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Lisa Engels, Stadtarchivarin von Überlingen, braucht dringend Urlaub. Sie reist nach Liechtenstein, doch dort erwartet sie alles andere als Entspannung. Denn aus dem Landesmuseum wurden jahrhundertealte Münzen gestohlen, und kurz darauf versetzt ein Mörder das kleine Fürstentum in Angst. Zusammen mit ihrem Freund, dem Polizisten Markus Weinberg, kommt die Archivarin einem tödlichen Geheimnis auf die Spur. In den dunklen Schluchten am Bodensee müssen sie sich einem Fluch aus der Vergangenheit stellen, der ein Opfer nach dem anderen fordert.
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Seitenzahl: 410
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Christian Schlindwein
Dunkle Schluchten am Bodensee
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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unter Verwendung eines Fotos von: © abr68 / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7778-2
Lupus est homo homini, non homo,quom qualis sit non novit.
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch, solange er den anderen nicht kennengelernt hat.
Plautus
Natürlich spürte er die bösen Blicke. Er hätte aus Stein sein müssen, um sie nicht wahrzunehmen. Sie brannten sich in seine Haut wie glühende Eisen.
Ein kalter Wind strich über den Platz zwischen den armseligen Häusern, hinter denen sich eine Bergkette erhob. Außer dem Rauschen des Windes war nichts zu hören. Kein Mensch sagte ein Wort. Dennoch fühlte er den Hass, der ihm entgegenschlug. Jeder Einzelne der stummen Menge hasste ihn. Die Männer, die Frauen, sogar die Kinder.
Am milchigen Himmel war die Sonne den ganzen Tag nicht zu sehen gewesen. Jetzt dämmerte es. Die Dunkelheit kroch langsam wie ein unangenehmer Geruch zwischen die Häuser.
Sie war ihm willkommen, er wünschte sich, er könnte sich unter ihr verbergen wie unter einem dunklen Tuch. Doch er wusste, dass er den sengenden Blicken noch ausgesetzt war, als jetzt ein kaum wahrnehmbares Raunen durch die Menge ging.
An einem Strick wurde die Verurteilte auf den Platz geführt. Ohne aufzusehen, stolperte sie vorwärts, die Haare wirr und verfilzt, die Hände auf den Rücken gebunden. Es schien, als wäre ihre Seele im Kerker zurückgeblieben und nur ihr von der Folter gezeichneter Leib würde in die Mitte gezerrt und an den Pfahl gefesselt.
Als die ersten Flammen züngelten, spürte er, wie der Hass der Menge von Neuem aufloderte. Selbst der Pfarrer, der der Verurteilten den letzten Segen spendete, hasste ihn, das wusste er. Aber er fühlte noch mehr. Er fühlte auch die Ohnmacht der Menschen. Sie konnten der Frau nicht helfen. Wer einmal in die Fänge des Grafen geraten war, war unweigerlich verloren. Seine Schergen wussten viele Wege, um die Wahrheit ans Licht zu befördern, da half kein Sträuben und kein Leugnen. Die Wahrheit kam ans Licht, und selbst wenn sie sie, geschickten Ärzten gleich, aus dem Innersten herausschneiden mussten.
Die Nacht hatte sich auf die Erde gesenkt, und nur das Feuer warf sein flackerndes Licht auf die Menschen, die Häuser und den Platz.
Die Schreie der Frau gellten aus den Flammen. Dies zu hören war das Schlimmste. Doch es dauerte nie lange. Schon bald würde sie ersticken, noch bevor das Feuer ihren Körper aufgefressen hätte.
Erstarrt stand die Menge da, während die Schreie wie schwere Hagelkörner auf sie niederprasselten. Unbeweglich starrte er in das Feuer. In seinen dunklen Augen spiegelten sich die Flammen. Die Schergen des Grafen hatten dieses Mal mehrere Tage gebraucht, fast eine Woche, um ein Geständnis zu erhalten. Fast eine Woche, seit sie den Hinweis eines obrigkeitstreuen Untertanen erhalten hatten, der zur Festnahme der Frau geführt hatte.
Jetzt bekam sie ihre verdiente Strafe.
Die Schreie waren verstummt. Nur das Prasseln des Feuers war noch zu hören. Leblos hing die Frau an dem Pfahl. Ihre Haut warf Blasen auf, wurde schwarz und brüchig. Dann lösten sich die Fesseln in den Flammen auf, und der geschrumpfte Leib fiel in sich zusammen.
Es roch nach verbranntem Fleisch.
Die Menschen sahen nicht mehr in das Feuer, sondern vor sich auf den Boden. Niemand ging fort. Alle blieben stehen, als wäre das Feuer in ihrer Mitte eine Schmiede und das Knacken und Knistern die Hammerschläge, die sie zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenschweißten.
Manche weinten leise. Andere ballten die Fäuste. Einzelne richteten ihre Blicke wieder auf ihn.
Mochten sie ihn hassen. Sie konnten ihm nichts tun.
Denn die Frau war eine Hexe.
Und er hatte nur seine Pflicht getan.
Lisa Engels trat ins Freie, zog die Tür des Stadtarchivs in Überlingen hinter sich zu und verschloss sie sorgfältig. In den nächsten zwei Wochen würde sie das Archiv nicht mehr betreten. Für zwei Wochen keine Pflichten. Sie hatte Urlaub. Eigentlich seit vorgestern, doch sie hatte es nicht über sich gebracht zu gehen, ohne dem Archiv einen letzten Besuch an diesem Sonntagmittag abzustatten und letzte Aufgaben zu erledigen.
Mit gemischten Gefühlen schlenderte sie am benachbarten Rathaus vorbei hinunter zur Promenade des Bodensees. Andere Menschen fühlten sich gelöst und glücklich, wenn sie eine freie Zeit vor sich hatten, wenn sie der Arbeit, dem Stress und ihren Pflichten für einige Tage Lebewohl sagen konnten, doch in ihr wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Seit sie vor drei Jahren die Stelle als städtische Archivarin angenommen hatte, war sie nicht in den Urlaub gefahren. Einige freie Tage, ein paar Ausflüge mit ihrem Freund, aber länger hatte sie sich bisher nicht von ihrem geliebten Archiv getrennt.
Die meisten Leute, die Lisa begegneten, hatten selbst jetzt im Spätherbst noch eine sommerliche Bräune. Die Sommermonate im Südwesten waren lang und heiß. Lisas Haut hingegen war beinahe auffallend weiß geblieben. Sie hatte die heißen Tage zwischen mit Folianten und Aktenordnern gefüllten Regalwänden verbracht. Während viele Einwohner der Seestadt und unzählige Touristen jede freie Minute im Freien zugebracht hatten, hatte sie auch nach den offiziellen Öffnungszeiten des Archivs an ihrem Schreibtisch gesessen und Bücher sowie Schriften bearbeitet.
Sie fühlte sich glücklich in dem alten Renaissancebau, der das Archiv beherbergte, ihre Arbeit füllte sie aus, der Gedanke an Urlaub war ihr in diesen drei Jahren nie in den Sinn gekommen. Es waren vielmehr ihre Freunde gewesen, die sie darauf aufmerksam gemacht hatten, dass sie sich öfter eine Auszeit gönnen sollte. Die ihr ansahen, dass sie zwar glücklich, aber dennoch überarbeitet wirkte. Insbesondere ihr Vorgänger Dr. Sebastian Grünwald und ihr Freund Markus Weinberg hatten in den vergangenen Wochen und Monaten immer öfter davon gesprochen, dass es neben der Arbeit auch noch ein Leben gebe.
Schließlich hatten sie sie weichgeklopft. Lisa hatte Urlaub eingereicht und ihn prompt genehmigt bekommen. Damit sie keinen Rückzieher machen konnte, war sie von Dr. Grünwald auf eine kleine Reise eingeladen worden, die heute Nachmittag beginnen sollte.
