Nacht - Bernard Minier - E-Book
SONDERANGEBOT

Nacht E-Book

Bernard Minier

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer die Nacht nicht fürchtet, hat die Finsternis noch nicht gespürt Fall 4 für Kommissar Martin Servaz aus Toulouse – ein eiskalter Psychothriller des französischen Bestseller-Autors Bernard Minier Bei einem Mordopfer auf einer norwegischen Ölplattform tauchen Fotos auf, die direkt zu Kommissar Martin Servaz in die Pyrenäen und nach Toulouse führen. Fotos, die nur einer dort hinterlegt haben kann: Julian Hirtmann, ein hochintelligenter Serienkiller, seit Jahren auf der Flucht. Zeitgleich mit ihm verschwand damals Servazʼ große Liebe Marianne, längst ist der Kommissar von ihrem Tod überzeugt. Nun hat der Serienkiller offenbar beschlossen, ein neues Spiel mit Kommissar Servas zu spielen. Erst setzt Hirtmann den Kommissar auf die Spur eines Jungen, der sein Sohn sein könnte – nur um ihn dann vor eine unmögliche Wahl zu stellen. »Schwarzer Schmetterling«, der erste Fall für Kommissar Martin Servaz, wurde für Netflix unter dem Titel »Glacé – ein eiskalter Fund« verfilmt. Bernard Miniers Psychothriller aus den Pyrenäen sind in folgender Reihenfolge erschienen: • »Schwarzer Schmetterling« • »Kindertotenlied« • »Wolfsbeute« • »Nacht« • »Schwestern im Tod« »Bernard Minier schreibt dunkle hochspannende Thriller, giftig, kristallklar, fesselnd.« Bernard Lehut, RTL

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 723

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernard Minier

NACHT

Psychothriller

Aus dem Französischen vonAlexandra Baisch

Knaur e-books

Über dieses Buch

Psycho-Thrill par excellence – vom französischen Meister des Genres. Spiegel-Bestseller-Autor Bernard Minier, bekannt u.a. durch die herausragende Netflix-Serie Glacé – ein eiskalter Fund (Schwarzer Schmetterling) nimmt den Leser in seinem neuesten Psycho-Thriller mit auf eine atemberaubende Reise in die Finsternis, aus der es für Kommissar Martin Servaz kein Entkommen zu geben scheint. Der französische Kommissar Servaz wird mit seinem schlimmsten Albtraum – Serienkiller Julian Hirtmann – konfrontiert.

Bei einem Mordopfer auf einer norwegischen Ölplattform tauchen Fotos auf, die direkt zu Kommissar Servaz in die Pyrenäen und nach Toulouse führen. Fotos, die nur einer dort hinterlegt haben kann: Julian Hirtmann, ein hochintelligenter Serienmörder, seit Jahren auf der Flucht. Zeitgleich mit ihm verschwand damals Servaz` große Liebe Marianne, längst ist der Kommissar von ihrem Tod überzeugt. Nun hat Serienkiller Hirtmann beschlossen, ein neues Spiel mit Servas zu spielen. Erst setzt er den Kommissar auf die Spur eines Jungen, der sein Sohn sein könnte – nur um ihn dann vor eine unmögliche Wahl zu stellen.

Ein Psycho-Thriller der Extra-Klasse, der einen starken Sog entwickelt und den Leser fesselt und ihn atemlos aus dem verschneiten Norwegen direkt die Abhänge der Pyrenäen hinunter führt.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoAuftaktKIRSTEN1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelMARTIN4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelKIRSTEN UND MARTIN9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelMARTIN23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelGUSTAV26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelMARTIN UND JULIAN37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. KapitelEpilogDanksagungLeseprobe »Schwestern im Tod«
[home]

Für Laura Muñoz – dieser Roman

ist ebenso sehr ihr Roman.

Für Jo (1953–2016).

[home]

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind.

Goethe

 

Ein andermal.

Es war noch Nacht.

Yves Bonnefoy

[home]

Auftakt

Sie sieht auf die Uhr. Bald Mitternacht.

Nachtzug. Nachtzüge sind wie Schwachstellen im Zeit-Raum-Gefüge, wie Paralleluniversen: Das Leben hängt mit einem Mal in der Schwebe, schweigsam, reglos. Taube Körper; Trägheit, Träume, Schnarchen … Dazu der gleichmäßige Galopp der Räder über die Schienen, die Geschwindigkeit, die den Körper mit sich reißt – dieses Sein, alles Vergangene und Zukünftige – hin zu einem Anderswo, das noch irgendwo in der Finsternis verborgen ist.

Denn wer weiß schon, was zwischen einem Punkt A und einem Punkt B geschehen kann?

Ein auf die Gleise gestürzter Baum, ein Reisender mit böswilligen Absichten, ein schläfriger Zugführer … Sie denkt darüber nach, mehr aus Untätigkeit als aus Angst heraus, und ohne zu lange bei diesem Gedanken zu verweilen. Seit Geilo ist sie allein im Waggon, und soweit sie das beurteilen kann, ist in der Zwischenzeit auch niemand zugestiegen. Dieser Zug hält überall. Asker. Drammen. Hønefoss. Gol. Ål. Manchmal auch an Bahnhöfen, an denen die Bahnsteige schon bald unter der Schneedecke verschwunden sein werden und wo nur ein oder zwei symbolische Häuschen stehen, wie zum Beispiel in Ustaoset, wo nur ein einziger Passagier ausgestiegen ist. Dann entdeckt sie Lichter, ganz fern, sie sind geradezu lächerlich in der unendlichen norwegischen Nacht. Ein paar einsam gelegene Häuser, bei denen die Lampen auf der Türschwelle die ganze Nacht über brennen.

Keiner im Waggon: Heute ist Mittwoch. Von Donnerstag bis Montag ist dieser Zug im Winter fast rappelvoll, seine Fahrgäste hauptsächlich junge Leute und asiatische Touristen, schließlich fährt er die Skistationen an. Die 484 Kilometer lange Strecke von Oslo nach Bergen mit ihren 182 Tunneln, Viadukten, Seen und Fjorden hat sogar den Ruf, im Sommer eine der aufregendsten Eisenbahnlinien weltweit zu sein. Mitten im nördlichen Herbst jedoch, in einer eisigen Nacht wie dieser, und noch dazu an einem Tag unter der Woche, trifft man hier keine Menschenseele an. Die Stille, die zwischen den Sitzreihen zu beiden Seiten des Mittelganges herrscht, hat durchaus etwas Bedrückendes. Als hätte sich der Zug auf ein Alarmsignal hin geleert, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hätte.

Sie gähnt. Auch die Decke und die Schlafmaske, die für sie bereitliegen, helfen nicht, ihr das Einschlafen zu erleichtern. Es will nicht klappen. Sobald sie ihre Wohnung verlässt, ist sie immer äußerst wachsam. Das liegt an ihrem Job. Und dieser menschenleere Zug ist dem Entspannen auch nur bedingt zuträglich.

Sie spitzt die Ohren. Keine Stimme dringt zu ihr vor. Noch nicht einmal das Geräusch eines Körpers, der sich bewegt, einer Tür, die aufgeschoben wird, oder eines Gepäckstücks, das man umstellt.

Ihr Blick wandert über die leeren Sitzplätze, die grauen Wände, den vereinsamten Mittelgang und die dunklen Fenster. Sie seufzt und zwingt sich, die Augen zu schließen.

 

Der rote Zug tauchte aus dem schwarzen Tunnel auf, wie eine Zunge aus dem Mund einer vereisten Landschaft. Die schieferblaue Nacht, das undurchdringliche Schwarz des Tunnels, das bläuliche Weiß des Schnees und das leicht dunklere Grau des Eises. Und dann ganz plötzlich, dieser leuchtend rote Strich – wie eine Blutspur, die sich gerade bis zum Bahnsteig ergießt.

Der Bahnhof von Finse. 1222 Höhenmeter. Der höchste Punkt der Strecke.

Die Bahnhofsgebäude wurden von einer dichten Schneedecke verschluckt, und die Dächer waren wie von weißen Daunendecken zugedeckt. Ein Paar und eine Frau warteten auf dem Bahnsteig, der im Licht der gelben Lampen an eine Langlaufloipe erinnerte.

Kirsten wandte ihr Gesicht vom Fenster ab; draußen wurde alles erneut von der Dunkelheit verschluckt, ausgelöscht durch die Beleuchtung im Innenraum, die sich einschaltete. Sie hörte das Seufzen der Tür und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr, ganz am Ende des Mittelgangs. Eine Frau um die vierzig genau wie sie. Kirsten vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. Sie hatte kaum eine Stunde geschlafen, dabei war sie vor vier Stunden aus Oslo abgefahren. Sie hätte lieber ein Flugzeug genommen oder in einem Liegewagen geschlafen, aber ihre Vorgesetzten hatten ihr ein einfaches Ticket für den Nachtzug in die Hand gedrückt. Sitzplatz. Sparmaßnahmen verpflichten. Die Notizen, die sie sich auf dem Handy notiert hatte, wurden jetzt auf dem Bildschirm ihres Tablets angezeigt: eine Leiche, aufgefunden in einer Kirche in Bergen. Mariakirken, die Kirche der heiligen Maria. Eine Frau, massakriert auf dem Altar, inmitten von religiösen Kultobjekten. Amen.

»Entschuldige.«

Sie blickte auf. Die Frau, die eingestiegen war, stand vor ihr. Lächelnd. Ihr Gepäckstück in der Hand.

»Stört es dich, wenn ich mich dir gegenüber hinsetze? Ich will dich gar nicht weiter behelligen, es ist nur so … also, ein leerer Nachtzug. Ich weiß nicht recht, da würde ich mich sicherer fühlen.«

Doch, es störte sie. Matt lächelte sie zurück.

