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Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel»The Hollow (Sign of Seven 02)« bei Jove Books, The Berkley Publishing Group, Penguin Group (US) Inc., New York.
Copyright © Nora Roberts, 2009
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published by arrangement with Eleanor Wilder.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, Garbsen.
Redaktion: Regine Kirtschig
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.comMD · Herstellung: RF
ISBN 978-3-641-02760-5V003
www.blanvalet.de
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
AUTORIN
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten
Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu
den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben
eine weltweite Gesamtauflage von über 500 Millionen
Exemplaren. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher
und Hörbücher regelmäßig die Bestsellerlisten.
Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem
Ehemann in Maryland.
VON NORA ROBERTS SIND BEREITS ERSCHIENEN:
Die Irland-Trilogie: Töchter des Feuers (35405) · Töchter des Windes (35013) · Töchter der See (35053) Die Templeton-Trilogie: So hoch wie der Himmel (35091) · So hell wie der Mond (35207) · So fern wie ein Traum (35280) Die Sturm-Trilogie: Insel des Sturms (35321) · Nächte des Sturms (35322) · Kinder des Sturms (35323) Die Insel-Trilogie: Im Licht der Sterne (35560) · Im Licht der Sonne (35561) · Im Licht des Mondes (35562) Die Zeit-Trilogie: Zeit der Träume (35858) · Zeit der Hoffnung (35859) · Zeit des Glücks (35860) Die Ring-Trilogie: Grün wie die Hoffnung (36532) – Blau wie das Glück (36533) – Rot wie die Liebe (36534) Die Nacht-Trilogie: Abendstern (36939) – Nachtflamme (36940)
Mitten in der Nacht. Roman (36007) Das Leuchten des Himmels. Roman (36435) Nora Roberts ist J. D. Robb: Ein gefährliches Geschenk (36384)
Zuletzt erschien mit großem Erfolg im Limes Verlag:Ein Haus zum Träumen (geb. Ausgabe, 2549)
Bereits in Vorbereitung bei Blanvalet der dritte und letzte Romander großen »Nacht«-Trilogie: Morgenlied.
In Erinnerung an meine Eltern
Haltet das heimische Feuer am Brennen.
Lena Guilbert Ford
Der menschliche Geist fliegt nicht von Lust zu Lust, sondern von Hoffnung zu Hoffnung.
Samuel Johnson
Prolog
Hawkins Hollow, Juni 1994
An einem hellen Sommermorgen ertrank ein Zwergpudel im Garten der Bestlers im Swimmingpool. Lynne Bestler, die alleine ein paar Runden schwimmen wollte, bevor ihre Kinder aufwachten, hielt ihn zunächst für ein totes Eichhörnchen. Das wäre schon schlimm genug gewesen. Aber als sie das Fellbündel tapfer mit dem Netz herausangelte, erkannte sie den geliebten Marcell ihrer Nachbarn.
Eichhörnchen tragen für gewöhnlich keine mit Strass besetzten Halsbänder.
Sie schrie wie am Spieß und warf mit einem lauten Platschen den armen Hund mitsamt Netz und allem in den Pool zurück. Daraufhin kam Lynnes Ehemann in Boxershorts angerannt und sprang ins Wasser, um das Netz und den Hund wieder herauszuholen. Das Schluchzen ihrer Mutter und die Flüche ihres Vaters weckten die Bestler-Zwillinge auf, sie kamen ebenfalls schreiend in ihren Mein-kleines-Pony-Schlafanzügen angelaufen. Innerhalb weniger Augenblicke lockte das hysterische Geschrei die Nachbarn an, gerade als Bestler sich und die Leiche aus dem Wasser wuchtete. Bestler hing wie viele Männer an seiner alten Unterwäsche, doch das Gewicht des Wassers war zu viel für den ausgeleierten Gummi.
Und so kam Bestler mit einem toten Hund und ohne Unterhose aus dem Pool.
Der helle Sommermorgen im kleinen Ort Hawkins Hollow begann mit einem Schock, mit Trauer, Komik und Drama.
Fox erfuhr von Marcells verfrühtem Tod, als er Ma’s Pantry betrat, um eine große Flasche Coke und zwei Slim Jims zu kaufen.
Er arbeitete mit seinem Vater an einem Küchenumbau auf der Main Street. Mrs Larson wollte eine neue Arbeitsplatte, neue Schranktüren, einen neuen Fußboden und neue Farbe. Sie nannte das Auffrischen, aber für Fox war es eine Möglichkeit, genug Geld zu verdienen, um Allyson Brendon zum Pizzaessen und am Samstagabend ins Kino einzuladen. Er hoffte, dass er sie dadurch auf den Rücksitz seines alten VW-Käfers bekommen würde.
Es machte ihm nichts aus, mit seinem Dad zusammenzuarbeiten. Er hoffte zwar, dass er nicht für den Rest seines Lebens einen Hammer schwingen oder eine Motorsäge bedienen müsste, aber es machte ihm nichts aus. Er fühlte sich mit seinem Vater wohl, und auf diese Art und Weise entging Fox der Gartenarbeit und den Pflichten mit den Tieren auf ihrer kleinen Farm. Außerdem kam er so leichter an Cola und Slim Jims – Dinge, die es bei den O’Dells niemals, niemals geben würde.
Dort regierte nämlich seine Mutter.
Er hörte also von dem Hund von Susan Keefaffer, die seine Einkäufe abrechnete, während einige Kunden, die an diesem Juninachmittag nichts anderes zu tun hatten, an der Theke saßen, Kaffee tranken und sich unterhielten.