Die Luft war mild, trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit. An der sonnenbeschienenen Promenade saßen etliche Leute draußen in den Cafés und Restaurants, die meisten mit Jacken, einige hatten Decken über ihre Beine gelegt. Lisa spazierte ein Stück in Richtung des Mantelhafens und betrat dann ein Café, das in einem ehrwürdigen klassizistischen Bau aus der Kaiserzeit untergebracht war. Sie winkte der Inhaberin hinter dem Tresen zu und sah sich um. Ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Markus Weinberg war schon da. Er saß an einem Tisch in der Ecke und strahlte sie an.
Als sie auf ihn zuging, stand er auf und küsste sie. Zusammen setzten sie sich auf eine Bank an der Wand, sodass sie mit Blick in den Raum saßen. Lisa deutete auf einen Strauß, der vor Markus auf dem Tisch lag, und fragte: »Für wen sind denn die Blumen?«
Weinberg nahm den Blumenstrauß und wandte sich ihr zu. »Die sind für dich, mein Schatz.«
»Wofür?«, fragte Lisa.
Die Wirtin trat an den Tisch. »Hallo, Lisa.«
»Hallo, Aylin.«
»Ach, hast du Geburtstag? Soll ich für die Blumen eine Vase bringen?«
»Nein«, sagte Lisa, »ich meine, ja, eine Vase wäre gut, aber nein, ich habe nicht Geburtstag.«
»Auweia. Du hast doch keinen Mist gebaut, Markus, oder?«, fragte die Wirtin scherzhaft und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Raus mit der Sprache!«
Weinberg fing an zu lachen. »Der Blumenstrauß ist für dich, Lisa, weil du es nach drei Jahren endlich geschafft hast, einmal Urlaub zu nehmen!«
Während Lisa überrascht dreinsah, stimmte Aylin in das Lachen mit ein und machte sich auf den Weg zur Küche. »Dann hole ich mal eine Vase.«
»Und bring uns bitte zwei Gläser Weißwein mit«, rief ihr Weinberg hinterher.
*
Zurück in ihrer Wohnung stellte Lisa die Blumen auf den Wohnzimmertisch. Dann ging sie in das Schlafzimmer und zog sich um. Sie lächelte still im Gedanken an die Szene im Café. Vom Schrank nahm sie eine Reisetasche und warf sie aufs Bett. Packen zu müssen setzte Lisa unter Druck. Was sollte sie mitnehmen? Unterwäsche, sicher. Pullover, aber wie viele? Ein Paar Schuhe? Zwei Paar? Drei? Was für welche?
Nachdem sie eine Weile unschlüssig vor der geöffneten Tasche gestanden hatte, setzte sie sich auf den Bettrand und ließ sich nach hinten fallen. Sie starrte an die Decke, als ob sich dort eine Liste fände, der sie entnehmen könnte, was sie mitzunehmen hatte. Mit einem Ruck richtete sie sich kerzengerade auf. Ihr war etwas eingefallen. Sie ging zu ihrem Schreibtisch und griff nach drei Büchern, die dort lagen. Aus einem Regal nahm sie zwei weitere. In der kleinen Küche legte sie noch ein Buch auf den Stapel in ihrer Armbeuge. Stöhnend unter dem Gewicht trug sie die Bücher ins Schlafzimmer und platzierte sie sorgfältig in der Tasche, dann holte sie aus dem Regal noch zwei Bände. Zufrieden betrachtete sie das Ergebnis, als es an der Tür klingelte.
Es war Sebastian Grünwald, ihr Vorgänger im Archiv und ihr Vermieter. Da er in der Wohnung über ihr wohnte, trug er lediglich Hausschuhe und über seiner Kleidung eine Kochschürze.
»Hallo, Dr. Grünwald«, sagte Lisa. »Kommen Sie herein. Bin ich zu spät dran?«
»Nein, nein, Lisa, überhaupt nicht.«
Der alte Archivar ging hinter Lisa in das Wohnzimmer. Als er den Blumenstrauß bemerkte, sagte er: »Oh, haben Sie Geburtstag, Lisa? Nein, das kann nicht sein, warten Sie, Ihr Geburtstag war doch …«
»Die Blumen sind von Markus«, erklärte Lisa. »Er hat sie mir geschenkt, um mir dafür zu gratulieren, dass ich es nach drei Jahren endlich geschafft habe, Urlaub zu nehmen.«
Grünwald lachte. »Dann sollten wir die Blumen jetzt eigentlich oben bei mir auf den Tisch stellen. Ich möchte Sie nämlich aus demselben Grund zum Essen einladen, bevor wir losfahren.«
Lisa sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. »War ich wirklich so schlimm?«
»Unsinn«, lachte Grünwald. »Wir haben uns nur manchmal Sorgen gemacht, weil Sie so viel gearbeitet haben, das ist alles. Und wir freuen uns, dass Sie sich nun eine Auszeit nehmen.« Er ging zur Tür. »Kommen Sie? Das Essen ist gleich so weit.«
Lisa kannte ihren Vorgänger im Stadtarchiv gut genug, um ihm mit Vorfreude zu folgen. Und tatsächlich hatte sich Dr. Grünwald wieder einmal selbst übertroffen.
»Hier haben wir Rehkrustenbraten mit Lavendelhonig überbacken, dazu selbst gemachte Spätzle mit Reichenauer Gemüse«, erläuterte er, während er die dampfenden Teller auf den Tisch stellte. »Der Rotwein ist aus dem Markgräflerland.«
Lisa schätzte im Stillen, dass sie um die 200 Pfund wiegen müsste, wenn sie regelmäßig bei ihrem Vorgänger zum Essen eingeladen wäre. Überhaupt musste man sich in Acht nehmen, die Küche im Südwesten war sündhaft gut. Zum Glück hatte sie sich angewöhnt, jeden Tag die zwei Kilometer zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Dabei ging es hinwärts bergab in Richtung See hinunter und heimwärts bergan.
Lisa ließ es sich schmecken. Nachdem sie gegessen hatten, sagte sie: »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich es mit der Arbeit so übertrieben habe.«
»Was heißt übertrieben? Sie machen Ihre Arbeit großartig. Ich bin jeden Tag glücklich darüber, dass ich mich damals für Sie als meine Nachfolgerin eingesetzt habe. In der letzten Zeit wirkten Sie nur etwas überarbeitet.« Grünwald goss Wein in beide Gläser nach. »Bitte betrachten Sie meine Sorge nicht als unangebrachte Einmischung in Ihr Leben.«
»Das tue ich nicht«, versicherte Lisa. »Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen.«
Der alte Archivar räusperte sich. »Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich vielleicht zu wenig Zeit nehmen für Ihre Beziehung zu Markus Weinberg. Er hat ja als Polizeibeamter sowieso einen Beruf, der wegen des Schichtdienstes einige Herausforderungen an eine Partnerschaft stellt.«
Lisa blickte nachdenklich in ihr Rotweinglas. »Ich weiß, was Sie meinen.«
»Hoffentlich nehmen Sie mir diese Bemerkungen nicht übel?«
»Nein, Dr. Grünwald«, sagte Lisa und stellte ihr Glas ab. »Mir ist die Beziehung wichtig. Sie ist … ein großes Geschenk. Eigentlich weiß es noch niemand, aber Markus hat … Ich meine, wir haben uns …«
Das Telefon läutete. Grünwald stand auf. »Entschuldigen Sie bitte. Merken Sie sich, was Sie gerade sagen wollten.«
Während der alte Archivar telefonierte, betrachtete Lisa glücklich den feinen goldenen Ring an ihrem linken Ringfinger. Der kleine Brillant funkelte.
»Das war mein Freund, den wir besuchen werden«, erklärte Grünwald, als er in die Küche zurückkam. »Er hat heute Abend Zeit für uns. Übrigens, was wollten Sie vorhin sagen?«
»Ach, das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal.« Lisa winkte ab. »Ich werde jetzt mal besser fertig packen. In spätestens einer halben Stunde sollte ich so weit sein.«
*
Grünwald holte Lisa pünktlich mit einem Mietwagen ab. Bis zum Schluss hatte sie darüber nachgedacht, was sie vergessen haben könnte. Schließlich zog sie entschlossen den Reißverschluss zu und stellte die Reisetasche in den Kofferraum.
»Kann es losgehen?«, fragte Grünwald.
»Ich bin bereit«, sagte Lisa.
Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, fuhr der silberfarbene Passat am Nordufer des Bodensees in östlicher Richtung. An diesem Spätnachmittag war der Verkehr auf der viel befahrenen Bundesstraße beträchtlich. Die B 31 führte zahllose Personenwagen und Lastzüge am Bodenseeufer durch ein paar Dörfer und Städte, vor allem aber vorbei an Weinbergen und Obstplantagen, Wiesen, Weiden und Wäldern. An einigen Stellen eröffnete die Straße einen herrlichen Ausblick auf den See. Die Alpen auf der Südseite waren in der spätherbstlichen Dämmerung über dem Wasser mehr zu ahnen als zu sehen.
Es kam Lisa vor, als wäre es gestern gewesen, als sie in die Stadt am See gezogen war und Grünwald sie als seine Nachfolgerin eingearbeitet hatte. Und doch fühlte es sich auch wie eine Ewigkeit an, so vertraut waren ihr Überlingen und ihre Arbeit inzwischen geworden. So zu Hause fühlte sie sich an ihrem Arbeitsplatz zwischen den Bücherregalen und Magazinen.
Grünwald sagte: »Ich freue mich, dass Sie mich nach Liechtenstein begleiten.«
»Es ist lieb von Ihnen, dass Sie mich mitnehmen«, bedankte sich Lisa.
Die Strahlen der tief stehenden Sonne ließen die bunt gefärbten Bäume leuchten, als stünden sie in Flammen. In unergründlich tiefem Blau breitete sich der große See aus. Feuer und Wasser.
Auf der Spur vor ihnen tauchte ein LKW auf. Die Straße bot mit ihrem kurvigen Verlauf keine Möglichkeit zu einem Überholmanöver. Grünwald drosselte das Tempo und fuhr in gemessenem Abstand hinter dem Lastzug her. Schnell bildete sich eine Schlange von ungeduldigen Fahrern in Wagen mit verschiedensten Kennzeichen. Besucher aus allen Teilen der Republik und aus dem Ausland. Die Bodenseeregion gehörte zu den beliebtesten Urlaubszielen Deutschlands, und die Feriensaison ging erst langsam zu Ende.
»Liechtenstein ist vor allem für seine Banken und Stiftungen bekannt geworden«, nahm Grünwald das Gespräch wieder auf. »Oder es ist eher dafür berüchtigt. Es ist nicht wirklich ein bedeutendes Touristenziel, zumindest nicht im Vergleich mit den Städten am Bodensee oder vielen Orten in der Schweiz. Dennoch ist es ein bemerkenswertes Fleckchen Erde. Ein Fürstentum und viel direkte Demokratie, liebevoll gepflegte Traditionen und ein hohes Maß an wirtschaftlichen Innovationen. Ein kleines Land im Herzen Europas mit einigen Besonderheiten.«
»Sie machen mich neugierig. Wie heißt noch einmal der Bekannte von Ihnen, den wir besuchen wollen?«
»Youssef Barakat. Er ist der Direktor des Landesmuseums in Vaduz.«
»Vielleicht ist das ein Vorurteil, aber Youssef Barakat hört sich für mich nicht nach einem klassischen alpenländischen Namen an.«
»Eine der Besonderheiten in Liechtenstein ist eine Weltoffenheit, die man der Bevölkerung eines kleinen Alpenstaates kaum zutrauen würde. Etwa ein Drittel der Einwohner stammt aus dem Ausland, ein Großteil davon aus der benachbarten Schweiz. Youssef ist Libanese. Er kam Ende der 70er-Jahre aus Beirut nach Deutschland. Damals war er noch ein Teenager. Er hat Klassische Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte in Freiburg studiert. Eine Zeit lang war er in Cambridge und promovierte und habilitierte dann in München.«
Lisa nickte anerkennend.
»Während des Studiums hat er seine spätere Frau kennengelernt, eine Liechtensteinerin«, fuhr Grünwald fort. »Wenn ich mich recht erinnere, lebt er seit 1990 dort und besitzt auch schon lange die liechtensteinische Staatsbürgerschaft. Seine Frau ist vor fünf Jahren verstorben.«
Der Passat passierte die Landesgrenze zu Bayern. Ein Hinweisschild informierte Grünwald und Lisa darüber, dass sie sich sieben Kilometer von der Autobahn entfernt befanden, die von Deutschland aus in Richtung Innsbruck nach Süden führte.
»Was wird im Landesmuseum in Vaduz gezeigt?«, nahm Lisa das Gespräch wieder auf.
»Es beherbergt wechselnde Ausstellungen zu verschiedenen Themen«, erzählte Grünwald. »Die Dauerausstellung bietet eine interessante Sammlung zur Geschichte Liechtensteins. Ich kann mir vorstellen, dass Youssef uns zu einer exklusiven Führung einladen wird. Aber vor allem werden wir die Zeit nutzen, um uns zu erholen, denke ich. Es gibt dort überall ein Glas guten Wein. Außerdem bietet das Land jede Menge Natur und reizvolle Wanderwege.«
»So zahlreich und lang können die Wanderwege wohl nicht sein«, meinte Lisa schmunzelnd, »ich habe gelesen, dass das ganze Fürstentum keine 25 Kilometer lang ist.«
»Das stimmt. Es würde mehr als dreimal auf die Oberfläche des Bodensees passen. Aber wirklich bewohnt ist lediglich der Teil, der sich im Rheintal entlang des Flusses erstreckt. Der weitaus größte Teil des Landes liegt in den Alpen und besteht aus Bergen, Wald und Wiesen.«
Grünwald setzte den Blinker und bog auf die Autobahn ab. Nach wenigen Minuten erreichten sie Österreich und fuhren durch den Pfändertunnel in Richtung Süden.
Das Verkehrsaufkommen nahm noch zu, nachdem sie den Tunnel verlassen hatten. Die Autobahneinfahrten lagen hier dicht beieinander, und ständig reihten sich weitere Fahrzeuge von rechts in den Verkehrsfluss ein. Der Himmel bewölkte sich, als sie schließlich in Feldkirch die Autobahn verließen und am Rand der Stadt an die Grenze des Fürstentums gelangten. Während sie sich im Schritttempo der Grenzstation näherten, las Lisa den großen beleuchteten Schriftzug, der über dem Dach der Zollstation angebracht war:
SCHWEIZERISCHES ZOLLAMT IM FÜRSTENTUM LIECHTENSTEIN
Sie identifizierte die rote Flagge mit dem weißen Kreuz auf der einen Seite des Schriftzugs als die der Schweiz, das Wappen auf der anderen Seite musste zu Liechtenstein gehören. Es war in der oberen Hälfte gelb, in der unteren rot und trug oben eine Krone, die aussah wie ein kleines Törtchen.
Nach dem Passieren der Grenze führte die Straße sie zunächst durch ein Wohngebiet. Auf der linken Seite erhoben sich hinter den Häuserdächern bewaldete Bergwände. Anschließend öffnete sich rechts der Blick auf das Rheintal und die schweizerischen Alpen gegenüber. Die kantigen Gipfel und Bergkämme hoben sich eigenwillig gegen den Abendhimmel ab. Es war ein beeindruckendes Panorama.
»Wir werden bald in Vaduz sein«, sagte Grünwald.
»Die Hauptstadt«, bemerkte Lisa.
»Vermutlich haben Sie andere Erwartungen an eine Hauptstadt«, sagte der alte Archivar lächelnd. »Aber Sie werden ja sehen.«
»Hier ist es«, freute sich Grünwald, nachdem er eingehend die Klingeln an der Eingangstür des Wohnblocks studiert hatte. »Youssef Barakat.« Er nahm seine Lesebrille ab. »Bescheiden wie eh und je. Kein ›Prof.‹ und kein ›Dr.‹ vor dem Namen.«
Lisa lächelte in sich hinein. Ihr Vorgänger war selbst niemand, der seinen Doktortitel hinausposaunte. »Wollen Sie nicht klingeln?«, fragte sie.