»Nein, nein, das stört mich nicht. Fährst du bis nach Bergen?«

»Ähm … ja, ja, genau. Bergen. Du auch?«

Kirsten beugte sich wieder über ihre Notizen. Der Typ aus Bergen, Kasper Strand, war am Telefon nicht gerade gesprächig gewesen. Sie fragte sich, ob er bei seinen Ermittlungen ebenso wenig akribisch vorging. Ihm zufolge war ein Obdachloser bei Einbruch der Dunkelheit in der Nähe von Mariakirken vorbeigekommen und hatte Schreie im Inneren der Kirche gehört. Statt nachzusehen, hatte er es für weiser erachtet, die Beine in die Hand zu nehmen, und war dabei Hals über Kopf in eine Patrouille gerannt, die gerade dort vorbeikam. Die beiden Beamten wollten wissen, weshalb er so schnell Reißaus nahm. Also hatte er ihnen von den Schreien in der Kirche erzählt. Laut Kasper Strand seien die beiden Streifenpolizisten unverhohlen skeptisch gewesen – angesichts seines Tonfalls und gewisser Anspielungen glaubte sie zu verstehen, dass der Obdachlose der Polizei gut bekannt war –, allerdings sei es in dieser Nacht kalt und feucht gewesen und sie hätten weiter nichts zu tun gehabt; alles in allem sei ein eisiges Kirchenschiff dem Wind und dem »von der offenen See hereinwehenden« Regen immer noch vorzuziehen gewesen. So hatte Kasper Strand es ausgedrückt – ein Poet bei der Polizei, dachte sie.

Sie hatte Bedenken, sich das kurze Video mit der Aufnahme aus der Kirche, das Strand ihr geschickt hatte, auf dem Tablet anzusehen. Wegen der Frau, die ihr gegenübersaß. Kirsten seufzte. Sie hatte gehofft, dass die Frau ein Nickerchen machen würde, stattdessen wirkte sie putzmunter. Kirsten warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Die Frau stierte sie an. Ein kleines Lächeln auf den Lippen, von dem Kirsten nicht hätte sagen können, ob es freundlich oder spöttisch war, die Augen zusammengekniffen. Dann wanderte der Blick der Frau nach unten auf das Tablet, und mit gerunzelter Stirn versuchte sie ganz offensichtlich zu entziffern, was dort stand.

»Bist du bei der Polizei?«

Kirsten unterdrückte ihren Unwillen. Betrachtete das kleine Zeichen, das einen Löwen unter einer Krone in der Ecke ihres Bildschirms zeigte, dazu das Wort POLITIET. Sie sah die Frau mit einem Blick an, der weder feindselig noch freundlich war, und ihre schmalen Lippen verzogen sich so minimal zu einem Lächeln, dass es gerade noch als höflich durchging. Im Kommissariat von Oslo war Kirsten Nigaard nicht gerade für ihre menschliche Wärme bekannt.

»Ja.«

»Und in welcher Einheit, wenn das nicht zu indiskret ist?«

Ist es aber, dachte sie.

»Kripos.« Das war die nationale norwegische Ermittlungskommission, die gegen das organisierte Verbrechen und bei anderen »schweren« Delikten ermittelte.

»Oh, verstehe, nein, eigentlich habe ich keine Ahnung … Schon ein eigenartiger Beruf, oder?«

»Kann man so sagen.«

»Und du fährst nach Bergen, wegen … wegen …?«

Kirsten war entschlossen, es ihr nicht leicht zu machen.

»Um … also … du verstehst schon, wegen eines Verbrechens, oder wie?«

»Ja.«

Kurz und bündig. Vielleicht spürte die Frau, dass sie etwas zu weit gegangen war, denn sie schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.

»Entschuldige, das geht mich wirklich nichts an.«

Sie deutete zu ihrem Gepäck.

»Ich habe eine Thermoskanne mit Kaffee dabei. Willst du welchen?«

Kirsten zögerte.

»Ja, gerne«, sagte sie schließlich.

»Das wird eine lange Nacht«, sagte die Frau. »Ich bin Helga.«

»Kirsten.«

 

»Du lebst also allein und hast gerade keinen Partner, richtig?«

Kirsten warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Sie hatte zu viel erzählt. Ohne es zu bemerken, hatte sie sich von Helga alles aus der Nase ziehen lassen. Diese Frau hatte mehr Schnüfflerqualitäten als eine Journalistin. Als Ermittlerin wusste Kirsten, dass es beim Zuhören, auch in den unbedeutendsten zwischenmenschlichen Beziehungen, immer darum ging, die Wahrheit herauszufinden. Einen Moment lang sagte sie sich, dass Helga bei Zeugenbefragungen brilliert hätte. Das hatte ihr zunächst ein Lächeln abgerungen, denn sie kannte Ermittler bei der Kripos, die für Befragungen deutlich weniger Begabung aufwiesen. Aber inzwischen lächelte sie nicht mehr. Inzwischen ging ihr Helgas Indiskretion gehörig auf die Nerven.

»Helga, ich glaube, ich haue mich jetzt ein bisschen aufs Ohr«, sagte sie. »Morgen steht mir ein langer Tag bevor. Oder besser gesagt heute«, korrigierte sie sich nach einem Blick auf die Uhr. »In weniger als zwei Stunden sind wir in Bergen, ich muss ein bisschen schlafen.«

Helga sah sie mit einem eigenartigen Blick an und nickte.

»Klar doch. Wenn es das ist, was du willst.«

Die Schroffheit in ihrer Stimme verwirrte Kirsten. Etwas an dieser Frau war auffällig, dachte sie, etwas, das sie zunächst gar nicht wahrgenommen hatte, das ihr inzwischen aber ganz offensichtlich zu sein schien: Sie mochte es nicht, wenn man ihr widersprach, wenn man sich ihr widersetzte. Eine niedrige Frustrationstoleranz, eine offensichtliche Tendenz zu Wutausbrüchen, eine manichäische Weltsicht: egozentrische Persönlichkeit, schloss sie. Sie erinnerte sich an die Kurse in der Polizeischule, daran, welche Haltung man einnehmen sollte, je nachdem, mit welchem Persönlichkeitstyp man es zu tun hatte.

Sie schloss die Augen und hoffte, so dem Gespräch ein Ende zu bereiten.

»Es tut mir leid«, sagte Helga plötzlich, obwohl Kirsten die Augen noch immer geschlossen hatte.

Sie machte sie wieder auf.

»Es tut mir leid, dich gestört zu haben«, wiederholte sie. »Ich werde mich woandershin setzen.«

Helga schniefte mit einem herablassenden Lächeln und geweiteten Pupillen.

»Du hast bestimmt nicht viele Freunde«, fügte sie noch hinzu.

»Wie bitte?«

»Mit deinem miesen Charakter. Deiner Art, den Leuten eine Abfuhr zu erteilen, mit deiner Arroganz. Nicht weiter verwunderlich, dass du allein bist.«

Kirsten verkrampfte sich. Sie wollte schon etwas erwidern, als Helga unvermittelt aufstand und sich ihr Gepäck schnappte, das auf der Ablage über ihr verstaut war.

»Entschuldige, dass ich dich gestört habe«, wiederholte sie noch einmal schneidend, dann entfernte sie sich.

Perfekt, sagte sich Kirsten. Such dir ein anderes Opfer.

 

Sie war eingeschlummert. Sie träumte. In ihrem Traum zischte ihr eine schmeichlerische, giftige Stimme »Schschschlampe, miese Schschschlampe« ins Ohr. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch. Und dann schreckte sie ein zweites Mal zusammen, als sie feststellte, dass Helga direkt neben ihr saß. Ihr Gesicht war über das von Kirsten gebeugt, und sie beobachtete sie, wie ein Wissenschaftler eine Amöbe durchs Mikroskop beobachtete.

»Was treibst du hier?«, fragte Kirsten barsch.

Waren das wirklich Helgas Worte gewesen? Schlampe? Hatte Helga dieses Wort tatsächlich ausgesprochen, oder hatte sie das nur geträumt?

»Ich wollte dir einfach nur sagen, dass du dich verpissen sollst.«

Kirsten spürte, wie sie von Wut übermannt wurde, blindwütige, düstere Wut, ebenso düster wie eine Gewitterwolke.

»Was hast du gerade gesagt?«

 

Um 7.01 Uhr fuhr der Zug in den Bahnhof von Bergen ein. Zehn Minuten Verspätung, also so gut wie pünktlich für die NSB, sagte sich Kasper Strand, der auf dem Gleis auf und ab ging. Es war stockdunkel, und wenn es weiterhin so bewölkt blieb, dann würde es in Bergen bis um neun Uhr morgens stockdunkel bleiben. Er sah sie das Trittbrett hinuntersteigen, die Fußspitze auf den Bahnsteig setzen. Sie hob den Kopf und entdeckte ihn rasch zwischen den wenigen Anwesenden um diese Uhrzeit.

»Bulle«, las er in ihrem Blick, als dieser auf ihm verweilte. Und er wusste, was sie sah: einen etwas übergewichtigen Beamten mit kahlem Schädel, schlecht rasiertem Kinn und einem dem Hansa geschuldeten vorgewölbten Bierbauch unter seiner altmodischen Lederjacke.

Er ging auf sie zu und versuchte, dabei nicht zu sehr auf ihre Beine zu starren. Ihr Outfit erstaunte ihn leicht. Unter dem Wintermantel mit der pelzgefassten Kapuze, der im Übrigen recht kurz war, trug sie ein strenges Kostüm, eine hautfarbene Strumpfhose und Stiefeletten mit Absatz. Vielleicht war das ja diesen Herbst bei der Polizei in Oslo angesagt? Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie so aus einem Konferenzraum des am Hauptbahnhof gelegenen Radisson Plaza herauskam oder aus einem Gebäude der DnB-Bank. Aber unbestreitbar hübsch, keine Frage. Sie musste zwischen vierzig und fünfzig sein, schätzte er.

»Kirsten Nigaard?«

»Ja.«

Sie streckte ihm ihre behandschuhte Hand hin, und er zögerte, sie zu schütteln, so schlaff war diese Hand, als bestünde sie nicht aus Knochen, als wäre ihr Handschuh mit Luft gefüllt.