Er kannte Marcell zwar nicht, aber Fox mochte alle Tiere, und deshalb tat es ihm leid um den armen Pudel. Eine komische Note gewann die Geschichte allerdings dadurch, dass er sich Mr Bestler, »nackt wie Gott ihn schuf« in Susan Keefaffers Worten, neben seinem Swimmingpool vorstellte.
Fox fand es zwar traurig, dass ein armer Hund in einem Swimmingpool ertrank, aber er brachte es nicht – noch nicht – in Verbindung mit dem Alptraum, den er und seine zwei besten Freunde vor sieben Jahren erlebt hatten.
In der Nacht zuvor hatte er einen Traum gehabt, einen Traum von Blut und Feuer, von Stimmen, die in einer fremden Sprache sangen. Aber er hatte sich auch mit seinen Freunden Cal und Gage zwei besonders scheußliche Videos reingezogen – Die Nacht der lebenden Toten und Das Texas Kettensägenmassaker.
Er brachte den toten französischen Pudel weder mit dem Traum in Verbindung noch mit der Tatsache, dass es nach seinem zehnten Geburtstag in Hawkins Hollow eine Woche lang gebrannt hatte. Nach der Nacht, die er, Cal und Gage am Heidenstein in Hawkins Wood verbracht hatten – danach hatte sich alles für sie und für Hollow geändert.
In ein paar Wochen würden er, Cal und Gage siebzehn werden, und nur das beschäftigte ihn. Baltimore hatte dieses Jahr eine verdammt gute Chance auf einen Sieg, daran dachte er. Sein letztes Jahr auf der Highschool brach an, er stand also endlich an der Spitze der Hierarchie und konnte schon einmal planen, auf welches College er gehen wollte.
Einen Sechzehnjährigen beschäftigten völlig andere Dinge als einen Zehnjährigen – vor allem, ob er es endlich mit Allyson Brendon tun sollte.
Als er jetzt die Straße entlangging, ein schlanker Junge, der noch den schlaksigen Gang eines Jugendlichen hatte, die dicken braunen Haare zu einem kurzen Zopf zusammengefasst, eine Oakley vor den goldbraunen Augen, war es für ihn ein ganz normaler Tag.
Der Ort sah aus wie immer. Ordentlich, ein bisschen altmodisch, mit den alten Steinhäusern, den Holzveranden, den hohen Bordsteinen. Er blickte über die Schulter zum Bowl-a-Rama auf dem Platz. Es war das größte Gebäude in der Stadt. Cal und Gage arbeiteten dort.
Wenn er und sein Vater für diesen Tag Schluss machten, beschloss er, würde er vorbeischauen.
Er überquerte den Larson Platz und ging in das unverschlossene Haus. Aus der Küche drang Bonnie Raitts Delta Blues. Sein Vater sang den Song mit seiner klaren Stimme mit, während er mit der Wasserwaage überprüfte, ob die Regalbretter, die Mrs Larson in ihrem Besenschrank haben wollte, auch gerade waren. Obwohl Fenster und Hintertür offen standen, roch es nach dem Leim, mit dem sie die neue Kunststoffplatte aufgeklebt hatten.
Sein Vater arbeitete in einer alten Levi’s und seinem T-Shirt mit dem Aufdruck Give Peace A Chance. Seine Haare waren etwas länger als die seines Sohnes, und er trug sie ebenfalls zu einem Zopf zusammengebunden unter seinem blauen Bandana. Den Bart, den er schon so lange trug, wie Fox sich erinnern konnte, hatte er kürzlich abrasiert, und Fox hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, so viel vom Gesicht seines Vaters zu sehen, zumal er ihm so ähnlich sah.
»Im Swimmingpool der Bestlers drüben auf der Laurel Lane ist ein Hund ertrunken«, sagte Fox zu seinem Vater. Brian hielt inne und drehte sich um.
»Ach, du Schande. Weiß jemand, wie es passiert ist?«
»Nein, nicht wirklich. Es war ein kleiner Pudel, deshalb denken sie, er ist hineingefallen und konnte nicht wieder raus.«
»Man hätte ihn doch eigentlich bellen hören müssen. Schrecklich, so umzukommen!« Brian legte seine Werkzeuge hin und lächelte seinen Sohn an. »Gib mir einen von den Slim Jims.«
»Was für Slim Jims?«
»Die du hinten in der Hosentasche hast. Ich wette mit dir, du hast Jims gekauft. Gib mir einen, und deine Mom erfährt nie, dass wir Chemikalien und Nebenprodukte von Fleisch gegessen haben. Das nennt man Erpressung, mein Sohn.«
Schnaubend holte Fox die Süßigkeiten aus der Tasche. Aber er hatte sich so etwas schon gedacht und vorsorglich zwei gekauft. Einträchtig saßen Vater und Sohn nebeneinander und kauten. »Die Theke sieht gut aus, Dad.«
»Ja.« Brian fuhr mit der Hand über die glatte, eierschalenfarbene Oberfläche. »Mrs Larson hat es nicht so mit Farben, aber es ist gute Arbeit. Ich weiß gar nicht, wer mir bei der Arbeit helfen soll, wenn du auf dem College bist.«
»Als Nächster ist Ridge dran«, erwiderte Fox und dachte an seinen jüngeren Bruder.
»Ridge würde die Maße keine zwei Minuten im Kopf behalten, und er würde sich vor lauter Träumerei wahrscheinlich den Finger absägen. Nein.« Brian lächelte und fügte achselzuckend hinzu: »Diese Arbeit ist nichts für Ridge, für dich aber auch nicht, und für deine Schwestern schon gar nicht. Ich werde wahrscheinlich einen Jungen einstellen müssen, der gerne mit Holz arbeitet.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich nicht mit Holz arbeiten will.« Nicht laut jedenfalls.