Grünwald nickte und drückte auf den Klingelknopf. Ein paar Sekunden warteten sie, schließlich summte es, und Grünwald trat mit Lisa ein. Über ihnen im Treppenhaus öffnete sich eine Tür. Sie stiegen zwei Stockwerke hinauf, und dann stand ihnen Youssef Barakat gegenüber. Ein mittelgroßer Mann mit dunklen Augen, schütterem schwarzgrauem Haar und einem ansehnlichen Bauch, der sich unter einer Strickweste wölbte. Er strahlte über das ganze Gesicht, breitete die Arme aus und riss Grünwald an seine Brust. Die beiden drückten sich.
Lisa hatte sich den Professor und Direktor des Landesmuseums anders vorgestellt. Ernster. Gesetzter. Prof. Dr. Barakat schien ein offener und heiterer Mensch zu sein, gemessen an der herzlichen Umarmung und an den vielen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln.
»Willkommen, lieber Sebastian, willkommen! Endlich hast du es einmal geschafft, mich zu besuchen. Und Sie müssen Dr. Engels sein. Ich bin Youssef Barakat. Herzlich willkommen!«
»Danke, Professor Barakat, ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
»Bitte, kommen Sie herein, ich habe einen Apéro vorbereitet. Einen kleinen Empfang mit etwas zu trinken und einigen Häppchen.«
Barakat ging voraus in ein großes, helles Wohnzimmer mit einer Glasfront am gegenüberliegenden Ende. Lisa war nicht überrascht, dass die drei übrigen Seiten von Bücherregalen eingenommen wurden. Zwischen den Büchern standen hölzerne Statuetten und antike Büsten.
»Bitte, nehmt Platz«, sagte Barakat. Er deutete auf einen Tisch aus dunklem Holz in der Mitte des Zimmers, auf dem eine Champagnerflasche, eine Karaffe mit Orangensaft und drei Gläser standen. »Ich hole nur schnell die belegten Brötchen.«
»Ich helfe Ihnen, Prof. Barakat«, bot sich Lisa an und folgte ihm in die Küche. Beim Blick aus dem Küchenfenster entdeckte sie eine hell beleuchtete Burg, die sich über der Stadt an den dunklen Berg schmiegte.
»Ist das das Schloss Vaduz?«, erkundigte sie sich.
»Das ist Schloss Vaduz«, bestätigte Barakat. »Dort wohnt die fürstliche Familie, wenn sie gerade im Land ist.«
»Kann man das Schloss besichtigen?«
»Leider nein. Und ich kann es der Fürstenfamilie nicht verdenken. Wer möchte schon gern, dass Massen von Touristen durch sein Haus schlurfen und vor den Familienporträts Selfies machen?«
Barakat gab Lisa eine Platte mit Wurst- und Käsebrötchen in die Hand. Zurück im Wohnzimmer hob er die Champagnerflasche aus dem Eiskübel. »Ich kann euch leider nicht sagen, ob es ein guter Tropfen ist oder nicht«, entschuldigte er sich. »Normalerweise trinke ich keinen Champagner. Aber weil ich heute so liebe Gäste habe, dachte ich, es sollte etwas Besonderes sein.«
Grünwald entgegnete gerührt: »Da wir selbst so gut wie nie Champagner trinken, wird er unseren Ansprüchen ganz sicher genügen, Youssef.«
»Es ist mir schon peinlich genug, dass ich euch in meiner neuen Wohnung kein Zimmer anbieten kann«, sagte Barakat. »Nach dem Tod meiner Frau konnte ich nicht mehr in dem Haus wohnen.«
Grünwald sah Tränen in Barakats Augen und wusste nicht gleich, was er sagen sollte.
Lisa sprang ihm bei. »Sagen Sie, Prof. Barakat, werden Sie uns eine Führung durch das Landesmuseum geben?«
Ihr Gastgeber fing sich schnell wieder. »Das möchte ich sehr gern. Wenn es Ihnen recht ist, gleich morgen Vormittag. Dann wird auch die Polizei mit ihrer Arbeit fertig sein.«
»Polizei?«, wunderte sich Grünwald. »Was hat die Polizei in deinem Museum zu tun?«
»Es ist eingebrochen worden«, erklärte Barakat mit einem Schulterzucken. »Nichts Schlimmes. Die Sache ist eher ein bisschen skurril.«
*
Es war bereits dunkel, als Grünwald und Lisa eine Stunde später in ihrem Hotel ankamen. Es lag im Zentrum von Vaduz, in der Fußgängerzone unterhalb des Schlosses. Hinter der Häuserzeile mit dem Hotel stieg der Berg steil an. Die beiden Gäste bezogen ihre Zimmer und verabredeten sich für halb neun im Hotel-Restaurant zum Abendessen.
Als Lisa in den Gastraum kam, saß Grünwald an einem der Tische und winkte ihr zu.
»Sie müssen erlauben, dass ich Sie einlade«, sagte er, als sie die Speisekarte öffnete.
»Wieso? Etwa weil ich es nach drei Jahren endlich geschafft habe, Urlaub zu nehmen? Oder meinen Sie, dass ich heute Geburtstag habe?«, fragte Lisa.
»Das nicht, aber ich habe Sie nach Liechtenstein entführt und Ihnen dabei etwas Wichtiges verschwiegen.«
»Lassen Sie mich raten: Sie sind Millionär und haben hier Konten, die Sie am Finanzamt vorbeigeschleust haben?«
»Nein, nein, Sie wissen ja selbst, dass man als Archivar nicht gerade reich wird. Zumindest nicht an Geld. Die Sache ist die, ich hatte Angst, dass Sie nicht mitkommen, wenn ich Ihnen verrate, wie teuer alles ist. Auch das Essen.«
Lisa überflog die Preise. Als sie die Karte schloss, sagte sie: »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Also erlauben Sie mir, Sie einzuladen?«
»Das ist nicht nötig, Dr. Grünwald.«
»Bitte, ich möchte es wirklich gern. Außerdem habe ich dann ein ruhigeres Gewissen. Sie sehen, eigentlich tun Sie mir einen Gefallen damit.«
»Na schön«, sagte Lisa. »Aber nur heute Abend.« Sie wusste, dass sie Grünwald damit eine Freude machte. »Gebratener Steinbutt mit Eierschwämmli-Spinat-Lasagne klingt gut, aber was sind Schwämmli?«
»Schwämmli sind Pilze. Ich empfehle dazu einen regionalen Wein, einen weißen. Einen Maienfelder vielleicht?«
»Ich verlasse mich da wie immer auf Sie.«
Nachdem sie bestellt hatten, fragte Grünwald: »Was denken Sie über Prof. Barakat?«
»Er ist ein sehr sympathischer Mann. Und die Titel, die seine Bibliothek enthält, verraten, dass er vielseitig interessiert und gebildet ist. Erstaunlich, so jemanden in einem verhältnismäßig kleinen Museum zu finden.«
»Die Bezahlung in Liechtenstein ist alles andere als schlecht.«
»Das sollte sie auch sein – bei den Preisen! Prof. Barakat scheint mir allerdings kein Mensch zu sein, der dem Ruf des Geldes folgt.«
»Sie schätzen ihn richtig ein. Es war ja auch die Liebe, die ihn nach Liechtenstein geführt hat.«
»Wieso ist seine Frau nicht mit ihm ins Ausland gegangen? Nach England oder wohin auch immer?«
Grünwald hob sein Glas und besah sich den Wein. »Eine weitere Besonderheit der Menschen hier ist, dass sie zwar gern die Welt erkunden, viel in ihr herumfahren und -fliegen, doch sie leben nirgendwo so gern wie in Liechtenstein. Zum Wohl!«
»Zum Wohl.«
»Wann, sagten Sie, kommt Markus Weinberg nach?«
»Übermorgen, gegen Mittag«, antwortete Lisa. »Ab da hat er eine Woche frei.«
Sie nahm noch einmal einen großen Schluck Weißwein und räusperte sich. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen mitteilen wollte, Dr. Grünwald. Mit Markus, meine ich, also …«
»Einmal den Steinbutt für die Dame, und der Rehrücken für den Herrn. Guten Appetit zusammen!« Die Bedienung stellte die Teller vor sie auf den Tisch.
