Nachtarbeiter - Brian Selfon - E-Book + Hörbuch

Nachtarbeiter Hörbuch

Brian Selfon

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  • Herausgeber: Goyalit
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Zwischen der hippen Kunstszene und den herrschaftlichen Brownstones tut sich ein Abgrund auf: der Untergrund Brooklyns inklusive Drogengeschäften und organisiertem Verbrechen. Hier versucht Shecky Keenan den Kopf über Wasser zu halten. Gemeinsam mit seinem Neffen Henry (23) und seiner Nichte Kerasha (21) hat er ein funktionierendes Geldwäschenetzwerk in New Yorks Szeneviertel aufgebaut. Doch die drei geraten zunehmend in Bedrängnis: Konten werden unerwartet geschlossen, verdächtige Autos parken zu seltsamen Zeiten in der Nähe ihres Hauses und Emil Scott, ein aufstrebender Künstler und neuer Kurier für Bargeldtransporte, verschwindet spurlos - und mit ihm eine Tasche gefüllt mit 250.000 Dollar Schwarzgeld. Die zusammengewürfelte Familie liebt einander, doch kann sie sich auch vertrauen, wenn es hart auf hart kommt? Spannend, authentisch, wendungsreich und berührend: "Nachtarbeiter" ist ein düsterer Roman Noir im kriminellen Milieu Brooklyns. Zugleich im Herzen eine Familiensaga mit literarischer Tiefe und viel Liebe für die Figuren und deren Umstände. Seattle Times Best Books of the Year

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Zeit:11 Std. 30 min

Sprecher:Volker Hanisch
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Brian Selfon

Nachtarbeiter

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Längsfeld

Der Autor

Brian Selfon arbeitet seit fast zwanzig Jahren in der Strafjustiz, mehr als fünfzehn davon bei Strafverfolgungsbehörden in New York. Als leitender Ermittlungsanalytiker bearbeitete er für den Bezirksstaatsanwalt von Brooklyn Fälle, die von Geldwäsche bis zu Mord ersten Grades reichten. Inzwischen lebt er mit seiner Familie in Seattle, wo er als Ermittler für die öffentliche Verteidigung tätig ist. Nachtarbeiter ist Selfons erster Roman.

 

Die Übersetzerin

Sabine Längsfeld übersetzt seit über zwanzig Jahren Literatur aus dem Englischen ins Deutsche. Ihr Gespür für Zwischentöne und ihr Feingefühl für Dialoge hat schon manchem Titel in die Bestsellerlisten verholfen. Zu den von ihr übertragenen Autorinnen und Autoren zählen u.a. Roddy Doyle, Glennon Doyle, Chan Ho-kei und Simon Beckett.

Für meine Familie

Erster Teil

Die Familie quasi

1

Als er Emil Scott zum ersten Mal begegnet, ist er sofort verliebt.

Eine Vernissage in Bushwick, dem neusten Brooklyn-Turf der Künstler und Möchtegerns. Mehr als eine Stunde lang sind Henry Vek und Emil Scott unbewusst umeinander rumgeschlichen. Was dann kommt, erinnert an alte Liebeskomödien. Quer durch den Raum treffen sich ihre Blicke, und sie wenden sich ab. (Es ist 2014, sie sind beide eigentlich hetero, und man muss sich abwenden, so lautet die Regel.) Dann bahnen sich beide, wie zufällig, den Weg zum selben Bild. Und hier, direkt vor dem Gemälde, direkt nebeneinander, tippt Emil an seine linke Gesäßtasche und fragt Henry, ob er was kaufen will, Heroin.

»Jesus, fuck, spinnst du? Nicht hier!« Er legt Emil warnend die Hand auf die Brust – schon die erste Berührung. »Wir treffen uns draußen.«

Fünf Minuten später treten sie aufs Dach. »Halt mal die Tür«, sagt Henry, geht, kommt mit einem losen Ziegelstein wieder, blockiert den Ausgang. Aus dem Treppenhaus fällt ein Streifen Licht ins Freie. Henry bringt Papers, eine Tüte Gras, zwei Pappbecher und eine Flasche Jim Beam zum Vorschein, die er unten hat mitgehen lassen. Sie kiffen zusammen, und als sie sich vorstellen, muss Henry husten. Emil Scott? Scheiße, die Bilder von dem Typen hängen auf der Metropolitan Avenue in jedem zweiten Coffeeshop. Und: Der Typ ist gut.

Henry spürt in seinem Inneren ein Zittern, das sich zu was Lebenserschütterndem auswachsen könnte.

Emil ist groß und langgliedrig, wie Henry, aber ohne Muskeln, und der rundliche Bauch deutet auf den Hang zu spätabendlicher Pizza hin. Mit der kräftigen Nase und dem Schlafzimmerlächeln ist er attraktiv, doch was Henrys Aufmerksamkeit im Moment auf sich zieht, sind die Farbspritzer. Gelb auf den Händen, Lila auf der Hose – ein Arbeitstier. Ein Kribbeln sagt Henry, dass sich da vielleicht was draus machen ließe.

»Du hast doch die Riesenleinwand im Thirsty Bear hängen.« Henry reicht Emil den Joint. »Diesen lila Oktopus? Mit dem Babyoktopus? Hat mich total geflasht.«

Emil zuckt die Schultern.

»Na, komm schon. Mach dich nicht kleiner, als du bist.« Henry senkt die Stimme, beugt sich vor. »Ich male auch, okay? Ich versuch’s zumindest. Mach ich, seit … seit meine Mom gestorben ist. Sie war Malerin. Sie war echt gut. Und ich? Kack voll ab. Aber du? Du hast was. Tu nicht so, als wär das egal. Ich sag dir was. Das ist definitiv nicht egal.«

Henry hebt die Hände. Lange Finger, flache Kuppen, Schwielen. Die Knöchel sind vernarbt, und über die linke Handfläche zieht sich frischer Schorf, wie von einer schlecht abgewehrten Klinge. Und, ja, Farbe, genau wie bei Emil.

»Ich weiß auch nicht«, sagt Henry. Die Stimme tief und verletzlich. »Da ist was … ich krieg’s einfach nicht aus mir raus.« Ein Seufzen, dann verhärtet sich etwas in ihm. Er hebt den Blick und sieht Emil an. »Aber du. Du kriegst es aus dir raus. Und du kommst mit Leuten in Kontakt. Deine Arbeit verkauft sich ganz gut, oder?«

Emil leert den Becher, zieht ein Whiskeygesicht. »Manchmal.«

»Besser als nichts. Du bist ein echter Künstler.« Henry schenkt Emil nach. »Was soll dann die Kacke mit dem Heroin?«

Bis zu diesem Moment war Emils Attitüde irgendwo zwischen cool und überheblich. Jetzt bröckelt die Fassade. »Fentanyl«, sagt er. »Mit Laktose gestreckt. Nur für die Miete – das ist alles.«

»Scheiße! Schon klar.« Henry nickt. Kleine Mengen. Hinterzimmerdeals. Die ewige Gratwanderung. Wir müssen alle essen. Ein Lächeln umspielt Henrys Mund, während er über die seltsame Verwandtschaft nachdenkt, die er und Emil unten offensichtlich gewittert haben. Wenn Emil zu zirka neunzig Prozent Künstler ist und zu zehn Prozent Krimineller, dann gilt das auch für Henry, nur umgekehrt. Womit sich erklärt, was Henry inzwischen begriffen hat: Emils Arbeiten hängen deshalb überall, weil er ranklotzt – und er klotzt ran, weil er die Kohle braucht. Wir können füreinander nützlich sein, denkt Henry, und wenn das mal keine Basis für eine Beziehung ist … Henry mustert den Künstler, vergewissert sich, dass er kein aus Schnaps und genmanipuliertem Gras geborener Nachtalb ist. Keine Hufe, keine Hörner. Henry schüttelt den Kopf und grinst. »Mein Onkel hatte recht.«

Emil schaut ihn an. »Womit?«

»Du kennst einen Menschen erst, wenn du deine Nase in seine Kohle gesteckt hast.«

Henry spürt Emils Blick über sich gleiten, spürt den Schrecken und die Freude, gesehen zu werden. »Dein Onkel?«, fragt Emil.

»Der hat ständig so Sachen auf Lager«, sagt Henry. »Gibt ab und zu richtig krassen Scheiß von sich, und ich brauch ’ne Woche, bis ich’s gerafft hab.«

Emil stellt den Whiskey weg und holt einen Bleistiftstummel aus der Tasche, dazu ein kleines Skizzenbuch. »Erzähl mir von ihm.« Der Bleistift tanzt übers Papier, Emils Blicke kehren immer wieder zu Henry zurück.