Sein Vater warf ihm einen Blick zu. »Du hast ein gutes Auge, und du hast geschickte Hände. Wenn du mal ein eigenes Haus hast, wird dir das sehr zupasskommen, aber du wirst dir deinen Lebensunterhalt nicht als Handwerker verdienen. Jetzt kannst du den Abfall hier mal zum Container bringen.«
»Klar.« Fox sammelte den Abfall und die Holzspäne in die Schubkarre und schob sie durch den schmalen Garten zu dem Container, den die Larsons für die Zeit des Umbaus gemietet hatten.
Er blickte in den Nachbargarten, wo Kinder spielten. Und auf einmal wurde sein ganzer Körper taub.
Die kleinen Jungen spielten mit Lastern, Schüppchen und Eimern in einem hellblauen Sandkasten. Aber er war nicht mit Sand gefüllt. Blut bedeckte ihre nackten Arme, während sie ihre Trucks durch die Masse in dem Sandkasten schoben. Rotes Blut schwappte über den Sand auf den grünen Rasen.
Auf dem Zaun zwischen den Gärten, in denen die Hortensien beinahe schon blühten, hockte ein Junge, der kein Junge war. Er bleckte grinsend die Zähne, als Fox zum Haus zurückwich.
»Dad! Dad!«
Er klang so ängstlich und atemlos, dass Brian herausgestürzt kam. »Was ist? Was ist los?«
»Kannst du … siehst du ihn nicht?« Aber noch während er zum Zaun zeigte, wusste Fox, dass es nicht real war.
»Was?« Brian packte ihn fest an den Schultern. »Was siehst du?«
Der Junge, der kein Junge war, hüpfte den Zaun entlang, unter ihm züngelten Flammen empor und verbrannten die Hortensien zu Asche.
»Ich muss gehen. Ich muss zu Cal und Gage. Jetzt sofort, Dad. Ich muss …«
»Ja, lauf.« Brian stellte keine Fragen. »Los.«
Fox rannte aus dem Haus, den Bürgersteig entlang zum Platz. Der Ort sah für ihn nicht mehr so aus wie sonst. Im Geiste sah Fox ihn schon wieder so, wie er in jener furchtbaren Woche im Juli vor sieben Jahren gewesen war.
Feuer und Blut, dachte er, wie in seinem Traum.
Er stürmte ins Bowl-a-Rama, wo die Sommerwettbewerbe in vollem Gang waren. Das Donnern der Kugeln, das Krachen der Pins dröhnte in seinem Kopf. Er rannte direkt zum Empfang, wo Cal arbeitete.
»Wo ist Gage?«, fragte er.
»Himmel, was ist denn mit dir los?«
»Wo ist Gage?«, wiederholte Fox, und Cals amüsierter Blick wurde ernst. »Drüben in der Spielhalle. Er … da kommt er gerade.«
Gage kam angeschlendert. »Na, meine Damen! Was …« Sein fröhliches Grinsen erstarb, als er Fox’ Gesicht sah. »Was ist passiert?«
»Er ist wieder da«, antwortete Fox. »Er ist zurückgekommen.«
1
Hawkins Hollow, März 2008
Fox erinnerte sich an viele Details dieses längst vergangenen Tages im Juni. An den Riss im linken Hosenbein seines Vaters, an den Duft nach Kaffee und Zwiebeln in Ma’s Pantry, an das Knistern des Papiers, als er und sein Vater die Slim Jims in Mrs Larsons Küche aufgerissen hatten.
Aber abgesehen von dem Schock und der Angst, die er empfunden hatte, erinnerte er sich vor allem daran, dass sein Vater ihm vertraut hatte.
Er hatte Fox auch an seinem zehnten Geburtstag vertraut, als Fox mit Gage nach Hause gekommen war, beide Jungen schmutzig, erschöpft und außer sich vor Angst wegen einer Geschichte, die kein Erwachsener glauben würde.
Natürlich hatten sie sich Sorgen gemacht, dachte Fox. Er sah immer noch vor sich, wie seine Eltern einander angeblickt hatten, als er ihnen erzählte, dass in der Lichtung, wo der Heidenstein stand, etwas Schwarzes, Mächtiges ausgebrochen war.
Aber sie hatten es nicht als Ausgeburt seiner Fantasie abgetan, hatten ihn noch nicht einmal dafür ausgeschimpft, dass er die Nacht nicht bei Cal verbracht hatte, sondern mit seinen Freunden ihren gemeinsamen zehnten Geburtstag im Wald westlich von der Stadt gefeiert hatte.
Sie hatten zugehört. Und als Cals Eltern zu ihnen gekommen waren, hatten sie ebenfalls zugehört.
Fox blickte auf die dünne Narbe an seinem Handgelenk.
Es war die einzige Narbe an seinem Körper. Sie hatten sich vor fast einundzwanzig Jahren mit Cals Pfadfindermesser das Handgelenk aufgeritzt, um sich Blutsbrüderschaft zu schwören. Vor jener Nacht, vor diesem Ritual hatte er andere Blessuren gehabt – welcher aktive, zehnjährige Junge hatte das nicht? Aber bis auf diese eine Narbe waren sie alle spurlos verschwunden – und seitdem war weiterhin jede neue Wunde verheilt, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Dass sie ihr Blut vermischt hatten, hatte den Dämon, der seit Jahrhunderten dort gefangen gewesen war, befreit. Sieben Nächte lang war er durch Hawkins Hollow gerast.