»Das sieht ja toll aus«, kommentierte Grünwald mit leuchtenden Augen. Nachdem er den ersten Bissen genommen hatte, hielt er inne. »Was wollten Sie erzählen, Lisa? Wir wurden unterbrochen.«
»Es hat Zeit«, antwortete sie. »Genießen wir erst einmal das Essen.«
*
Eine Stunde später hatte sich Grünwald zurückgezogen. Lisa entschloss sich, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu unternehmen. Draußen war es kühler geworden. Sie knöpfte ihre Jacke über dem Schal zu und ging die Fußgängerzone hinunter. In einigen Restaurants und Cafés brannte noch Licht, aber es waren nur wenige Menschen zu sehen. Zu ihrer Rechten präsentierten sich zwei futuristisch aussehende Gebäudewürfel, der eine schwarz, der andere weiß. »Kunstmuseum Liechtenstein«, las sie über dem gläsernen Eingang.
Lisa zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte Weinbergs Nummer. Er meldete sich nach dem ersten Klingelton.
»Hallo, Liebling.«
»Hallo, Schatz.«
»Seid ihr gut angekommen?«
»Ja, es hat alles geklappt. Wir haben schon Prof. Barakat getroffen und zu Abend gegessen. Jetzt mache ich mir einen gemütlichen Abend im Hotel.«
»Für diese Gelegenheit hast du dir ja auch genügend Bücher mitgenommen«, sagte Weinberg lachend. »Wie viele stecken in deiner Tasche? Sechs?«
»Acht. Wie war dein Tag?«
»Ein mittelschwerer Autounfall, zweimal häusliche Gewalt, ein paar Sachbeschädigungen. Nichts Besonderes – aus meiner Sicht, für die Betroffenen sieht das natürlich anders aus. Ich werde mir jetzt eine Kleinigkeit zu essen machen. Übrigens, du fehlst mir.«
»Weil du dir selber was zu essen machen musst?«
»Natürlich nicht. Ich freue mich, wenn ich übermorgen nachkommen kann.«
»Ich freue mich auch.«
Zu ihrer Linken entdeckte Lisa ein historisches Gebäude. Sie las den Schriftzug über dem Eingang. Es war das Landesmuseum. Der imposante Bau schmiegte sich mit seiner Rückseite an den Berghang.
»Morgen Vormittag werden wir das Museum besuchen«, erzählte Lisa. »Ich stehe gerade davor. Prof. Barakat hat erzählt, dass es dort einen Einbruch gegeben hat. Deine fürstlichen Kollegen waren wohl heute schon da.«
»Ein Einbruch?« Weinberg klang überrascht. »Was wurde denn gestohlen? Die Kronjuwelen?«
»Keine Ahnung«, antwortete Lisa. »Vielleicht erfahren wir es morgen.«
Vor ihr öffnete sich beim Weitergehen ein Platz, der mit hellen Klinkersteinen gepflastert war. Sie betrachtete den modernen, in Form einer Bergspitze erbauten Landtag und daneben das Regierungsgebäude. Letzteres schätzte sie auf gut hundert Jahre. Ein Mosaik der Justitia oben an der Front verriet ihr, dass es auch als Gericht diente oder zumindest einmal gedient hatte. Vor ihr, am gegenüberliegenden Ende des Platzes, ragte eine kleine Kirche im neogotischen Stil auf.
Weinbergs Stimme an ihrem Ohr sagte: »Na ja, egal, was die Einbrecher gestohlen haben, solange sie ihre Beute nicht über den Bodensee schaffen, braucht es mich beruflich nicht zu kümmern. Und warum sollten sie das tun? Ich würde mich auch lieber von fürstlichen Gendarmen verhaften lassen. Schlaf nachher gut, Liebling. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Gute Nacht.«
*
Um Punkt zehn trafen Grünwald und Lisa am nächsten Morgen vor dem Eingang des Museums ein. Youssef Barakat erwartete sie bereits.
»Liebe Frau Dr. Engels, schön, dass Sie da sind. Dasselbe gilt auch für dich, lieber Sebastian. Die Spurensicherung hat ihre Arbeit vor einer Viertelstunde beendet. Das Museum bleibt heute geschlossen, aber für euch beide gibt es eine Sonderführung.«
»Danke, Youssef«, sagte Grünwald und folgte ihm mit Lisa in das Gebäude. »Wir haben beim Frühstück über den Einbruch in der Zeitung gelesen. Da war jedoch nur mehr oder weniger eloquent beschrieben, dass man noch nichts weiß.«
»Sagen Sie, Prof. Barakat, was wurde bei dem Einbruch eigentlich gestohlen?«, fragte Lisa. »Ist der Schaden groß?«
»Nein«, antwortete der Museumsdirektor, »das ist ja das Eigenartige. Aus der Ausstellung fehlt nichts. Der Dieb ist in das unterirdische Magazin eingebrochen und hat aus einem Lagerraum 260 Gulden entwendet.«
»260 Gulden? Wie viel sind die heute wert?«
»Das hat mich die Polizei natürlich auch gefragt. Und die Versicherungsgesellschaft. Ich schätze, dass man pro Münze auf dem Fachmarkt 50 bis 100 Franken beziehungsweise Euro bekommen kann.«
»Das ist dann schon eine ganze Menge Geld, oder nicht?«
»Nun ja, natürlich. Im Museum und im Magazin lagern jedoch viel größere Bestände antiker Münzen. Viele sind wesentlich wertvoller als diese Gulden.«
»Vielleicht versteht der Dieb nicht allzu viel von Numismatik«, rätselte Grünwald.
»Gegen diese Vermutung spricht allerdings, dass der Dieb gezielt in das Magazin eingebrochen ist«, sagte Lisa.
»Und dass er aus einer Sammlung von über 600 solcher Münzen nur genau 260 mitgenommen hat«, ergänzte Barakat. »Genau 260, nicht mehr.«
*
Beim Gang durch das Museum blühte dessen Direktor merklich auf. Grünwald und Lisa folgten ihm zunächst eine Treppe hinab. Der Rundgang begann im Kellergeschoss. Sie begutachteten den Oberschenkelknochen eines Dinosauriers, steinzeitliche Werkzeuge und Waffen, einen 6.000 Jahre alten Henkelkrug, römische Soldatenhelme und Schmuck aus dem frühen Mittelalter.
Die Ausstellungsräume des Museums erstreckten sich über drei weitere Etagen. Der Weg führte sie vorbei an Porträts ehemaliger Fürsten und Landschaftsmalereien, historischen Karten und Wappenschilden, hölzernen Madonnen, Vitrinen mit Messkelchen und einer ziemlich harmlos wirkenden Sammlung von Militaria aus vergangenen Zeiten. Ein Raum beherbergte die Nachbildung einer Bauernstube aus dem 16. Jahrhundert und Gebrauchsgegenstände aus der bukolischen Lebenswelt des Rheintals. Im obersten Stockwerk wurden neben der ersten Telefonanlage des Landes frühe Zeugnisse der beeindruckenden liechtensteinischen Industrie gezeigt.
Am Ende führte Barakat die Besucher in ein Treppenhaus, an dessen Wänden Tafeln angebracht waren.
»Auf den Tafeln dieser Installation sind die Namen und Schicksale von zwölf Frauen dargestellt, die als Hexen hingerichtet wurden«, erklärte der Museumsdirektor.
»Gab es in Liechtenstein auch Hexenprozesse?«, fragte Lisa.
