aufzuzeigen, diesen in Transformationspläne umzusetzen sowie konkrete Kontrollmechanismen für die erreichten Fortschritte einzuführen. Entscheidend für den Erfolg wird ein gut ausbalancierter Ansatz sein, bei dem politische Entscheider und maßgebliche Kapitalmarktteilnehmer im engen Austausch bleiben und immer wieder »E«, »S«, und »G« als Ganzes denken: einseitige, kurzfristige, rein ökologische Perspektiven würden weitreichende soziale Probleme nach sich ziehen. Ohne starke und glaubwürdige Governance-Strukturen für die Transformation bestünde aber auch die Gefahr einer mangelnden Bereitschaft des Kapitalmarktes, »braune Aktivitäten« zu finanzieren: ein Spannungsfeld, das am Beispiel des Kohleausstiegs in manchen deutschen Regionen oder an den Sorgen um die deutsche Autoindustrie als Motor für Wohlstand und Beschäftigung bei gleichzeitigem Übergang zur Elektromobilität deutlich wird. Ein weiteres Mal zeigt sich hier die Bedeutung eines umfassenden und systemischen ESG-Ansatzes.

Kapitalmärkte sind somit zentrale Transmissionsriemen für mehr Nachhaltigkeit. Umfassende Nachhaltigkeit erfordert einen systemischen Wandel. Diesen Weg können wir nur gemeinsam gehen: im unmittelbaren Austausch, indem wir uns gegenseitig beständig korrigieren und auf diese Weise gemeinsam besser werden. Daher gilt es, eine möglichst breite Öffentlichkeit für die bedeutende Rolle zu sensibilisieren, die der Kapitalmarkt und seine Anspruchsgruppen – also Banken, Versicherungen und Vermögensverwaltungen, aber auch die Marktinfrastrukturen – bei der Finanzierung des notwendigen Wandels spielen können, wollen und müssen.

Die maßgeblichen Akteure am Kapitalmarkt sind inzwischen mit voller Kraft dabei, ihre Geschäftspolitik an ESG-Kriterien auszurichten. Am guten Willen fehlt es nicht, ebenso wenig an der Kraft, ihn auch in die Tat umzusetzen. Entscheidend für den Erfolg und das Tempo wird es aber sein, dass sich dabei das Gesamtökosystem Kapitalmarkt an den neuen Anforderungen ausrichtet und damit der Schritt von einzelnen nachhaltigen Finanzprodukten zu einem nachhaltigen Kapitalmarkt gemacht wird.

1 Vgl. Internationale Energieagentur (2021). Net Zero by 2050 – A Roadmap for the Global Energy Sector. Paris

2 Vgl. BlackRock (2021). A sea change in global investing. Integrating climate into portfolios with ETFs. New York

2. Vom nachhaltigen Finanzprodukt zum nachhaltigen Kapitalmarkt

Nachhaltige Finanzierung bzw. Sustainable Finance gibt es seit langer Zeit – doch bisher nur als Thema einzelner Akteure und auf Basis einzelner «nachhaltiger Produkte«. Schon im 18. Jahrhundert ächteten die Quäker Investitionen in Unternehmen, die mit Waffenproduktion und Sklavenhandel zu tun hatten. Ende des 19. Jahrhunderts vergaben die von Friedrich Wilhelm Raiffeisen gegründeten Genossenschaften Kredite zu fairen Bedingungen, schulten mit den Erträgen die Landbevölkerung und blieben dennoch profitabel. Heute würde man das »Impact Investment« nennen. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts trieben soziale Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace oder der World Wildlife Fund und die mit ihnen verbundenen politischen Parteien das Thema mit zunehmender Vehemenz und steigender Popularität voran. Ein wichtiger Weckruf war der 1972 veröffentlichte Bericht des Club of Rome, dessen Titel »Die Grenzen des Wachstums« zum geflügelten Wort geworden ist. Ein weiterer Meilenstein in der öffentlichen Nachhaltigkeitsdiskussion war der sog. Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen, der 1987 unter dem Titel »Unsere gemeinsame Zukunft« erschien; Gro Harlem Brundtland, die langjährige Ministerpräsidentin Norwegens, war bei der dafür eingesetzten Kommission in Federführung. Der Bericht enthält die bis heute maßgebliche Definition von Nachhaltigkeit:

»Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.«

Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kann als die Dekade gelten, in der institutionelle Anleger das Thema für sich und ihre Kundschaft entdeckten. Umweltskandale taten ein Übriges, um die Dringlichkeit von Nachhaltigkeit auch im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit immer stärker zu verankern – und nicht zuletzt auch in den oberen Etagen des Managements und bei den Aufsichtsräten weltweit agierender Konzerne. Dadurch geriet ein Prinzip in die Defensive, das der Chicago-Starökonom Milton Friedman 1970 in der New York Times populär gemacht hatte: »The Social Responsibility Of Business Is to Increase its Profits« – die soziale Verantwortung der Geschäftswelt besteht darin, ihre Profite zu steigern, kurz: »The Business of Business is Business.« Dieser Slogan war nicht mehr haltbar. Plötzlich war klar: Wer Profit-Autismus predigt, läuft Gefahr, Rekordverluste zu ernten – und sogar komplett zu scheitern.