Zuerst dachten sie, sie hätten ihn besiegt, drei Zehnjährige, die gegen die dunklen Mächte kämpften. Aber er war wiedergekommen, sieben Jahre später, und wieder war sieben Nächte lang die Hölle los gewesen. In der Woche, bevor sie vierundzwanzig wurden, war er auch wiedergekommen.
Auch diesen Sommer würde es wieder passieren. Die ersten Vorboten machten sich bereits bemerkbar.
Doch jetzt war alles anders. Sie waren besser vorbereitet, wussten mehr. Und dieses Mal ging es nicht nur um ihn, Cal und Gage. Mit den drei Frauen, die nach Hollow gekommen waren und die genau wie sie über ihre Vorfahren mit dem Dämon verbunden waren, waren sie zu sechst.
Sie waren keine Kinder mehr, dachte Fox, als er auf der Main Street vor dem Stadthaus hielt, in dem sich seine Kanzlei und seine Wohnung befanden. Der Dämon, der sich einmal Lazarus Twisse genannt hatte, hatte bestimmt auch einige Überraschungen auf Lager, wenn er bedachte, was sie zu sechst vor ein paar Wochen am Heidenstein erlebt hatten.
Er ergriff seine Aktentasche und ging zum Haus. Es hatte Fox einiges an Schweiß und finanziellen Drahtseilakten gekostet, das alte Steingebäude zu kaufen. Die ersten zwei Jahre waren mager gewesen – mehr als das, eigentlich hatte er am Existenzminimum dahinvegetiert. Aber der Kampf hatte sich gelohnt, denn jetzt gehörte ihm jeder Zentimeter des Hauses – und natürlich auch der Bank von Hawkins Hollow.
Auf der Plakette an der Tür stand FOX B. O’DELL, RECHTSANWALT. Es überraschte ihn heute noch manchmal, dass er tatsächlich Jura studiert hatte – und dann auch noch in der Kleinstadt geblieben war.
Aber das lag vermutlich daran, dass es bei Recht und Gesetz nicht nur um Schwarz und Weiß ging, sondern vor allem die Schattierungen dazwischen so interessant waren. Er fand es auf jeden Fall faszinierend.
Er trat ein und zuckte zusammen, als er Layla Darnell sah, eine der Frauen aus ihrer kleinen Sechsertruppe. Sie saß hinter dem Schreibtisch am Empfang, und einen Moment lang verschlug es ihm die Sprache, wie es oft geschah, wenn er sie unerwartet sah. »Äh …«, sagte er.
»Hi.« Ihr Lächeln war vorsichtig. »Du kommst früher, als ich erwartet habe.«
Tatsächlich? Er konnte sich nicht erinnern. Wie sollte er sich konzentrieren, wenn statt der großmütterlichen Mrs Hawbaker eine attraktive Brünette mit grünen Augen wie eine Meerjungfrau an seinem Empfang saß? »Ich … wir … wir haben gewonnen. Die Geschworenen haben noch nicht mal eine Stunde gebraucht.«
»Das ist ja toll.« Sie strahlte ihn an. »Herzlichen Glückwunsch. War das der Fall mit der Verletzung? Der Autounfall? Mr und Mrs Pullman?«
»Ja.« Er nahm die Aktentasche in die andere Hand und wandte sich zu seinem Büro. »Wo ist Mrs H?«
»Zahnarzttermin. Es steht in deinem Kalender.«
Ja, natürlich. »Okay. Ich gehe dann in mein Büro.«
»Shelley Kholer hat angerufen. Zweimal. Sie hat beschlossen, ihre Schwester wegen mangelnder Zuneigung zu belangen und wegen … warte mal.« Layla ergriff den Nachrichtenblock. »Und weil sie zänkisch und nichtsnutzig ist. Das hat sie wirklich gesagt. Beim zweiten Anruf wollte sie wissen, ob sie im Fall einer Scheidung ihren Affenarsch von hoffentlich bald Exmann im Internet anbieten kann.«
»Oh, oh. Nun, interessant. Ich rufe sie an.«
»Dann hat sie geweint.«
»Scheiße.« Fox hatte nicht nur ein weiches Herz, wenn es um Tiere ging, sondern auch bei unglücklichen Frauen. »Ich rufe sie sofort an.«
»Nein, du musst etwa eine Stunde warten«, sagte Layla und blickte auf ihre Uhr. »Im Moment ist sie beim Friseur. Sie lässt sich die Haare rot färben. Sie kann doch ihre Schwester nicht wirklich wegen Mangel an Zuneigung verklagen?«
»Du kannst jeden für alles verklagen, aber ich rede ihr das aus. Vielleicht könntest du mich in einer Stunde daran erinnern, dass ich sie anrufen muss. Und hier bei dir ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Brauchst du etwas?«
»Nein, danke. Alice – Mrs Hawbaker – ist eine gute Lehrerin. Und außerdem, sollte ich als Büroleiterin nicht eher dich fragen, ob du etwas brauchst?«
Besser wäre eine Büroleiterin gewesen, die seine Libido nicht zum Kochen brachte, aber dazu war es jetzt zu spät. »Nein, alles okay. Ich gehe dann mal …« Er wies auf sein Büro.
Er hätte die Tür gern hinter sich zugezogen, aber das kam ihm unhöflich vor. Er schloss seine Bürotür nie, es sei denn, er hatte einen Mandanten, der unter vier Augen mit ihm sprechen wollte.