Der sich nach hinten lehnt, in den Schatten. »Boah! Du zeichnest mich nicht.«

»Du hast gerade so perfekt ausgesehen.« Emil lächelt über Henrys Reaktion. »Als du von deinem Onkel gesprochen hast, hat sich dein Gesicht total verändert.« Er legt die Handflächen zusammen. »Bitte! Ist auch nur für mein Skizzenbuch.«

Henry schüttelt den Kopf, beugt sich aber doch wieder vor. »Dein Ernst?«

»Klar«. Endlich steckt Emil den Bleistift weg. »Aber meine Art von Ernst.«

Henry durchfährt ein tiefes Gefühl. Es ist Sehnsucht, es ist Dankbarkeit, es ist Angst – ein Zwischending, ein Gefühl, das er in sich hat und nie richtig zu fassen bekommt. »Okay. Mein Onkel.« Tiefer Atemzug, er rollt die Schultern zurück. »Er ist meine Familie. Ich meine … alles, was noch übrig ist.«

Emil greift erneut zum Stift. »Was ist mit deinen Eltern?«

»Tot. Beide. Meine Mom war Malerin, wie gesagt. Ich meine, keine professionelle, nicht so wie du. Sie saß im Union Market drüben in Park Slope an der Kasse. Und dann: Autounfall.« Henry schaut jetzt hinaus in die Nacht, seine Stimme ist belegt. »Ein paar Jahre später starb mein Dad. Geplatztes Aneurysma. Ich war zehn.« Noch ein Schluck Whiskey. Die Gefühle sind zu stark, er findet nicht die richtigen Worte. Doch Emils Aufmerksamkeit ist offenbar auf seine Hände gerichtet. Detail Nummer eins fällt Henry selbst auf: Sie sind zu Fäusten geballt. Detail Nummer zwei: die Narben auf den Knöcheln.

Scheiß auf den Whiskey. Er stellt den Becher weg, zündet den Joint wieder an, nimmt einen tiefen Zug und reicht ihn an Emil weiter. Ein Moment der Anspannung, dann sagt er: »Onkel Shecky nimmt mich also zu sich, und er führt mich ins Familiengeschäft ein. Und ihm ist egal, dass ich erst zehn bin, dass ich fünfzehn bin, dass ich jetzt zweiundzwanzig bin. Es ist immer dasselbe. Er bringt mir was bei.«

»Und was bringt er dir bei?«

»Alles Mögliche. So Zeug wie variable Darlehen, tilgungsfreie Darlehen.«

»Er kümmert sich um Hypotheken?«

»Und um Familienunternehmen und Einmannshows und um profitable Non-Profits.« Henry lächelt, kommt in Fahrt. »Und um Durchlaufkonten und um Offshore-Konten – lauter krassen Scheiß. Was immer der Klient braucht. Mein Onkel ist ein Genie.« Henry nimmt Emil den Joint ab. Drückt ihn aus und sagt: »Onkel Shecky ist völlig verrückt und abgedreht. Und dabei zieht er keine Show ab. Er ist toll, und er ist anders, und er weiß es nicht mal.«

»Und ich hab über dich gerade dasselbe gedacht«, sagt Emil.

Ihre Blicke treffen sich, Henry schaut weg. Als er wieder hochsieht, ist seine Stimme klar, die Fäuste haben sich gelöst. »Jetzt du. Heroin, Fentanyl – wie läuft das?«

Emils Lächeln wirkt gequält, als würde er seinem Arzt von einem peinlichen Jucken erzählen. »Hatte irgendwie gehofft, wir könnten uns das Thema sparen.« Die Hand verschwindet in der engen Jeans, zum Vorschein kommt ein Ziplock-Beutel. Darin: Minitütchen, vielleicht ein Dutzend. »Ich kaufe für zehn und verkaufe für zwanzig.« Ein Schulterzucken, als wäre nichts dabei, aber es ist ihm offensichtlich unangenehm. »Nur ein Nebenjob.«

»Was soll ich sagen? Wer im Glashaus sitzt …«, sagt Henry.

»Aber?«

»Opioide verticken ist Kacke. Seit das Zeug in der Vorstadt angekommen ist, fahren die Gerichte einen knallharten Kurs. Leichen mit Überdosis findet man inzwischen überall – ich meine, Scarsdale, da leben die Richter. Es passiert praktisch bei denen im Vorgarten. Deshalb werden diese irren Strafen verhängt. Fazit?« Henry beugt sich vor und legt Emil schwer die Hand auf die Schulter. Spürt, wie Hitze in ihn eindringt, sich in seinem Körper verteilt. »Lohnt. Sich. Nicht.« Er lockert den Griff. »Da gibt’s bessere Möglichkeiten.«

Emil senkt die Stimme. »Ich bin offen für Vorschläge.«

Mit einem Raubtiergrinsen stößt Henry Emil sanft den Ellbogen in die Rippen. »Du arbeitest in Zukunft für mich.«

***

Der nächste Tag, eine Baustelle. Die Sonne scheint. Henry hält schützend die Hand über die Augen. Emil zieht sein Skizzenbuch raus, das, wie Henry bei Tageslicht sehen kann, einen geblümten Einband hat.

Emil fragt: »Was sehe ich?«

»Einen Klienten.« Henry winkt einem der Bauarbeiter zu, der Mann winkt zurück – zögernd, als wäre er über Henrys Besuch überrascht. Misstrauisch. Er mustert Henry eine Zeit lang, dann wendet er sich wieder seinen Gerätschaften zu.

»Die meisten unserer Klienten sind anständige Leute«, sagt Henry. Er holt ein Tütchen raus, dreht sich einen Joint. »Zwei Drittel sind kleine Ladenbesitzer. Ganz normale Brooklyner, die keinen Bock drauf haben, dass ihnen das Finanzamt in die Tasche greift. Also nehmen wir ihr Geld und laden es auf Amex-Karten. Oder wir zahlen mit der Hilfe großzügiger Verwandter ihre Rechnungen – die fetten Studiengebühren und so weiter.«

»Ihr habt Kontakt zu deren Verwandten?«

»Die sitzen im Ausland«, sagt Henry. »Und außerdem sind sie erfunden.«

Emil hat aufgehört zu zeichnen und schüttelt bewundernd den Kopf. Dann macht er sich wieder an die Arbeit.

»Das ist also Szenario A, der Steuertrick. Und manchmal ist es andersrum.« Henry versucht, den Joint anzuzünden, aber der Wind bläst die Flamme aus. »Die wollen keine Steuern vermeiden.« Er dreht ein zweites Mal am Rad, und der Joint fängt Feuer. »Die wünschen sich Steuern.«

Wieder lässt Emil das Skizzenbuch sinken. »Die wollen Steuern zahlen?«

»Tun wir mal so, als ginge es um Mel.« Henry deutet zu dem Bauarbeiter rüber, dem er eben zugewunken hat. »Sagen wir, er ist ein Subunternehmer, ohne Lizenz, inoffiziell. Und er kassiert schwarz, unterm Tisch. Ein Traum, oder? Keine Steuern, keine Sorgen. Aber dann wird ihm die Leine angelegt.« Henry tippt sich an den Ringfinger. »Frau, Baby. Sie brauchen Platz. Und die Bank so: Was wollt ihr? Einen Immobilienkredit? Dann präsentiert uns erst mal ein regelmäßiges Einkommen.«

Emil gibt auf und steckt das Skizzenbuch weg. Nimmt Henry den Joint ab. »Und wie funktioniert das?«

»Schritt eins ist derselbe. Wir nehmen das Geld. Und dann legen wir eine dicke, fette Fährte, ganz klassisch auf Papier.« Henry gibt Emil Feuer. »Handelsregisterauszug, Bescheinigungen für dies und das, Aufträge, Rechnungen, Zahlungseingänge.« Steckt das Feuerzeug weg. »Jetzt hat Mel ein regelmäßiges Einkommen. Und wenn Mel möchte, drucken wir ihm noch ein paar hübsche Steuerbescheide dazu. Damit kann Mel zurück zur Bank laufen und bekommt seinen Kredit. Frau glücklich, Mel glücklich. Und nichts anderes wünschen wir für unsere Klienten.«

In der Nähe: das schrille Piepen eines zurücksetzenden Lastwagens. Sie warten, bis es vorbei ist.

»Okay, also zwei Drittel eurer Klienten sind Mels«, sagt Emil.

»Und kleine Ladenbesitzer.«

»Richtig.« Emils Augen blitzen. »Und die anderen?«

Henry nimmt den Joint wieder an sich, sein Gesicht ist ein abweisendes Pokerface. »Nicht dein Problem. Nicht dein Bier.« Einen Moment herrscht Stille, dann sagt er etwas netter: »Nichtwissen ist ein Segen. Sagt Onkel Shecky. Was wir hier tun – in diesem Augenblick, auf dieser Baustelle –, werden wir nie wieder tun. Du wirst niemals einen Klienten zu Gesicht bekommen. Nichtwissen ist Sicherheit. Für die, für dich. Hör zu.« Er schnippt die Glut weg und steckt den Joint zurück in die Tüte. Er nimmt Emil am Arm und verlässt mit ihm die Baustelle. »Die Dunkelheit ist dein Freund. Ich bin in meiner Familie für die Kuriere zuständig, und eins kann ich dir versprechen.« Er beugt sich vor – sein Mund, Emils Ohr – und sagt: »Ich kümmer mich darum, dass du im Dunklen bleibst.«

***

Die Gasse liegt im Schatten. Es ist kühl. Henry führt Emil bis ganz nach hinten durch. Bleibt vor einem Müllcontainer stehen. Hier riecht es unerwartet frisch, der Geruch von Sägespänen. Aus dem Container ragen kaputte Latten und abgebrochene Sperrholzplatten heraus.