Spätestens seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 steht ESG ganz oben auf der weltweiten politischen Agenda. Mit dem dort ausgegebenen Ziel einer Begrenzung des weltweiten Temperaturanstiegs auf maximal 1,5 Grad Celsius ist erstmals ein globales Ziel formuliert worden, an dem sich das politische Handeln ausrichten kann.

Das hat auch Auswirkungen in neuer Qualität auf die Wirtschaft und Kapitalmärkte. Denn das Pariser Klimaabkommen definiert zum ersten Mal eine verbindliche Zielmarke von gesamtwirtschaftlicher Tragweite, die von der Regulierung aufgenommen wird und zugleich eine Benchmark für Anleger ist. Im Zeichen von Paris verändern sich daher auch nachhaltige Finanzprodukte. Diese waren bis 2015 in Ermangelung gemeinsamer Richtwerte ein Flickenteppich mit einer Fülle von Produkten. Deshalb dominierten in der Anfangsphase auch sog. exkludierende Anlagen das Produktspektrum: Bestimmte Wertpapiere werden einfach aus der Zusammensetzung von Investitionspaketen ausgeschlossen, etwa die Energiegewinnung mit Kohle, die Produktion von Waffen, die Organisation von Glücksspielen oder die Zurschaustellung menschenverachtender Formen der Sexualität. Beste Absichten waren oftmals jedoch auch in Gefahr, durch unscharfe und verwässerte Kriterien in Kritik zu geraten oder sogar Konsumentenvertrauen zu untergraben.

Seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 hat die Brisanz, die das Thema ESG in der Politik gewonnen hat, auch die Märkte erfasst. Es hat eine neue Qualität erreicht und wird zunehmend marktrelevant – und zwar in zwei Stufen, die aufeinander ­aufbauen.

Auf der ersten Stufe stehen eine neue Qualität und Bemühung um Klarheit über die ESG-Ziele, verbunden mit einem höheren Bedarf an besseren, zuverlässigeren und konsistenteren Informationen für alle Akteure am Kapitalmarkt. Nur so kann auch Greenwashing – ein rein rhetorisches Bekenntnis zu ESG – vermieden werden, und nur so lässt sich der Übergangspfad ohne Überbewertungen, kurzfristige Spekulationsblasen und andere Fehlentwicklungen minimieren, die zulasten der Allgemeinheit gehen. Auf der zweiten Stufe muss an die Stelle selektiver, ESG-orientierter Finanzprodukte ein nachhaltiges Kapital­marktökosystem aus Emittenten, Anlegern und Markt­infrastrukturangeboten mit ESG-Orientierung treten. Nur so entsteht die Liquidität und Markttiefe, die für eine effiziente Preisfindung und Abwicklung nötig ist und zudem Wachstumsperspektiven eröffnet.

Um diese beiden Stufen soll es auf den folgenden Seiten gehen.

Auf der ersten Stufe ist der Umbruch in vollem Gang. Im Mittelpunkt stehen dabei klare Ziele, zusätzliche Berichtspflichten und eine immer bessere Datenqualität. Zunächst einmal sind hier die 17 Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen zu nennen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung. Sie traten 2016 in Kraft und gelten bis 2030 – und zwar für alles Staaten weltweit. Es handelt sich hier nicht einfach um wolkige Absichtserklärungen auf einem Abstraktionsniveau, die es allen Unterzeichnenden ermöglichen würden, sie je nach politischer Opportunität auch sehr minimalistisch auszulegen. Im Gegenteil: Zu den Zielen gehören 169 konkrete Vorgaben, die etwa das Ende staatlicher Subventionen für fossile Energie oder für Exporte aus umweltschädlicher Agrarproduktion vorsehen.

