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Lisa Engels ist glücklich, als sie die Stelle der Stadtarchivarin in Überlingen antritt. Doch kaum ist sie angekommen, verschwindet ein Bekannter nach einem Tauchunfall spurlos und eine Yacht wird auf dem Bodensee treibend entdeckt - die Besatzung ermordet. Zufällig stößt Lisa auf den mehrere hundert Jahre alten Bericht eines Reichenauer Mönchs über eine mörderische Sagengestalt. Die Umstände der aktuellen Morde passen verstörend genau zu der Erzählung. Und als sich die Nacht über den See senkt, kommt es zur nächsten tödlichen Begegnung.
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Seitenzahl: 400
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Christian Schlindwein
Nacht über dem Bodensee
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Markus Speth / AdobeStock
ISBN 978-3-8392-7424-8
Non est ergo malum nisi privatio boni
Augustinus
Über dem dunklen See lag leichter Nebel, als im Osten ein heller Schein sichtbar wurde. Es war ein milder Morgen, windstill, der Tag würde warm werden. Erste Möwen zogen ihre Kreise und schrien heiser. Gleichmäßig durchpflügten die Ruder des Kahns die spiegelglatte Oberfläche des Sees. In der Ferne konnten die beiden Männer an den Rudern die Silhouetten anderer Boote ausmachen. Fischer, die nach ihrer nächtlichen Fahrt die Netze einholten. Von der nahen Stadt drang das dünne Geläut einer Glocke zu ihnen. Die Männer legten die Ruder an, falteten die Hände und beteten still.
Jetzt brachen die ersten Sonnenstrahlen über die Hügel und warfen einen goldenen Schimmer auf die Wasseroberfläche. Schemenhaft war nun hinter dem Kahn das Ufer zu erkennen. Wälder und sanfte Höhen, an der Wasserlinie stachen ein paar Türme und Ruinen aus dem Nebel. Die Schweden waren abgezogen, doch der Krieg war noch nicht vorüber. Überlingen hatte seine Treue zum alten Glauben, zu Kaiser und Reich teuer bezahlt. Bernhard von Weimar hatte die Mauern berannt, General Horn hatte die Stadt beschossen. Nach zwei Belagerungen war der Hunger eingekehrt. Wenn der Bodensee mit seinem Reichtum nicht gewesen wäre, hätten die Belagerten sich schon lange ergeben müssen. Der See versorgte die Einwohner Überlingens mit dem Notwendigsten.
Doch der See brachte auch das Grauen.
Nachdem die Männer das Gebet beendet hatten, griffen sie wieder in die Riemen und der Kahn bewegte sich weiter hinaus auf den offenen See. Als sie etwa eine halbe Meile weit gefahren waren, zogen sie die Ruder ein und saßen einige Augenblicke unbeweglich im leicht schaukelnden Boot. In der Stille war das Klatschen der Wellen an den Bootsrand beinah unangenehm laut. Es war ein monotones Geräusch.
Die Männer atmeten hörbar durch. Es war nicht die Anstrengung des Ruderns, die ihren Puls in die Höhe getrieben hatte. Sie waren kräftig, und die Mühen der letzten Wochen hatten sie zwar ausgezehrt, aber auch gestählt. Keiner von beiden hätte es sich eingestanden, doch es war nichts anderes als Angst, die ihnen das Herz so fühlbar in der Brust schlagen ließ. Ohne sich gegenseitig anzusehen, griffen sie vor sich und nahmen vom Boden des Bootes Kettenhandschuhe auf. Wortlos zogen sie sie an. Der ältere von ihnen seufzte.
»In Gottes Namen«, sagte er leise.
Langsam wandten sie sich um.
Unwillkürlich bekreuzigte sich der zweite Mann. Seine Hand zitterte. Im Heck des Kahns lag eine junge Frau. Ihre schlanke Gestalt war in eiserne Ketten geschlagen wie ein wildes Tier. Die Frau trug ein langes hellgraues Kleid. Es war schmutzig und an einigen Stellen zerrissen. Um ihr Dekolleté war es dunkel verschmiert. Die Männer wussten, dass die rotbraunen Flecken Blutreste waren. Auch am Kinn, am Hals und auf dem Ansatz ihrer weißen Brüste waren Flecken getrockneten Blutes. Der Blick der Frau war über die Reling auf den See hinaus gerichtet. Als die Männer auf sie zutraten, sah sie sie an und die beiden erstarrten in ihrer Bewegung.
»Schau die Hexe nicht direkt an«, sagte der ältere, griff der Gefesselten unter die Arme und hob sie an. Der jüngere schlug die Augen nieder und nahm ihre Füße. Gemeinsam wuchteten sie die Frau auf die Bordwand. Die Ketten wogen viel schwerer als der zierliche Leib selbst. Die Frau wehrte sich nicht. Kein Winden, kein Schreien. Sie lag ganz still. Mit einem Ruck hoben die Männer das klirrende Bündel über die Reling, bemüht, im Schaukeln des Bootes einen festen Stand zu behalten. Einen Moment lang verharrten sie so.
Dann ließen sie los.
Der Körper der Frau schlug auf das Wasser und wurde von den Ketten nach unten gezogen. Ihr Haar umwehte sie, als würde es von einem sanften Wind bewegt. Sie hatte die Augen geöffnet und ihren Blick durch das Wasser nach oben auf die Männer gerichtet.
Die Männer sahen der Frau nach, wie sie versank. Auf einmal wurde ihnen eiskalt. Sie würden niemals darüber sprechen, keinem würden sie davon erzählen, aber bevor die schöne junge Frau in der grünen Tiefe verschwand, sahen die beiden Männer deutlich, dass sie ihnen zulächelte.
Lisa lächelte. Ihr Blick schweifte über die weite grüne Landschaft mit den markanten Vulkanbergen. Dahinter, das wusste sie, lag der Bodensee. Jetzt war es also so weit. Nach Studium, Promotion und anschließender Ausbildung wartete ihre erste Arbeitsstelle auf sie. Endlich eigenes Geld. Doch es war nicht des eher bescheidenen Gehaltes wegen, dass sie sich auf die Stelle in der alten und doch so lebendigen Stadt am großen See beworben hatte. Die Gegend gefiel ihr. Hunderttausende von Menschen verbrachten hier jedes Jahr ihre Ferien, und sie würde dort wohnen. Die Mietpreise waren zwar furchteinflößend, aber nachdem ihr Vorgänger ihr in seinem Haus eine kleine Wohnung günstig zur Verfügung gestellt hatte, brauchte sie sich darüber keine Sorgen zu machen. Ein sympathischer älterer Herr, der sich darüber hinaus dafür eingesetzt hatte, dass sie den Job bekam. Ohne diese Form von Vertrauensvorschuss hätte sie wohl niemals diese Anstellung erhalten, so jung und unerfahren, wie sie war. Aber tatsächlich sollte sie nach einer einjährigen Übergangszeit, in der ihr Vorgänger sie einarbeitete, die Leitung des Städtischen Archivs übernehmen.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihr Begleiter ihr winkte.
Es ging also weiter.