Emil zückt sein Skizzenbuch. »Was sehe ich?«

Henry breitet die Arme aus. »Deinen Arbeitsplatz.«

Emil wirft Henry einen Blick zu – Willst du mich verarschen? –, und Henry tritt lächelnd an den Container, packt eine der Latten und stochert damit im Müll herum. »Normalerweise sind die Abholstellen nicht so sauber, aber das ist nun mal der erste Part des Jobs. Also: Es läuft so.« Er beugt sich vor, greift in den Container und zieht einen Müllsack heraus. Hält ihn für Emil hoch. »Das ist deine Ware.«

Emil starrt Henry an: Geht’s noch?

Zum ersten Mal in Emils Gegenwart – es kommt ihm vor wie zum ersten Mal im Leben – fängt Henry schallend an zu lachen.

Einen Fußmarsch, eine U-Bahn-Fahrt, einen Bus später betreten sie eine Western-Union-Filiale.

»Und das ist deine Abgabestelle«, sagt Henry und reiht sich mit Emil in die Warteschlange ein. »So einfach. Du holst die Ware, du lieferst die Ware, ich bezahle dich. Leicht verdientes Geld. Höchstens eine Stunde Arbeit. Für eine normale Tüte gibt’s fünfzig. Für eine große hundert. Du steigerst dich langsam.« Die Schlange kriecht an einem Stehtisch mit einem Stapel Überweisungsformulare vorbei. Henry nimmt sich eins, zeigt es Emil. »Das füllst du aus. Du bekommst vorab die Kontonummer. Und die Bankleitzahl. Manchmal musst du die Ware aufteilen – auf verschiedene Konten. Oder du musst zu verschiedenen Filialen oder Banken gehen. Postämter, Drugstores – die machen inzwischen alle Geldtransfers. Ich sag dir immer genau, wo du hinmusst. Du bekommst klare, eindeutige Anweisungen.«

Emil zeichnet, was sonst? Er hebt kaum lange genug den Blick, um zu sagen: »Wir geben den Klienten also ihr Geld zurück …«

»Damit sie es ausgeben können«, sagt Henry. »Manchmal geht es ins Ausland und von dort wieder zurück. Manchmal ist es eine direkte Bareinzahlung. So wie die hier.« Er raschelt mit der Tüte. »Das geht direkt auf mein Bankkonto. Das ist meine Tüte. Mein Geld. Die hab ich selbst dort deponiert. Zu Demonstrationszwecken.«

»Deine Tüte?« Emil lässt das Skizzenbuch sinken. »Und der Bauarbeiter …«

»Irgendein Typ.« Henry zuckt mit den Schultern. »Noch nie gesehen.«

Emil wirkt ein bisschen verletzt. »Du hast mich verarscht.«

»Dir was beigebracht.«

»Und woher soll ich wissen, was wahr ist und was nicht?«

Henry sieht ihn herausfordernd an. Lächelt. »Du musst mir eben vertrauen.«

 

In den folgenden Wochen absolviert Emil seine Ausbildung. Henry bringt ihm Codewörter bei und wie man anonym telefoniert und selbstlöschende Nachrichten verschickt. Wann man Einwurfkästen benutzt und wann man direkt am Schalter einzahlt. Wie man einen Verfolger erkennt – und wie man ihn abhängt. Er lehrt ihn die Kunst der Geduld. Die Lage der Notverstecke – Orte, an denen man schnell verschwinden kann, falls Plan A den Bach runtergeht.

»Ich hätte es nicht erwartet«, sagt Emil eines Nachmittags, »aber das macht Spaß.« Es ist Mai, und Brooklyn ist schön wie nie. Emil ist jetzt offizieller Kurier. Die Arbeit, sagt er zu Henry, beflügelt seine Kunst: »Ich gehe jetzt mit offenen Augen durch die Stadt.« Ahornbäume und Platanen, Plastiktüten in den Zweigen wie wehende Wimpel. Unkraut, das im rissigen Asphalt des Gehsteigs blüht. Mädchen in Röcken, Babuschkas mit blau getönten Haaren. »Ich habe mit einer neuen Serie begonnen. Hier und da etwas Farbe, aber hauptsächlich Kohlestift. Und keine festen Konturen. Alles fließend und dynamisch – und ausschließlich Motive aus Bushwick.«

Henry kann es kaum erwarten, Emils Arbeiten zu sehen. Er liebt das, die Fachsimpelei, die Verbindung zu einem arbeitenden Künstler – ihn zu unterstützen, gewissermaßen. Und er merkt, wie auch seine Arbeit sich unter Emils Blick entwickelt.

Im Juni erhält Emil den Auftrag, im Thirsty Bear eine ganze Wand zu gestalten, und nimmt sich bei Henry eine Auszeit. Doch schon im nächsten Monat ist er als Kurier wieder am Start, und von da an arbeitet er regelmäßig für ihn. Wöchentliche Treffen. Whiskey. Nächtliche Gespräche über Twombly, Gespräche über Haring.

»Ich arbeite an was Neuem«, verkündet Emil eines Abends.

»Die Kohle-Serie?«

»Hat sich weiterentwickelt«. In Emils Stimme schwingt was seltsam Schweres mit. Er hat Schatten unter den Augen, wirkt irgendwie gehetzt. »Ich nenne sie ›Origins‹.«

»Wessen Ursprünge sind gemeint?«

»Keine Ahnung«.

»Du weißt es nicht?«

Auch diese Frage lässt Emil unbeantwortet, und als sie sich trennen, beschleicht Henry ein ungutes Gefühl.

Am nächsten Tag soll Emil wieder eine Tüte Bargeld befördern, sein erstes Schwergewicht. Doch er kommt an der Abgabestelle, dem MoneyGram in der Jay Street, nie an, und als Henry ihn endlich findet, ist seine Leiche längst kalt.

2

»Also, mal sehen«, sagt die Perücke. »Sie werden wieder bei Ihren Eltern einziehen. Richtig?«

Es ist Juni, ein Monat vor dem Mord, und Kerasha Brown sitzt ihrer Bewährungshelferin gegenüber. Wenn das Freiheit ist, denkt Kerasha, war ich im Franklin besser dran. Sechs stumpfsinnige Jahre, ein Viertel ihres Lebens, aber nicht ein einziges Mal – und dieser Trost kommt leider zu spät, wie das Trost nun mal so an sich hat –, nicht ein einziges Mal musste sie im Knast den Anblick dieser strähnigen Perücke ertragen. Igitt! Die Frau fummelt in bunten Schnellheftern. Leckt sich nach jeder umgeblätterten Seite den Zeigefinger. »Also, mal sehen«. Ihr Sprachtick. Diese Frau sieht gar nichts, das steht fest. Die Strähnen, die Schnellhefter – diese armselige Kreatur ist absolut blind.

Kereshas Vater war vor zwanzig Jahren plötzlich tot umgefallen, Herzinfarkt, und sie war kaum richtig in Franklin angekommen, als sich Mama den goldenen Schuss setzte. Also nein, Miss Perücke, Sie sehen nicht, und das stimmt so nicht. Aber Keresha sagt nichts. Schweigen und ein dämliches Grinsen auf dem Gesicht, hat sie festgestellt, sind ihre schärfsten Waffen gegen stumpfsinnige Bürokraten. In Wahrheit läuft ihr Verstand grundsätzlich auf Hochtouren, bremst kaum jemals ab, und jetzt, in diesem Augenblick, geht ihr eine Zeile von Paul Laurence Dunbar durch den Kopf: Wir tragen die Maske, die grinst und lügt.

»Also, mal … Ah, hier ist ja Ihre Akte.« Strahlend schwenkt die Frau den Schnellhefter. Kerasha ist neidisch auf die Leichtigkeit, mit der dumme Menschen Stolz empfinden. Hofft, dass im Umkehrschluss das Elend ihres eigenen Lebens ein Beweis für Intelligenz ist. Ein armseliger Ausgleich, aber sie ist eine vollverwaiste Ex-Knacki und der Gnade einer gesträhnten Perücke ausgeliefert. Armselig muss reichen.

»Ach, richtig. Sie werden bei Ihrem Onkel leben. Und er hat für Sie als …« Halblaut murmelnd ackert sie sich durch die Akte. Kerasha lässt den Blick durchs Zimmer schweifen. Als geborene Diebin entdeckt sie auf Anhieb ein halbes Dutzend Stellen, in die sie mal kurz reingreifen könnte, wenn sie Lust hätte. Die riesengroße, pinke Geldbörse der Perücke. Mit halb offenem Reißverschluss, keine Armeslänge von ihr entfernt. Der beigefarbene Aktenschrank hinter ihr, mit Stickern beklebt, hauptsächlich Feen und Frösche. Das Schloss würde nicht mal einem Zahnstocher standhalten. In dem Schrank: Bewährungsakten. Kerasha hat zugesehen, wie ihre eigene, zerfledderte Akte – ihr zerfleddertes Schicksal, besser gesagt – der zweiten Schublade von unten entnommen wurde. Bewährungsakten bedeuten Namen, Geburtsdaten und Sozialversicherungsnummern. Nicht nur die Daten von auf Bewährung Entlassenen, sondern auch die Daten von denen, die für sie die Kaution gestellt haben. Der Straßenverkaufswert einer ungeschwärzten Bewährungsakte liegt bei hundertfünfzig Dollar. Was man im Franklin so alles lernt.