»In Liechtenstein streng genommen nicht«, antwortete Barakat, »da es zu jener Zeit noch kein Land Liechtenstein gab. Das gibt es erst seit 1719. Es fanden aber Hexenprozesse auf dem Gebiet des heutigen Fürstentums statt. Damals regierte über die Herrschaft Schellenberg und die Grafschaft Vaduz der Graf von Hohenems. Er steckte bis zum Hals in Schulden. Er warf das Geld nur so hinaus, doch es kam nicht genug nach. Was sollte er tun?«
Grünwald sagte: »Wahrscheinlich tat er das, wodurch noch fast jede Adelsfamilie irgendwann in ihrer Geschichte reich geworden ist: Er plünderte seine Untertanen aus.«
»Genauso ist es, lieber Sebastian, genauso ist es. Und dann eröffnete sich ihm durch den Aberglauben seiner Zeit eine weitere Einnahmequelle. Das Vermögen beinahe jeder ›Hexe‹, die verurteilt wurde, fiel nämlich seiner Kasse zu. Es lag also im eigenen Interesse des Grafen, dass möglichst viele ›Hexen‹ aufgespürt und verurteilt wurden. Seine Beamten lebten davon ebenfalls nicht schlecht. Sie zweigten sich von der konfiszierten Beute ab, was sie nur konnten. Wenn es auch alles in allem nicht allzu viel war.«
»Das ist widerlich.« Lisa schüttelte sich. »Wie viele Menschen mussten dafür sterben?«
»Bei einer Bevölkerung von etwa 3.000 waren es um die 200. Die meisten davon Frauen.«
Lisa deutete auf eine Stelle an der Wand. »Dort scheint eine Tafel zu fehlen.«
Barakat trat näher. An der Wand war deutlich eine helle Stelle zu sehen, die die Tafel hinterlassen hatte. »Tatsächlich«, sagte er. »Ich werde abklären, ob die Tafel aus Reinigungs- oder Restaurationsgründen abgenommen wurde. Oder ob man sie ebenfalls gestohlen hat.«
»Warum sollte jemand eine solche Tafel stehlen?«, überlegte Lisa laut.
»Vielleicht erfahren wir es, wenn wir wissen, was darauf steht«, schlug Grünwald vor.
Barakat führte seine Gäste in eine Straße in der Nähe zu einem mit wildem Wein bewachsenen Haus. »Städtle-Café« stand über dem Eingang.
»Hierher komme ich jeden Tag«, erklärte er. »Manchmal sogar mehrmals.«
Eine Frau um die 40 trocknete hinter einem Tresen Tassen ab. Als sie Barakat eintreten sah, warf sie das Geschirrtuch über ihre Schulter und trat auf die drei zu. Ihre großen, hellen Augen leuchteten freundlich.
»Hoi, Youssef, heute mit Gästen?«
»Hoi, Aurelia. Das sind Frau Dr. Engels und Herr Dr. Grünwald aus Deutschland. Mit Herrn Dr. Grünwald verbindet mich eine lange Freundschaft. Frau Dr. Engels ist seine Nachfolgerin als Stadtarchivarin. Sebastian«, er deutete auf Grünwald, »ist im verdienten Ruhestand. Und das hier ist Aurelia Büchel, die Besitzerin des Städtle-Cafés.«
»Angenehm«, sagte Grünwald.
»Freut mich«, schloss sich Lisa an.
»Willkommen in Liechtenstein«, sagte Aurelia. »Bitte, nehmen Sie Platz. Was darf ich Ihnen bringen?«
Das Lokal war menschenleer. Alle drei bestellten Kaffee, Lisa darüber hinaus noch einen Zwetschgenkuchen.
»Aurelia ist eine gute Freundin«, erklärte der Professor, »und ihr Café eine Oase, in der ich etwas Ruhe finde und auftanke.«
Die Wirtin nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihren Gästen an den Tisch. »Sind Sie das erste Mal in Liechtenstein? Hoffentlich gefällt es Ihnen hier.«
Ein Telefon begann zu läuten. Barakat griff in sein Jackett und warf einen Blick auf das Display. »Einen Augenblick, bitte. Ich bin gleich wieder da.«
Aurelia sah ihm nach und schüttelte den Kopf. »Youssef kann einfach nicht abschalten. Im wörtlichen und übertragenen Sinn des Wortes.«
»Es stellt sich immer wieder heraus«, sagte Grünwald, »dass eine der schwierigsten Körperbewegungen ein leichter Druck auf einen Knopf ist, um ein Telefon oder einen Fernseher auszuschalten. Für viele weit schwieriger als Klimmzüge.«
»Für manche schwieriger als ein Salto Mortale«, ergänzte Aurelia.
Barakat kehrte nach einer Minute zurück. Er wirkte aufgeregt und ratlos.
»Ist alles in Ordnung, Youssef?«, fragte Aurelia besorgt.
»Das war die Polizei«, antwortete Barakat. »Sie haben mir Fragen zu Franz Kaiser gestellt.«
»Deinem wissenschaftlichen Mitarbeiter? Wieso?«
Der Direktor sah mit einem hilflosen Gesichtsausdruck in die Runde. »Er wurde von der Polizei aufgegriffen. Offensichtlich hat er den Verstand verloren.«
»Den Verstand verloren? Was soll das heißen?«
Barakat zuckte mit den Schultern. »Er scheint komplett durchgedreht zu sein. Jetzt ist er ruhiggestellt. Ich muss ihn im Spital besuchen.«
Aurelia legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich würde dich gern begleiten, Youssef, aber ich kann das Café nicht zumachen. Ich habe für heute eine große Reservierung.«
Grünwald wechselte einen einvernehmlichen Blick mit Lisa und sagte: »Wir begleiten dich, mein Freund.«
»Das kann ich nicht verlangen, Sebastian.«
»Wir tun es gern. Nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Lisa. »Wir kommen gern mit.«
*
Am Empfangsschalter des Landesspitals ließ eine freundliche Dame ihre manikürten Finger über die Tastatur fliegen und verkündete, Kaiser liege in Zimmer 224.
Youssef Barakat bedankte sich und ging mit seinen Gästen zum Fahrstuhl. Während sie auf den Lift warteten, lösten sich von der gegenüberliegenden Wand ein Mann sowie eine Frau und traten von hinten an die drei heran.
»Herr Barakat?«
Barakat wandte sich um. »Ja?«
»Professor Barakat?«
»Auch das.«
Die beiden klappten jeweils eine kleine lederne Ausweistasche auf und hielten sie dem Museumsdirektor hin.
Die Frau sagte: »Das ist Timo Vogt, mein Name ist Alice Marxer. Wir sind von der Kriminalpolizei. Dürfen wir Sie kurz sprechen, bevor Sie Franz Kaiser besuchen?«
»Natürlich.« Barakat sah die Polizisten verwirrt an. »Natürlich.«
Er folgte ihnen zu einer Sitzgruppe, die verloren an einer Wand gegenüber dem Empfang stand. Grünwald und Lisa setzten sich diskret in eine andere.
»Prof. Barakat«, begann Alice Marxer das Gespräch, »Franz Kaiser wurde heute Vormittag von der Landespolizei aufgegriffen und ins Landesspital gebracht.«
»Besorgte Bürger hatten die Polizei verständigt«, ergänzte ihr Kollege. »Kaiser kroch auf allen vieren durch Gärten und über Straßen in der Nähe seines Hauses beziehungsweise seines Elternhauses. Er wohnt ja bei seiner Mutter.«
Barakat schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist ganz und gar entsetzlich. Entsetzlich. Und unglaublich. Was ihm zugestoßen ist, meine ich, nicht dass er bei seiner Mutter wohnt. Letzteres ist gar nicht so unüblich hier im Land. Und spart auch Geld.«
Die Beamten warfen sich einen irritierten Blick zu.
Der männliche Kriminalist fand als Erster den Faden wieder. »Kaiser brabbelte unverständliche Worte. Wir möchten Sie bitten, dass Sie versuchen, etwas aus ihm herauszubekommen.«
»Was könnte ich denn herausbekommen? Inwiefern beschäftigt ein geistig-körperlicher Zusammenbruch überhaupt die Kriminalpolizei?«
»Na ja«, erklärte Timo Vogt, »immerhin wurde in das Landesmuseum eingebrochen. Noch ist unklar, wie der Täter in das Museum gelangt ist. Keine Tür und kein Fenster wurden aufgebrochen, nur die Tür zum Magazin. Franz Kaiser ist Mitarbeiter des Museums. Seit zwei Tagen ist er nicht mehr zu Hause aufgetaucht. Das wissen wir von seiner Mutter. Sie werden verstehen, dass wir uns fragen, ob da nicht ein Zusammenhang besteht, und dass wir uns für den Grund dieses ›geistig-körperlichen Zusammenbruchs‹ interessieren.«
Barakat nickte stumm, verabschiedete sich und stand auf. Grünwald und Lisa hatten ihn nicht aus den Augen gelassen und folgten ihm zum Fahrstuhl. Nachdem sich dessen Türen hinter ihnen geschlossen hatten, sagte der Museumsdirektor: »Stellt euch vor, die Polizei hält es für möglich, dass ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen Franz Kaisers Zusammenbruch und dem Einbruch! Das ist doch unglaublich!« Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Ganz und gar unglaublich.«
Lisa legte mitfühlend ihre Hand auf seinen Arm und Grünwald sagte: »Denk jetzt nur an deinen Mitarbeiter, Youssef. Alles andere ist vorerst nicht wichtig.«
Die Aufzugtüren öffneten sich und gaben den Blick auf einen sterilen Gang frei. Hinter einer der unzähligen Türen lag sein Mitarbeiter Franz Kaiser.