»Kasper Strand von der Polizei in Bergen«, sagte er. »Herzlich willkommen.«

»Danke.«

»War die Reise nicht zu lang?«

»Doch.«

»Konntest du ein bisschen schlafen?«

»Nicht so richtig.«

»Komm mit.« Mit diesen Worten streckte er seine gerötete Flosse nach dem Griff des Koffers aus, doch mit einer knappen Kopfbewegung bedeutete sie ihm, dass sie ihn lieber selbst trug. »Auf dem Revier wartet schon Kaffee auf dich. Außerdem Brot, Wurst, Saft und Braunkäse. Und danach legen wir los.«

»Ich würde mir gern zuerst den Tatort ansehen. Der ist doch hier ganz in der Nähe, oder irre ich mich da?«

Im Gehen drehte er sich unter dem Glasdach zu ihr um, zog die Augenbrauen hoch und rieb sich über seinen Sechstagebart.

»Wie? Jetzt gleich?«

»Wenn es dir nichts ausmacht.«

Kasper versuchte, sich seinen Unmut nicht anmerken zu lassen, scheiterte bei diesem Versuch allerdings kläglich. Er sah, wie sie lächelte. Ein Lächeln ohne jede Wärme, das gar nicht ihm galt, sondern ganz bestimmt die Vorstellung bestätigte, die sie sich schon im Vorfeld von ihm gemacht hatte. Scheiße aber auch.

Ein Gerüst und eine riesige Plane verdeckten die große leuchtende Uhr, die zwischen dem Schriftzug von Bergens Tidende prangte. Ohne jeden Zweifel würde der Mord in der Kirche an diesem Morgen die Titelseite der wichtigsten Zeitung Westnorwegens für sich beanspruchen. In der Eingangshalle bogen sie nach rechts ab, kamen an dem Geschäft Deli de Luca vorbei und verließen den Bahnhof durch den kleinen windgepeitschten und feuchten Durchgang mit der gewölbten Decke, vor dem sich der Taxistand befand. Wie immer war weit und breit kein Taxi in Sicht, obwohl sechs Kunden dort warteten und den schräg einfallenden Regen abbekamen. Kasper hatte seinen Saab 9-3 auf der gegenüberliegenden Seite der gepflasterten Straße geparkt. Diesen allesamt bescheidenen Gebäuden und Gärten haftete etwas unleugbar Provinzielles an. Zumindest provinziell in dem Sinn, wie man den Begriff in Oslo verwendete.

Er hatte Hunger. Zusammen mit dem restlichen Ermittlungsteam von Hordaland war er die ganze Nacht im Einsatz gewesen.

Als sie sich neben ihm fallen ließ, öffnete sich ihr dunkler Mantel, ihr Rock rutschte leicht nach oben und entblößte im Licht der Innenbeleuchtung ihre wunderschönen Knie. Die gelockten Spitzen ihrer blonden Haare fielen auf den Kragen des Mantels, aber ansonsten waren ihre Haare glatt und wurden von einem strengen, links sitzenden Scheitel geteilt.

Die blonde Farbe war kein bisschen natürlich: Kasper sah den dunklen Haaransatz und die dunklen Augenbrauen, die Kirsten zu einer dünnen Linie epiliert hatte. Ihre Augen waren von fast verstörendem Blau, ihre gerade Nase etwas zu lang und die Lippen schmal, aber schön gezeichnet. Zudem hatte sie ein Muttermal am Kinn, auf der linken Seite.

Alles in diesem Gesicht deutete auf Entschlossenheit hin.

Eine Frau, die die Kontrolle besaß, ruhig und zwanghaft.

Er kannte sie erst seit zehn Minuten, überraschte sich aber dennoch bei dem Gedanken, dass er sie nicht gern zur Partnerin haben würde. Er war sich nicht sicher, ob er ihren Charakter lange ertragen würde, ebenso wenig wie den ständigen Anblick ihrer Beine.

[home]

KIRSTEN

 

 

 

 

 

 

1

Mariakirken

Das Kirchenschiff war schwach beleuchtet. Kirsten staunte darüber, dass man die Kerzen so nah am Tatort hatte brennen lassen; er war mit einem orange-weißen Band abgesperrt, das den Zugang zum Altarraum und zum Chor verhinderte.

Der Duft von heißem Wachs kitzelte sie in der Nase. Sie holte eine flache Metalldose mit drei bereits gedrehten Zigaretten aus ihrer Manteltasche. Eine davon steckte sie sich zwischen die Lippen.

»Hier darf man nicht rauchen«, sagte Kasper Strand.

Sie bedachte ihn mit einem Lächeln, sagte jedoch kein Wort, nahm ihr billiges Feuerzeug und zündete sich den unförmigen, mit Tabak gefüllten Zylinder an. Dann wanderte Kirstens Blick über den Chor und blieb am Altar hängen. Die Leiche war nicht mehr da. Genauso wenig wie das weiße Tuch, das über dem Altar gelegen haben musste – sie stellte sich die bräunlichen Schlieren und großen Flecken vor, die den Stoff durchtränkt hatten und beim Trocknen ganz fest und steif wurden.

Kirsten hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr an einem Gottesdienst teilgenommen, aber sie glaubte sich daran zu erinnern, dass sich der Priester, wenn er den Chorraum betrat, um den Gottesdienst abzuhalten, nach vorn beugte und den Altar küsste. Und sobald der Gottesdienst zu Ende war, küsste er ihn vor dem Verlassen der Kirche erneut.

Sie schloss die Augen, massierte sich die Lider, verfluchte die Frau im Zug, nahm einen tiefen Zug von der Zigarette und machte die Augen dann wieder auf. Das herausspritzende arterielle Blut hatte das große Kreuz weiter oben nicht getroffen, sehr wohl allerdings die darunterstehende Jungfrau, das Kind und den Hostienschrein in Mitleidenschaft gezogen. Kirsten entdeckte Muster von kleinen rotbraunen Blutspritzern und lange schwarze Schlieren auf den Vergoldungen und dem gleichgültigen Gesicht von Maria. Knapp drei Meter: So weit war der Strahl gespritzt.

Wikinger, die ihre Toten nachts auf Schiffsgräbern verbrannten, Loki, der Gott des Feuers und der Heimtücke, Jesus an der Seite von Odin und Thor, Christen, die die heidnischen Völker des Nordens mit Gewalt missionierten, Hände und Füße abhackten, die Körper ausweideten und verstümmelten, aus reinem politischem Interesse zum Christentum konvertierte Wikingerprinzen. Das Ende einer Zivilisation. In der Stille dieser Kirche musste sie an all das denken.

Die Stadt da draußen schlief noch im Regen. Genau wie der Hafen, wo ein riesiger Schüttgutfrachter, gespickt mit Antennen und Kränen, grau gestrichen wie Kriegsschiffe, vor den Holzhäusern des Hanseviertels Bryggen angelegt hatte. Musste man die Geister des Ortes beschwören? Die Vergangenheit dieser Kirche reichte noch viel weiter zurück als die der Osloer Kirchen. Hier gab es kein Nationaltheater, keinen Königspalast, keinen Friedensnobelpreis und auch keinen Vigeland-Skulpturenpark. Beginn des zwölften Jahrhunderts. Hier war die Rohheit der alten Zeiten noch immer gegenwärtig. Jedem Zeichen von Zivilisation entspricht ein Zeichen der Barbarei, jedes Licht kämpft gegen eine Nacht an, jede Tür, die sich zu einem beleuchteten Heim hin öffnet, verbirgt eine Tür, die sich zur Finsternis hin auftut.

 