Lisa stellte die Kaffeetasse und den Teller mit den Kuchenresten auf das Plastiktablett. Sie stand auf, nahm ihre Jacke von der Stuhllehne und zog sie an. Sie trug das Tablett von der Aussichtsterrasse zurück in die gläserne Halle der Autobahnraststätte hin zu einem Geschirr-Rückgabewagen und ging auf den Parkplatz hinaus. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht. Sie trat neben ihren Begleiter, einen Mann mit Kurzhaarfrisur und Nickelbrille. Kurz blieben sie vor einem Schaukasten stehen, in dem eine Reliefkarte der Bodenseeregion zu sehen war. Sie schätzte, dass sie noch eine halbe Stunde Fahrtzeit vor sich hatten. Den größten Teil des Weges von Westfalen in den Süden Baden-Württembergs hatte sie geschafft. Sie folgte dem Mann zu einem rostigen alten Peugeot mit »Atomkraft, nein danke!«-Aufkleber und setzte sich auf den Beifahrersitz. Als der Fahrer den Wagen anließ, legte sie den Sicherheitsgurt an. Langsam rollte das Fahrzeug vom Parkplatz und fädelte sich in den Verkehr auf der A81 Richtung Süden ein.
Die Mitfahrzentrale war eine gute Sache, doch manchmal lernte man ganz schön schräge Vögel kennen. Immerhin musste sie sich während dieser Fahrt keine ausführlichen Familiengeschichten anhören. Seit Lisa in Münster eingestiegen war, hatte der Mann am Lenkrad kaum fünf Worte mit ihr gewechselt, sondern einfach still und freundlich vor sich hin gelächelt. Von Köln bis Stuttgart war noch eine Studentin mitgefahren, die die meiste Zeit geschlafen hatte.
Die Strecke vor ihnen war jetzt ziemlich frei. Der Fahrer gab Gas. Nach einer Viertelstunde mündete die A81 in einen breiten Autobahnzubringer, eingefasst von dichten Wäldern und üppigen Wiesen. Als ein Hinweisschild die richtige Abfahrt anzeigte, setzte der Fahrer den Blinker, ging vom Gas und schwenkte rechts weg. Die Straße führte einen Hügel hinauf, der von einer mittelalterlichen Kirche bekrönt wurde. Oben angekommen, lenkte der Fahrer den Wagen an den Fahrbahnrand und stellte den Motor ab.
»Weil Sie hier neu sind«, sagte er.
Lisa sah aus dem Fenster und wusste, was er meinte. Der Ausblick war atemberaubend. Sie stieg aus dem Fahrzeug und atmete tief durch. Unten vor ihr lag Überlingen, dahinter breitete sich der Bodensee aus, auf dieser Seite umrahmt von sanften grünen Hügeln. Nur schemenhaft erkannte sie gegenüber im Hintergrund die majestätische Kette der Alpen. Auf der riesigen blauen Fläche leuchteten zahllose weiße Segel, und weiter hinten, im Osten, erkannte Lisa die Autofähren, die das ganze Jahr hindurch Tausende von Fahrzeugen von einer Seite des Sees zur anderen transportierten, eine schwimmende Hauptverkehrsader. Noch einmal ließ sie ihren Blick über das Panorama schweifen, dann stieg sie wieder ein.
»Danke«, sagte sie.
Der Fahrer nickte, startete den Wagen und bewegte ihn zurück auf die Straße. Er fuhr den Hügel hinab, hinein in die Stadt, die für Lisa ihre neue Heimat werden sollte. Sie passierten das Ortsschild. Überlingen. Am Ortseingang wurden sie von einem Transparent begrüßt, das in der Höhe quer über die Straße gespannt war:
WILLKOMMEN IM SÜDEN!
Alles war grün. Selbst die Kreisverkehrsinseln waren kleine Wälder oder blumenbestandene kleine Gärten. Der Fahrer checkte das Navigationssystem, bog ab und fuhr nun eine Straße hinunter, die Lisa aufgrund ihres Neigungswinkels an San Francisco erinnerte. Überlingen war auf Hügeln erbaut, die sich vom Seeufer hinauf ins Land erstreckten. Der Höhenunterschied zwischen dem Ufer und dem oberen Stadtrand betrug knapp 100 Meter. Hier musste es irgendwo sein. Das Haus mit der Nummer 71. Es lag unten, wo die Straße eine Kurve machte und wieder in die Horizontale mündete. An dem Haus vorbei führte die Straße in Kurven weiter hinunter bis zum Seeufer.
Gegenüber den Hecken, hinter denen das Haus lag, parkte der Fahrer das Auto.
»Tja, ich schätze, Sie sind da«, sagte er.
»Danke«, sagte Lisa wieder und stieg aus dem Wagen. Sie nahm ihren Rucksack aus dem Kofferraum und verabschiedete sich. Mit einem freundlichen Winken fuhr der Mann davon. Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr beschloss Lisa, sich erst einmal die Umgebung anzusehen. Neben dem Grundstück ging es in einen Park, wie es schien. Ein Stück davor führte eine schmale steile Treppe hinunter zu einer anderen Straße. »Teufelstreppe«, las sie auf einem Schild.
»Wie einladend«, dachte sie und stieg die Stufen hinab. Unten angekommen sah sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen weiteren Park und dahinter den Bodensee. Sie wartete drei Autos ab, überquerte die Straße und sog die Luft ein. Sie roch nach Wasser. Glücklich ging sie am Ufer des Sees entlang bis zu einem kleinen Hafen, in dem mehrere Boote lagen. Eine Brücke führte über die Hafeneinfahrt. Mit zahlreichen anderen Spaziergängern schlenderte sie die Promenade entlang. Das sind Touristen, dachte sie vergnügt. Am liebsten hätte sie allen erklärt: »Ich wohne hier!«
Gegenüber, auf der anderen Seeseite, war Wald, der direkt in den See abzufallen schien. Das dichte Grün erinnerte Lisa an einen Urwald in den Tropen. Und dann sah sie vor sich die erste Eisdiele.
»Strandcafe«.
Sie beschloss, dass sich das gut anhörte, und kaufte einen großen Becher mit Waldbeere, Schoko und Vanille.
*
Zwei Stunden später war Lisa zurück am Haus Nummer 71. Sie suchte eine Klingel am Gartentor, fand aber keine. Sie probierte, das verwitterte Holztor zu öffnen, und fand es unverschlossen vor.
»Hallo?«, rief sie und trat in den Garten.
Hinter den hohen Hecken befand sich eine Wiese. Das Gras stand hoch, überall wucherte Unkraut, dazwischen blühten wilde Blumen. Lisa gefiel es auf Anhieb. Das Haus war ein Bungalow, einstöckig und schon lange nicht mehr gestrichen worden.
»Sebastian Grünwald«, stand auf dem Türschild, und hier entdeckte sie auch eine Klingel. Lisa betätigte sie. Wenig später hörte sie Schritte, und Grünwald öffnete ihr die Tür. Seit dem Vorstellungsgespräch zwei Monate zuvor hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Seine Augen blitzten genauso klug und freundlich, wie sie sie in Erinnerung hatte.
»Frau Dr. Engels, herzlich willkommen! Ich freue mich, dass Sie da sind.«
»Lisa, bitte. Hallo, Dr. Grünwald, ich freue mich auch.«
»Ich habe gerade Kaffee gekocht«, sagte er. »Möchten Sie einen?«
»Sehr gern, danke.«
Sie schlängelte sich hinter Grünwald durch einen Hausflur, der durch Reihen übervoller Bücherregale beinahe unpassierbar war, zur Küche. Auch dort standen Bücher auf Regalen. Auf einem Bord fielen ihr erstaunlich viele Gewürze auf.
»Wie nehmen Sie den Kaffee, Lisa?«, fragte Grünwald und goss ihr eine Tasse ein.