Vor allem Europa ist dabei Vorreiter – oder genauer gesagt die Europäische Union. Denn hier sind diese Ziele 2018 durch den EU-Aktionsplan Nachhaltige Finanzierung ergänzt worden. Mithilfe der sogenannten Taxonomie-Verordnung legt der Aktionsplan Kriterien fest, die bestimmbar machen, wann eine Wirtschaftstätigkeit ökologisch nachhaltig ist. Um dafür infrage zu kommen, muss sie wesentlich zur Verwirklichung eines oder mehrerer von folgenden Umweltzielen beitragen: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Abfallvermeidung und Recycling, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz gesunder Ökosysteme. Darüber hinaus legen technische Evaluierungskriterien fest, was als wesentlicher Beitrag zu einem Umweltziel und als erhebliche Beeinträchtigung anderer Ziele gilt. Damit hat die Europäische Kommission einen Rechtsrahmen geschaffen, der entscheidend dazu beiträgt, dass bei Investitionsentscheidungen ESG-Faktoren besser als bisher berücksichtigt werden. Er richtet sich an alle Finanzmarktteilnehmer, von der Verwaltung alternativer Investmentfonds über Versicherungsunternehmen, Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung, dem Management europäischer Risikokapitalfonds bis hin zum Europäischen Fonds für soziales Unternehmertum.

Im Rahmen ihres Aktionsplans will die Europäische Kommission darüber hinaus Nachhaltigkeit mit folgenden Maßnahmen vorantreiben: Mit Offenlegungspflichten zu Nachhaltigkeitsrisiken will sie Klarheit darüber schaffen, wie institutionelle Anleger ESG-Faktoren in ihre Anlageentscheidungen einbeziehen sollen. Zudem müssen institutionelle Anleger nicht nur nachweisen, dass ihre Anlagen den ESG-Zielen entsprechen, sondern auch offenlegen, wie sie diese Pflichten erfüllen. Mit der Non-Financial Reporting Directive (NFRD) hat Europa hier den ersten großen Meilenstein gesetzt und die Realwirtschaft weiter an die Erfüllung von ESG-Standards herangeführt. Auch dadurch erhalten ESG-orientierte Anleger die Informationen, die sie für eine vertrauenswürdige Vermögensverwaltung brauchen.

Mit der Weiterentwicklung zur Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen – die Corporate Sustainability Reporting Directive, kurz CSRD – geht die EU den nächsten großen Schritt hin zu einer Verbesserung von Qualität, Vergleichbarkeit und Zugänglichkeit offengelegter Nachhaltigkeitsinformationen für Anleger. Die CSRD hat das Potenzial, weltweit Standards zu setzen – und genau darauf kommt es jetzt an. ESG-Datenanforderungen, Ratings und Rankings werden sich an ihren Standards orientieren. Gleichzeitig ermöglicht die EU auf dieser Datenbasis Transparenz und die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken durch die Anleger.

Dabei hilft auch ihre Offenlegungsverordnung für ein nachhaltiges Finanzwesen: die Sustainable Finance Disclosure Regulation, kurz SFDR. Mit einem weiteren Vorschlag wird die EU die Benchmark-Verordnung ändern, damit künftig auch Referenzwerte für CO2-arme Investitionen und Referenzwerte für Investitionen mit günstiger CO2-Bilanz berücksichtigt werden. So entsteht ein neuer Marktstandard, der Anlegern mehr Informationen über den CO2-Fußabdruck eines Investmentportfolios gibt. Wertpapier- und Versicherungsvermittler sollen zudem verpflichtet werden, ESG-Faktoren im Rahmen der Anlageberatung zu berücksichtigen. Alle diese finanzregulatorischen Initiativen stehen im Zusammenhang mit einer größeren Roadmap, dem EUGreen Deal, der das Ziel hat, die Europäische Union in einen ressourceneffizienten Wirtschaftsraum ohne CO2-Emissionen bis 2050 umzuwandeln. Er soll in diesem Kapitel jedoch nicht weiter thematisiert werden.

Wichtige Arbeit leistet zudem die Arbeitsgruppe für klimarelevante Finanz-Offenlegungspflichten, die Task Force on Climate-related Financial Disclosures, kurz TCFD: eine im Dezember 2015 gestartete Initiative des global tätigen Finanzstabilitätsrats, des Financial Stability Board, kurz FSB. Sie wurde mit Unterstützung der G20-Länder gegründet, um die internationale Finanzstabilität zu fördern. Die Arbeit der TCFD soll Anlegern und Vermögensverwaltungen helfen, Klimarisiken und damit verbundene Geschäftschancen mit den richtigen Daten und Informationen zu identifizieren und zu bewerten.