Sie war zehn Jahre alt, als sie die Winterferien zusammen mit ihrer Schwester bei ihrem Großvater verbrachte, in einem kleinen Ort namens Hell in der Nähe von Trondheim. Sie vergötterte ihren Großvater; er hatte eine unsägliche Visage und erzählte ihnen lauter lustige Geschichten, außerdem durften sie sich immer zu zweit auf seine Knie setzen. Eines Abends hatte er sie gebeten, Heimdall, seinem Deutschen Schäferhund, der draußen in der Scheune schlief, das Futter zu bringen. Es war schrecklich kalt, so kalt, dass ihr das Blut in den Adern gefror, als sie aus dem gut beheizten Bauernhof in die eisige Dezembernacht hinausging. Ihre gefütterten Stiefel knirschten über den Schnee, ihr Schatten huschte im Mondlicht vor ihr her wie ein riesiger Schmetterling, während sie auf die Scheune zulief und eintrat. Im Inneren war es finster, und sie bekam es mit der Angst zu tun. Ziemlich sadistisch von ihrem Großvater, sie mitten in der Nacht dorthin zu schicken. Bellend und an der Kette ziehend hatte Heimdall sie empfangen. Dankbar hatte er sich streicheln lassen, ihr liebevoll das Gesicht abgeleckt, und sie hatte sich an seinen warmen, heftig pochenden Körper gepresst, ihr Gesicht in seinem wohlriechenden Fell versteckt und gedacht, wie grausam es doch war, ihn in einer solchen Nacht draußen schlafen zu lassen. Und dann hatte sie das Kläffen gehört … So schwach, dass sie gar nicht darauf geachtet hätte, wäre Heimdall nicht einen Moment lang ruhig gewesen. Es kam von draußen – nun bekam sie es wieder mit der Angst zu tun, stellte sich mit ihrer blühenden Kleinmädchen-Fantasie irgendeine Kreatur vor, die sie mit derart jämmerlichen Klagelauten nach draußen locken wollte, um sich dann auf sie zu stürzen. Und doch war sie nach draußen gegangen. Zu ihrer Linken meinte sie etwas zu erkennen, ein schwaches Schimmern in der Dunkelheit, in der Ecke zwischen dem Schuppen und dem kleinen Anbau, die Gitterstäbe eines Käfigs. Kirsten hatte sich angeschlichen, mit klopfendem Herzen und immer größer werdender Beklemmung, je lauter das spitze Gekläff wurde – eigentlich war es mehr ein Fiepen als ein Kläffen. Dann eine dunkle Vorahnung. Nach einem halben Dutzend Schritte durch den Schnee berührten ihre Finger die Gitterstäbe, und ihr Blick fiel zwischen die Stäbe. Ganz hinten lehnte etwas an der Zementmauer. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte es. Ein junger Hund, kaum älter als ein Welpe. Ein kleiner Mischling mit langer Schnauze, tief sitzenden Ohren und kurzem, rehfarbenem Fell. Sein Kopf klebte geradezu an der Betonmauer, weil sein Halsband an einem in der Wand eingelassenen Ring befestigt war. Sein Hinterteil saß auf dem schneebedeckten Boden, er zitterte heftig und schaute sie an. Noch heute sah sie vor ihrem inneren Auge den sanften, flehentlichen Blick voller Zuneigung, mit dem der junge Hund sie angesehen hatte. Ein Blick, der ausdrückte: »Bitte hilf mir.« Das war der traurigste Anblick, der ihr je untergekommen war. Sie hatte gespürt, wie ihr junges, noch intaktes Kleinmädchenherz in tausend Stücke zersprang. Der junge Hund hatte keine Kraft mehr, um zu bellen, konnte kaum noch ein schwaches, herzzerreißendes Winseln ausstoßen, und seine Augen schlossen sich vor Erschöpfung immer wieder. Sie hatte die eisigen Stäbe umfasst; sie wollte den Käfig öffnen, ihn aufbrechen, den Hund befreien und mit ihm auf dem Arm verschwinden. Auf der Stelle. Sie war gerannt, unsicher, erfüllt von Schmerz und Verzweiflung, bis zum Bauernhof, und hatte ihren Großvater angefleht. Doch der hatte sich unnachgiebig gezeigt. Zum ersten Mal hatte er ihrem Gequengel nicht nachgegeben. Das sei ein streunender Hund, ein Straßenköter, der niemandem gehöre und bestraft werden müsse, weil er Fleisch stibitzt habe. Sie wusste, dass er vor dem Morgengrauen tot sein würde, wenn sie nichts unternahm, sie hatte an das leidende junge Tier gedacht, an seine Traurigkeit, seine Einsamkeit, und sie hatte geweint, geschrien, getobt vor den Augen ihrer fassungslosen, verängstigten Schwester, die dann ihrerseits anfing zu weinen. Ihre Großmutter hatte versucht, sie zu beruhigen, aber ihr Großvater hatte sie mit einem strengen Blick bedacht, und einen flüchtigen Moment lang hatte sie sich vorgestellt, anstelle des jungen Hundes in diesem Käfig eingesperrt zu sein, den Hals zusammengequetscht vom Halsband, das im Metallring an der Mauer festgemacht war.

»Dann steck mich in den Käfig!«, hatte sie geschrien. »Steck mich zu ihm in den Käfig!«

»Du bist verrückt, mein armes Kind«, hatte ihr Großvater mit harter, unnachgiebiger Stimme gesagt.

Sie hatte sich an diesen Zwischenfall erinnert, als sie in der Zeitung gelesen hatte, dass Norwegen eine Tierschutz-Polizei ins Leben gerufen hatte – die erste weltweit.

Kurz bevor ihr Großvater im Krankenhaus starb, hatte sie gewartet, bis ihre Schwester und der Rest der Familie, die zu ihm ans Krankenbett gekommen waren, etwas abseits standen, um sich zu ihm zu beugen und ihm etwas zuzuflüstern. Sie hatte seinen liebevollen Blick gesehen, als sie sich zu ihm neigte.

»Du altes Arschloch«, hatte sie ihm zugeflüstert. »Ich hoffe, du kommst in die Hölle.«

Sie hatte das englische Wort benutzt, »Hell«, den Namen des Dorfes ihres Großvaters, aber sie war sich sicher, dass er es verstanden hatte.

Sie betrachtete die Kanzel, den Altaraufsatz, das große Kreuz weiter oben und die Wandmalereien, und ihr fiel ein, dass sogar Agnes Gonxha Bojaxhiu – besser bekannt unter dem Namen Mutter Teresa – in Sachen Glauben den Großteil ihres Lebens in tiefster Finsternis zugebracht hatte, dass sie in ihren Briefen von »Tunneln« gesprochen hatte, von einer »schrecklichen Finsternis in ihr, als wäre alles tot«. Wie viele Gläubige lebten ebenso in völliger Finsternis? Schritten voran inmitten einer geistigen Wüste, auch wenn sie dies für sich behielten?

»Geht’s?«, fragte Strand neben ihr.

»Ja.«

Sie berührte den Bildschirm ihres Tablets. Die Aufzeichnungen des kurzen Videos der Polizei von Bergen tauchten wieder auf.

Ecce homo.

1. Die auf dem Altar ausgestreckte Frau, auf dem Rücken liegend, selbigen so durchgedrückt, als würde ein Lichtbogen durch sie hindurchgehen oder als stünde sie kurz vor dem Orgasmus.

2. Ihr Kopf hängt über den Altar hinunter, geht ins Leere, weit geöffneter Mund und herausgestreckte Zunge – sie scheint kopfüber auf eine Hostie zu warten.

3. Auf einer fahlen Nahaufnahme, die ein Mitarbeiter der Spurensicherung gemacht haben musste, indem er mit der HD-Kamera heranzoomte, sieht man, dass das Gesicht rot und verschwollen ist, fast alle Gesichtsknochen – Nase, Jochbein, Siebbein, Oberkiefer, Unterkiefer – sind gebrochen, und eine geradlinige, tiefe Kerbe in der Mitte des Stirnbeins vermittelt den Eindruck, als hätte man eine Traufe gegraben; eine Kerbe, die zweifelsohne durch einen äußerst brutalen Hieb mit einem stumpfen, länglichen Gegenstand verursacht wurde, vermutlich einer Metallstange.

4. Und schließlich ihre Kleidung, zum Teil zerrissen, der rechte Schuh fehlt, wodurch die weiße, an der Ferse dreckige Wollsocke zu sehen ist.

 

Sie nahm jedes Detail in sich auf. Eine Szene, durchdrungen von einer tiefen Wahrheit, sagte sie sich. Die Wahrheit der Menschheit. Zweihunderttausend Jahre der Barbarei und der Hoffnung auf ein hypothetisches Jenseits, in dem es den Menschen besser gehen sollte.

Nach ersten Ermittlungen war die Frau zu Tode geprügelt worden, zunächst mit einer Eisenstange, mit der ihr Brustkorb und Schädel zertrümmert wurden, dann hatte man mit einer Monstranz auf sie eingeschlagen. Die Kriminaltechniker hatten diese letzte Schlussfolgerung aus dem umgestoßenen und blutigen Gegenstand auf dem Altar gezogen – vor allem aber aus dem sehr eigenartigen Muster ihrer Verletzungen: Die Monstranz besaß einen Strahlenkranz, wodurch sie an die Sonne erinnerte; diese Strahlen hatten tiefe Platzwunden auf dem Gesicht und an den Händen des Opfers hinterlassen. Das Durchschneiden der Kehle, wobei das Blut in Richtung des Hostienschreins gespritzt war, ehe das Herz aufhörte zu schlagen, musste sich direkt danach ereignet haben. Sie konzentrierte sich. Bei all den Details an diesem Tatort gab es eines, das wichtiger war als die anderen.

Der Schuh … Ein Trekkingschuh der Marke The North Face, schwarz mit weißen Motiven, dazu eine knallgelbe Sohle – den hatte man am Fuß des Podests vorgefunden, gut zwei Meter vom Altar entfernt. Warum?

»Hatte sie ihren Ausweis bei sich?«

»Ja. Ihr Name ist Inger Paulsen. Sie taucht nicht im Vorstrafenregister auf.«

»Alter?«

»Achtunddreißig.«

»Verheiratet, Kinder?«

»Single.«

Sie musterte Kasper. Er trug keinen Ehering, aber vielleicht nahm er ihn ja auch zum Arbeiten ab. Er wirkte wie ein verheirateter Mann. Sie trat etwas näher an ihn heran, wechselte vom professionellen zum intimen Abstand – weniger als fünfzig Zentimeter – und spürte, wie verkrampft er auf einmal war.

»Haben Sie herausgefunden, was sie beruflich machte?«

»Sie arbeitete auf einer Ölplattform in der Nordsee. Ach, und die Blutanalyse hat einen hohen Alkoholgehalt im Blut nachgewiesen …«

Kirsten kannte alle Statistiken auswendig. Sie wusste, dass die Selbstmordrate in Norwegen leicht niedriger war als in Schweden, eineinhalbmal niedriger als in Frankreich, fast zweimal niedriger als in Großbritannien und siebenmal niedriger als in den USA. Sie wusste, dass selbst in Norwegen, dem Land, das laut den Vereinten Nationen den höchsten Index für menschliche Entwicklung hatte, Gewalt mit dem Bildungsniveau korrelierte – und nur 34 Prozent der Mörder nicht arbeitslos waren, dass 89 Prozent davon Männer waren und 46 Prozent zum Zeitpunkt der Tat unter Alkoholeinfluss standen. Die Wahrscheinlichkeit war also sehr groß, dass es sich bei dem Mörder um einen Mann handelte, und die Chancen standen eins zu zwei, dass er alkoholisiert gewesen war, genau wie sein Opfer. Außerdem war es sehr wahrscheinlich, dass es sich noch dazu um jemanden aus ihrem Umfeld handelte: Partner, Freund, Geliebter, Kollege … Doch der Fehler, den alle angehenden Bullen machten, bestand darin, sich von den Statistiken blenden zu lassen.

»Woran denkst du?«, fragte sie und blies ihm dabei den Rauch ins Gesicht.

»Und du?«

Sie lächelte. Dachte nach.