»So, wie er ist, einfach schwarz«, antwortete sie. »Danke.«
»Haben Sie nicht noch mehr Gepäck?«, wollte Grünwald wissen. »Für einen Umzug kommt mir das etwas wenig vor.«
»Mein ganzes restliches Zeug kommt übermorgen. Ein Freund, der zum Tauchen an den See fahren wollte, bringt mir alles mit seinem Auto und einem Anhänger.«
»Ein Freund?«, fragte Grünwald augenzwinkernd.
Lisa lachte. »Ein Freund, nicht mehr und nicht weniger.«
Auf einmal schien es dem Archivar unangebracht zu sein, seine Nachfolgerin so über ihr Privatleben zu befragen, denn er wechselte abrupt das Thema. »Essen Sie eigentlich gern Fisch?«, fragte er unvermittelt.
»Fisch …? Das kommt darauf an. Wieso fragen Sie?«
»Fisch ist meine Spezialität. Wenn Sie Fisch mögen, lade ich Sie gerne am Wochenende, wenn Sie sich etwas eingerichtet haben, zu einem Willkommensessen ein.«
»Dann mag ich ihn bestimmt. Außerdem probiere ich gern neue Gerichte aus.«
»Wenn Sie jetzt am See wohnen, lohnt es sich auf jeden Fall, Fisch zu mögen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Wohnung. Hier sind schon mal Ihre Schlüssel.«
Lisas Wohnung lag auf der Rückseite des Hauses im Untergeschoss. Da das Gelände leicht abfiel, war die Wohnung ebenerdig und die Wohnung von Grünwald darüber gewissermaßen im ersten Stock. Die Räumlichkeiten waren gemütlich und für ihre Zwecke mehr als ausreichend. Grünwald gab ihr eine kurze Führung. Ein helles Wohnzimmer mit großen Fenstern und einer Glastür zum Garten hin, ein Schlafzimmer mit geräumigen Einbauschränken, ein modernes Bad und eine kleine Küche.
»Noch mal willkommen, Lisa«, sagte Grünwald, bevor er sie wieder verließ. »Hoffentlich fühlen Sie sich wohl hier. Bis morgen früh.«
»Danke, Herr Dr. Grünwald«, sagte Lisa gerührt. »Vielen Dank für den herzlichen Empfang. Bis morgen.«
Als sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer setzte und aus den Fenstern auf die hohen wilden Blumen im Garten schaute, fühlte sie sich fast schon zu Hause.
*
Zwei Tage später stieg Silvio Baumann aus seinem Mercedes CLS. Nachdem er Lisa gestern in aller Frühe ihre Sachen vorbeigebracht hatte, war er um die westliche Seite des Sees herumgefahren und in einem Hotel in Konstanz abgestiegen. Er hätte auch bei Lisa übernachtet und hatte es ihr auch tatsächlich vorgeschlagen. Aber er hatte bei der hübschen Frau Archivarin wieder auf Granit gebissen. Seit der Zeit, in der sie im Gymnasium gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten, war er regelmäßig bei ihr abgeblitzt. Nicht, dass er sich gestern ernsthaft Hoffnungen gemacht hätte. Er wusste schon lange, dass er keine Chance bei ihr hatte. Wusste der Teufel, warum. Schließlich war sie auch schon 30. Hatte sie denn keine Torschlusspanik? Außerdem war er durchtrainiert und muskulös. Ein Großteil seiner Freizeit ging für das Fitnessstudio drauf. So gut definierte Muskeln bekam man nur durch viel Arbeit. Und Zeit. Frau Doktor wusste ja nicht, was ihr entging.
Silvio zuckte mit den Schultern. »Andere Mütter haben auch schöne Töchter«, sagte er vor sich hin. Er hatte Lisa trotzdem gerne ihre Sachen gebracht, damit sie zwei Tage früher per Mitfahrzentrale hatte fahren können. Und er selbst nutzte die Fahrt nach Überlingen, um einen Eintrag auf seiner To-do-Liste abzuhaken. Es gab eine Stelle im Bodensee – die Marienschlucht –, die als extrem gefährlich für Taucher galt.
Sie lag an der südlichen Seite des Überlinger Sees, einer urtümlich romantischen Wildnis. Silvio hatte sein Auto gut im Grün des Waldweges versteckt. Vor ihm glitzerten die Wellen des Sees durch die Büsche. Mit Wanderern brauchte er um diese frühe Morgenstunde noch nicht zu rechnen. Für Fahrzeuge war der Weg ohnehin gesperrt. Aber man konnte nie wissen. Aufmerksam schaute Silvio sich um. Niemand zu sehen. Er ging um den Wagen herum und hob die Taucherausrüstung aus dem Kofferraum. Er zog den Halbtrocken-Anzug an und checkte die Tauchermaske sowie den Computer. Alles in Ordnung. Als er die Maske aufsetzte, fiel sein Blick noch einmal auf das Schild, das direkt vor ihm am Ufer stand:
TAUCHEN NUR MIT AUSDRÜCKLICHER ERLAUBNIS DER WASSERSCHUTZPOLIZEI GESTATTET
Er lächelte. Natürlich wusste er, dass man an diesem Uferabschnitt nicht tauchen durfte. Nur lizenzierte Tauchlehrer und professionelle Taucher der Polizei und der Marine erhielten die Erlaubnis, hier ins Wasser zu gehen. Zu viele Taucher, auch durchtrainierte und erfahrene, waren in den vergangenen Jahren an dieser Stelle verschwunden. Sie waren runtergegangen und nie wieder hochgekommen. Aber das machte ja gerade den Reiz aus: zu tauchen, wo es gefährlich war. Und dann, vor allem: davon zu erzählen!
Angst hatte Silvio keine. Er war schon in so gut wie allen Meeren dieser Welt getaucht. Er war kein Extremsportler, aber er tat, was ihm Spaß machte, und am meisten Spaß machten ihm die Sachen, die nicht jeder tat. Silvio watschelte in den See, bis ihm das Wasser an die Brust reichte. Etwa 30 Meter vor sich im See sah er im Wasser einen hellen Schimmer. Aus seiner Mitte ragte eine Tafel, ein sogenanntes Seezeichen. Es diente zur Orientierung für Schiffe, um ihnen die Untiefe anzuzeigen. Denn die helle Färbung des Wassers rührte von einer elliptischen Felsplatte her, ungefähr 10 mal 20 Meter groß und in dieser Jahreszeit etwa zwei Meter unter dem Wasserspiegel gelegen. Der Teufelstisch. Wie eine gewaltige Felsnadel stand er im See. Silvio wusste, dass die außergewöhnliche Felsformation unter Wasser senkrecht bis in etwa 90 Meter Tiefe abfiel. Unerfahrene Taucher konnten an einer solchen Steilwand leicht in Panik verfallen. Und Panik war das Schlimmste, was einem unter Wasser passieren konnte. Doch Silvio brachte so schnell nichts aus der Ruhe. Der Banker aus Münster war es gewohnt, einen kühlen Kopf zu behalten. Natürlich hatte er von den unterseeischen Strömungen gehört und auch von Höhlen, die es in der Felsformation geben sollte. Aber es hieß, die lägen weiter unten, als er vorhatte zu tauchen. Erst unter 30 Metern wurde es wirklich gefährlich. Er wollte ja nur mal einen Blick auf den Sockel des berühmten Tisches werfen. Nachdem er sich noch einmal umgesehen hatte, schwamm er zu der hellen Platte, die vor ihm im Wasser lag, und zu dem Seezeichen, das dort montiert war. Er fasste die Metallstange und las, was auf dem Schild stand: eine große 22.
Dann ließ er die Stange los und tauchte unter.