Weil er sich im Anzug nie ganz wohl fühlte, schlüpfte Fox aus seinem Jackett und warf es über das grinsende Schwein, das als Garderobehaken diente. Erleichtert nahm er auch die Krawatte ab und hängte sie über die fröhliche Kuh. Blieben noch ein Huhn, eine Ziege und eine Ente, alle von seinem Vater geschnitzt, der fand, dass die irre Tierschar einem Büro viel von seiner Schwere nahm.
Fox musste ihm recht geben.
Es war genau das, was er brauchte. Sein Büro sollte eher Teil eines Hauses statt eines Gebäudes sein. Auf Regalen standen seine Gesetzesbücher und die Texte, die er am häufigsten brauchte, aber dazwischen mischten sich immer wieder private Kleinigkeiten. Ein Baseball, signiert vom einzigartigen Cal Ripken, das Kaleidoskop aus Buntglas, das seine Mutter ihm gemacht hatte, gerahmte Fotografien, ein Modell des Millennium Falcon, das er in mühevoller Kleinarbeit mit zwölf gebaut hatte.
An prominenter Stelle stand eine große Glasdose mit Dollarscheinen. Einer für jedes Mal, wenn er aus Versehen im Büro »Scheiße« gesagt hatte. Diese Regel hatte Alice Hawbaker aufgestellt.
Er nahm sich eine Cola aus seinem Mini-Kühlschrank und fragte sich, was er wohl tun würde, wenn Mrs Hawbaker nach Minneapolis zog und er sich fünf Tage in der Woche im Büro mit dieser reizenden Layla herumschlagen musste. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster.
»Fox?«
»Hmm?« Er drehte sich um. Da war sie schon wieder. »Was ist? Ist irgendwas passiert?«
»Nein. Na ja, außer dem Großen Bösen nichts. Du hast jetzt zwei Stunden lang keine Termine, und da Alice nicht da ist, habe ich gedacht, wir könnten doch jetzt darüber reden. Ich weiß, dass du auch andere Dinge zu tun hast, aber …«
»Nein, das ist okay.« Bei diesem Thema konnte er sich wenigstens auf etwas anderes konzentrieren als auf diese schönen grünen Augen und ihre weichen, feuchten Lippen. »Möchtest du eine Cola?«
»Nein, danke. Weißt du eigentlich, wie viel Kalorien darin sind?«
»Sie ist es wert. Setz dich.«
»Ich bin zu nervös.« Layla ging im Büro auf und ab und rieb die Hände aneinander. Mit jedem Tag, an dem nichts passiert, werde ich nervöser, was dumm ist, weil es ja eigentlich eine Erleichterung ist. Aber seit wir alle am Heidenstein waren, ist nichts, absolut nichts passiert.«
»Und da haben wir den höllischen Dämon auch nur mit Stöckchen und Steinen beworfen.«
»Ja, und Gage hat auf ihn geschossen. Oder Cal …« Sie schaute Fox an. »Ich fange immer noch an zu zittern, wenn ich daran denke, wie Cal einfach in diese schwarze, wabernde Masse hineingetreten ist und sein Messer hineingestoßen hat. Und jetzt nichts, fast zwei Wochen lang. Vorher haben wir ihn fast täglich gesehen, gespürt oder von ihm geträumt.«
»Wir haben ihn verletzt«, erinnerte Fox sie. »Er muss erst mal seine Wunden lecken.«
»Cybil meint, das nächste Mal wird es viel schlimmer werden. Sie recherchiert jeden Tag stundenlang, und Quinn schreibt ständig. Ich bin als Einzige das erste Mal mit so etwas konfrontiert, und ich habe den Eindruck, sie kommen nicht richtig weiter.« Sie fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare. »Was ich meine, ist … Vor ein paar Wochen hatte Cybil doch scheinbar eine echt starke Spur, wohin Ann Hawkins mit ihren Kindern gegangen ist.«
Seine Vorfahren, dachte Fox. Giles Dent, Ann Hawkins und die Söhne, die sie miteinander hatten. »Aber sie hat zu nichts geführt, ich weiß. Wir haben ja darüber geredet.«
»Ich habe aber trotzdem das Gefühl, dass es einer der Schlüssel ist. Es sind unsere Vorfahren, deine, Cals und Gages. Es spielt möglicherweise eine Rolle, wo sie zur Welt gekommen sind, und seit wir einige von Anns Tagebüchern haben, waren wir uns ja auch alle einig, dass es noch mehr geben muss, in denen vielleicht auch mehr über Giles Dent als Vater ihrer Söhne steht. Wer war er, Fox? Ein Mann, ein Hexer, ein guter Dämon, wenn es so was gibt? Wie hat er Lazarus Twisse festhalten können seit jener Nacht im Jahr sechzehnhundertzweiundfünfzig bis zu der Nacht, als ihr drei …«
»… ihn herausgelassen habt«, beendete Fox den Satz für sie, aber Layla schüttelte den Kopf.
»Das musste so sein – darüber sind wir uns doch einig. Es gehörte zu Dents Plan oder seinem Zauber. Aber wir wissen immer noch nicht mehr als vor zwei Wochen. Irgendwie stecken wir fest.«
»Vielleicht ist Twisse nicht der Einzige, der sich erst mal neu orientieren muss. Immerhin haben wir ihn verletzt«, wiederholte Fox. »Das ist uns noch nie zuvor gelungen. Wir haben ihm Angst eingejagt.« Bei der Erinnerung daran leuchteten seine goldbraunen Augen zufrieden auf. »Bisher konnten wir alle sieben Jahre nur dafür sorgen, dass ihm nicht allzu viele Leute in die Hände fielen, und am Ende haben wir hinter ihm her gewischt und aufgeräumt. Aber jetzt wissen wir, dass wir ihn verwunden können.«
»Das reicht aber nicht.«
»Nein, das stimmt.« Dass sie feststeckten, war zum Teil seine Schuld, musste er zugeben. Er hatte sich zurückgezogen, damit Layla die Fähigkeit, die sie beide besaßen, nicht anwenden konnte.