Bereits heute hat die EU-Regulierung positive Effekte. Sie verbessert die Planungssicherheit für Unternehmen und schafft zudem Anreize für eine beschleunigte Transformation der Wirtschaft – ein entscheidender Wettbewerbsfaktor für die Märkte von morgen. Allein die wirtschaftspolitische Stärke der EU als Institution könnte die Einheitlichkeit der Ratings verbessern und bereits damit Licht in das noch zu intransparente Dickicht der ESG-Labels bringen. All dies erhöht den Grad an wissenschaftlicher Präzision, mit der wir ESG-Fortschritte messen. Sie folgt dem Prinzip der doppelten Wesentlichkeit; dieses nimmt zum einen die finanziellen Risiken ins Visier, die auf Unternehmensseite durch mangelnde Rücksichtnahme auf ESG-Gesichtspunkte entstehen, und zum anderen die negativen Auswirkungen der Vernachlässigung von ESG auf das wirtschaftliche Gesamtwohl in der Gesellschaft. Zugleich fördert die EU eine übergreifende Betrachtungsweise des ESG-Komplexes.

Ein konsistenter regulatorischer Rahmen schafft klare Orien­tierungspunkte – und damit die Voraussetzung dafür, dass Angebot und Nachfrage eine Größenordnung erreichen, die ausreicht, um ein effizientes Wirtschaften zu ermöglichen. Der Markt entsteht. An die Stelle einer fragmentierten Landschaft vereinzelter Produkte treten auf diese Weise einheitliche und massenmarkttaugliche Angebote.

Märkte sind nicht gut darin, aus sich selbst heraus allgemeinverbindliche Standards zu schaffen, denn die Angebotseite hat einen Anreiz, durch Sonderregeln die Vergleichbarkeit mit anderen für die Nachfrageseite zu senken und auf diese Weise die Härte des Wettbewerbs abzumildern. So nachvollziehbar dies aus einer engen betriebswirtschaftlichen Perspektive sein mag, so schädlich ist es für das Funktionieren von Märkten – und damit zugleich für den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand. Deshalb ist es besser, die Standards werden von Regulatoren im Schulterschluss mit privaten Infrastrukturbetreibern gesetzt – auf dass ein guter Rahmen entstehe, innerhalb dessen es zu einem produktiven Wettbewerb der Ideen kommt.

Der Kapitalmarkt kann seine Rolle nur dann wirksam wahrnehmen, wenn für Preis- und Mengenfindung adäquate Informationen zur Verfügung stehen. Eine zentrale Rolle spielen damit die ESG-Analysten, Indexanbieter und Experten. Jahr um Jahr entstehen neue spezialisierte Datenanbieter, die ESG-Anliegen Zugang zu einem Markt für Sustainable Finance verschaffen. Dies macht Informationen als Grundlage für Entscheidungen über nachhaltige Investments günstiger und senkt die Eintrittshürden für Anleger. Ein neuer Dienstleistungszweig mit ESG-Ratings, Analytik usw. ist entstanden und entwickelt sich rapide weiter. Er entschärft damit schrittweise das bisherige Kernproblem des Markts für ESG-Angebote: dass ESG-Informationen viel schwerer zugänglich sind als die klassischen Finanzindikatoren. An den Aktien- und Anleihemärkten entstehen spezialisierte Segmente, und die Verfügbarkeit von Analyseinstrumenten und Daten nimmt permanent zu. ESG wird somit zum integralen Bestandteil des Anlage- und Risikomanagementprozesses – und ermöglicht zugleich, die notwendige Transformation zu finanzieren.

Sicher ist hier noch nicht alles perfekt: Die geplanten Offenlegungsanforderungen werden kritisiert für übertriebene Detaillierung und unrealistische Einführungszeitpläne. Auch werden ESG-Ratings aus mangelndem Verständnis häufig als rückwärtsgerichtet bezeichnet und die mangelnde Korrelation bemängelt, wobei der Ruf nach regulatorischer Harmonisierung dann schnell laut und derzeit diskutiert wird. In der Tat kann eine Regulierung von ESG-Datenanbietern sinnvoll sein, um gemeinsame Qualitätsstandards oder etwa einen Code of Conduct sicherzustellen. Eine Regulierung der Ratingmethodik selbst wäre allerdings zum derzeitigen Zeitpunkt kontraproduktiv, da der Markt noch in den Kinderschuhen steckt und Innovation dringend notwendig ist. Oft wird auch ins Feld geführt, dass ESG-Daten teuer seien – eine Aussage, die beim Vergleich mit den Kosten anderer Finanzmarktdaten keiner Überprüfung standhält. Doch der Innovationsdruck auf ESG-Datenanbieter ist hoch, und es findet eine Konsolidierung statt. Diese Entwicklung muss die Politik jedoch aktiv unterstützen: durch verlässliche, prinzipienbasierte Rahmen, die weitergehende Innovation fördern, sowie europaweite und wenn möglich global anerkannte Regelungen, die eine ausreichende Marktgröße für Anbieter aus Europa sicherstellen.