Er schwebte über der riesigen Tischplatte dahin. Plötzlich endete sie, und er schwamm über den Rand hinaus. Schwindel überkam Silvio. Unter ihm fiel der Felsen jäh ab in tiefe, unergründliche Dunkelheit. Eine innere Stimme drängte ihn, zurückzuschwimmen und es damit bewenden zu lassen. Lächerlich! Was sollte er seinen Freunden erzählen? Bis hierher konnte selbst ein Kleinkind mit Schwimmflügeln planschen. Er überwand seine Beklommenheit und stieß sich von der Platte ab. Langsam und vorsichtig glitt er an der Steilwand nach unten. Es war beinahe wie Fallschirmspringen. Silvio war fasziniert. Ein Hochgefühl bemächtigte sich seiner. Durch die Brille sah er Staubpartikel und Algen im Wasser schweben. Er sank jetzt schneller. Wie tief war er eigentlich schon? Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass die Sicht rapide abgenommen hatte. Das Wasser war trüb und beinahe schwarz. Mit Mühe konnte er seinen Tauchcomputer ablesen. Silvio erschrak. Der Tiefenmesser zeigte 28 Meter an. Er hätte höchstens 15 geschätzt. Er musste wieder einige Meter aufsteigen, am besten ganz auftauchen, für heute war es genug. Doch auf einmal war er sich nicht mehr sicher, wo es nach oben ging. Einen Tauchkompass hatte er nicht dabei. Die Sicht war gleich null. Silvio kämpfte einen Anflug von Panik nieder. Ruhig atmen. Ganz ruhig und regelmäßig atmen. Mit gemessenen Bewegungen schwamm er aufwärts. Es wurde nicht heller. Der Computer – verdammt, er war kaum zu erkennen. 35 Meter. Ihm wurde heiß. Die Wassertemperatur betrug drei Grad, aber in Silvio stieg heiß und unaufhaltsam wie Lava die unterdrückte Angst auf. Wo ging es verdammt noch mal nach oben?! Auf einmal fasste seine Hand, mit der er sich am Felsen entlangtastete, ins Leere. Die Wand hörte auf. Eine der Höhlen, dachte Silvio, und es war nicht so sehr die Vorstellung von dunklen Gängen in der Unterwasserwand, die ihn wieder die Panik schmecken ließ, sondern das Wissen um den Sog im Wasser, den Höhlen auslösen können. Zurück, er musste zurück! Krampfhaft schwamm er in die Richtung, die er für oben hielt.
Mitten in der Bewegung erstarrte er. Vor sich sah er eine Frau im Wasser. Zuerst erkannte er nur ihre Umrisse, ihr Kleid, das im Wasser schwebte. Ihre wehenden langen Haare. Unmöglich! Kein Mensch konnte in einer solchen Tiefe ohne Atemgeräte tauchen. Schon gar nicht in einem Kleid. Er wurde verrückt, das war es! Er halluzinierte! Wie tief war er überhaupt? Wenn es ihm nicht gelänge, sich zusammenzureißen, würde das sein letztes Abenteuer sein. Dann konnten sie sich in Münster einen neuen Erfolgsbroker suchen. Silvio musste ein irres Lachen unterdrücken. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Er schaffte es, ruhig zu atmen. Er öffnete die Augen. Etwa einen Meter über sich sah er die Frau. Sie sah ihn an. Ihr Anblick traf ihn wie ein Vorschlaghammer. Sie war jung und schön. Und sie war sehr weiß. Jetzt war es mit seiner Beherrschung vorbei. Mit krampfhaft zuckenden Bewegungen strampelte er von der Frau weg, weiter in die Tiefe des Sees hinein. In seinen Ohren spürte er einen stechenden Schmerz. Er musste weg, nur weg! Unsinnigerweise wurde es unter ihm immer heller, jetzt konnte er wieder seine Hände sehen, aber wieso…? In diesem Augenblick tauchte Silvio auf. Er fühlte ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich zu übergeben. Seine Beine spürte er nicht mehr. Kräftige Hände packten ihn unter den Achseln. Silvio schwindelte.
Als die Rettungssanitäter ihn in den Hubschrauber schoben, war er bereits bewusstlos.
An diesem Tag trat Lisa ihre neue Stelle an, und für Grünwald begannen die letzten Monate seines Arbeitslebens.
Der alte Archivar und seine Nachfolgerin gingen zu Fuß durch den Park, ein Stück am See entlang und anschließend durch belebte Straßen. Nach einer halben Stunde erreichten sie das Stadtarchiv. Es lag mitten in der Stadt neben der überwältigend großen Kirche, dem Münster. Das Archiv war in einem Renaissance-Bau aus dem 16. Jahrhundert untergebracht. Über der Tür prangte das Wappen der Stadt. Grünwald reichte Lisa den Schlüssel und sie schloss auf.
Das Archiv war innen größer, als man von außen vermuten konnte. Die Renaissance-Fassade war zwar imposant, doch ließ sie nicht so viele Räume erahnen, wie sie das Gebäude tatsächlich barg. Es schien ursprünglich aus mehreren Häusern bestanden zu haben, denn man bewegte sich auch in denselben Stockwerken auf verschiedenen Ebenen. Vom Kellergeschoss bis unter das Dach waren mit Schriftstücken gefüllte Regale und Schränke aufgestellt oder an den Wänden angebracht. Die meisten Räume wirkten sehr nüchtern. Reihen von modernen Metallregalwänden unter kaltem Neonlicht, die Durchgänge gesichert durch schwere Brandschutztüren. In den alten Haupträumen jedoch waren die Decken und die Fensternischen mit Fresken im Stil der italienischen Renaissance verziert.
Grünwald führte seine Nachfolgerin durch alle Bereiche des Archivs. Er freute sich, wie konzentriert Lisa ihm zuhörte, wie interessiert sie Fragen stellte. Seine Wahl war richtig gewesen. Die junge Frau passte sehr gut in dieses Haus, zu dieser Aufgabe. Sie passte gut zu ihm. Nicht, dass er sie begehrt hätte. Er fühlte sich eher wie ein väterlicher Freund.
Grünwald und Lisa vergaßen die Zeit. Erst am späten Nachmittag, als Lisas Bauch vernehmlich knurrte, machten sie eine Pause.
»Ich vermute, Sie wollen damit andeuten, dass es Zeit für etwas zu essen ist?«, fragte Grünwald lächelnd.
Lisa lachte. »Wahrscheinlich komme ich tatsächlich nicht drum herum. Haben Sie einen Tipp, wo man hier schnell was bekommen kann?«
»Das nicht«, sagte der Archivar, »aber ich kann Ihnen einige Orte zeigen, wo man gut und dabei auch noch preisgünstig isst.«
Grünwald führte Lisa in ein kleines Restaurant in der Hafenstraße, nur ein paar Gehminuten entfernt. Offensichtlich kannte ihn der Wirt, Grünwald schien hier regelmäßig zu essen. Nachdem Lisa eine Weile ratlos in die Karte gesehen hatte, bat sie Grünwald um Rat. Er empfahl ihr gebratenes Felchenfilet mit grünem Spargelragout und Salzkartoffeln. Dazu einen Grauburgunder.
»Das nehme ich auch«, sagte er.
Sie aßen in aller Ruhe und bestellten sich noch einen Kaffee.
»Das war toll«, sagte Lisa, als sie aufstanden, »vielen Dank für den Tipp. An die Küche hier am Bodensee werde ich mich wohl ziemlich schnell gewöhnen.«
»Das tun alle«, antwortete Grünwald schmunzelnd.
»Gehen wir zurück ins Archiv?«, fragte Lisa.