»Was denke ich jetzt?«
Sie blinzelte verwirrt. »Entschuldigung?«
»Was denke ich?«, wiederholte er und sagte im Kopf das Alphabet auf.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich keine Gedanken lesen kann, und ich will nicht …«
»Und ich habe dir gesagt, es ist zwar nicht genauso, aber nahe daran.« Er lehnte sich an seinen wuchtigen alten Schreibtisch, damit sie mehr auf Augenhöhe waren. Sein Hemd stand am Hals offen, und seine welligen braunen Haare fielen ihm auf den Kragen. »Du bekommst Eindrücke, ein Gefühl, sogar ein Bild im Kopf. Versuch es noch einmal.«
»Einen guten Instinkt zu haben ist nicht das Gleiche wie …«
»Das ist Blödsinn. Du brauchst doch keine Angst vor dem zu haben, was in dir steckt, nur weil es dich anders macht.«
»Meinst du damit, nicht menschlich?«
»Nein. Nur anders.« Er verstand ihre Gefühle. Auch er war anders, aber für ihn gehörte das zum Leben. »Es spielt keine Rolle, woher deine Fähigkeit kommt, Layla. Du besitzt sie eben, und du bist aus einem ganz bestimmten Grund so.«
»Du hast gut reden. Deine Vorfahren gehen zurück auf ein strahlendes, helles Licht, aber meine auf einen Dämon, der ein armes, sechzehnjähriges Mädchen vergewaltigt hat.«
»Wenn du so denkst, räumst du ihm nur mehr Macht ein. Versuch es noch einmal«, drängte Fox und ergriff ihre Hand.
»Ich … hör auf, mich zu bedrängen«, fuhr sie ihn an und drückte ihre freie Hand an die Schläfe.
Er wusste, dass es wehtat, wenn etwas ausgelöst wurde, ohne dass man darauf vorbereitet war, aber das konnte er nicht ändern. »Was denke ich?«
»Ich weiß nicht, ich sehe bloß einen Haufen Buchstaben.«
»Genau.« Er lächelte. »Ich habe auch nur an einen Haufen Buchstaben gedacht. Du kannst nicht nach New York zurückfahren.« Seine Stimme war sanft geworden. »Selbst wenn du es könntest, würdest du es nicht tun. Du würdest nicht einfach deine Sachen packen, wegfahren und deine Chefin in der Boutique bitten, dir deinen Job wiederzugeben.«
Layla entriss ihm ihre Hand. Ihre Wangen färbten sich rot. »Ich will nicht, dass du in meinen Gedanken und Gefühlen herumschnüffelst.«
»Nein, natürlich nicht. Ich werde es auch nicht zur Gewohnheit werden lassen. Aber, Layla, wenn du mir nicht vertrauen kannst, sind wir beide so gut wie nutzlos. Cal und Quinn können sich in die Vergangenheit zurückversetzen, und Gage und Cybil bekommen Bilder aus der Zukunft. Wir beide, du und ich, sind das Jetzt, die Gegenwart, und das ist sehr wichtig. Du hast gesagt, wir würden feststecken. Okay, dann sollten wir uns weiterbewegen.«
»Für dich ist es leichter zu akzeptieren, weil du dieses Ding …« Sie wedelte mit der Hand neben ihrer Schläfe. »Du kennst das seit zwanzig Jahren.«
»Du etwa nicht?«, entgegnete er. »Wahrscheinlich bist du damit sogar schon auf die Welt gekommen.«
»Weil der Dämon an meinem Stammbaum hängt?«
»Genau. Das ist ja nun mal eine Tatsache. Was du damit anfängst, ist allerdings deine Sache. Als wir vor zwei Wochen auf dem Weg zum Heidenstein waren, hast du dein Talent ja auch benutzt, und zwar aus freiem Entschluss. Ich habe es dir schon einmal gesagt, Layla, du musst dich darauf einlassen.«
»Das habe ich doch. Ich habe meinen Job deswegen verloren. Ich habe meine Wohnung untervermietet, weil ich erst wieder nach New York zurückgehe, wenn das hier vorbei ist. Ich arbeite hier, um meine Miete zahlen zu können, und wenn ich nicht hier arbeite, dann helfe ich Cybil und Quinn bei der Recherche und entwickle mit ihnen Theorien und Lösungen.«
»Und du bist frustriert, weil du die Lösung noch nicht gefunden hast. Sich wirklich auf etwas einzulassen bedeutet mehr, als Zeit zu investieren. Ich muss keine Gedanken lesen können, um zu wissen, dass es dir stinkt.«
»Ich war auch auf der Lichtung, Fox. Ich habe den Dämon auch gesehen.«
»Das ist richtig. Warum fällt dir das denn leichter, als dich mit dem auseinanderzusetzen, was du in dir hast? Es ist ein Werkzeug, Layla. Wenn du Werkzeug nicht benutzt, wird es rostig und stumpf. Und du vergisst, wie man damit umgehen muss.«
»Aber wenn das Werkzeug scharf und glänzend ist und du nicht weißt, wozu es gut ist, dann kannst du viel Schaden anrichten.«
»Ich helfe dir.« Er streckte die Hand aus.