Klare Informationsstandards, Daten und Analyseangebote sind notwendige Bedingungen für ein Kapitalmarktökosystem. Doch um nachhaltige Finanzprodukte aus der Nische in den Mainstream zu heben, sind Informationen allein nicht hinreichend. Nur wenn das volle Potenzial des Kapitalmarkts ausgeschöpft wird, ist echte Transformation möglich: neben der Aufbereitung, Verteilung und Analyse der ESG-Informationen durch spezialisierte Dienstleister gilt es, die Infrastruktur für die Bündelung und Strukturierung der Nachfrage der Emittenten nach Kapital sicherzustellen: über emissionsbegleitende Banken, eine transparente und faire Preisfindung in regulierten, liquiden Märkten. Zudem müssen Anleger die Möglichkeit zum Risikomanagement erhalten; dies erfordert eine enge Verbindung des Handels der Basiswerte mit Derivatemärkten. Zentral ist zudem die Integration von Abwicklungsdienstleistern rund um ESG-Finanzierungen. Alle Teile dieses Kapitalmarkt­ökosystems sind bereits dabei, sich neu auszurichten. Wo die einzelnen Gruppen zwischen Emittenten, Anleger und Banken hierbei als Intermediären sowie Infrastrukturanbietern stehen, stellen die Einzelbeträge dieses Buchs vor.

Gerade in einem Feld, das sich so rapide entwickelt wie ESG, ist eine besonders aktive Rolle der Marktinfrastrukturanbieter notwendig. Sie müssen nicht nur durch Skalierung und den Aufbau einer dezentralen, grenzübergreifenden Struktur Kosten senken, sondern vor allem ihren Vertrauensvorschuss einbringen. »Börsenbetreiber« stehen traditionell in der Rolle, für die Qualität bei Informationen und Fairness von Prozessen zu bürgen – und stiften Vertrauen zwischen den Marktteilnehmen. »Wir schaffen Vertrauen in die Märkte von heute und morgen« ist deshalb nicht umsonst der explizite Unternehmenszweck der Deutschen Börse. Das ist der Grund, weshalb Anbieter von Infrastruktur für die Kapitalmärkte besonders gut geeignet sind, Transformationsprozesse von Institutionen und Technologien über Preissignale dezentral zu begleiten. Intransparente Preisfindungs- und Abwicklungsprozesse würden gerade für noch entstehende Märkte wie ESG die Kundenakzeptanz verlangsamen, denn sie würden Misstrauen wegen möglichen Greenwashings schüren und dadurch nicht nur die Kosten, sondern auch die Risiken erhöhen. Durch die Transparenz, die Marktinfrastrukturen herstellen, entsteht zugleich das Vertrauen, das für das Funktionieren von Märkten so essenziell ist.

Erforderlich ist also eine umfassende Auswahl an Finanzinstrumenten zur Risikoabsicherung und -transformation, deren Infrastruktur mit höchster Verlässlichkeit und 24 Stunden am Tag verfügbar ist. Eine zentrale Rolle werden in der Transformation zu einem ESG-konformen Wirtschaften auch Spezialbörsen spielen, an denen Rohstoffe und Verrechnungsgrößen für die grüne Transformation gehandelt werden. Bereits heute werden CO2-Zertifikate und Herkunftsnachweise für grüne Energien an Warenterminbörsen gehandelt. Diese Instrumente können jedoch wesentlich breiter, für mehr Branchen und auch regional mit Blick auf einen globalen CO2-Markt eingesetzt werden. Auch wird sich das Umfeld des CO2-Handels über die Dominanz von Marktteilnehmern aus dem industriellen Umfeld hinaus öffnen müssen, um auch traditionelle Anleger einzubinden, die Basismärkte mit dem Kapitalmarkt verbinden. Zuletzt: CO2 bestimmt heute die Diskussion. Morgen können aber Wasserstoffderivate wichtiger werden. Hinzu kommen möglicherweise auch Stromeinspeisungen einzelner Haushalte in kleinsten, hochliquiden Losgrößen.