»Für heute ist es genug, glaube ich. Bedenken Sie bitte, dass ich ein alter Mann bin …«
Eine Stunde später waren sie zu Hause. Sie verabschiedeten sich herzlich. Schon nach diesem ersten Tag war beiden bewusst, dass sie sich gut verstehen würden. Lisa schloss ihre Wohnung auf, zog die Jacke und ihre Schuhe aus und schaltete den Fernseher ein. Sie holte sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank in der kleinen Küche, nahm einen Schluck aus der Flasche und sah ihre Post durch, die sie aus dem Briefkasten mit hereingebracht hatte. Das meiste war ihr per Nachsendeantrag hinterhergeschickt worden. Zwischen Werbung und Rechnungen fand sie eine Karte. Sie trug das Wappen der Landespolizei, die drei Löwen Baden-Württembergs in einer Art Sheriffstern. Die Karte war ein Vordruck, aber jemand hatte sie per Hand beschriftet:
Sehr geehrte Frau Engels,
leider konnten wir Sie nicht persönlich antreffen. Bitte seien Sie so freundlich, sich bei nächster Gelegenheit bei der örtlichen Polizeidienststelle zu melden.
Mit freundlichen Grüßen
POM Weinberg
Darunter standen die Adresse des Reviers und die Telefonnummer. Lisa ließ die Karte sinken. Polizei? Was um Himmels willen wollte die Polizei von ihr? Und was war ein POM? So wie viele Menschen, die in Kontakt mit den Ordnungshütern gerieten, spürte Lisa sofort ein schlechtes Gewissen. Sie überlegte, was sie falsch gemacht haben könnte. Doch schon nach wenigen Minuten sah sie ein, dass dieses Nachdenken sinnlos war. Sie musste Gewissheit haben. Lisa sah auf die Uhr. Kurz vor acht. Na ja, bei der Polizei sollte ja noch jemand im Dienst sein. Nervös nahm sie den Telefonhörer in die Hand, überlegte es sich dann aber anders und legte das Mobilteil wieder hin. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, schnappte sich die Schlüssel und ihre Jacke und verließ das Haus.
*
Das Polizeirevier war ein imposanter kaiserzeitlicher Bau aus Backstein, nahe am See gelegen, aber auf der anderen Seite der Stadt. Sie hatte eine halbe Stunde zu Fuß hierhergebraucht. Lisa ging über den Hof zum Eingang. Sie lächelte in die Kamera über sich und drückte auf die Klingel. Ein Summen ertönte. Breite Stufen führten nach oben zu einer schweren Tür und zu einem Begrüßungsschalter. Eine Beamtin mit blondem Pferdeschwanz saß hinter einer schusssicheren Scheibe. Sie sprach durch eine Sprechanlage. »Wie können wir Ihnen helfen?«
Lisa zog die Karte aus der Innentasche ihrer Jacke und hielt sie gegen das Panzerglas. »Das lag heute bei mir im Briefkasten.«
»Einen Augenblick bitte.« Die Polizistin drehte sich nach hinten und wählte an einem der zahlreichen Telefone eine zweistellige Nummer. Das Gespräch dauerte nur wenige Sekunden. Dann wandte sie sich wieder an Lisa und sagte: »Bitte kommen Sie herein.«
Die schwere Tür neben Lisa summte. Sie drückte sie auf und stand in einem hohen Flur, von dem verschiedene Türen abgingen. Der gekachelte Fußboden stammte sicherlich noch aus der Kaiserzeit. Ein Polizist, den Lisa auf Mitte 30 schätzte, kam auf sie zu. Mit dem schweren Gürtel, an dem die Pistole, Magazine, eine Taschenlampe und Handschellen befestigt waren, sah er irgendwie martialisch, aber auch irgendwie cool aus.
»Lisa Barbara Engels?«
»Ja …?«
»Guten Abend, ich bin Polizeiobermeister Weinberg. Danke, dass Sie heute noch vorbeigekommen sind.«
Polizeiobermeister … POM, dachte Lisa. Aha. »Um was geht es denn?«
»Bitte folgen Sie mir.«
Der Beamte führte Lisa in ein Besprechungszimmer. Draußen war es noch hell. Ihr Blick fiel durch das Fenster über einen Hof mit verschiedenen Polizeifahrzeugen und einen Sportplatz auf den See.
»Bitte nehmen Sie Platz.« Polizeiobermeister Weinberg legte die Akte, die er in den Händen gehalten hatte, vor sich auf den Tisch. Lisa war nun wirklich nervös. Sie musste sich beherrschen, nicht mit den Füßen zu wippen oder mit ihren Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.
»Es geht um einen gewissen Silvio Baumann«, sagte der Beamte endlich. »Kennen Sie ihn?«
*
Lisa konnte Silvio erst am nächsten Tag nach der Arbeit in der Klinik besuchen. Nach ihrem Abstecher bei der Polizei war es zu spät gewesen. Das Krankenhaus war etwa einen viertelstündigen Fußmarsch von ihrer Wohnung entfernt. Es lag auf einer Anhöhe und bot den Patienten einen großartigen Ausblick über den See. Bestimmt würden aber alle, die in den hellen, freundlichen Zimmern lagen, den Panoramablick gerne gegen eine weniger schöne Aussicht eintauschen, wenn sie nur gesund wären, vermutete Lisa. Sie hatte immer ein beklemmendes Gefühl, wenn sie ein Krankenhaus betrat. Sie fragte am Empfang nach Silvio Baumann und versicherte auf die Nachfrage der Rezeptionistin, ja, sie sei seine Freundin und er sei bei ihr zu Besuch.
Als sie vor der angegebenen Tür stand, zögerte sie kurz, klopfte dann und trat ein. Silvio lag allein in dem sonnendurchfluteten Zimmer. Bestimmt privat versichert. Vor der Fensterfront breitete sich die Landschaft aus. Diesmal aber hatte Lisa keinen Blick für sie. Sie nahm einen der Stühle an der Lehne, stellte ihn ans Bett und setzte sich.
»Hallo«, sagte sie leise.
Silvio sah gar nicht schlecht aus. Er schien den Tauchunfall gut überstanden zu haben.
»Hallo«, antwortete er. »Schön, dass du da bist.«
»Die Nummer mit der Polizei hat mir beinah einen Herzinfarkt verursacht. Ich könnte jetzt im Zimmer nebenan liegen …«, sagte Lisa.
Silvio lächelte. »Tut mir leid. Sie haben in meinem Auto den Zettel mit deiner Adresse gefunden. Ich war fast zwei Stunden in der Dekompressionskammer. Ist übrigens die einzige am See. Wo ich getaucht bin, ist es eigentlich verboten. Das wird natürlich ein Nachspiel haben. Wird mich ’ne kleine Stange Geld kosten. Aber immerhin durfte ich mal Hubschrauber fliegen. Kann mich allerdings nicht dran erinnern, so ein Mist! Dann habe ich erzählt, du seist meine Freundin. Dachte, es wäre schön, mal ein bekanntes Gesicht zu sehen.« Er sah sie unsicher an. »Bist du sauer?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann ich verstehen. Wie haben sie dich denn so schnell gefunden? Das ist doch wie ein Wunder, oder?«
»Wie man es nimmt. Wie gesagt, man darf streng genommen am Teufelstisch nicht tauchen.«
»Teufelstisch?«
»Ja, hier genau gegenüber. Wie auch immer. Ein gesetzestreuer Bürger hat seinen Hund ausgeführt und mein Auto gesehen. Stand im Waldgebiet, wo es nicht stehen durfte. Da hat er die Bullen geholt. Als die kamen, haben sie eins und eins zusammengezählt und gleich die Rettung gerufen. Ich habe mein Leben also einem übereifrigen Spießer zu verdanken.«
»Du solltest dem Mann wirklich dankbar sein, Silvio.«
»Ich werde ihm von zu Hause aus was zukommen lassen. Blumen oder so. Versprochen.«
Silvio schaute aus dem Fenster. Lisa spürte, dass er noch etwas sagen wollte. Offensichtlich war es ihm unangenehm. Lisa sah auf ihre Fingerspitzen.