Sie zögerte. Als das Telefon am Empfang zu läuten begann, wich sie einen Schritt zurück.
»Lass es klingeln«, sagte Fox. »Wenn es wichtig ist, rufen sie noch mal an.«
Aber sie schüttelte den Kopf und eilte hinaus. »Vergiss nicht, Shelley anzurufen.«
Na, das war ja toll gelaufen, dachte er missmutig. Er öffnete seine Aktentasche und holte die Akte mit der persönlichen Beleidigungsklage heraus, die er gerade gewonnen hatte. Einmal gewinnt man, einmal verliert man, dachte er.
Am besten ging er ihr für den Rest des Nachmittags aus dem Weg. Er würde per E-Mail mit ihr kommunizieren und sie bitten, Rechnungen zu schreiben oder herauszuschicken. Seine Anrufe konnte er auch direkt wählen, er brauchte sich nicht von Layla verbinden zu lassen.
Das war ihm sowieso immer albern vorgekommen, schließlich wusste er selbst, wie man ein Telefon benutzte.
Es gelang ihm, Shelley zu beruhigen, seinen Papierkram zu erledigen und beim Online-Schach zu gewinnen. Er überlegte, ob er Layla eine weitere E-Mail schicken sollte, um ihr zu sagen, sie könne nach Hause gehen, aber das kam ihm dann doch zu albern vor. Meiden musste er sie ja nun nicht.
Am Empfang saß Mrs Hawbaker. »Ich wusste ja gar nicht, dass Sie schon zurück sind«, sagte Fox.
»Ich bin schon seit einer ganzen Weile wieder da. Ich habe gerade die Papiere nachgeschaut, die Layla für Sie fertig gemacht hat. Hier, diese Briefe müssen Sie unterschreiben.«
»Okay.« Er nahm den Füller, den sie ihm reichte, und unterschrieb. »Wo ist Layla?«
»Sie ist nach Hause gegangen. Ist sie alleine gut zurechtgekommen?«
Fox nickte. »Ja, sie hat ihre Sache gut gemacht.«
Rasch und effizient faltete Mrs Hawbaker die Briefe, die Fox unterschrieben hatte. »Sie brauchen uns beide hier nicht die ganze Zeit. Außerdem können Sie es sich sowieso nicht leisten, zwei Sekretärinnen zu bezahlen.«
»Mrs H …«
»Ich werde den Rest der Woche nur noch halbtags kommen.« Sie steckte die Briefe in Umschläge und klebte sie zu. »Nur, um sicherzugehen, dass es hier keine Probleme gibt. Wenn irgendetwas ist, kann ich ja immer noch kommen und aushelfen. Aber ich rechne eigentlich nicht damit. Und wenn alles gut läuft, komme ich ab nächsten Freitag gar nicht mehr. Wir müssen eine Menge packen und aussortieren, Kisten nach Minneapolis verschicken und zusehen, dass wir das Haus verkauft kriegen.«
»Oh, verdammt!«
Mrs Hawbaker kniff die Augen zusammen und drohte ihm mit dem Finger. »Wenn ich weg bin, können Sie meinetwegen so viel fluchen, wie Sie wollen, aber solange ich hier sitze, achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise!«
»Ja, Ma’am. Mrs H …«
»Und machen Sie nicht solche Hundeaugen, Fox O’Dell. Das haben wir doch alles schon hinter uns.«
Das stimmte, und er spürte auch ihre Sorge und ihre Angst. Es würde wohl kaum etwas nützen, wenn er seine Befürchtungen auch noch bei ihr ablud. »Das Strafglas für besonders schlimme Wörter werde ich zur Erinnerung an Sie behalten.«
Das brachte sie zum Lächeln. »Bei Ihrem losen Mundwerk werden Sie sich mit dem Geld aus dem Glas als reicher Mann zur Ruhe setzen können. Aber Sie sind ein guter Junge. Sie sind ein guter Anwalt, Fox. Und jetzt gehen Sie nach Hause und genießen den Rest des Tages. Ich erledige nur noch ein paar Dinge und schließe dann ab.«
»Okay.« An der Tür blieb er stehen und warf ihr noch einen Blick zu. Ihre schneeweißen Haare waren perfekt frisiert; ihr blaues Kostüm wirkte sehr würdevoll. »Mrs H? Sie fehlen mir jetzt schon.«
Damit schloss er die Tür hinter sich. Er steckte die Hände in die Taschen, als er den Bürgersteig entlangging. Jemand hupte, er blickte auf und winkte, als Denny Moser vorbeifuhr. Denny Moser, dessen Familie der Eisenwarenladen am Ort gehörte. Denny, der während ihrer gemeinsamen Highschoolzeit ein hervorragender Grundlinienspieler bei den Hawkins Hollow Bucks gewesen war.
Denny Moser, der während der letzten Sieben mit einer Rohrzange hinter Fox hergerannt war und ihn ermorden wollte.
Es würde wieder passieren, dachte Fox. In ein paar Monaten würde es wieder passieren, wenn sie es nicht aufhielten. Denny hatte mittlerweile Frau und Kind, vielleicht würde er dieses Mal im Juli seiner Frau oder seinem kleinen Mädchen mit einer Rohrzange hinterherrennen. Oder vielleicht schnitt auch seine Frau, die früher Cheerleader gewesen war und heute als Tagesmutter arbeitete, ihrem Mann im Schlaf die Kehle durch.