»Ein Streit«, sagte sie. »Ein heimliches Treffen und ein Streit, der aus dem Ruder gelaufen ist. Sieh dir die zerrissenen Klamotten an, der Blusenkragen ist ihr fast unter dem Pulli abgerissen worden, und dann der Schuh, der so weit vom Altar entfernt liegt. Sie haben sich geprügelt, und der andere hatte die Oberhand. Und dann hat er sie in seiner Wut umgebracht. Diese Inszenierung dient nur dazu, für etwas Unterhaltung zu sorgen.«

Sie zupfte sich einen Tabakkrümel von den Lippen.

»Was hatten sie deiner Meinung nach in einer Kirche zu suchen? Hätte die nicht eigentlich abgeschlossen sein müssen?«

»Einer der beiden hat sich offensichtlich einen Zweitschlüssel besorgt«, bestätigte er. »Die Kirche hier ist nämlich die meiste Zeit abgeschlossen. Und da ist noch was.«

Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie wischte die Asche ab, die auf ihren Mantel gefallen war, knöpfte ihn wegen der Kälte wieder zu und ging mit ihm nach draußen. Sie verließen die Kirche durch die Seitentür, durch die sie hineingekommen waren. Kasper zeigte auf Fußspuren in der dünnen Schneeschicht – dem ersten Schnee, er war früh dran dieses Jahr –, die der Regen bereits auslöschte. Sie waren ihr aufgefallen, als sie den Weg entlanggekommen waren, den die Spurensicherung zwischen den Grabsteinen abgesperrt hatte. Zwei Spuren in eine Richtung, nur eine Spur in die andere.

»Der Mörder ist seinem Opfer in die Kirche gefolgt«, sagte er, als würde er ihre Gedanken lesen.

Waren sie gleichzeitig eingetroffen oder nacheinander? Diebe, die sich um ihr Diebesgut zankten? Zwei Menschen, die sich hier verabredet hatten? Eine Drogenabhängige und ihr Dealer? Ein Priester? Ein Liebespärchen, das es antörnend fand, in der Kirche zu vögeln?

»Diese Paulsen, war sie eine praktizierende Christin?«

»Keine Ahnung.«

»Auf welcher Ölplattform arbeitete sie?«

Er sagte es ihr. Sie rieb ihre Zigarette an der Kirchenmauer aus, hinterließ dabei einen schwarzen Strich auf dem Stein, behielt die Zigarette in der Hand und warf einen Blick auf die erleuchteten Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes. Es war neun Uhr morgens und noch immer stockdunkel. Die für das Bryggen-Viertel typischen Holzhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert glänzten im Regen. Im Licht der Straßenlaternen ließ das Unwetter funkelnde Tropfen aufleuchten, die ihre Haare benetzten.

»Ich nehme an, dass ihr die Nachbarn befragt habt?«

»Bei der Befragung der Nachbarschaft ist nichts rausgekommen«, bestätigte Kasper. »Abgesehen von dem Obdachlosen hat niemand etwas gehört oder gesehen.«

Er schloss die Kirche ab, und sie gingen durch das kleine, offen stehende Tor zurück zum Auto.

»Und der Priester?«

»Den haben wir aus dem Bett geholt. Er wird gerade vernommen.«

Sie dachte wieder an die Eisenstange, die der Mörder mitgebracht haben musste. Ihr kam eine Idee.

»Und wenn das Gegenteil der Fall war?«, überlegte sie laut.

Kasper warf ihr einen Blick zu, ehe er den Schlüssel ins Zündschloss steckte.

»Das Gegenteil wovon?«

»Was, wenn der Mörder als Erster eingetroffen ist und das Opfer ihm folgte?«

»Eine Falle?«, fragte Kasper mit gerunzelter Stirn.

Sie sah ihn wortlos an.

 

Das Polizeirevier von Hordaland, siebte Etage. Die Polizeichefin Birgit Strøm musterte Kirsten aus kleinen, tief liegenden Augen in ihrem flachen, breiten Zackenbarschgesicht, in dem der Mund nichts weiter als ein schmaler Schlitz war, dessen Winkel sich hartnäckig weigerten, noch oben oder unten zu wandern.

»Ein Streit?«, fragte sie mit einer Stimme, die etwas von einer rostigen Reibe hatte. Zu viele Zigaretten, dachte Kirsten. »Warum sollte der Mörder mit einer Eisenstange in die Kirche gekommen sein, wenn es sich nicht um ein vorsätzliches Verbrechen handelt?«

»Das war es aber ganz offensichtlich«, erwiderte Kirsten. »Aber Paulsen hat sich verteidigt. Sie hat Schnitte von der Monstranz an den Handflächen. Verteidigungswunden. Sie haben miteinander gekämpft, und irgendwann muss Paulsen dabei ihren Schuh verloren haben.«

Kirsten bemerkte das flüchtige Aufleuchten im Zackenbarschgesicht. Der Blick der Polizeichefin fiel auf Kasper, ehe er wieder bei Kirsten hängen blieb.

»Sehr gut. Wie erklärst du dir in dem Fall, dass wir das hier in einer Hosentasche des Opfers gefunden haben?«

Sie beugte sich nach hinten und griff nach einer durchsichtigen Tüte auf dem Schreibtisch, an dem sie mit ihrem ausladenden Hintern lehnte. Das hatte zur Folge, dass sich ihre nicht weniger üppige Oberweite noch mehr nach vorn wölbte. Kasper und die übrigen Ermittler der Polizei von Hordaland folgten ihren Bewegungen, als wäre sie Serena Williams beim Aufschlag im Kampf um das Match.

Kirsten ging davon aus, dass das Tütchen, das die Polizeichefin ihr da reichte, ein Beweisstück war.

Und sie wusste bereits, was es enthielt. Genau deswegen hatte man sie in Oslo kontaktiert. Man hatte sie nicht durch die Haupteingangstür auf der Allehelgens Gate ins Revier gebracht, sondern über die kleine, gepanzerte Tür auf der Halfdan Kjerulfs Gate, die mit einem Zahlencode versehen war – als hätten sie Angst, jemand könnte sie beobachten.

Ein Stück Papier. Handschriftlich beschrieben. Mit Großbuchstaben. Kasper hatte es ihr am Abend zuvor am Telefon mitgeteilt, als sie im Hauptsitz der Kripos war, weniger als eine Stunde nach dem Fund der Leiche. Es überraschte sie also nicht weiter, sie wusste bereits, was darauf zu lesen war.

Ihr Name stand auf diesem Stück Papier.

KIRSTEN NIGAARD

2

83 souls

Angetrieben von zwei kraftvollen Turbomeca-Turbinen flog der Helikopter zwischen den Böen hindurch. Kirsten konnte die Nacken der beiden Piloten im Halbdunkel ausmachen, ihre Kopfhörer und Helme.

Der Pilot würde an diesem Abend sein ganzes Können unter Beweis stellen müssen. Da draußen tobte nämlich ein ordentlicher Sturm. Das war ihr klar geworden, eingezwängt in ihren Überlebensanzug auf dem Rücksitz, während der Scheibenwischer mehr schlecht als recht den sintflutartigen Regen wegzuwischen versuchte, der auf die Scheibe prasselte. Außerdem war es auf der anderen Seite der Scheibe pechschwarz. Im Licht der Bordinstrumente rollten die dicken Tropfen durch den Luftdruck nach oben. Kirsten wusste, dass der letzte Unfall, bei dem ein Helikopter eine Offshoreplattform anfliegen wollte, 2013 stattgefunden hatte. Ein Super Puma L2. Achtzehn Personen an Bord. Vier Tote. 2009 war ein Puma AS332 unweit der schottischen Küste abgestürzt. Sechzehn Tote. Und zwei weitere Crashs, ohne Tote, 2012.

In den letzten Tagen waren aufgrund der meteorologischen Bedingungen über zweitausend Arbeiter zwischen Stavanger, Bergen und Florø auf dem Festland geblieben. Heute Abend hatten die Helikopter endlich die Starterlaubnis erhalten und brachten alle zurück zu ihren Arbeitsstätten. Aber die Bedingungen waren grenzwertig.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf Kasper. Er saß zu ihrer Rechten, sein Blick war glasig, und sein Mund stand offen. Kirsten richtete ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Und da sah sie sie endlich. Zwanzig Meter über der unsichtbaren Wasseroberfläche tauchte sie aus der Finsternis auf, schien in der Nacht zu schweben, wie ein Raumschiff.

Breitengrad: 56,07817°.

Längengrad: 4,232167°.

Zweihundertfünfzig Kilometer von der Küste entfernt. Kaum weniger isoliert, als befände sie sich irgendwo verloren im Weltraum …

Über ihnen herrschte völlige Dunkelheit, und Kirsten versuchte vergeblich, die mächtigen Stahlpfeiler auszumachen, die ganz gerade in die wilden Fluten hineingetrieben waren. Sie wusste, dass sie 146 Meter weiter unten auf den Meeresboden trafen, was in etwa einem Hochhaus mit achtundvierzig Etagen entsprach, mit dem Unterschied, dass statt eines massiven Gebäudes vier filigrane metallene Stelen von einem stürmischen und tobenden Ozean umfangen wurden, die diese schwimmende Stadt ganz allein stützten …

Je näher der Helikopter kam, umso deutlicher zeichnete sich die Statoil-Plattform als unbeschreibliches Durcheinander ab, ein chaotisches und prekäres aufgetürmtes Ganzes. Kein einziger Quadratzentimeter war frei zwischen den Brücken, Gangways, Treppen, Kranen, Containern, den kilometerlangen Kabeln, Rohren und Barrieren, den Bohrtürmen und den sechs Etagen mit Schlafräumen, die sich über den Maschinenräumen erhoben und aufeinandergestapelt waren wie Wohncontainer auf einer Baustelle. Das Ganze war hell erleuchtet, aber nur an bestimmten Stellen – was dazu führte, dass manche Abschnitte taghell erleuchtet waren, andere wiederum völlig von der Dunkelheit verschlungen wurden.

Eine Bö, die etwas heftiger als die vorangegangenen war, brachte den Helikopter von seiner Flugbahn ab.