Die Perücke liest, als wären Worte nur Geräusche. Dann schiebt sie Kerasha ein paar Formulare über den Tisch zu. »Unterschreiben Sie bei den Post-it-Klebern. Die hab ich Ihnen extra da hingemacht.« Ihr Lächeln sagt Kerasha, dass der Moment für Dankbarkeit gekommen ist. Kerasha kennt dieses Lächeln von Schwester Xenia, der Oberschwester in dem Rehazentrum, in dem sie den letzten Monat verbracht hat. Die Formulare sind ein farbloser Regenbogen aus Durchschlagpapier. Sie riechen nach Schießpulver.

Wir tragen die Maske, die grinst.

»Die Kleber sind echt praktisch«, sagt Kerasha. »Danke sehr!« Sie unterschreibt die Papiere. Schiebt sie über den Tisch zurück. Die Perücke mischt sie neu, klemmt manche mit Büroklammern zusammen, heftet andere. Ordnet sie zu drei Stapeln. Nuschelt irgendwas von »Haftentlassung auf Bewährung« und »Auflagenverstoß«, und Kerasha wünschte, sie wäre in der Lage zuzuhören. Weiß, dass sie zuhören müsste, aber sie ist abgelenkt, zappelig, nervös, kann es nicht erwarten – und das verwundert sie selbst –, endlich zurück zu den Barmherzigen Schwestern zu kommen. Heute Abend gibt es farblose Gemüsesuppe und labbrige Butterbrötchen – das ist schon mal kein Anreiz. Aber unter der durchgelegenen Matratze, die sie sich mit einer verhinderten Selbstmörderin teilt, wartet eine hinreißende Ausgabe der Bekenntnisse des heiligen Augustinus. Erst gestern Abend hat sie das Buch aus Schwester Xenias verriegelter Bibliothek befreit. Blieb wach, las, wie Augustinus eine Frau in seiner Kirche von hinten fickte und ihre Schreie synchron zum Läuten der Kirchenglocken timte. Genau so muss man’s machen, denkt sie. Wenn du weißt, dass dir die Rettung gewiss ist, lass dich vorher fallen, und zwar bis ganz nach unten.

Bei »Ihr Termin« zerplatzt der Tagtraum von ihrem Lieblingsheiligen. Konzentrier dich, Kerasha. Es gilt Regeln zu befolgen. Erstens: Nie wieder erwischen lassen. Zweitens: Wenn du einen Termin hast, geh hin. Das Franklin war nicht die Hölle, bei Weitem nicht. Aber sie hat auf dem Weg nach draußen die Wärterin beklaut, und wenn’s um Rache geht, können Wärter einen erstaunlichen Eifer an den Tag legen. Wieder einfahren ist keine Option.

Auf dem Weg zur Tür nimmt sie den Terminzettel vom Tisch. Dr. Andrew Xu, morgen, sechzehn Uhr. Offensichtlich ist jetzt eine ärztliche Untersuchung an der Reihe, bei Andrew – natürlich ein Typ. Der sie mit seinen Schwitzgriffeln überall betatschen wird. Danach muss sie sich entscheiden: Ihn anzeigen und weiter zum nächsten Grapscher oder ihm den Pimmel abreißen und zurück in den Knast gehen. Fick dich, Andrew Xu. Fick dich und deine klebrigen Hände.

Jetzt schon vergewaltigt, fängt sie an, Rachepläne zu schmieden.

Andrew Xu stellt sich als schmächtiger, kahl werdender Mann mit dünnem Pferdeschwanz heraus, der ihm bis auf den Rücken fällt.

Stellt sich doch tatsächlich als Psychiater raus, dieser Wichser.

Er deutet mit kleinen, mädchenhaften Händen auf die Couch gegenüber von seinem Sessel. Dr. Andrew Xu wird zur größten Herausforderung ihres Lebens werden. Das ist Kerasha augenblicklich und mit absoluter Gewissheit klar. Das flüstert ihr der heilige Sankt Augustinus persönlich ins Ohr.

Sie muss an die Perücke denken und weiß, dass dieser Mann ihre Rache ist. Natürlich ungeplant, aber in einem Akt kosmischer Gerechtigkeit, an die Kerasha eigentlich nicht glaubt. Rache dafür, dass Kerasha sie beklaut hat. Einen halben Block entfernt von der grässlichen, nuschelnden Aktenfresserin spürte Kerasha etwas Schweres in ihrer Tasche. Griff hinein und ertastete einen Tacker. Sie hatte nicht vorgehabt, das Teil mitgehen zu lassen, hatte es nicht mal bewusst mitbekommen. Manchmal erledigen eben die Hände für einen die Arbeit.

Dazu hat Dr. Xu mit Sicherheit was zu sagen. Falls sie’s ihm erzählt.

Falls sie ihn reinlässt.

3

Familie. Shecky Keenan glaubte lange, er würde nie eine haben. Aber am Tag vor Emils Ermordung kommt er nach Hause, wischt sich den Schweiß von der Stirn, und da sitzen sie, bei ihm zu Hause, um den Esstisch versammelt. Zwei Vollwaisen, Cousin und Cousine, und obwohl alle gemischter Abstammung sind, gelten Henry und Shecky als weiß und Kerasha als schwarz. Für Shecky ist genau das der Beweis. Es belegt, dass sie drei die Familie sind, die er zusammengeschweißt hat. Shecky würde keine andere wollen.

Henry, hochgewachsen, sehnig, drahtig, ist für Shecky wie ein Sohn. Seine Mutter Molly war Sheckys Cousine ersten Grades. Als Teilzeitmalerein und Vollzeittrinkerin soff sie sich via Autounfall zu Tode. Henry war damals sieben Jahre alt. Sein Vater Alessandro gab drei Jahre später den Löffel ab, starb mit einem Hirntumor und, rein technisch, an einem Aneurysma. Armes Schwein. Alessandro verbrachte sein letztes Jahr in der Geschlossenen, weil der Tumor den sanftmütigen Mann in ein Monster verwandelt hatte.

Und wie Henry sich verändert hat. Als er bei Shecky in der Hart Street einzog, war er ein pummeliger Fünftklässler. Konnte nachts nicht allein schlafen. Zu Hause ständig am Heulen, in der Schule ständig am Prügeln. Shecky schaudert, wenn er an die Geschichten zurückdenkt. Der Stift, den Henry einem anderen Kind in die Hand rammte, das Zahlenschloss, das er einem Klassenkameraden ins Gesicht drosch. Zu seiner Ehrenrettung muss gesagt werden, dass Henry nie der war, der anfing, und dass er Prügeleien mit Kleineren aus dem Weg ging. Aber ein Arschloch, das es nicht anders verdient hatte, brachte Henry sofort auf Touren. Sozialarbeiter und Lehrer waren sich einig: Henrys Schlägereien waren blutig und brutal – auf die Augen, in die Eier, Handkantenschläge gegen den Kehlkopf. Von der Hälfte der Vorfälle erfuhr Shecky kein Wort. Henry kam einfach nur mit zerrissenen Klamotten und frisch bandagiert nach Hause. Und sagte keinen Ton, weil er keine gewaltfreie Möglichkeit kannte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ein wahres Wutbündel. Und jetzt sieh ihn sich einer an. Er ist in seine Wut hineingewachsen. Ein kräftiger Kerl, breite Schultern, breite Brust. Knapp eins neunzig groß, die Beine ruhen unter dem Tisch auf dem Stuhl gegenüber. Man würde nicht auf die Idee kommen, dass Henry und Shecky dieselbe DNA teilen. Aber scheiß auf Äußerlichkeiten, der Beweis liegt vor ihm, direkt auf dem Esstisch.

Der Zeichenblock ist größer als ein Pizzakarton. Henry sitzt davor, einen Bleistift in der Hand. Das Zeug besorgt er sich in dem Laden für Künstlerbedarf drüben auf der Myrtle Avenue. Wie viele Biere man dafür hätte kaufen können, würden andere Kids wahrscheinlich denken. Es ist fast ein Witz: Ein starker, körperbetonter Junge wie Henry sitzt schuftend – und das ist das richtige Wort dafür – schuftend – über Skizzen. Die Gemälde stehen unten bei Henry im Keller, aber seine Skizzen sind im ganzen Haus verteilt. Auf der Veranda zum Hinterhof hat Shecky Blätter gefunden mit Zeichnungen von dem Kater, der in der Gasse jagt und fickt. Oben im Arbeitszimmer, wo Henry ihm inzwischen immer öfter zur Hand geht, findet Shecky den Schreibtisch übersät mit Skizzen von Gesichtern und Hinterzimmern, die Henry über den Familienbetrieb kennengelernt hat. Der Junge mit der gewalttätigen Ader sitzt hier und versucht, diesen Hang irgendwie in Schönheit zu verwandeln. Und vielleicht auch, seiner toten Mom gerecht zu werden.