*
Keine 100 Kilometer Luftlinie entfernt stand die tiefe herbstliche Sonne über der Stadt Überlingen und ließ deren Häuser und Türme leuchten, als wären sie vergoldet. Matt glänzend lag eine dünne Nebelschicht auf dem unbewegten Wasser. Es war ein herrlicher Spätherbsttag gewesen. Markus Weinberg spürte noch die Sonne auf seiner Haut, die nicht mehr brannte wie noch vor Kurzem. Bald, wenn sie versank, würde es kühl werden.
Der Fußweg nach der Arbeit tat gut. Er diente weniger der körperlichen Entspannung, Weinberg hatte bei seinem Dienst genügend Bewegung. Der Weg nach Hause half ihm, den Kopf freizubekommen. Jeden Tag hatte er mit zahlreichen Menschen zu tun. Viele von ihnen befanden sich in einer Notlage und suchten Hilfe. Sie hatten Stress zu Hause oder einen Unfall, sie fühlten sich bedroht oder belästigt, ihnen war der Geldbeutel abhandengekommen oder sie suchten ihre verwirrte Oma, die ausgebüxt war. Und außerdem waren da noch die »Stammkunden«, wie sie unter Kollegen genannt wurden: Schläger, Betrunkene, Raser, Einbrecher und Diebe, Zuhälter und Dealer, Junkies und alle möglichen Sorten von braven Bürgern, die eben hin und wieder ausrasteten.
Viele Beziehungen und Ehen von Polizistinnen und Polizisten scheiterten daran, dass einige von ihnen keinen Weg fanden, um die zahlreichen Probleme und Konflikte, mit denen sie täglich umgehen mussten, zu verarbeiten. Dann kam man nach Hause, den Kopf voller Bilder von verletzten, hilflosen und aggressiven Menschen und einem Soundtrack von Schreien und Flüchen, provozierenden Worten und höhnischem Gelächter. Auch mit den Enttäuschungen des Berufs war es nicht immer leicht umzugehen. Zu oft fühlte man sich wie Cervantes’ »Ritter von der traurigen Gestalt« im Kampf gegen Windmühlen.
Sprechen durfte man über die Fälle nicht. Man konnte sie aber auch nicht einfach ablegen wie Aktenordner, um sie am nächsten Tag wieder aufzuschlagen. Man trug die Gedanken, Gefühle und den Stress zu seiner Familie und ließ den Druck dort ab. Das hielten die wenigsten Beziehungen auf Dauer aus.
Weinberg hatte für sich drei Kanäle gefunden, die ihm halfen, seine Beziehung mit Lisa vor diesem zersetzenden Stress zu schützen. Zum einen nahm er sich Zeit für Sport. Es gab für ihn kaum etwas Besseres, um Aggressionen abzubauen. Zum anderen legte er Wert auf regelmäßige Treffen mit befreundeten Kollegen in gemütlicher Runde, wo sie offen über ihre Arbeit reden konnten. Und nicht zuletzt hatte sich der etwa zwei Kilometer lange Fußweg vom Revier nach Hause als wertvoll erwiesen. Eine Art Pufferzone zwischen seiner Arbeit und seinem Privatleben. Markus Weinberg liebte es, Polizist zu sein. Aber noch mehr liebte er Lisa.
Die Sonne war gerade hinter den waldigen Hügeln im Westen verschwunden. Es war auf einen Schlag kühl geworden. Weinberg beschleunigte seine Schritte. Er wollte auf jeden Fall zu Hause sein, wenn Lisa anrief.
*
Franz Kaiser sah erbärmlich aus. Der Museumsdirektor musste näher an das Bett treten, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich sein wissenschaftlicher Mitarbeiter war, der dort lag. Kaiser war schweißnass und wurde immer wieder wie von einem heftigen Fieber geschüttelt. Man hatte ihn an den Handgelenken am Bettgitter fixiert, damit er sich nicht aus Versehen selbst verletzte. Sein Gesicht war totenbleich, er hatte einen Dreitagebart, die Haare klebten ihm wirr am Kopf und auf der Stirn. Seine Haare waren der Hauptgrund dafür, dass der Direktor seinen Mitarbeiter fast nicht erkannt hätte. Barakat wusste nicht genau, wie alt Kaiser war. Er schätzte ihn auf Mitte, Ende 30. Sein Mitarbeiter hatte volles rötliches Haar besessen. Haar, um das sein Chef ihn insgeheim beneidet hatte. Ein großer Teil davon schien ausgefallen zu sein, der Rest war heller, als Barakat es in Erinnerung hatte. Beinahe weiß.
Doch das Erschreckendste waren Kaisers Augen. Sie waren weit aufgerissen, und der Blick irrte unstet an der Zimmerdecke umher. Es flackerte ein wahnsinniges Licht in ihnen. Dann fiel Kaisers Blick auf Barakat und seine Begleitung. Barakat musste sich zwingen, nicht zurückzuschrecken.
Franz Kaiser bäumte sich in seinen Fesseln auf. »Ich konnte es nicht drei Tage aushalten«, faselte er. Es war, als spuckte er die Worte regelrecht aus. »Keine drei Tage, es war nicht möglich, es war nicht möglich …«
»Lieber Franz, wie geht es dir?« Barakat versuchte, seiner Stimme einen warmen Ton zu geben. »Was ist passiert? Erinnerst du dich daran?«
Franz Kaiser starrte ihn mit aufgerissenem Mund an. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze der Angst. »Grausam … Die Felsen … Das Gewicht …«
»Beruhige dich, Franz, es ist alles gut, alles gut. Sag mir, was geschehen ist.«
Doch Franz Kaiser schien ihn nicht zu hören. Er wälzte sich brabbelnd in seinem Bett hin und her und zerrte an den Fesseln. Plötzlich begann er zu heulen, es klang wie ein Hund, der vor Schmerzen jaulte. Oder wie ein Wolf, dachte Barakat erschüttert. Auch Grünwald und Lisa konnten sich eines Schauers nicht erwehren.
Unvermittelt wurde die Tür aufgerissen und eine Schwester stürmte herein. »Bitte, lassen Sie den Patienten jetzt allein!«, forderte sie die Besucher mit Nachdruck auf. »Sie sehen, dass er leidet.«
Die Schwester zog hektisch eine Spritze auf. Barakat wandte sich mit seinen Begleitern Richtung Tür. Da bäumte sich Kaiser wie von einer unsichtbaren Macht gezogen noch einmal auf, sein Rücken wölbte sich, und er schrie heiser: »Ich konnte ihn nicht aufhalten! Ich konnte es nicht aushalten! Und jetzt ist er los! Er ist frei!«
Dann setzte die Schwester die Spritze, und Kaiser fiel mit einem langen, ersterbenden Seufzen in sich zusammen. Betreten verließen Barakat, Grünwald und Lisa den Raum. Im Gang stießen sie auf eine zierliche Frau mit roten Haaren, die streng nach hinten zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden waren. Sie trug ein langes grünblaues Kleid, um ihren Hals hing eine doppelt geschlungene Perlenkette. Die grünen Augen der Frau musterten Barakat, Grünwald und Lisa scharf und herausfordernd.