Verfluchte Nacht, sagte sie sich.

Dreißig Nationalitäten waren dort versammelt: Polen, Schotten, Norweger, Russen, Kroaten, Letten, Franzosen … Siebenundneunzig Männer und dreiundzwanzig Frauen. Aufgeteilt in Teams für Tag- und Nachtschichten. Eine Woche lang Nachtschicht, eine Woche lang Tagschicht; gewechselt wurde alle zwölf Stunden, und das einen Monat lang. Nach vier Wochen dann, bingo!, da hatte man achtundzwanzig Tage frei. Manche flogen zum Surfen nach Australien, andere gingen zum Skifahren in die Alpen, wieder andere fuhren zu ihren Familien nach Hause, die Geschiedenen – sie waren am zahlreichsten – gingen feiern, vergnügten sich nach Herzenslust und verprassten einen Großteil ihrer Kohle oder suchten nach einer neuen, kaum geschlechtsreifen Gespielin in Thailand. Das war der Vorteil des Jobs: Man verdiente gut, hatte viel Freizeit und konnte mit den angesammelten Flugmeilen verreisen. Aber der Stress, die psychischen Probleme und die Konflikte an Bord waren bestimmt immens, sagte sie sich, und vermutlich führte die Umgebung auch dazu, dass man sich nicht allzu viele Fragen stellte. Höchstwahrscheinlich gab es hier auch den einen oder anderen Draufgänger, Borderlinetypen oder Menschen vom Persönlichkeitstyp A. Sie fragte sich, ob Kasper sie bereits in eine dieser Kategorien gesteckt hatte. Nervensäge, so viel war schon mal sicher. Er wiederum erinnerte an einen dicken Teddybären und gehörte ganz bestimmt dem Persönlichkeitstyp B an: kein Drang zur Selbstverwirklichung, nicht aggressiv, tolerant … Ruhig. Zu ruhig. Mal abgesehen von diesem Abend, an dem er, seit sie das Festland verlassen hatten, endlich seine tiefenentspannte Art abgelegt hatte und stattdessen trotz seiner massigen Erscheinung an einen kleinen Jungen erinnerte.

Nur noch etwa dreißig Meter. Der Landeplatz – oder sollte man besser »der Wasserungsort« sagen? – bestand aus einem schlecht beleuchteten Achteck mit einem großen H, bedeckt von einem über den Boden gespannten Netz, und das Ganze hing am Rand der Plattform über dem Nichts. Eine Stahltreppe führte zum Oberbau. Kasper fixierte das H, das sich in der Nacht wiegte, je nachdem, wie sie hin und her geschaukelt wurden, ähnlich einer beweglichen Zielscheibe in einem Videospiel – und er hatte die Augen so weit aufgerissen, dass sie ihm nahezu aus dem Kopf zu fallen schienen.

Kirsten entdeckte die Flamme einer Hochfackel, die oben an einem Bohrturm brannte. Das Achteck kam näher. Der H225 drehte sich um sich selbst, und der Landeplatz verschwand kurzzeitig aus ihrem Sichtfeld. Nach einem letzten Schlenker berührten die Kufen den Hubschrauberlandeplatz, und trotz des Lärms glaubte sie zu hören, wie Kasper nach Luft schnappte. Kein Zweifel, der Pilot hat’s drauf, dachte sie.

Was sie nach dem Aussteigen erwartete, war nicht weniger heftig: Der eisige Regen peitschte sie, sobald sie einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, und bei dem Wind, der an ihren Haaren zerrte, fragte sie sich, ob er sie vielleicht sogar über Bord wehen konnte. Sie lief los, spürte das Netz unter ihren Füßen. Abgesehen vom Neonlicht in Bodenhöhe lag der Ort im Halbschatten. Ein Typ mit Helm und großen Ohrenschützern tauchte aus dem Nichts auf und packte sie am Arm.

»Nicht mit dem Gesicht zum Wind!«, brüllte er und wirbelte sie herum wie einen Kreisel. »Nicht mit dem Gesicht zum Wind!«

Ja, okay, aber woher kamen die Böen überhaupt? Es fühlte sich an, als würde der beißende Wind von allen Seiten gleichzeitig an ihr zerren. Der Mann schob sie zu der Stelle, an der die Stahltreppe nach unten führte. Zwischen den Stufen sah man das Nichts; Schwindel erfasste Kirsten, als sie die dreißig Meter erblickte, die sie von der Oberfläche der Plattform trennten, und weiter unten die riesigen, schäumenden Wellen, die das Meer anhoben und an den Pfeilern der Plattform brachen, ehe sie ihren Weg durch die finstere Nordsee fortsetzten.

»Scheiße!«, sagte Kasper hinter ihr, und als sie sich umdrehte und nach oben schaute, sah sie, wie er sich an der Reling festklammerte.

Sie wollte eine weitere Stufe hinabsteigen, aber es gelang ihr nicht. Unmöglich. Der von vorn einfallende Wind war wie eine Mauer, Regen und Hagelkörner prasselten auf ihre Wangen. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie versehentlich in einen Windkanal geraten, in dem aerodynamische Tests durchgeführt wurden.

»Scheiße, scheiße, scheiße!«, schrie sie, gedemütigt, aber völlig unfähig, weiterzugehen.

Zwei Hände drückten sich gegen ihren Rücken, und endlich gelang es ihr, das Hindernis zu überwinden.

Der Kapitän der Bohrinsel – ein großer, bärtiger Kerl um die vierzig – wartete unten an den Stufen auf sie, zusammen mit einem Mann, der ihnen orangefarbene, mit Leuchtstreifen versehene Jacken reichte.

»Geht’s?«, fragte der Bärtige mit dem Helm.

»Hallo Kapitän, Kirsten Nigaard, Beamtin bei der Kripos, und das hier ist Kasper Strand, Ermittler der Polizeiinspektion Hordaland«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.

»Jesper Nilsen. Ich bin nicht der Kapitän, ich bin der Supervisor! Zieht das an, das ist bei uns obligatorisch!«

Sein Tonfall war autoritär, sein Gesicht verschlossen. Kirsten schnappte sich das schwere, höchst unbequeme und viel zu große Kleidungsstück: Ihre Hände kamen gar nicht aus den Ärmeln heraus.

»Wo ist der Kapitän?«

»Der hat zu tun!«, brüllte Nilsen, um den Lärm zu übertönen, und bedeutete ihnen, mitzukommen. »Hier herrscht immer Hektik, das hört nie auf! Angesichts der Kosten, die eine Bohrinsel täglich verursacht, wird da nicht lange gefackelt. Hier darf keine Zeit verplempert werden.«

Sie wäre ihm gerne gefolgt, aber die Böen warfen sie gegen die Reling, zwangen sie, sich zusammenzukrümmen. An die Reling geklammert ging sie ihm nach, wurde dabei hin und her geschüttelt, war fast blind vom Regen. Sie bogen nach rechts, nach links und dann wieder nach rechts ab, gingen ein paar Stufen hinunter, eine Gangway entlang, die aus einem Stahlgitterrost bestand, umrundeten einen großen Container, der sie einen Moment lang vor den Windböen schützte. Männer mit Helmen und Schutzbrillen kamen und gingen. Sie hob den Kopf. Alles hier war vertikal, schwindelerregend und wenig verlockend. Ein Labyrinth aus Neon und Stahl, heimgesucht von den Stürmen der Nordsee. Dazu überall die Verbotsschilder: »RAUCHENVERBOTEN«, »HELMABNEHMENVERBOTEN«, »PFEIFENVERBOTEN« (vielleicht, weil abgesehen vom Lärm jedes ungewöhnliche Geräusch ein Hinweis auf Gefahr und somit eine wichtige Information sein konnte), »NICHTBETRETEN«. Alles vibrierte, knarzte und toste von überallher – der Lärm der Rohre, die gegeneinanderschlugen, das Rattern der Maschinen und das Tosen des Meeres von unten. Rechts, links, rechts … Endlich eine Tür. Sie fanden sich im Trockenen in einer Art Schleuse wieder, ausgestattet mit Bänken und Schließfächern. Der Supervisor öffnete eines, zog seinen Helm, Handschuhe und Sicherheitsschuhe aus.

»Sicherheit wird hier für alle großgeschrieben«, sagte er. »Es kommt zwar nicht häufig zu Unfällen, aber wenn, dann sind sie meist schwerwiegend. Gefahr lauert überall auf einer Bohrinsel. Da laufen gerade Schweißerarbeiten auf dem Drill Floor, eine dringende Reparatur. Bei uns heißt das ›Hot Work‹ – heiße Arbeit. Das ist eine heikle Phase, die nicht aufgeschoben werden kann. Während dieser Zeit will ich nicht, dass ihr uns im Weg steht. Deshalb werdet ihr auch genau das machen, was man euch sagt«, fügte er unmissverständlich hinzu.

»Kein Problem«, erwiderte Kirsten. »Solange wir überall Zutritt haben.«

»Ich denke nicht, dass das möglich sein wird«, konterte er.

»Ähm … Jesper, das stimmt doch, oder? Das hier ist eine polizeiliche Ermittlung, und das Opfer war eines von euren …«

»Ihr versteht anscheinend nicht, was ich euch gerade gesagt habe«, unterbrach er sie barsch. »Meine oberste Priorität hier ist die Sicherheit, nicht eure Ermittlung. War ich deutlich genug?«

Kirsten wischte sich über das Gesicht und stellte erstaunt fest, wie mürrisch Kasper dreinsah. Genau wie sie hatte er das Spiel des Supervisors und des Kapitäns durchschaut: Die beiden waren wie Kater, die vor ihrer Ankunft überall hingepinkelt hatten, um ihr Revier zu markieren. Zusammen mit den hohen Tieren der Kompanie hatten sie wohl eine Strategie entwickelt: Sie waren die Einzigen, die an Bord das Sagen hatten, folglich würde die norwegische Polizei nur in dem von ihnen bestimmten Bereich und zu den von ihnen festgelegten Bedingungen agieren können. Sie wollte schon etwas sagen, als Kasper ganz gelassen fragte:

»Schläft euer Kapitän manchmal auch?«

Der bärtige Haudegen warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Natürlich.«

»Und löst ihn dann jemand ab?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich hab dir eine Frage gestellt.«

Sein Tonfall ließ den Supervisor wie auch Kirsten zusammenzucken. Er entsprach wohl doch nicht ganz dem Typ B, dieser Kasper Strand.