Shecky liebt es, darüber nachzudenken, über die künstlerische Ader in seiner Familie. Er selbst war vier Jahre Mitglied der Theatergruppe an der Bushwick Highschool, davon zwei Halbjahre als Kassenwart. (Die Theatergruppe beklaut hat er viel seltener als für sie geklaut, obwohl er denen weiß Gott die ganze Bude hätte leer räumen können.) Immer noch begeisterter Theatermime, hat er in der jährlichen Aufführung der Watts-Community-Theatergruppe erst letztes Jahr den Geist der zukünftigen Weihnacht gespielt. Er hat also Verständnis für Henrys Bedürfnis, etwas Großes und Wahres auszudrücken. Kennt die Macht dieses Drangs, die darin verborgene Gewalt, und weiß, dass man nicht dagegen ankommt, wenn dieser Drang sich regt. Man selbst ist nur das Fahrzeug, und etwas Krasses hält das Steuer in der Hand.

Henry lebt jetzt seit zwölf Jahren bei ihm – zwölf –, und jedes Jahr ist wie im Flug vergangen. Kaum zu glauben. Das ist die Kehrseite des Glücks, das, was das Leben einem dabei nimmt. Die Zeit löst sich auf, einfach so. Aber Shecky wird den Preis bezahlen, sogar den doppelten, wenn’s sein muss. Er, der in Elend und unsagbarer Brutalität aufwachsen musste, der zwischen drei grausamen Onkels rumgereicht wurde wie ein schmutziger Joint. Onkel Samuel, der ihn verprügelte, ihm mit einem Rohr die Fußgelenke zertrümmerte. Onkel Joseph, der Sheckys Namen und seine Sozialversicherungsnummer benutzte und Sheckys Sozialhilfe versoff. Über Onkel Thomas kein Wort.

Henry dreht den Zeichenblock um neunzig Grad. Nimmt sich einen anderen Blickwinkel vor. Das Gesicht konzentriert in Falten gelegt, der rechte Handballen schwarz von Graphit. Vielleicht wird der Junge sich wieder prügeln, aber in diesem Augenblick – und Sheckys Jahre der Einsamkeit haben ihn die Kostbarkeit von Augenblicken gelehrt – ist Henry Künstler.

Shecky sieht zu Kerasha, seinem zweiten Schützling. Das Wunder ihrer Ankunft letzten Monat ist noch frisch, und es kommt vor, dass er, wenn er gedankenverloren die Küche betritt, bei ihrem Anblick erschrocken zusammenzuckt. Oder sich, wenn er ins Bad geht, über den Lavendelduft wundert und einen Moment braucht, ehe ihm klar wird, dass es der Duft ihrer Körperlotion ist. Kerashas Bad übrigens – er und Henry sind mit ihren Siebensachen ins Erdgeschoss umgezogen. Sie ist schön, Kerasha mit den scharfen Augen, den stillen Füßen, den flinken Fingern. Gut möglich, dass Shecky voreingenommen ist, aber seiner Meinung nach sind sie drei eine absolut wunderbare, perfekte Brooklyner Familie – eine Gemeinschaft von Außenseitern.

»Ich hab Neuigkeiten«, sagt Kerasha. »Von meinem kleinen Forschungsprojekt.«

»Warte noch«, sagt Shecky. Er nickt Richtung Henry, der, zum Glück, nicht von seinem Block aufgesehen hat. Kerasha schenkt ihm das schmallippige Lächeln einer Mitverschworenen: Wir reden später. Sie wendet sich wieder ihrem Buch zu.

Man muss dem Mädchen zugutehalten, dass sie vom ersten Tag an mitgearbeitet hat. Und nicht mal mit der Wimper zuckte, als er ihr erklärte, das Grundprinzip ihres Familienunternehmen sei die strikte Aufgabentrennung. »Ich vertraue dir genauso, wie ich Henry vertraue«, sagte er zu ihr. »Aber wenn’s ums Wegsehen geht, musst du mir vertrauen.«

Wie entspannt, wie ganz bei sich sie wirkt, lässig hingefläzt in den Ledersessel, den Shecky in der Ecke stehen hat. War früher mal sein Lieblingsplatz, wenn er gerade nicht am Tisch aß. Inzwischen würde er den Sessel ohne Erlaubnis nicht mal mehr anfassen. Und Shecky ist froh darüber, froh, dass Kerasha in seinem Haus einen Platz für sich reklamiert. Sie hat einen Fuß auf der Fensterbank, der andere schaukelt im Takt zu – Moment mal, was liest sie da? –, ach du Scheiße, Sophokles, Jesus Christus! Von wegen leichte Kost. Heute morgen war es noch ein Gedichtband. Sie hat jeden Tag ein neues Buch in der Hand, manchmal sogar zwei, und das bereitet ihm Kopfzerbrechen.

Die Bücher sind alle geklaut.

Sie kann sie zurückbringen.

Dem Knast ist es egal, dass sie hauptsächlich Taschenbücher mitgehen lässt, die heutzutage weiß Gott nichts mehr wert sind.

Der Knast weiß nur eins: Willkommen zurück!

Aber das wird Shecky nicht zulassen.

Du meinst, du wirst es nicht noch mal zulassen, flüstert eine grausame Stimme in seinem Kopf.

Die verschwommene Erinnerung an die versiffte Wohnung seiner Cousine Paulette, in der Shecky genau ein einziges Mal war, an ein kleines Mädchen mit riesengroßen Augen, dürr und blitzschnell. Die riesengroßen Augen hatten ihn fixiert, waren bis in sein Innerstes gedrungen – bis er schließlich den Blick abwandte und von da an immer weiter wegsah. Jahrelang. Und dann hatte er irgendwann gehört, sie sei verhaftet worden. Höchststrafe im Jugendarrest, zusätzlich verlängert wegen diverser Ausbrüche. Und plötzlich hatte er an nichts anderes mehr denken können als an den lange verdrängten Besuch in Paulettes Wohnung. Die Erinnerung an das Mädchen mit den Riesenaugen ließ ihn nicht wieder los. Ihr Blick, auf ihn gerichtet, herausfordernd. Verletzlich.

Ich bin schlauer, ich bin schneller, sagte sie stumm. Du hast keine Ahnung, wozu ich in der Lage bin. Du hast keine Ahnung, was ich getan habe. Ihr Blick war wie ein gereckter Mittelfinger gewesen, aber er hatte die Sehnsucht dahinter gespürt. Sie hatte gewusst, dass er ihrem Blick nicht standhalten würde, aber sie hatte sich so sehr jemanden gewünscht, der es versuchte.

Und als er sich jetzt auf seinen Platz am Esstisch setzt, denkt Shecky wieder an den Tag, als er den Antrag stellte, Kerashas Bewährungsbetreuer zu werden – genau hier hatte er die Unterlagen unterschrieben, auf diesem Stuhl. Er erinnert sich, wie er ein allerletztes Mal die Seiten durchblätterte, alle Angaben noch einmal prüfte und wie ihm bewusst geworden war, dass er so gut wie gar nicht hatte lügen müssen. Es ging fast gegen seine Berufsehre, ein offizielles Dokument so einzureichen. Ohne Gewinn. Doch er hatte das Gefühl und hat es noch, dass dieser Antrag ein Versprechen war.

Du hast hier ein Zuhause, sagt er in Gedanken zu Kerasha, die ihn quer durchs Zimmer ansieht. Das hier ist dein Zuhause, und ich bin deine Familie.

Solange du mich haben willst.

Kerasha, die verfluchte Gedankenleserin, schenkt ihm beim Umblättern ein flüchtiges Lächeln.

»Mein Zuhause, meine Familie«, sagt Shecky laut, hört seine zittrige Stimme, hofft, dass die Kids ihn deswegen nicht auslachen. Meine Familie – was davon übrig ist.

Eines Tages wird er ihnen von Dannie erzählen, seiner großen Schwester. Er will Henry von dem Mädchen erzählen, das, so wie er, immer schnell mit den Fäusten war. Und Kerasha würde vielleicht die Tatsache interessieren, dass Sophokles in ihrer Familie kein Unbekannter war – Dannie hatte an der Highschool die Antigone gespielt. Und vielleicht würde Kerasha lachen, wenn sie hörte, dass Shecky – damals noch ein kleiner Junge –, als auf der Bühne Antigones Selbstmord verkündet wurde, so laut und so unablässig geweint hatte, dass er aus dem Saal getragen werden musste.