Neben dem Auf- und Ausbau von Marktinfrastrukturangeboten erfordert das Ökosystem für einen nachhaltigen Kapitalmarkt Banken, um Emittenten maßgeschneidert begleiten zu können. Dazu gehört in den letzten Jahren die kompetente Begleitung von Green-Bond-Emissionen, als auch Branchenexpertise und Research im Hinblick auf Wachstumspotenzial und Risiken aus der Nachhaltigkeitstransformation für Aktieninvestments. Aber auch eine völlige neue Qualität in der Zusammenarbeit mit öffentlichen Förderbanken in frühen Finanzierungsphasen von Start-ups und Wachstumsunternehmen wie auch bei der Finanzierung von langfristigen Transformationsprojekten. Banken und Kapitalmarktintermediäre sind hier im Begriff, ihre Risikosysteme neu auszurichten sowie ESG-Risiken gezielt zu berücksichtigen und damit auch den sich verändernden regulatorischen Anforderungen gerecht zu werden. Neben direkten Green-Bond-Emissionen wird sich auf Grundlage der weiterentwickelten Portfoliosysteme der Banken damit auch der sehr bedeutende Markt für Bankenanleihen anpassen und ein neuer Verbriefungsmarkt entstehen können.

Die aktuelle rapide Weiterentwicklung zu einem nachhaltigen Kapitalmarktökosystem geht aber vor allem auch von der Nachfrageseite aus: den Anlegern und Vermögensverwaltungen. Weltweit waren Ende 2020 Vermögenswerte in Höhe von 35 Billionen US-Dollar Verwaltungen anvertraut, die unter Berücksichtigung von ESG-Kriterien anlegen. Dieser gigantische Wert entspricht nicht weniger als 35 Prozent der weltweit angelegten Mittel.1 Wichtigster Treiber für diese Umschichtungen sind sowohl die veränderten Anforderungen von Endanlegern als auch aktuell die Erwartung an kurzfristige Transformationsprämien und Überrenditen, während sich die Nachfrage schneller als das Anlageangebot auf nachhaltiges Investieren ausrichtet und ESG-konforme Anlagemöglichkeiten knapp sind (und noch immer knapper ­werden). Langfristig dürfte für eine Neuausrichtung der Portfolien sprechen, dass das Risikoprofil von nachhaltigen gegenüber nichtnachhaltigen Anlagemöglichkeiten attraktiver wird. Institutionelle Anleger arbeiten mit erheblichem Mitteleinsatz an der Neuausrichtung ihrer Strukturen, Kompetenzen und Prozesse für dieses neue Umfeld. Verstärkt wird die ESG-Dynamik im dargestellten Kapitalmarktökosystem zwischen Emittenten, Anleger und Infrastrukturanbietern von mächtigen, strukturellen Trends:

Erstens haben passive Anlagestrategien in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und nutzen das Interesse an ESG-Themen. Zu diesen passiven Anlagestrategien gehören vor allem auch ETF (Exchange Traded Funds)-Angebote mit geringeren Produktkosten als herkömmliche Anlageprodukte. Mit diesen konnten die Anbieter in Marktanteile gewinnen – auch, weil sie geschickt ESG-Elemente in der Vermarktung positionierten. So überholten im ersten Quartal des Jahres 2021 in Europa die Neuanlagen in ESG-ETFs mit rund 24 Millionen Euro zum ersten Mal die konventionellen Anlagen (rund 20 Millionen Euro).2 Diese passiven Anlageprodukte erfordern Referenzindizes und hochwertige ESG-Daten, an denen sich die zugrunde liegenden regelbasierten Handelsstrategien orientieren können. Gerade weil passive Anlagestrategien wichtiger werden, müssen Emittenten sich in ihrer Kapitalmarktpositionierung an einschlägigen Indizes und ESG-Kriterien ausrichten. Aktive, traditionelle Anleger und Vermögensverwalter hingegen müssen sich im Wettbewerb mit ESG-ETF-Alternativen durch überlegene Performance und differenzierte ESG-Ansätze bewähren.

Zweitens schafft die Digitalisierung eine neue Qualität der Endkonsumentenbeteiligung am Kapitalmarkt, die auf ESG beschleunigend wirkt. Die Digitalisierung ermöglicht eine höhere Skalierbarkeit von Geschäftsmodellen auch am Kapitalmarkt und ebnet damit den Weg für eine kostengünstigere und direktere Beteiligung von Endkonsumenten. Gerade mit der hohen Bedeutung von ESG für junge Menschen und Anleger ist es auch für digitale, neue und schnell wachsende Finanzprodukte attraktiv. Neue, digitale Anbieter entstehen, und traditionelle Banken und Vermögensverwalter müssen ihr Kapitalmarktangebot entsprechend beschleunigt im Hinblick auf ESG anpassen.