»Ja, sicher.«

Kasper ging auf den Mann zu, der gut einen halben Kopf größer war als er, trat so nahe, dass der Kerl sich genötigt sah, zurückzuweichen.

»Worauf ich hinauswill? Worauf ich hinauswill? Habt ihr so was wie einen Konferenzraum?«

Argwöhnisch nickte der Bärtige.

»Sehr gut. Dann machst du jetzt Folgendes …«

»Moment mal, habt ihr nicht gehört, was ich euch gerade gesagt habe? Ich hab den Eindruck, ihr zwei checkt das nicht so ganz. Ihr müsst …«

»Halt’s Maul.«

Kirsten lächelte. Nilsen riss die Augen auf und lief puterrot an.

»Hab ich jetzt endlich deine ungeteilte Aufmerksamkeit?«, fragte Kasper.

Nilsen nickte mit zusammengepresstem Kiefer und funkelte ihn wütend an.

»Sehr gut. Du bringst uns jetzt zu diesem Konferenzraum. Dann sorgst du dafür, dass dein Kapitän und alle Leute, die hier auf der Bohrinsel für die Personalverwaltung zuständig sind, zu uns kommen. Alle, deren Arbeit zu dieser Stunde nicht absolut lebenswichtig ist, hast du mich verstanden? ›Heiße Arbeit‹ hin oder her, das geht mir am Arsch vorbei. Diese Bohrinsel ist eine norwegische Bohrinsel, also hat hier nur einer das Sagen: das ist das norwegische Justizministerium zusammen mit der Polizei. War ich deutlich genug?«

 

Kapitän Tord Christensen hatte einen Tick, von dem er vielleicht noch nicht einmal wusste: Sobald ihn etwas verstimmte, kniff er die Nasenflügel zusammen. Und die Anwesenheit der beiden Polizisten an Bord verstimmte ihn zutiefst. Die Versammlung bestand aus ihm, Nilsen, dem Schiffsarzt, mehreren Vorarbeitern, die nicht von den laufenden Arbeiten beansprucht wurden, einer braunhaarigen Frau, die – wenn Kirsten das richtig verstanden hatte – die Wartungsarbeiten koordinierte, und einer Blondine, die man ihr als die Beauftragte für Sicherheit bei der Arbeit vorgestellt hatte.

»Inzwischen sind über vierundzwanzig Stunden vergangen, seit Inger Paulsen, eine Angestellte auf dieser Bohrinsel, in einer Kirche in Bergen zu Tode geprügelt wurde«, sagte Kirsten einleitend. »Wir haben eine ordnungsgemäße Ermächtigung der Staatsanwaltschaft, damit wir unsere Ermittlungen hier vor Ort fortsetzen können. Und dieser Erlass setzt voraus, dass alle Angestellten sich zu unserer Verfügung halten, um die Ermittlung zu vereinfachen.«

»Hmm. Solange eure Ermittlungen die Arbeiter auf dieser Bohrinsel nicht in irgendeiner Weise gefährden«, warf die Blondine schroff ein, die eine blaue, ärmellose Weste über ihrem weißen Pullover trug. »Ansonsten werde ich mich dem höchstpersönlich widersetzen.«

Hier versucht tatsächlich jeder, einen auf noch dickere Hose zu machen, dachte Kirsten. Selbst die Eierstöcke der anwesenden Frauen produzierten ausreichend Testosteron, um ein ganzes Regiment von Mister-Universum-Anwärtern damit zu versorgen.

»Es ist nicht unsere Absicht, irgendjemanden in Gefahr zu bringen«, antwortete Kasper diplomatisch. »Alle, die ihren Posten nicht verlassen können, werden zu einem späteren Zeitpunkt befragt.«

»Hat Inger Paulsen in einer Einzelkabine geschlafen?«, fragte Kirsten.

»Nein«, antwortete Christensen. »Die Kabinen der Servicetechniker teilen sich immer zwei: einer macht die Tagschicht, der andere die Nachtschicht …«

»Habt ihr eine Liste der Männer, die gestern an Land waren?«

»Die kann ich besorgen.«

»Sind alle wieder zurückgekommen?«

Der Kapitän wandte sich zum Supervisor um.

»Ähm, nein«, antwortete dieser. »Aufgrund der Wetterbedingungen fehlt uns eine Hubschrauberladung: Sieben Leute sind momentan noch an Land, müssten aber bald hier sein.«

»Hast du Patienten mit einem problematischen psychiatrischen Profil?«, fragte Kirsten den Schiffsarzt.

»Ärztliche Schweigepflicht«, erwiderte der Mann, während er sie aus runden Brillengläsern musterte.

»Die im Fall von Ermittlungen aufgehoben ist«, entgegnete sie prompt.

»Hätte ich Ähnliches vermutet, dann hätte ich sofort darum gebeten, dass der Patient seiner Aufgaben entbunden wird.«

»Dann stelle ich die Frage doch einmal anders: Hast du Patienten mit leichten psychischen Störungen?«

»Schon möglich.«

»Heißt das jetzt Ja oder Nein?«

»Ja.«

»Ich brauche eine Liste der betreffenden Leute.«

»Ich weiß nicht, ob ich …«

»Die Verantwortung dafür übernehme ich. Wenn du dich weigerst, nehme ich dich fest.«

Das war natürlich nur ein Bluff, dennoch sah sie, wie der Arzt zusammenzuckte.

»Wie viele Männer sind auf der Bohrinsel?«

Der Kapitän zeigte ihr etwas, das sie zunächst für ein Pendel mit rotierender Anzeige gehalten hatte. Die Zahl »83« wurde dort in großen weißen Zahlen auf schwarzem Untergrund angezeigt. Dann sah sie, was auf Englisch darüberstand: »Souls on platform«.

»Aus Sicherheitsgründen ist das unerlässlich«, erklärte ihnen der Kapitän. »Wir müssen jederzeit ganz genau wissen, wie viele Menschen hier anwesend sind.«

»Wie viele Frauen?«, fragte Kasper.

»Insgesamt dreiundzwanzig.«

»Und wie viele Kabinen?«

»Etwa fünfzig Kabinen für jeweils zwei Personen. Dazu noch die Einzelkabine des Kapitäns, die der Supervisoren, Vorarbeiter und Ingenieure.«

Kirsten dachte einen Moment lang nach.

»Und wie könnt ihr in jedem Moment wissen, wo alle sind?«

Jetzt ergriff die Blondine das Wort.

»Mithilfe des Kontrollraums. Alle an Bord auszuführenden Arbeiten müssen vorab genehmigt werden. Also wissen die Leute im Kontrollraum, wo sich jeder befindet und was er macht.«

»Verstehe. Und die, die gerade nicht arbeiten müssen, was machen die?«

Christensen lächelte spöttisch.

»Um diese Uhrzeit schlafen sie vermutlich noch.«

»Gut. Weckt sie, holt sie aus ihren Kabinen und versammelt sie irgendwo. Und dann verbietet ihnen, die Kabinen aufzusuchen. Wir werden zuerst die von Inger Paulsen durchsuchen, dann die anderen.«

»Du machst wohl Scherze!«

»Sehe ich so aus?«

 

Die Kabine von Inger Paulsen war keine neun Quadratmeter groß. Die zweite Bewohnerin der Kabine hieß Pernille Madsen. Gerade befand sie sich in der Kommandozentrale, weshalb die Kabine ohnehin leer war. Ein Etagenbett mit blauen Laken, darunter weiße Schubladen, gekennzeichnet mit den Buchstaben A und B. Jedes der Betten war mit einem Vorhang versehen und hatte einen winzigen Fernseher in der Ecke, beim oberen Bett war er an der Decke, beim unteren am darüberliegenden Bett fixiert. In der Mitte ein kleines Bullauge, ein paar Regale, ein Schreibtisch mit zwei Laptops und zwei Schränke hinter der Tür.

»Das sieht vielleicht sehr spartanisch aus«, sagte die Blondine, die sie dorthin geführt hatte und jetzt hinter Kirsten stand, »aber sie sind nur fünf Monate im Jahr an Bord, und wenn sie gerade nicht arbeiten, verbringen sie viel Zeit in der Kantine und der Cafeteria. Außerdem haben wir hier einen großen Bildschirm mit Satellitenfernsehen, drei Billardtische, ein Kino, ein Fitnessstudio, eine Bibliothek und sogar einen Raum, in dem sie Musik machen können, und dann noch eine Sauna.«

Kirsten zog die Sicherheitsweste mit den reflektierenden Streifen aus und hängte sie über die Stuhllehne. Nach der beißenden Kälte draußen herrschte hier im Inneren drückende Hitze.

»Am schwierigsten ist es immer an Weihnachten und an Neujahr«, fügte die Frau hinzu, »wenn man weit weg von der Familie ist.«

Ihre Stimme war flach, tonlos. Voll unterdrückter Feindseligkeit.

Kirsten durchsuchte die Schubladen unter den Betten und die des Schreibtisches sowie die Regale. Damenunterwäsche, T-Shirts, Jeanshosen, ein paar Unterlagen, eine Taschenbuchausgabe eines Kriminalromans mit verstoßenen Ecken, Videospiele … nichts. Hier drinnen war nichts. Ein schwaches Vibrieren – eine Maschine, ein Gebläse oder ein Motor – wurde durch die Wand übertragen. Die Frau hinter ihr redete noch immer weiter, aber Kirsten hörte ihr nicht mehr zu. Sie bemerkte, dass eines der Betten ordentlich gemacht, das andere jedoch zerwühlt war. Und es war heiß. Sehr heiß. Schweißtropfen rannen unter den Bügeln ihres BHs hinunter. Erste Anzeichen einer Migräne machten sich bei ihr bemerkbar.