Was Dannie wohl denken würde, wenn sie jetzt hier wäre. Der Kunstvollstrecker mit seinem Skizzenblock. Die Diebin und ihre Poesie. Und Shecky selbst, ein grau gewordener Geldwäscher, der in dem Versuch, in Dannies Fußstapfen zu treten, stümperhaft Theater spielt. Ja, wenn Dannie jetzt hier wäre, würde sie ein Wunder sehen. Ein Zuhause. Eine Familie. Wenn es noch heilige Worte gibt, dann diese.

Und Herrgott, Scheiße, Shecky braucht den Trost dieser Worte, und wie. Denn es gibt durchaus auch unheilige Worte, und die fliegen ihm gerade um die Ohren.

Vor dem Haus: Ein Motor springt an. Shecky zuckt zusammen, geht zum Fenster – sieht nur noch das Heck eines Wagens um die Ecke biegen, war zu spät, um irgendwas zu erkennen. Nervös und mit gezwungenem Lächeln kehrt er zurück an den Tisch.

»Alles okay?« Kerashas Augen deuten zum Fenster zurück. Sie will eindeutig endlich ihre Neuigkeiten loswerden, aber er ist noch nicht bereit dazu, und außerdem sitzt Henry mit am Tisch.

»Nur ein Auto. Hab mich erschreckt.«

Doch in Wirklichkeit ist Shecky weit mehr als erschrocken, und dafür gibt es Gründe. Die E-Mail von der Bank of America letzten Mittwoch: Überweisung abgelehnt. Dann, Samstag, ganz altmodisch, ein Brief von Chase: Interne Überprüfung. Und dann, erst gestern, der Brief von Capital One in seinem Drugstore-Postfach: Kontosperrung.

Was Definitives hat Shecky nicht gehört, und nachforschen kann er nicht so einfach, weil die Konten nicht auf seinen Namen laufen. Doch seither quält ihn eine Frage, die der Teufel selbst ihm eingegeben haben muss. Die Frage hat Shecky heute morgen um drei aus dem Schlaf hochfahren lassen, hat ihn vor Angst husten lassen, bis ihm die Augen tränten.

Jetzt tränen sie wieder.

Verschwommen sieht er Henry seinen Bleistift spitzen. Sieht er Kerasha umblättern. Sieht er den leeren Stuhl, auf dem Dannie niemals sitzen wird. Und Shecky kann sie nicht mehr länger ignorieren – die Frage, die schon die ganze Zeit in ihm flüstert.

Sind sie mir auf den Fersen?

 

Shecky steht auf und geht in die Küche. Heizt den Backofen vor. Öffnet die Schränke, nimmt Teller heraus, Gläser. Denkt währenddessen darüber nach, wie wenig die Kids im Grunde wissen – über ihn, über alles.

Sie sind viel zu jung.

Für sie ist es unvorstellbar, dass man beim Aufstehen zwanzig Jahre alt ist und, wenn man sich zum Mittagessen hinsetzt, plötzlich achtundfünfzig. Dass es möglich ist, an die Hälfte seines Lebens keine richtigen Erinnerungen zu haben, dass die Zeit in einem verschwinden kann und dass ein einsames Herz schrumpfen und erkalten kann.

Und doch: Wie warm sein eigenes Herz in diesen Tagen schlägt, doppelt so schnell, wie es rast, verlorene Zeit wiedergutmacht, sobald er ins Zimmer tritt, sobald er seine Familie sieht. Die Zeit seiner kalten, einsamen Stille ist inzwischen über zwölf Jahre her. Es kommt ihm vor wie tausend.

Backofen vorgeheizt, Hühnchenapfelfrikadellen rein. Die Rigatoni ins kochende Wasser. Eine Prise Salz dazu. In den Wok: Olivenöl, grüne Paprika, rote Paprika, in Scheiben geschnittene Auberginen. Shecky, der in seinen Zwanzigern auch mal gekellnert hat, kommt mit Tellern, Gläsern und Besteck ins Esszimmer zurück. »Wie geht’s uns heute?«, fragt er und deckt den Tisch. »Was haben wir gemacht, wen haben wir gesehen?«

Schweigen, Kerasha lächelt ihn vielsagend an: Willst du wirklich wissen, was ich gesehen habe? Jetzt?

Shecky schüttelt verneinend den Kopf, sie zuckt die Schultern und kehrt zu Sophokles zurück.

Small Talk mit den beiden ist nicht zäh. Selbst zähes Fleisch hat man irgendwann weich gekaut. Es ist eher wie auf Granit beißen. Aber drauf geschissen, er wird sie immer lieben, er wird für sie da sein, auch wenn sie … Schluss damit. Denk nicht daran, dass sie irgendwann gehen werden. Häng dem Gedanken nicht nach, lass ihn nicht mal in deine Nähe kommen. Aber die Sache mit der Zeit ist die: Man kann ihr den Rücken zuwenden, sie reißt trotzdem alles mit sich.

Der Tisch ist gedeckt. Shecky stattet dem Bad im Erdgeschoss einen kurzen Besuch ab, öffnet das Milchglasfenster und späht in die Gasse. Bestandsaufnahme: Mülltonne, Recyclingtonne. Zwei rostige Fahrräder, ein kaputter Plastikschlitten, ein Stapel lose Bretter. Keine Spur vom Kater, kein Anzeichen von Gefahr – nur ein ganz normaler Sommerabend.

Shecky möchte es so sehr glauben.

Er schließt das Fenster. Spült, lässt Wasser laufen, immer schön so tun, als ob. Verlässt das Bad, geht zurück ins Esszimmer, und da sitzen sie, jetzt beide am Tisch – seine Kids.

»Kommt schon, Kinder, ich hab den ganzen Tag auf Tabellen gestarrt. Gebt mir irgendwas. Ein Grunzen. Irgendwas. Bitte, Leute.« Mit Verzweiflung in der Stimme: »Hallo? Jemand zu Hause?«

Das Geräusch von Henrys Bleistift. Augenrollen bei Kerasha, aber auch ein kleines Aufwärtszucken im Mundwinkel.

Kinder, denkt er und schüttelt über sich selbst den Kopf. Henry ist zweiundzwanzig, Kerasha dreiundzwanzig. Sie sind erwachsen, sie ziehen aus, sie ziehen weiter. Das ist doch dein größter Wunsch für sie – muss er sein –, und wenn der in Erfüllung geht, bist du wieder allein.

Shecky geht zurück in die Küche. Sieht nach den Frikadellen, dreht die Flamme unterm Gemüse runter. Kehrt mit Bier für alle ins Esszimmer zurück.

Guinness aus der Flasche – sein Vater würde brüllen, toben, um sich schlagen. Verdammter Frevel, würde er sagen und ihn gleich noch mal verstoßen. Aber das ist okay, Shecky ist schließlich nicht wie sein Vater. Zum einen – er ist am Leben, Gott sei Dank! Zum zweiten – er ist da, wo sein Vater nie zu finden war: zu Hause bei seiner Familie. Trotzdem fragt Shecky sich, was das Rassistenschwein zu den beiden Promenadenmischungen gesagt hätte.

»Schluss mit dem Small Talk«, sagt Shecky, als wäre er nicht der Einzige, der spricht. »Reden wir übers Geschäft.« Geschäft: Er hat das Wort kaum ausgesprochen, da haben die Kids schon die Blicke gehoben, schauen ihn an, Henry legt sogar den Stift weg. Geld kann eine Familie auseinanderbringen, aber in diesem Haus bedeuten Gespräche übers Geschäft Trost und Sicherheit.

»Morgen haben wir zwei Schwergewichte.« Er sieht Kerasha an, um sicherzugehen, dass sie weiß, wovon er spricht.

Sie zieht eine Augenbraue hoch: Im Ernst, Onkel Shecky, du stellst mich auf die Probe?

Shecky lächelt entschuldigend, aber er hat erst letzte Woche mit ihrem Training begonnen. Ihr beim gemeinsamen Gemüseschnippeln erklärt, dass ein Schwergewicht ein Haufen loser Scheine ist, zehntausend oder mehr, der in Buchgeld verwandelt werden muss – sauber, seriös, pseudonymisiert.

»Das erste Schwergewicht sind grob zweihundertfünfzig Lappen«, sagt Shecky. »Das zweite Schwergewicht sind exakt dreihunderttausend Frische.« Wieder wirft er Kerasha einen Blick zu: Kommst du noch mit?

Jetzt gehen beide Augenbrauen hoch.

Shecky lächelt wieder entschuldigend, dabei tut’s ihm überhaupt nicht leid. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ihr Schnitt von den zwei Schwergewichten morgen bedeutet eine Hypothekenrate für die Familie. Also, ja – Kerasha sieht alles, hört alles, sie ist in der Lage, einen Raum zu erfassen wie ein Scanner. Trotzdem ist es wichtig, dass sie lernt, einen Klienten an den Scheinen zu erkennen, die er liefert: die Schreibtischtäter mit ihren »frischen« Scheinen, glatt und sauber und wie neu. Die Straßenkunden, für deren speckige, dreckige, zerknitterte, labbrige Scheine man Gummihandschuhe braucht.