Nach einer Weile rang er sich durch. Leise sagte er: »Es gibt da noch was …« Es war auf einmal sehr still in dem Zimmer. »Es ist total verrückt. Ich habe es hier keinem erzählt, die hätten mich nach der Druckkammer gleich in die Gummizelle gesperrt.«
Lisa warf ihm einen aufmunternden Blick zu.
»Verdammt, ich muss es aber jemandem erzählen! Und am besten eben meiner Freundin.« Er lächelte sie unsicher an. Lisa lächelte zurück. »Also, unter Wasser, da habe ich jemanden gesehen. Eine Frau. Sie war echt, ich habe mir das nicht eingebildet. Sie hat mich angesehen und mir so Angst gemacht, dass ich zu schnell aufgetaucht bin.«
»Eine Frau hat dir Angst gemacht?«, fragte Lisa zweifelnd. Sie wusste nicht genau, wie sie sich verhalten sollte, was Silvio von ihr erwartete.
»Die Frau schwamm ohne Ausrüstung, tief unten. Und sie war … tot. Eine tote Frau hat mich angeschaut! Ich hatte so eine Angst …«
Lisa sagte nichts. Silvio schien zu merken, dass ihr die Situation unangenehm war, denn er wechselte das Thema. »Okay, du hältst mich jetzt für bescheuert, aber ich bin es los. Wie gefällt dir denn die neue Wohnung?«
Lisa war dankbar für das neue Thema. »Die Wohnung ist toll«, sagte sie. »Irgendwann musst du sie dir mal ansehen. Liegt gar nicht weit von hier. Wann wirst du entlassen?«
»Schon bald. Bin eigentlich nur noch zur Beobachtung im Krankenhaus.«
»Na, dann komm gut zurück nach Münster.«
Lisa verabschiedete sich mit einem Kuss auf Silvios Wange. Sie ging durch den Gang, vermied den Aufzug und benutzte das Treppenhaus. Sie fühlte sich bedrückt und nach den Enthüllungen von Silvio auch ein wenig verwirrt. Erst als sie wieder draußen im warmen Sonnenlicht stand, fühlte sie sich besser.
Silvio lag ihr doch mehr am Herzen, als sie gedacht hatte. Nicht genug, um wirklich seine Freundin zu sein, aber doch genug, um sich um ihn zu sorgen.
Der Idiot! War das so ein Machoding, dass man an einer so gefährlichen und auch noch verbotenen Stelle tauchen musste? Silvio hatte unverschämtes Glück gehabt, auf jeden Fall mehr Glück als gesunden Menschenverstand.
Apropos gesunder Menschenverstand, was hatte er erzählt? Er wollte da unten im See eine Frau gesehen haben? Eine tote Frau? Die ihn angesehen hatte?
Mann, den hatte es wirklich erwischt …
*
Ein Schokoladenriegel, den sie im Krankenhaus am Kiosk neben dem Ausgang gekauft hatte, verbesserte ihre Stimmung. Im warmen Sonnenschein des Spätsommers spazierte sie zu ihrer Wohnung. Genüsslich Schokolade kauend dachte Lisa an ihre neue Arbeitsstelle. Die ersten beiden Tage waren sehr interessant gewesen. Lisa wusste natürlich, dass die Arbeit im Archiv auch fordernd sein würde. Langeweile käme wohl keine auf, aber das war ihr nur recht. Schon in Bonn während des Studiums und später in Marburg auf der Archivschule hatte sie immer sehr sorgfältig gearbeitet. Andere hatten sich mehr oder weniger durchgemogelt, sie hatte gewissenhaft gelernt, zum Teil bis spät in die Nacht. Nicht, dass sie eine Spaßbremse gewesen wäre, Lisa hatte sich gern mit Freunden und Kommilitonen auf ein Bier oder zwei getroffen. Aber bei ihr kam eben erst die Arbeit und dann das Vergnügen.
Hier schien nun beides zusammenzufallen. Es gab genug Arbeit, und diese machte ihr Vergnügen. Und bis sie sich richtig auskannte, konnte sie sich auf ihren Vorgänger verlassen. Dr. Grünwald erklärte ihr alles mit einer wahren Engelsgeduld und ließ keine ihrer Fragen unbeantwortet. Ein gebildeter Mann, nicht nur in seinem Fachbereich. Lisa empfand ihn sogar als weise, und das war nicht oft der Fall. Weisheit war etwas anderes als Intelligenz oder Bildung. Die Archivarin hatte in den Jahren an der Universität nicht wenige intelligente und noch mehr gebildete Menschen kennengelernt. Von kaum einem hätte sie jedoch gesagt, er sei weise. Lisa überlegte, wie sie dieses Attribut definierte. Ein Mensch, der sich als über andere erhaben betrachtete, war ignorant, ganz gleich, wie intelligent oder gebildet er auch sein mochte. Weisheit, so definierte Lisa für sich, war immer auch Herzensbildung. Ein Mensch, der weise war, hatte auch ein Herz für andere Menschen. Grünwald war weise. Lisa freute sich, ihn kennengelernt zu haben.
Aller Anfang ist schwer, dachte Lisa, doch tatsächlich traf in ihrem Fall eher der berühmte Ausspruch Hermann Hesses aus seinem Gedicht »Stufen« zu, dass jedem Aufbruch auch ein Zauber innewohnte. Lisa fühlte sich verzaubert: von ihrer neuen Stelle, von ihrer neuen Wohnung, von der Stadt und vom See. Selbst das Wetter war hier so schön und sonnig wie kaum sonst irgendwo in der Republik. Die Menschen im Südwesten redeten zwar in Lisas Ohren etwas eigenartig. Selbst wenn sie versuchten, Schriftdeutsch zu sprechen, erkannte man ihre Herkunft sofort an ihrem Singsang. Aber alles in allem war das nicht unsympathisch. Selbst der Slogan von Baden-Württemberg bekannte offenherzig: »Wir können alles. Außer Hochdeutsch.«
Sie würde sich daran gewöhnen.
Bis jetzt lief alles großartig, dachte Lisa fröhlich und aß das letzte Stückchen ihrer Schokolade.
»Bring ruhig die nächste Flasche von dem Champagner mit rauf, Jenny!« Niko sah der schlanken Frau im Bikini nach, als sie in das Innere der Jacht hinabstieg.
Die zwei leistungsstarken Dieselmotoren waren abgestellt. Die 13 Meter lange Motorjacht lag ruhig im Wasser. Leichter Wellengang ließ sie sanft schaukeln.
Jenny kam zurück auf das Sonnendeck und gab Niko die Flasche. Der reichte sie an einen Mann weiter, der neben ihm und einer nordischen Schönheit an einem Teakholztisch saß. »Mach du sie auf, Frank.«
Als alle vier ein volles Glas vor sich stehen hatten, stießen sie an.
»Auf uns!«
»Können wir die Musik ein wenig lauter stellen, Niko?«, fragte Jenny.
