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Nach seinem Tode sitzt Tucholsky mit einem Freund im All auf einer Himmelswolke, lässt die Beine baumeln und sinniert mit ihm über Gott und Menschen, Erde und Universum, Leben, Tod und Wiedergeburt. Ein Glanzstück aus Tucholskys Schaffen.
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Wir schaukelten uns auf den Wellen – kurze und lange umhauchten uns, die Sendestationen der Planetenkugeln versorgten uns damit, uns, im jenseitigen Herrenbad. Aus den Familienkabinen drang leises Kreischen.
»Welches war eigentlich Ihr schlimmster Eindruck hier bei uns?«, fragte er.
Ich sagte: »Der erste Tag im Empfangssaal – das war grässlich. Daran mag ich gar nicht zurückdenken. Grässlich war das.«
»Warum?«, fragte er.
Ich sagte: »Zweiundsiebzig Jahre auf der Erde, das bedeutet: neunundsechzig Jahre lang gelogen, Empfindungen versteckt, geheuchelt; gegrinst, statt zu beißen; geschimpft, wo man geliebt hat ... Manchmal dämmert eine Ahnung auf, das vielleicht lieber doch zu unterlassen. Gewissen, sagen die Kultusbeamten. Es ist aber nur das matte Versickern des Gefühls, dass die, die vor uns gestorben sind, uns durchschauen, von oben her. Denken Sie doch: die ganze Lüge offenbar! Wenn ich das gewusst hätte! Ich kam in den Empfangssaal« – aber jetzt schienen sie drüben im Familienbad geradezu auf den Köpfen zu gehen –, »und ich glaubte vor Scham in die Erde sinken zu müssen. Es war aber keine da. Schrecklich – nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so geschämt, so schrecklich geschämt. Und das Allerschlimmste war: Sie sahen mich nur an. Sie sahen mich alle nur an. Niemand kam auf die peinlichen Dinge zurück – aber ich wusste das doch, dass sie alles wussten! Ich war klein wie eine Maus – so jämmerlich. Ich würde nie mehr lügen.«
»Der alte Mann«, sagte er, »der das arrangiert, hätte diese Zeremonie des Empfangssaals vorher legen sollen, vor unser Leben. Vielleicht ...«
»Ja«, sagte ich.
»Aber dann wäre es nicht so schön gewesen«, sagte er.
»Nein«, sagte ich.
Jetzt kam eine große Welle, eine von den langen, starken, und warf uns mit den Beinen aneinander, dass wir lachen mussten.
Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.
»Am liebsten«, sagte ich zu ihm, »waren mir zeitlebens die Betriebe, die ein wenig verfault waren. Da arbeitete ich so gern. Der Chef schon etwas gaga, wie die Franzosen das nennen, mümmlig, nicht mehr ganz auf dem Trab, vielleicht Alkoholiker; sein Stellvertreter ein gutmütiger Mann, der nicht allzu viel zu sagen hatte.
Niemand hatte überhaupt viel zu sagen – der Begriff des Vorgesetzten war eingeschlafen. Auch Vorschriften nahm man nicht so genau – sie waren da, aber sie bedrückten keinen. Diese Läden hatten immer so etwas von Morbidität, es ging zu Ende mit ihnen, ein leiser Verfall. Wissen Sie: Man arbeitete, man faulenzte nicht, hatte Beschäftigung – aber es war im Großen ganzen doch nur die Geste der Arbeit.
Haben Sie mal in einer Posse eine Choristin die Möbel abpuscheln sehen? So etwas Ähnliches war es. Schrecklich, wenn der Betrieb etwa aufgefrischt werden sollte, wenn ein neuer Mann kam, der gleich am ersten Tag erklärte: Die Schweinerei hört jetzt auf!
Wie lange es immer dauerte, bis sich auch der Neue eingewöhnt hatte! Denn Verfall steckt an – unweigerlich. Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt geworden: Mir ist kein Fall bekannt, wo er nicht angesteckt hätte.
Ja. Es gab viele Stätten solcher Art. Beim Militär habe ich sie gefunden, in der Industrie; auf dem Lande lagen solche Güter – Operettenbetriebe. Hübsch, da zu arbeiten. Sehr nett. Und immer so eine leise kitzelnde Angst vor dem Ende, denn einmal musste es ja kommen, das Ende – immer konnte es nicht so weitergehen.«
»Nein«, antwortete er, »immer konnte es natürlich nicht so weitergehen. Kommen Sie übrigens heute Nachmittag zum lieben Gott?«
»Wer wird dasein –?«, sagte ich.
Er antwortete: »Gandhi, Alfred Polgar, einer von den unbekannten Soldaten und dann irgendein Neuer.«
»Ich mag die Neuen nicht«, sagte ich. »Sie kommen sich so feierlich vor. Wie finden Sie übrigens den lieben Gott?«
»Sehr sympathisch«, sagte er. »Er erinnert ein wenig an das, wovon Sie eben sprachen.«
»Ja«, sagte ich.
Dann ließen wir wieder dieBeine baumeln.
»Haben Sie schwimmen gelernt, damals, als Sie lebten?«, fragte ich ihn. Wir ruderten durch den endlosen Raum, in farblosem Licht, es hatte eigentlich keinen Sinn, sich zu bewegen, weil jeder Maßstab fehlte, wohin die Fahrt ging. Planeten waren nicht zu sehen – sie rollten fern dahin.
»Nein«, sagte er. »Ich kann nicht schwimmen. Ich hatte einen Bruch. Mein Leib hatte einen Bruch.«
»Ich habe es auch nicht gelernt«, sagte ich. »Ich wollte es immer lernen – ich habe drei-, viermal angefangen –; aber dann ist es immer nichts geworden. Nein, Schwimmen nicht. Englisch auch nicht – damit war es ganz dasselbe. Haben Sie alles erreicht, was Sie sich einmal vorgenommen hatten? Ich auch nicht. Und dann, an stillen Abenden, wenn man einmal aufatmen konnte und das ganze Brimborium des täglichen Klapperwerks verrauscht war, dann kamen die nachdenklichen Stunden und die guten Vorsätze. Kannten Sie das –?«
»Wie oft!«, sagte er. »Wie oft!«