»Ein großer Tag für die Familie«, sagt er und schlägt mit dem Löffel an die Flasche. Bringt die Kids dazu, ihn anzuschauen. »Eine Tüte Frische, eine Tüte Lappen. Wie wär’s mit ’ner Runde Klientenraten? Was gehört wem? Und der Preis ist …«

»Die Lappen kommen von Red Dog«, fällt Henry ihm ins Wort. »Die Frischen vom Paradise Club.« Er gibt Shecky nicht mal die Chance zu bestätigen, dass er richtigliegt – was natürlich der Fall ist. »Und wo wir gerade von Red Dog sprechen …« Henry hebt mit zögerlichem Lächeln den Blick. »Eine Freundin hat mich da auf was gebracht.«

Shecky erstarrt. Die Ideen von Henrys Freunden sind selten gut, und es gibt da eine bestimmte Freundin – eine durchgeknallte Irre –, die, wenn es nach Shecky ginge, nichts verloren hat auf dem Familienfoto.

»Wir haben uns unterhalten, also wegen Red Dog …« Henry leckt sich die Lippen, wie um seinen Mund auf die Worte vorzubereiten, die als Nächstes kommen. »Also, na ja, schließlich habe ich das Geschäft an Land gezogen …« Er muss husten, fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Und verdammt noch mal zu Recht. Henry ringt sich ein gezwungenes Lächeln ab und presst schließlich heraus: »Ich finde, ich sollte einen Schnitt kriegen.«

Shecky holt tief Luft, schnaubt. »Du hast mit deiner Freundin über unsere Arbeit gesprochen?«

»Nicht im Detail«, sagt Henry schnell. »Nur über grundlegende Dinge. Also, dass ich für meine reguläre Arbeit auch regulär bezahlt werde. Wie ein Angestellter eben. Aber wenn ich Klienten ranschaffe – vor allem so einen fetten wie Red Dog –, macht mich das doch eigentlich …«

Kerasha ergänzt den in der Luft hängen gebliebenen Satz. »Zum Partner.«

Es ist, als wäre ein Weinglas runtergefallen: Niemand bewegt sich, die Luft schreit Alarm! Aus der Küche ertönt das Piepen der Küchenuhr, das Gemüse ist fertig. »Das ist ein bisschen früh«, sagt Shecky zu Henry und steht auf. Seine Stimme ist tonlos, kalt und klingt stärker, als er sich fühlt. Ruhig und gefasst geht er in die Küche. Und dort, erst dort, lässt er sich gegen die Anrichte sinken und erlaubt sich, das ganze Gewicht dieser Herausforderung tatsächlich zu fühlen.

Henry als Partner. Der nicht mehr zu Shecky aufsieht, sondern neben ihm steht. Kein Kind mehr ist. Nicht mehr sein Junge ist.

Wie soll ich ihn dann noch beschützen?

Mit trockenen Augen und ruhigen Händen trägt Shecky drei große Servierplatten ins Esszimmer. »So, bitte sehr, ist genug für jeden da.« Er verteilt Frikadellen auf die drei Teller, das Gemüse, die Nudeln. Endlich setzt er sich. Die Kids haben die Blicke auf ihn gerichtet, warten diszipliniert auf seinen Segen. »Danke dafür, dass ihr bei mir seid«, sagt er schließlich. »Danke dafür, dass ihr meine Familie seid.«

Die Kinder danken ihm ebenfalls, dann fangen sie an zu essen.

Das Schweigen, das die Mahlzeit eröffnet, ist schrecklich. Sie warten auf seine Reaktion.

Shecky lässt sich nichts anmerken. Nimmt sich noch einen Moment Zeit, um sich zu sammeln. Ein eigener Anteil für Henry – ein persönlicher Anteil, unabhängig von dem Schnitt für die Familie –, was hieße das, wohin würde das führen? Dazu, dass Henry aufsteigt? Oder aussteigt? Diese leeren, stillen Nächte, diese leeren, stillen Jahre – Shecky drängt sie beiseite, zwingt sich zu einem Lächeln. »Hey, wir leben alle zusammen unter diesem Dach.« Es fühlt sich an, als würde das Lächeln sich einen Kampf mit seinem Gesicht liefern. »Was uns gehört, gehört uns allen zusammen.«

»Mit Verlaub«, sagt Henry, »ich meine ja nur, dass sich meine Rolle verändert hat. Und dass wir das vielleicht berücksichtigen sollten.« Er wendet sich an Kerasha. »Du bist objektiv. Du bist unbeteiligt. Was sagst du dazu?«

Kerasha hätte fast gelacht. »Ich? Ringrichterin in diesem Kampf?« Langsames Kopfschütteln. »Das Erste, was man im Bau lernt – schlag dich nie auf eine Seite, bevor du weißt, wer die Klinge in der Hand hält.«

Shecky hat jetzt genug gelächelt. Hat genug von dieser ganzen beschissenen Unterhaltung. »Hey, das ist hier keine Ausschusssitzung. Es gibt nur eine Art, unsere Geschäfte zu führen, und die lautet – nicht jeder für sich.« Davon ist er überzeugt. Das müssen die Kids doch kapieren. Okay, Henry ist unreif. Er neigt zu Gewalt, und, noch schlimmer, er hat künstlerische Ambitionen. Also das Gegenteil von Geschäftssinn. Aber unterm Strich ist Henry durchaus verantwortungsbewusst. Mehr noch – machen wir uns nichts vor –, er ist unentbehrlich. Sein aufbrausendes Temperament, die Kraft seiner Arme und Fäuste, seine Bereitschaft, sich zu prügeln – tun dem Familienbetrieb gut. Mitbewerber machen Rückzieher. Säumige Zahler kommen in die Pötte. Und obwohl Gewalt niemals Sheckys erste Wahl ist, ist es doch gut, diese Wahl zu haben.

»Was wir verdienen, gehört der Familie«, sagt Shecky. »Wenn du willst, sehen wir uns die Zahlen an und …«

»Okay, machen wir das.«

»Nach den zwei Schwergewichten. Nachdem wir wissen, dass das Geld durchs System durch ist. Der Nächste ist – wann fällig? Am zehnten? Dann sind wir seit drei Monaten mit Red Dog im Geschäft. Ein volles Vierteljahr. Und du hast recht – er ist ein Großkunde. Das wird gefeiert.« Shecky geht in die Küche und kommt mit Whiskey und drei Schnapsgläsern zurück. Er schenkt ein und verteilt. »Morgen erledigen wir den nächsten Waschgang für den Klienten. Und Ende der Woche haben wir ein besseres Gefühl dafür, wie viel Umsatz er tatsächlich für uns bedeutet.« Er hebt das Glas. »Sláinte.«

Lange spürt Shecky Henrys Blick auf sich. Dann nickt der Junge, kippt den Whiskey, und im Zimmer ist wieder Luft zum Atmen. Henry hat einen Rückzieher gemacht, weiß wieder, wo sein Platz ist. Chaot. Ich lieb ihn über alles.

»Beide Transaktionen müssen morgen über die Bühne gehen«, sagt Shecky, nachdem er den Kids eine ruhige Minute zum Essen gelassen hat. An Kerasha gewandt, fügt er hinzu: »Nicht ideal, aber so ist es eben.« Henry fragt er: »Hast du Kuriere?«

»Einen Kurier«, sagt Henry. »Meinen Donnerstagsmann.«

Shecky lässt die Gabel sinken. »Was ist mit deinen anderen Leuten?«

»Na ja, ich hatte Donnerstag und einen Back-up. Back-up hat irgendwann angefangen, Spielchen zu spielen, wurde nachlässig, hat ab und zu lange Finger gemacht. Ich musste ihn an die Wand klatschen.« Er dehnt und reckt die Finger. »Seine Visage hat meine Hand verletzt.«

Shecky zuckt mit den Schultern. »Solange du deinen Job machen kannst. Nur das zählt.«

»Das ist nicht alles, was zählt. Nicht für mich.«

Und damit ist das Gespräch für ihn beendet, er versenkt sich wieder in seine Zeichnung. Er hat Glück, dass ich so ein Weichei bin, denkt Shecky. Er hat Glück, dass ich ihn liebe, weil – Herrgott, scheiße – bei dem Job geht’s eben nicht nur ums Geld, es geht um uns! Diese Stühle, dieser Tisch. Dein Bett, in das du dieses Mädchen zerrst. Unser Zuhause, deine bescheuerten Malutensilien. Liebe hat einen Preis. Überleben hat einen Preis. Wie kannst du davon leben und nicht kapieren, wo’s herkommt?

Noch nicht, flüstert Dannie ihm zu. Warte auf dein Stichwort.