Kasper hatte die Schränke durchsucht. Er bedeutete ihr, dass er nichts gefunden hatte. Sie gingen in den langen Gang hinaus.

»Zeig uns die Kabinen der Männer, die am Abend des Mordes an Land waren«, sagte sie.

Der Blick der Blondine durchbohrte sie. Dann blinzelte sie. Auch ihre Körpersprache brachte ihre Feindseligkeit zum Ausdruck. Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging den langen, mit blauem Teppichboden ausgelegten Gang vor ihnen her – der Teppichboden war so dick, dass ihre Füße beim Gehen darin versanken – und zeigte schließlich auf mehrere Türen. Kirsten bedeutete ihr, diese zu öffnen. Sie sah zu, wie Kasper in einer Kabine verschwand, und betrat selbst eine andere. Die Frau rührte sich nicht. Kirsten sah, dass sie sie vom Gang aus durch die offene Tür beobachtete. Sie – nicht Kasper. Kirsten schickte sich an, die Kabine zu durchsuchen. Nicht einmal fünf Minuten später musste sie es einsehen: Auch hier war nichts Auffälliges zu entdecken.

Aber noch immer dieses Vibrieren, dieses Pulsieren, das aus den Eingeweiden der Bohrinsel hervorbrach und sich so anfühlte, als würde es sich geradewegs in ihren Schädel bohren. Ihr war heiß und leicht schwindlig. Dazu dieser spitze Blick der Blondine im Rücken – unablässig.

Auf zur nächsten Tür.

Zunächst betrachtete sie die Kabine nur. Genau wie die vorherigen. Dann zog sie die Schubladen unter dem Bett auf. Und da sah sie sie auch schon.

Inmitten der anderen Klamotten. Damenunterwäsche. Bereits getragene. Sie drehte sich um.

»Wohnen in dieser Kabine Frauen?«

Die Blondine verneinte.

Kirsten setzte ihre Suche fort.

Männerkleidung. Markenklamotten. Boss, Calvin Klein, Ralph Lauren, Paul Smith … Sie zog eine weitere Schublade auf, runzelte die Stirn. Weitere Damenunterwäsche. Auf einem dieser Wäschestücke waren Blutflecke … Was hatte es damit auf sich? Sie spürte, wie ihr Herz schneller pochte.

Sie wandte sich zur Tür um. Die spröde Blondine beobachtete sie. Vielleicht hatte sie etwas bemerkt. Vielleicht hatte Kirstens Körpersprache ihr vermittelt, dass hier etwas vor sich ging.

Kirsten beugte sich vor, wühlte durch die Unterwäsche. Alle dieselbe Größe oder fast …

Dann drehte sie sich um. Sie glaubte, ein leises Geräusch hinter sich gehört zu haben. Die Blondine hatte sich bewegt, lehnte jetzt mit der Schulter am Türstock, ganz nah, und starrte sie nach wie vor an. Kirsten schauderte. Ihr Atem ging schneller. Sie musterte die Frau.

»Wem gehört diese Kabine?«

»Weiß ich nicht.«

»Aber es lässt sich irgendwie herausfinden?«

»Sicher.«

»Na, dann los.«

Als Kasper Kirstens Stimme gehört hatte, war er zu ihnen gekommen. Sie zeigte ihm die offene Schublade, die blutverschmierte Unterhose, dann schaute sie ihn an. Er nickte. Er hatte verstanden.

»Etwas passt hier nicht«, sagte sie zu ihm. »Das ist zu einfach. Das sieht ganz nach einer Schnitzeljagd aus.«

»Falls dem so ist, dann gilt sie dir«, sagte Kasper.

Sie dachte darüber nach. Gar nicht so dumm.

»Hier entlang«, sagte die Frau.

»Sie heißen Laszlo Szabo und Philippe Neveu.«

Inzwischen saßen sie in einem kleinen fensterlosen Büro voller Unterlagen.

Neveu, ein französischer Name …

»Wer von den beiden war letzte Nacht an Land?«

»Neveu.«

»Wo ist er gerade?«

Die Frau sah auf der großen Stecktafel mit den bunten Karteikarten an der Wand nach.

»Momentan befindet er sich auf einem Schweißerposten. Auf dem Drill Floor.«

»Ist er Franzose?«

Die Blondine zog eine Akte aus der Schublade des Metallcontainers heraus und streckte sie ihnen hin. Kirsten sah das Foto eines Mannes mit schmalem Gesicht. Kurz geschnittene, braune Haare. Sie schätzte ihn auf fünfundvierzig.

»Das behauptet er zumindest«, sagte die Frau. »Was genau ist denn los?«

Kirsten warf einen Blick auf die Tüte mit der blutigen Unterhose, dann sah sie zu Kasper. Als ihre Blicke sich kreuzten, spürte sie einen Adrenalinschub. Auf seinem Gesicht entdeckte sie genau den Ausdruck, der vermutlich gerade auch auf ihrem Gesicht zu sehen war – sie waren wie zwei Hunde, die die Fährte von Wild aufgenommen hatten.

»Wie gehen wir weiter vor?«, fragte sie leise.

»Es ist schwierig, Verstärkung hierher anzufordern«, sagte er.

Sie wandte sich zu der Frau um.

»Haben Sie Waffen an Bord? Wer ist hier für die Sicherheit verantwortlich? Sie haben doch bestimmt irgendwelche Vorkehrungen für den Fall einer Piraterie oder eines terroristischen Anschlags getroffen?«

Kirsten wusste, dass die Offshoregesellschaften, was dieses Thema betraf, überaus verschwiegen waren, niemand wollte sich über derart delikate Angelegenheiten auslassen oder gar eingestehen, dass gut vorbereitete Terroristen bei diesem höchst strategischen Ziel Schwachstellen finden konnten. Kirsten hatte bereits zweimal bei der jährlichen Übung teilgenommen, bei der die Polizei, Sondereinheiten, Küstenwachen sowie mehrere Mineralöl- und Gasgesellschaften involviert waren. Zudem hatte sie auch Fortbildungen absolviert. Alle Spezialisten waren sich einig: Norwegen war schlechter auf einen Terroranschlag vorbereitet als die Nachbarländer. Noch bis vor Kurzem waren die Norweger völlig naiv davon ausgegangen, dass Terror nichts mit ihnen zu tun hatte und sie für immer davon verschont wären. Doch mit dem 22. Juli 2011 und Anders Breiviks Massaker auf Utøya hatte sich diese Naivität zerschlagen. Dennoch hatte Norwegen, im Gegensatz zu Schottland, wo die Polizei bewaffnete Beamte auf den Ölförderanlagen einsetzt, noch immer keine Gefahrenmaßnahmen ergriffen, und das obwohl Statoil die Sicherheitsvorkehrungen seit 2013 verstärkt hatte, nachdem die Raffinerie von In Aménas im Osten von Algerien angegriffen worden war. Was würde passieren, wenn gut trainierte, mit Sturmgewehren bewaffnete Männer mit einem Hubschrauber auf einer Bohrinsel landeten und die Arbeiter als Geisel nahmen? Wenn sie sie mit Sprengkörpern spickten? Es gab über vierhundert Offshoreanlagen in der Nordsee: Wurde ihr Luftraum kontinuierlich überwacht? Kirsten hatte da so ihre Zweifel. Und die Arbeiter, die vom Festland zurückkamen: Wurden sie durchsucht? Wäre es ihnen möglich, eine Waffe mit an Bord zu bringen?

Sie sah, wie die Blondine auf einen Knopf drückte und sich über ein Mikro beugte.

»Mikkel, könntest du bitte sofort kommen?«

Drei Minuten später trat ein Muskelprotz mit dem Gang eines Cowboys in das kleine Büro.

»Mikkel«, sagte die Frau, »diese Herrschaften sind von der Polizei. Sie wollen wissen, ob du bewaffnet bist.«

Mikkel betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und ließ dabei seine durchtrainierten Schultern kreisen.

»Ja, warum?«

Kirsten fragte ihn, um was für eine Waffe es sich handelte. Bei seiner Antwort verzog sie das Gesicht.

»Gibt es noch jemanden an Bord, der bewaffnet ist?«, fragte sie.

»Der Kapitän hat eine Waffe in seiner Kabine. Sonst niemand.«

Scheiße, dachte sie. Sie schaute hinaus in den Sturm, der um das schwarze Bullauge peitschte, dann sah sie wieder zu Kasper. Der nickte. Seinem Blick war deutlich anzusehen, was er von dieser Situation hielt.

»Wir sind allein«, schloss sie.

»Und das hier ist sein Revier«, fügte Kasper hinzu.

»Kann mir mal einer sagen, was hier los ist?«, fragte der Kleiderschrank.

Kirsten löste den Verschluss des Holsters an ihrer Hüfte, ohne die Waffe herauszunehmen.

»Nimm deine Waffe. Aber benutze sie nur, wenn ich es dir sage.«

Sie sah, wie der Muskelprotz hinter ihnen blass wurde.

»Wovon sprecht ihr gerade?«

»Wir müssen jemanden festnehmen …«

Erneut drehte sie sich zu der Blondine um, die sie jetzt mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Bring uns zu ihm.«

Dieses Mal kam sie Kirstens Aufforderung umgehend nach und nahm ihre Regenjacke vom Kleiderhaken. Sie hatte jede Aggressivität verloren; ganz offensichtlich hatte sie Angst. Sie verließen das kleine Büro im Gänsemarsch und folgten dem langen Gang bis zu einer Stahltreppe, die ebenso steil war wie alle anderen hier. Oben an der Treppe entdeckte Kirsten die Neonleuchten im Außenbereich.

Sie traten in die Nacht hinaus, und das laute Tosen des wilden Ozeans schwoll erneut in ihren Gehörgängen an.