Drittens sind Politik, professionelle Anleger, Emittenten, Regulatoren und Marktplatzbetreiber stark daran interessiert, eine nachhaltige Transformation sicher und mit vertrauenswürdigen Infrastrukturen durchzuführen. ESG bildet einen zugrunde liegenden realpolitischen und gesellschaftlichen Trend ab. Die aktuellen Bemühungen um Regulierung, Standards, Transparenz und Professionalisierung werden grundsätzlich das Anlegervertrauen stärken und die Nachfrage weiter erhöhen. Analogien zum ­Neuen Markt, der Anfang der 2000er Jahre unter den Druckwellen des Platzens der weltweiten Blase von Tech-Titeln plötzlich zusammenbrach, tragen daher nicht. Kritisch bleibt aber gleichwohl das Grundverständnis, dass private Marktakteure nicht verdrängt werden dürfen, da nur sie eine dezentrale Allokation von Mitteln und den freien Marktordnungen eigenen Entdeckungsprozess sicherstellen. Auch wenn viele Bereiche quer über alle drei ESG-Dimensionen stark reguliert sind: Vereinzelte Marktüberhitzung und auch Blasen werden sich wohl nicht vollständig verhindern lassen. Das ist aber ein überschaubares Risiko im Vergleich zu dem, was auf dem Spiel steht.

Viertens verfolgen auch viele Zentralbanken mittlerweile eine dezidierte ESG-Agenda. Viele von ihnen, beispielsweise die Europäische Zentralbank oder die Bank von England, führen bereits heute Klimastresstests durch und bewerten somit die Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems mit Blick auf Klimarisiken. Aufgrund umfangreicher Anleihekäufe sind sie aber auch selbst wichtige Akteure am Kapitalmarkt. Viele von ihnen planen, grüne Anleihen in ihrer Geldpolitik zu bevorzugen. Während die Federal Reserve Bank in Washington D.C. die Verantwortung für den Klimaschutz klar bei der Politik verortet, teilte die Europäische Zentralbank am 8. Juli 2021 mit, dass sie Nachhaltigkeit künftig systematisch in ihrer Geldpolitik berücksichtigen werde. Die Begründung: Der Klimawandel sei relevant für Inflation, gesamtwirtschaftliche Leistung, Zinsen und Produktivität – also für Themen, die Zentralbanken seit jeher im Blick haben müssen. Die geplanten Maßnahmen gehen weit über Klimamodelle, Transparenzanforderungen oder Berichtspflichten für Anleihen hinaus. Die EZB denkt auch offen über eine mögliche Neubewertung grüner Anleihen nach, die für geldpolitische Geschäfte als Sicherheit hinterlegt werden – und das wird sich dann auch sehr konkret auf die Wertentwicklung dieser Papiere auswirken. All dies ist zwar aus ordnungspolitischer Sicht umstritten; doch das ändert nichts an der Tatsache, dass insbesondere grüne Anleihen von diesen Entscheidungen profitieren werden.

Fünftens hat Covid-19 die Notwendigkeit und Attraktivität eines Ökosystems für ESG-konforme Anlagen und Finanzierungen noch einmal verstärkt: Die Sparquoten haben in allen Staaten während der Covidkrise kurzfristig zugenommen. Die starken kurzfristigen Schwankungen an den Finanzmärkten und die Erkenntnis, dass sicher geglaubte gesamtwirtschaftliche Abläufe über Nacht infrage gestellt werden können, haben das Interesse von Anlegern bestärkt, vor allem in Ziele mit hoher institutioneller Güte zu investieren. Diese Entwicklung geht mit starken Mittelzuflüssen im Zuge der allgemeinen Niedrigzinsphase einher – ebenso wie dem klaren Signal seitens staatlicher Akteure, künftig wieder regulatorisch wie durch aktive Marktinterventionen stärker am Kapitalmarkt mitzuspielen.

Mit Riesenschritten vollzieht sich daher aktuell die Veränderung von einzelnen ESG-Produkten zu einem umfassenden nachhaltigen Kapitalmarktökosystem. Worauf gilt es nun besonders zu achten, um Deutschland und Europa erfolgreich zu machen?