Obwohl sie seit Jahrzehnten tot ist, ist sie immer noch seine Schauspiellehrerin. War sie damals wirklich, als sie starb. Auch sie war bei einer Laienspieltruppe. Er saß in den Proben, hörte sie sagen: »Geduld. Dein Einsatz kommt gleich, aber du musst die anderen ausreden lassen.«

Shecky gönnt Henry einen Moment, um ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn gehört hat. Dann sagt er: »Hier geht’s nicht um deine Kunst. Es geht um deinen Donnerstagmann. Er kann nicht beide Abholstellen übernehmen. Wir können einen Kurier nicht zwei Tüten liefern lassen. Das Risiko …«

»Tut mir leid, Onkel Shecky«, sagt Henry. »Aber das musst du mir überlassen.« Henry richtet sich auf, und es sieht aus, als würde sein Brustkorb in die Breite wachsen. Seine Hand umklammert den Bleistift, zitternd vor unterdrückten Gefühlen, und Shecky fixiert mit den Augen die Spitze. »Seit dem Winter kümmere ich mich um die Kuriere«, sagt Henry. »Das ist mein Job. Ich weiß, was ich tue.«

Die Bleistiftspitze ist der Mittelpunkt der Welt – alles andere verschwimmt.

Achte auf das Stichwort, sagt Dannie. Warte auf den richtigen Moment. Gib einstweilen nach, zieh dich zurück. Der Junge ist zu unausgeglichen und du viel zu angepisst, um heute Abend dieses Gespräch zu führen.

»Lass Donnerstag die Frischen machen«, sagt Shecky. »Wir können ihm vertrauen.« Frische sind immer verlockend, neue, saubere Scheine. Einer von Henrys ersten Jobs – inzwischen Jahre her, damals galten noch andere Regeln – bestand darin, Shecky dabei zu helfen, das Geld für den Paradise Club zu zählen. Henry erinnert sich mit Sicherheit noch heute an die blauweißen Banderolen, die der Klient benutzte, an die ordentlichen Stapel in den ledernen Aktenkoffern. Wunderschön – Shecky weiß noch, wie überwältigt Henry damals war – dass er tatsächlich die Hand hob, wie um sich die Augen zu beschirmen, als Shecky zum ersten Mal einen Paradise-Club-Koffer für ihn öffnete. Als wäre er voller Licht.

»Das mit den Frischen ist also geklärt«, sagt Shecky jetzt. »Aber die Lappen muss jemand anders übernehmen.«

Henry runzelt die Stirn, beißt sich offensichtlich auf die Zunge. Aber einen Augenblick lenkt er ein – legt den Stift weg, Gott sei Dank – und geht die Möglichkeiten durch. Oder eher die fehlenden Möglichkeiten. Ein Altgedienter ist nicht im Lande, ein anderer Veteran hat sich in einer Bar über den Haufen schießen lassen, ein dritter ist …

»Dann nimm einen Frischling«, sagt Shecky. Und als er den Ausdruck freudiger Überraschung auf Henrys Gesicht registriert, sagt er schnell: »Aber nicht deinen Kumpel. Den nicht.«

Henrys Lächeln versiegt zu einem wütenden Strich. »Warum nicht?«

Weil du ihn zu sehr magst.

»Sorry«, sagt Shecky und schneidet mit mehr Verzweiflung als Appetit in seine Frikadelle. Henrys Frust senkt sich auf ihn wie eine Wolke giftiger Chemikalien. Shecky denkt daran, wie er zum ersten Mal von diesem Freund hörte, wie sehr Henry versuchte, ihn zu pushen. Und wieso auch nicht? Henry hat den Typen vor Monaten angelernt, und laut Sheckys Kontenbuch, das er oben in seinem Arbeitszimmer verwahrt, hat der Frischling nicht einen Penny verloren oder geklemmt. Daran ist nichts ungewöhnlich, Henry hat Talent in Sachen Personalführung. Ungewöhnlich war Henrys Frage gewesen, ob der Frischling zum Abendessen kommen dürfe. »Er heißt Emil«, hatte er gesagt. »Er ist anders.«

Henry bekommt nicht oft Besuch. Hatte noch nie viele Freunde – und nein – dieses Mädchen zählt nicht. Der uralte Fluch der Waisenkinder: Die Bedürftigkeit der Einsamen schreckt Menschen oft ab. Und als Henry wissen wollte, ob Emil vorbeikommen dürfe, hätte Shecky am liebsten »Na klar!« gesagt, »wie wär’s gleich heute Abend?«.

Aber: ihre Regeln.

»Unsere Regeln sorgen für Sicherheit«, hatte Shecky gesagt. »Und zwar nicht nur für unsere.« Ihre Klienten waren darauf angewiesen. Genau wie die Kuriere. »Du musst auch an seine Sicherheit denken. Die von deinem Kumpel.« Es gab Grenzen, die man mit den Typen, die die Tüten transportierten, nicht überschreiten durfte. »Du tust ihm keinen Gefallen«, sagte Shecky, »wenn du ihn zu nah an dich ranlässt.«

Damals war Henry nur enttäuscht gewesen, aber Shecky spürt, dass sich diese Enttäuschung heute Abend zu etwas anderem verhärtet. »Ich versuche, dir was klarzumachen«, sagt Henry. »Dieser Freund ist mir wichtig. Er ist nicht nur ein Kumpel. Er bringt mir Dinge bei, und – und – du lässt mich nicht mal ausreden!«

Henrys Stuhl schrammt über den Boden. Er steht auf, greift nach dem Block, und dann ragt er in voller Größe über Shecky auf. Schaut auf ihn runter. Dreht sich um und ist mit vier langen Schritten in der Küche und dann an der Kellertür. Zögert. Schaut zurück.

»Wenn ich meine unterschiedlichen Lebensbereiche nicht unter einen Hut bringen kann«, sagt Henry, »kann ich nicht versprechen, dass ich mich für diesen entscheide.«

 

Die Kellertür knallt ins Schloss. Ein langer Nachhall. Die Erde hat gewackelt, und jetzt ist es still, aber Shecky weiß, dass sich nicht sagen lässt, ob das große Beben noch kommt.

Shecky reibt sich abwesend die Hände, das Kinn, wärmt sich an Kerashas Anblick, die ein aufgespießtes Stück Frikadelle schwenkt. »Selber schuld«, sagt sie. »So was gibt’s im Franklin nicht.«

Zuneigung, Dankbarkeit – Shecky inhaliert beides wie Sauerstoff. Gott dem Herrn sei Dank für dieses Mädchen, denkt er und greift zur Serviette. Wischt sich über die Augen. Wie albern, innerlich so zusammenzubrechen – ein alter Ganove wie er, der schon viele schlimme Sachen gesehen und gehört hat. Selbst schon ein paar schlimme Sachen getan hat. Aber Verletzbarkeit ist der Preis für Familie. Auf Nimmerwiedersehen, ihre Jahre der Einsamkeit, doch dafür gibt es jetzt jeden Tag einen blauen Fleck.

Es ist nicht das erste Mal, dass Henry so davonstürmt. Aber es bringt Shecky jedes Mal förmlich um – killt ihn, wie Henry in seinen krasseren Zeiten zu sagen pflegte. Das gemeinsame Abendessen ist seit jeher eine der wichtigsten Familienregeln. Ob Zweierfamilie oder jetzt Dreierfamilie, die Regel ist geblieben: Alle zusammen an einem Tisch. Guinness für ihn, was auch immer für die Kids. Ein frischer Laib Brot von Regina’s Bakery, der Fang des Tages von Katti’s Fish Market. Oder auch ein Stück Fleisch, geschnetzelt und gesotten oder angebraten und geschmort oder auch »mit der 80°-Methode butterweich im Rohr gegart«. Gebratenes Gemüse und Backofenkartoffeln oder Yucca und geröstete Samen, jede Mahlzeit auf der ausreichend sauberen Tischdecke serviert. Die Vorhänge bleiben geöffnet, bis das letzte Orange der Dämmerung verschwunden ist. Und: kein Fernseher, keine »Hintergrundmusik« – Shecky weiß noch, wie sehr Dannie Geräusche nur um der Geräusche willen verabscheute. »Wir brauchen Stille«, sagte sie. »Die Stille lockt uns heraus.«

Und du hattest recht, Dannie, sieh uns an. Hör uns an. Die Familie ist das einzige Geräusch. Unsere Tage, unsere Geschichten. Missstände werden beigelegt, Fäden neu geknüpft. Das Brot wird geteilt. Diese Dinge zählen.

Während Shecky Henrys Teller in die Küche trägt, ihn mit Frischhaltefolie abdeckt und in den Kühlschrank stellt, wünschte er, Dannie wäre hier, und wenn auch nur als Geist. Wünschte, sie könnte ihn mit den Kids erleben, könnte das gemeinsame Abendessen sehen (natürlich nicht das heute Abend), und sie würde wissen, wie genau er ihr zugehört hatte.

Sie hatte in der Schultheatergruppe gespielt, war anschließend Kellnerin und Spielleiterin im Laientheater gewesen, und dann war sie plötzlich tot, ermordet, an seinem Geburtstag. Das war Dannies ganze Geschichte. Ein beschissener Einakter.

Aber ist es tatsächlich vorbei? Ganz und gar vorbei? Ist in Wahrheit nicht dies hier ihr nächster Akt – die Kinder und ich? Alles, was sie mir beigebracht hat, wie sie sich um mich gekümmert hat, mich geliebt hat, als es sonst keiner tat – tue ich jetzt nicht dasselbe für die Kids, und ist sie nicht in diesem Haus lebendig, solange sie hier sind?