Niko zwinkerte. »Nur wenn du und Chris tanzt«, sagte er.
Er drehte die Musikanlage auf und die Frauen begannen, sich zum Rhythmus zu bewegen. Die Männer tranken ihre Gläser aus, während sie den beiden zusahen, und schenkten sich nach.
»Niko, Hand aufs Herz: Wie viel hast du für die Nussschale hingelegt? 300.000?«, fragte Frank.
Niko lächelte vielsagend. »Der Gentleman genießt und schweigt«, sagte er.
»Hey, ich hab ja nicht danach gefragt, was Jenny gekostet hat.«
Niko grinste. »Zeig du mir mal lieber, was du für dein Geld zu bieten hast.«
Frank griff in die Tasche, die neben ihm lag. Er zog ein kleines, in Frischhaltefolie gewickeltes Päckchen heraus. Als er sich daran machte, es zu öffnen, setzten sich die Frauen ebenfalls wieder an den Tisch.
»Ihr habt wohl ein Näschen für feine Sachen«, witzelte Frank.
Niko sagte: »Jenny, sei ein braves Mädchen und hol den Handspiegel aus der Kabine.«
Als Jenny zurückkehrte, hatte Frank ein Papierbriefchen geöffnet. Das darin enthaltene weiße Pulver schüttete er auf den Spiegel. Er strich darüber und formte schmale Linien. Dann zog er einen 100-Euro-Schein aus seiner Hosentasche, rollte ihn zu einem Röhrchen und gab ihn Niko. »Auf den edlen Spender!«, sagte er.
Niko nahm den Schein, neigte sich über den Spiegel und zog sich das Kokain in die Nase. »Verdammt gutes Zeug«, sagte er und reichte den Schein an Jenny weiter. »Genieß es. Und dann Chris und dann Frank. Und hol noch ’ne Flasche von dem Schampus!«
Die Sonne sank hinter die bewaldeten Höhen im Westen. Es wurde dunkel über dem See. Die Lichter der Ortschaften an den Ufern leuchteten zu der Jacht herüber.
Das Boot lag knapp einen Meter tief im Wasser. Die LED-Unterwasserscheinwerfer waren angeschaltet, sodass der Umriss der Jacht sich in einem leuchtenden grün-blauen Schein abhob. Unter ihr gähnende Finsternis. Einige Fische schwammen unter dem Boot hindurch.
Keiner der Menschen auf der Jacht bemerkte die Frau, die sich mit gleichmäßigen Schwimmbewegungen näherte. Langsam tauchte sie an der Seite des Bootes entlang. Ihr Kopf ragte bis zur Nase aus dem Wasser. Ihre langen Haare trieben um sie herum wie die feinen Fäden einer Seewespe. Vor ihr prangte der Namenszug der Jacht: Selene.
Sie hörte Musik, Reden und Lachen vom Deck des Boots und das leise Saugen des Wassers an dessen Wänden. Die Frau schloss ihre Augen und trieb für einige Minuten lauschend im Wasser. Dann schwamm sie zum Heck, wo sich die Badeplattform und die Leiter befanden. Fast lautlos stieg sie hinauf.
*
Die Sonne schien von einem makellosen blauen Himmel. Eine leichte Brise wehte vom See her durch die Straßen. Lisa schlenderte durch die Stadt und musterte die Schaufenster. Aus den zahlreichen Cafés und Bars roch es verführerisch. Überall saßen Menschen und ließen sich Fischspezialitäten, Eisbecher oder einfach einen Snack schmecken. Vielen sah man den Touristen auf den ersten Blick an.
In der belebten Fußgängerzone entdeckte sie einen großen Buchladen. Vor dem Eingang befanden sich Stände, die die unvermeidlichen Postkarten und Wandkalender mit Urlaubsmotiven vom Bodensee darboten.
Schrieb denn heutzutage überhaupt noch jemand Postkarten, fragte sich Lisa mit einem Gefühl des Bedauerns. Ihr gefielen Briefe immer noch besser als E-Mails, und sie zog Postkarten den Posts auf Facebook vor.
Kurz entschlossen betrat sie den Laden, neugierig, was er außer Ansichtskarten und Regionalia noch zu bieten hatte. Es gab eine Krimi-, eine Fantasy-, eine Frauen- und eine Fremdsprachenabteilung sowie Regale mit Bestsellern und Zeitschriften. Schließlich nahm Lisa einen bebilderten Band über den Bodensee zur Hand. Sie setzte sich in eine Leseecke und begann zu blättern. Bilder vom See aus der Luft, Bilder von malerischen Ufern bei Sonnenaufgang und im Abendrot, Bilder von imposanten Kirchen und schmucken Schlössern, Bilder von Fischen und anderen Wassertieren.
Ein Kapitel lautete: »Wasser aus der Tiefe«. Lisa erfuhr, dass vor dem benachbarten Dorf Sipplingen in 60 Metern Tiefe aus drei großen Rohren Wasser abgesaugt wurde. Mit dem Wasser aus der Tiefe des Bodensees wurden rund vier Millionen Menschen in Baden-Württemberg mit Trinkwasser versorgt. 130 Millionen Kubikmeter Wasser wurden jedes Jahr abgepumpt. Lisa las staunend, dass die Wassermenge, die dem See pro Tag entnommen wurde, deutlich geringer war, als über dessen Oberfläche ohnehin verdunstete.
In Gedanken versunken trug sie das Buch zur Kasse. Sie bezahlte und verließ das Geschäft. Als sie an der Seepromenade entlang nach Hause ging, sah sie auf die gewaltige Wasserfläche hinaus. Ein irrationales Unbehagen erfüllte sie bei dem Gedanken, dass dort unten in der Tiefe, in völliger Dunkelheit und bei einer konstanten Kälte von vier Grad, das Summen von Pumpen zu hören war. Pumpen, die unvorstellbare Wassermengen einsaugten. Was, wenn ein Taucher den Pumpen zu nahe käme? Würde er angesaugt, sodass er nicht mehr loskam und elend ertrank?
Lisa schüttelte den Kopf bei dem Versuch, die wirren Gedanken abzuschütteln. So ein Unsinn! Sie wollte sich nicht mit trübsinnigen Dingen beschäftigen.
Heute Abend war das Begrüßungsessen mit Grünwald. Lisa hatte bereits beschlossen, Fisch zu mögen.
An einem Stand kaufte sie einen farbenfrohen Blumenstrauß, den sie mitbringen wollte. Ihr Vermieter schien ein Gourmet zu sein. Da wäre es eine sehr heikle Sache, einen Wein für ihn zu besorgen, besonders wenn man wie sie keinen blassen Schimmer von Weinen hatte. Mit einem Blumenstrauß war sie daher auf der sicheren Seite. Lisa roch an den Blumen und trat den Heimweg an.
*
Grünwald klingelte am großen Tor des Nachbarhauses. Es war ein langer Spaziergang gewesen. Er fühlte sich ein wenig erschöpft, aber der Hund schien es genossen zu haben. Hector zeigte keine Spur von Müdigkeit. Der kalbgroße Alangu Mastiff musste fast immer an der Leine geführt werden, nur draußen im Grünen ließ Grünwald den 90 Kilo schweren Hund manchmal los. Das war zwar nicht erlaubt, aber da Hector verlässlich gehorchte, wagte der Archivar es dann und wann doch. Er hatte den Hund gern, auch wenn er selbst niemals einen angeschafft hätte. Ein solches Tier zu besitzen bedeutete eine große Verantwortung. Und so gern er bisweilen für seine Nachbarn den Hund ausführte, so wenig wollte er regelmäßig dazu verpflichtet sein.