1 Quelle: Global Sustainable Investment Alliance (2021). Global Sustainable Investment Review 2020. Sydney

2 Vgl. Johnson, S. (2021). European sustainable index fund flows surpass all others for first time. Financial Times vom 26. April

3. Eine strategische Agenda für Europa mit globalem Anspruch

Aus allen im letzten Kapitel beschriebenen Entwicklungen ist klar erkennbar, dass die Transformation zu einem nachhaltigen Kapitalmarkt in vollem Gange ist und sich beschleunigt. Entscheidend wird nun sein, dass europäische Standards und Strukturen mit globaler Relevanz entstehen. Hier müssen wir uns aus deutscher Perspektive einbringen. Unsere Autorenschaft geht hier mit klaren Aussagen voran. In 30 Gastbeiträgen zeigen Repräsentanten von Gesellschaft und Politik, Regulatorik, den wichtigsten Anlegergruppen, Emittenten und Dienstleistern sowie Finanzintermediären ihre Perspektive zu Zielen sowie Potenzialen für funktionierende nachhaltige Kapitalmärkte quer durch alle Stufen ihrer Wertschöpfungskette auf. Sie schildern jeweils ihre Perspektive auf aktuelle Beispiele für nachahmenswerte Initiativen in der Praxis und leiten daraus Handlungsempfehlungen ab. Sie machen damit in aller Deutlichkeit klar, was kommt und kommen sollte.

Die breite Expertise der Autorenschaft aus Politik, Regulierung, Marktteilnehmern und -betreibern liefert eine tiefe Analyse. Selbstverständlich ergibt sich daraus kein homogenes Bild. Erfahrungen und Schwerpunkte für Ratschläge zu nächsten Schritten weichen voneinander ebenso ab wie der jeweilige Hintergrund innerhalb der Autorenschaft. Gemeinsame Themen und Grundaussagen lassen sich klar identifizieren. Vieles liegt nun daran, wie die Politik und die Gestalter des Kapitalmarkt­ökosystems die Ziele, bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen zu nächsten Schritten vorantreiben. In diesem Sinne seien den Einzelbeiträgen fünf Thesen zum weiteren Vorgehen vorangestellt. Aus ihnen spricht der feste Wille, die Transformation proaktiv als Chance für Europa im globalen Rahmen zu nutzen.

Erstens: Europa muss einen eigenen Kapitalmarkt von Relevanz entwickeln. Die Kapitalmarktunion muss oberste Priorität haben.

Historisch haben Deutschland und Europa einen unterentwickelten Kapitalmarkt im globalen Vergleich. In den nächsten Jahren gilt es, hier maßgebliche Fortschritte zu machen – die Kapitalmarktunion muss Wirklichkeit werden. Die relative Schwäche des europäischen Kapitalmarktes liegt vor allem auch in den historischen politischen Vorbehalten und dem Vorzug für staatlich oder bankfinanzierte Lösungen. Zahlreiche Statistiken können dies verdeutlichen, und es betrifft sowohl die Finanzierungsseite als auch den Investitionsschwerpunkt der Anleger: Nur rund 15 Prozent der Unternehmensfinanzierungen im Euroraum ermöglicht der Kapitalmarkt, 85 Prozent die Hausbank. In den Vereinigten Staaten ist es genau umgekehrt.1 Und: Die Marktkapitalisierung der börsennotierten Unternehmen als Ausdruck der Eigenkapitalfinanzierung über den Kapitalmarkt liegt bei fast 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den USA und nur etwas über 50 Prozent in Europa.2 Die Finanzanlagen der Haushalte haben traditionell ihren Schwerpunkt in Festgeld und Sparbuchanlagen, und nur in wenigen europäischen Ländern sind Kapitalmarktanlageformen integraler Bestandteil von privaten und staatlichen Altersvorsorgemodellen. Hier gilt es, konsequent anzusetzen und neue Instrumente einer kapitalmarktbasierten Altersvorsorge zu schaffen. Dies ist die einzige glaubwürdige Möglichkeit einer langfristig nachhaltigen Finanzierung des demografischen Wandels in Europa und wird gleichzeitig eine neue Tiefe und Breite für den europäischen Kapitalmarkt schaffen.

Neben der strukturell zu geringen Größe und Tiefe leidet der europäische Kapitalmarkt unverändert an einer historischen Fragmentierung. Diese Problematik ist oft erkannt worden, und durch das aktuelle Programm der Europäischen Kommission für die Schaffung einer Kapitalmarktunion werden zahlreiche Maßnahmen vorgeschlagen und vorangetrieben. Hier ist noch mehr Momentum möglich! Hier kann sich auch Deutschland noch aktiver einbringen und sollte dies auch zu einer klaren Priorität machen: Der Erfolg der Kapitalmarktunion ist notwendige Voraussetzung für die Nachhaltigkeitstransformation unserer Gesellschaft.

Zweitens: Europa muss kapitalmarktkonforme ESG-Standards mit globaler Relevanz entwickeln und darf nicht auf Sonderlösungen setzen.