»Wer sind Sie?«
»Wir sind Besucher«, antwortete Grünwald. »Dürfen wir fragen, wer Sie sind?«
Die Frau sagte: »Ich bin Dr. Baumann. Franz Kaiser ist mein Patient. Er wird nun verlegt.«
»Verlegt?«, echote Barakat betroffen. »Wohin?«
Die grünen Augen musterten den Museumsdirektor, als hätte er etwas Unanständiges gesagt, für das er sich gründlich schämen musste. »Wenn Sie keine Verwandten des Patienten sind, bin ich nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu erteilen. Außerdem halte ich Besuche zu diesem Zeitpunkt ohnehin für nicht angezeigt. Sie entschuldigen mich.«
Mit diesen Worten schob sie sich an den überraschten Besuchern vorbei in das Zimmer, aus dem sie eben gekommen waren.
*
Schweigend legten die Gäste aus Deutschland die kurze Strecke zu ihrem Hotel zurück. Sie hatten verabredet, sich zum Abendessen wieder zu treffen. Grünwald war erschöpft und wollte sich ein wenig ausruhen. Lisa hatte Verständnis dafür. Sie fühlte sich selbst nicht sonderlich gut seit dem Besuch im Krankenhaus und beschloss, einen Spaziergang zu unternehmen.
Ein paar Schritte vom Hotel entfernt führte ein Weg den Hang hinauf. Ein Schild wies ihn als Wanderweg zum fürstlichen Schloss aus. Lisa spazierte an villenartigen Häusern, modernen und traditionellen, vorbei. Nach einer Weile ging die geteerte Straße in einen schmalen Wanderweg über. Er schlängelte sich in Serpentinen steil bergan. Auf dem Boden lag buntes Laub. Lisa genoss die frische Luft. Nach einigen Minuten gelangte sie an eine Tafel. In deutscher, englischer und französischer Sprache präsentierte sie dem Wanderer Informationen über Vaduz. Vaduz, las Lisa, sei der Hauptort des Landes mit etwa 5.500 Einwohnern, Residenz des Landesfürsten und Sitz der Landesbehörden. Der Ort beherberge Kunstsammlungen, die Landesbibliothek, das Landesmuseum, ein Post- und Briefmarkenmuseum sowie Privatgalerien. Darüber hinaus fänden sich am Ort ein Gymnasium, eine Fachhochschule und eine Musikschule, diverse Natur-, Erholungs- sowie Sportanlagen und ein Freibad. Mit einem amüsierten Lächeln las Lisa, dass es in Vaduz sogar Gelegenheit zum Minigolf- und Tennisspielen gab.
An einem Aussichtspunkt machte sie Halt. Zwischen dem bunten Laubwerk der Bäume am Wegrand bot sich ihr ein weiter Blick über Vaduz und das Rheintal. Gegenüber erhoben sich Berge. Links am Rand der Fußgängerzone sah sie den Turm der Kirche, die Grünwald zuvor »die Kathedrale« genannt hatte. Rechts lagen Weinberge inmitten der Häuser. Vor ihr, dem Rhein zu, entdeckte sie ein Stadion.
Lisa zog ihr Telefon aus der Tasche und rief Markus an. Es tat ihr gut, seine Stimme zu hören.
»Hallo, Schatz. Na, wie geht es dir?«
»Mir geht es gut. Und dir?«
»Was meinst du? Ich habe sturmfrei. Füße auf dem Tisch, Sportschau, Bier aus Dosen. Mir geht es großartig!«
Lisa lachte. »Du hast das Feinripp-Unterhemd vergessen.« Dann wurde sie ernst. »Ich habe dir doch erzählt, dass in das Museum eingebrochen worden ist.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Wir haben heute einen Mitarbeiter von Prof. Barakat im Krankenhaus besucht. Es scheint, dass die Polizei ihn im Verdacht hat, mit der Sache etwas zu tun zu haben. Der Mann macht einen furchtbaren Eindruck. Er ist völlig verwirrt und sieht aus, als hätte er einiges durchgemacht. Ich habe den Eindruck, dass da etwas faul ist.«
»Spielst du etwa wieder Detektiv – zusammen mit Dr. Grünwald? Das ist nicht euer Job! Geplant waren ein paar Tage Urlaub, wenn ich mich recht erinnere. Ganz entspannt. Keine Aufregung, kein Stress.«
»Natürlich«, sagte Lisa. »Du kennst mich doch.«
Weinberg seufzte. »Eben drum«, sagte er.
*
Mit einem leisen Summen öffnete sich die moderne Glastür mit dem eingravierten Schriftzug »Wanger & Sommer« für zwei Herren in Nadelstreifen. Die Anzüge waren nach der neuesten Mode geschnitten und offensichtlich sehr teuer. Die Art und Weise, wie die beiden Männer das Büro betraten, verriet, dass zur Schau gestellter Reichtum für sie eine Selbstverständlichkeit bedeutete. Sie bewegten sich mit der Nonchalance von Menschen, die aus Erfahrung wussten, dass sie aufgrund ihres Geldes überall zuvorkommend und mit erlesener Freundlichkeit behandelt wurden.
In dem Raum, in den sie traten, stand vor einer Glasfront ein Schreibtisch mit einer Marmorplatte auf Bronzefüßen. Florin Wanger erhob sich dahinter und kam den Gästen mit ausgestreckter Hand entgegen. »Grüß Gott, meine Herren, willkommen in Vaduz!«, sagte er und schüttelte erst dem einen und dann dem anderen verbindlich die Hand.
»Herr Gerber, Herr Kälin, bitte nehmen Sie Platz. Wie war die Anreise?«
»Unproblematisch. So weit ist Zürich ja nicht entfernt.«
Wanger nickte. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen lassen? Ein Wasser, einen Kaffee oder …«, sein Augenzwinkern sollte Vertraulichkeit und komplizenhafte Verschwiegenheit ausdrücken, »… vielleicht etwas Stärkeres?«
Kälin hob in einer unbestimmten Geste die Hände. »Wenn Sie uns etwas Gutes tun wollen, Herr Wanger, vertrauen wir auf Ihren Geschmack.«
Florin Wanger goss drei Gläser voll. »Zum Wohl, meine Herren.«
»Zum Wohl.«
Nachdem sie den ersten Schluck genossen hatten, fragte Gerber: »Wie weit sind unsere Angelegenheiten gekommen, Herr Wanger?«
Wanger lächelte selbstbewusst. Auf diese Frage hatte er gewartet. »Sie stehen kurz vor dem Abschluss«, sagte er. »Ich darf ohne Übertreibung sagen, dass wir sie beinahe als erledigt ansehen dürfen. Das betreffende Ministerium in unserem Zielland ist praktisch einverstanden.«
»Was heißt ›praktisch einverstanden‹?«, hakte Herr Gerber nach.
Wanger sagte: »Es ist den Zuständigen klar, dass wir mit Ihrer Firma alle Sicherheiten für eine umfassende Trinkwasserversorgung bieten können. Das liegt selbstverständlich auch in deren Interesse. In den vergangenen Jahren wurden rund 4.500 Fälle von Cholera-Erkrankungen aufgrund verunreinigten Trinkwassers registriert, Tausende weitere Krankheitsfälle wegen anderer unappetitlicher Erreger. Man kann sich vorstellen, was gereinigtes Trinkwasser für diese Region bedeuten würde.«
»Das ist uns schon klar«, sagte Kälin mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck. »Aber wie klar ist es den zuständigen Politikern dort?«
»Oder, um es anders zu sagen: Wie viel müssen wir in ihre Zustimmung investieren?«, präzisierte Gerber.
Florin Wanger fühlte sich nie so sicher wie in den Momenten, wenn es offen um Geld ging. Er nippte an seinem Glas. »Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir keine Rücksicht auf die Bevölkerung nehmen müssen. Das ist der Vorteil von Ländern, die keine Demokratie haben. Oder nur dem Namen nach. Wir haben es allein mit der Regierung zu tun. Und glauben Sie mir, meine Herren, mit solchen Regierungen kenne ich mich aus. Die sind mein Spezialgebiet. Die Sache ist so sicher, als hätten Sie die Rechte für die Trinkwasserquellen bereits in Ihrer Tasche.«
*