Martha Vogel kam aus der Villa und öffnete das Tor. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und verschwand im großen Garten.
»Danke, Herr Dr. Grünwald«, sagte seine Nachbarin. »Sie wissen ja gar nicht, was Sie mir heute mit Hector für eine Last abgenommen haben. Benedikt musste zum Zahnarzt und mein Mann ist noch nicht von der Arbeit zu Hause. Und Sie wissen ja, meine Mutter kann man keinen Moment aus den Augen lassen.«
»Wie geht es Ihrer Mutter heute?«, fragte Grünwald höflich.
»Immer dasselbe«, seufzte Frau Vogel. »Sie ist in der Lage, alles Mögliche anzustellen. Gestern wollte sie Weihnachtsplätzchen backen. Im Badezimmer.«
Als sie Grünwalds betretenen Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: »Wenn es nicht so traurig wäre, könnte ich manchmal fast darüber lachen.«
»Auf jeden Fall sollte man den Humor nicht verlieren«, sagte Grünwald.
»Da haben Sie recht, Herr Doktor. Wie hat sich Ihre neue Untermieterin eingewöhnt?«
»Gut, hoffe ich. Sie scheint wirklich ein sehr lieber Mensch zu sein.«
»So schien es mir auch. Jedenfalls hat sie mich sehr herzlich gegrüßt. Das denkt man von den Norddeutschen gar nicht.«
Grünwald lächelte. Für viele hier im äußersten Süden Deutschlands war alles, was nördlich von Frankfurt lag, bereits Norddeutschland. Dass es von Münster aus noch um die 200 Kilometer bis zur Küste waren, spielte da keine Rolle.
»Tja«, sagte er, »manchmal wird man eben angenehm überrascht.«
»Da haben Sie so recht!«
Aus dem Inneren des Hauses ertönte Kindergeschrei. Martha Vogel sah ihn entschuldigend an und wandte sich zum Gehen.
»Nochmals herzlichen Dank«, sagte sie und verschwand durch die Tür.
»Jederzeit.« Der Archivar ging die wenigen Schritte zu seinem Haus und schloss auf. Heute Abend käme Lisa zu Besuch. Seine Nachfolgerin. Wie so oft zuvor mischte sich in die Freude, die richtige Person für diesen Posten gefunden zu haben, die Angst vor der Pensionierung. Er hatte sowieso schon zwei Jahre länger gearbeitet, als es üblich war, doch jetzt war die Zeit gekommen. Er würde nicht mehr Morgen für Morgen zum Archiv gehen, das ihm in Jahrzehnten zu einer Heimat geworden war. Natürlich könnte er Lisa hin und wieder im Archiv besuchen. Aber er wollte ganz bestimmt nicht einer von denen sein, die nicht loslassen konnten und ihre Nachfolger zu Tode nervten. Nein, er brauchte eine neue Beschäftigung. Vielleicht könnte er endlich ein Projekt angehen, das er schon seit Jahren im Kopf hatte: die Geschichte Überlingens zu verfassen, von der ersten bezeugten Erwähnung im 8. Jahrhundert bis heute. Zwölf Jahrhunderte Stadtgeschichte, Bautätigkeit, Wirtschaft und Handel, Bündnisse und Kriege, Reichtum und Elend. Und immer der See.
Grünwald goss sich ein Glas Weißburgunder ein, roch den herben Duft des trockenen Weines und nahm einen Schluck. Er nickte zufrieden. Ein guter Wein. Und ein guter Plan für einen alternden, aber innerlich jung gebliebenen Stadtarchivar.
*
Seit sie in Überlingen war, hatte sie sich noch nicht bei ihrer Mutter in Münster gemeldet. Mit schlechtem Gewissen suchte Lisa die gespeicherte Nummer und drückte die grüne Taste. Lisa klemmte den Hörer zwischen Wange und Schulter und versuchte, sich die Hose auszuziehen. Bei dem Essen bei Grünwald wollte sie ein leichtes Sommerkleid tragen. Als sie gerade die Hose über die Knöchel ziehen wollte, meldete sich ihre Mutter.
»Engels?«
Lisa bekam ihren Fuß nicht aus der Hose, stolperte und fiel der Länge nach auf den Teppichboden. Das Telefon schlug neben ihr auf. »Autsch!«, rief sie.
Aus dem Hörer tönte eine besorgte Stimme: »Hallo? Sie sind verbunden mit Engels.«
Lisa griff nach dem Gerät. Ohne aufzustehen, sagte sie: »Hier ist auch Engels. Hallo, Mama.«
»Hallo, mein Schätzchen! Geht es dir gut?«
Lisa rieb sich einen Ellenbogen. Sie drehte sich auf den Rücken und sagte im Liegen: »Ja, wirklich, mir geht es sehr gut. Dr. Grünwald ist echt nett. Ich bin heute Abend bei ihm eingeladen. Zum Willkommensessen.«
»Das ist ja freundlich. Ich bin froh, dass du dort untergekommen bist. So kennst du immerhin jemanden und bist nicht völlig fremd in der Stadt.«
»Mama, ich bin ja nicht zum ersten Mal allein in einer neuen Stadt! Aber klar, es ist schon schön. Die Wohnung ist auch toll.«
»Dann hat es mit Silvio geklappt? Ich meine, mit deinen Sachen?«
Lisa überlegte, ob sie ihrer Mutter von Silvios Tauchunfall erzählen sollte. Eigentlich hatte sie keine Lust dazu, doch wenn ihre Mutter in Münster Silvios Mutter oder eine ihrer Bekannten treffen sollte, wäre sie bestimmt sauer, dass ihre Tochter sie nicht informiert hatte und sie völlig ahnungslos war.
»Silvio hat mir alles gebracht«, erzählte sie also. »Danach war er noch tauchen.« Möglichst beiläufig fügte sie hinzu: »Dabei hatte er einen Unfall.«
Bevor ihre Mutter eine Zwischenfrage stellen konnte, erklärte sie schnell: »Es ist nichts Schlimmes, er ist schon wieder ganz der Alte.«
»Aber ein Tauchunfall ist schrecklich gefährlich«, sagte ihre Mutter. »Ist er im Krankenhaus?«
»Ja«, sagte Lisa, »ich konnte ihn schon besuchen. Es geht ihm gut.«
»Gott sei Dank. Und du bist sicher, dass es auch dir gut geht? Sei ehrlich, isst du genug?« Die Stimme ihrer Mutter klang ein wenig weinerlich. Sie würde sich wohl nie daran gewöhnen, dass ihre Tochter nicht mehr zu Hause wohnte und inzwischen eine erwachsene Frau über 30 war. Seit dem Tod von Lisas Vater war das nicht gerade besser geworden.
»Mir geht es wirklich sehr gut«, sagte Lisa möglichst überzeugend. »Ich muss mich jetzt nur fertig machen. Ich möchte nicht zu spät zu Dr. Grünwald kommen.«
»Nein, nein, das solltest du nicht«, kam es aus dem Gerät. »Aber du meldest dich wieder, ja?«
»Natürlich«, sagte Lisa, »das weißt du doch.«
»Na ja«, erwiderte ihre Mutter mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton, »die letzten Tage habe ich nichts von dir gehört.«
Lisa seufzte. »Ich war ja gerade erst angekommen«, sagte sie. »Ich verspreche, mich zu bessern. Grüß bitte alle, die mich kennen, ja? Bis bald, ich hab dich lieb, Mama.«
»Ich habe dich auch lieb, Schätzchen.«