Es war früher auch passiert, bei ganz normalen, anständigen Leuten. Und es würde wieder passieren. Es sei denn, sie konnten etwas dagegen unternehmen.
Er ging an einem windigen Märzabend den breiten gepflasterten Gehsteig entlang und wusste, er konnte nicht zulassen, dass es wieder passierte.
Cal war wahrscheinlich noch im Bowlingcenter, dachte Fox. Er würde dort ein Bier trinken und vielleicht eine Kleinigkeit essen. Vielleicht könnten sie zu zweit überlegen, in welche Richtung sie als Nächstes gehen wollten.
Als er sich dem Platz näherte, sah er Layla aus Ma’s Pantry gegenüber kommen. Sie hatte eine Plastiktüte in der Hand. Sie zögerte, als sie ihn erblickte, und er verspürte einen Stich der Irritation. Dann winkte sie ihm beiläufig zu und ging zur Ampel auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes.
Er war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er – wie es seinem normalen Verhalten entsprechen würde – auf seiner Seite der Ampel stehen bleiben und mit ihr sprechen? Oder sollte er einfach weitergehen? Er überlegte noch, als er auf einmal Angst verspürte. Abrupt blieb er stehen und blickte zum Himmel.
Auf den Drähten zwischen Main und Locust saßen sie. Die Krähen.
Dutzende von ihnen hockten ganz still, mit angelegten Flügeln, und – das wusste er – beobachteten sie. Er warf Layla einen Blick zu. Sie hatte sie ebenfalls gesehen.
Er fing nicht an zu rennen, obwohl es ein dringender Impuls war. Stattdessen ging er mit langen Schritten über die Straße zu ihr.
»Sie sind real«, flüsterte sie. »Ich habe zuerst gedacht, sie wären nur … aber sie sind real.«
»Ja.« Er ergriff sie am Arm. »Wir gehen hinein. Wir drehen uns jetzt um und gehen hinein. Dann …«
Er brach ab, als er Flügelschlagen hinter sich hörte. In ihren Augen erkannte er, dass es zu spät war.
Das Rauschen der Flügel dröhnte wie ein Tornado. Fox drückte Layla an das nächste Gebäude, zog sie eng an sich und schlang seine Arme um sie, um sie mit seinem Körper abzuschirmen.
Neben und hinter ihm klirrte Glas. Bremsen quietschten, ein dumpfer Aufprall auf Metall. Er hörte Schreie, schnelle Schritte, spürte den Ansturm der Vögel in seinem Rücken, das Picken ihrer Schnäbel.
Es war schnell vorbei. Es hatte nicht länger als eine Minute gedauert. Ein Kind schrie, immer und immer wieder – hoch und scharf. »Bleib hier«, sagte er atemlos zu Layla. »Rühr dich nicht vom Fleck.«
»Du blutest, Fox.«
Er richtete sich auf. Auf der Kreuzung waren drei Autos zusammengeprallt. Ihre Windschutzscheiben waren zersplittert, wo die Vögel dagegengeflogen waren. Ansonsten gab es aber nur zerbeulte Stoßstangen und erschreckte Gesichter.
Es hätte viel schlimmer kommen können.
»Sind Sie alle okay?«
Er hörte gar nicht zu, was sie antworteten: Haben Sie das gesehen? Sie sind mir direkt ins Auto geflogen! Er musterte die Leute nur aufmerksam, aber außer ein paar Schrammen war wohl nichts passiert. Er wandte sich wieder zu Layla.
Sie stand mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die aus Ma’s Pantry und den umliegenden Geschäften geströmt waren. »Unglaublich!« Meg, die Köchin bei Ma’s, starrte auf die zersplitterte Fensterscheibe des kleinen Restaurants. »Unglaublich.«
Das alles hatte er schon öfter gesehen, in viel schlimmerem Ausmaß noch. Fox ergriff Laylas Hand. »Lass uns gehen.«
»Sollten wir nicht irgendetwas unternehmen?«
»Es gibt nichts zu tun. Ich bringe dich nach Hause, und dann rufen wir Cal und Gage an.«
»Deine Hand.« Ihre Stimme klang zittrig. »Dein Handrücken verheilt bereits.«
»Ja, das gehört dazu«, sagte er grimmig und zog sie über die Main Street.
»Diesen Schutz habe ich nicht.« Sie sprach leise und lief neben ihm her, um Schritt zu halten. »Wenn du mich nicht abgeschirmt hättest, würde ich bluten.« Sie hob die Hand an den Schnitt in seinem Gesicht, der sich langsam schloss. »Aber es tut weh. Wenn es passiert und wenn es heilt, dann tut es weh.« Layla blickte auf ihre Hand, die seine hielt. »Das kann ich spüren.«
Als er sie loslassen wollte, umklammerte sie seine Hand fester. »Nein, ich möchte es spüren. Du hattest recht vorhin.« Sie blickten auf die toten Krähen, die auf dem ganzen Platz verstreut lagen, und zu dem kleinen Mädchen, das in den Armen seiner völlig geschockten Mutter heftig schluchzte. »Ich muss wirklich daran arbeiten. Du hast recht. Ich bin keine große Hilfe, wenn ich nicht akzeptiere, was in mir steckt, und wenn ich nicht lerne, wie ich es anwenden muss.«
Sie blickte ihn an und holte tief Luft. »Die Ruhepause ist vorüber.«
2
Auf dem kleinen Tisch mit den schmiedeeisernen Stühlen, die der Küche in dem gemieteten Haus eine eindeutig weibliche Note verliehen, stand ein Bier. Fox fand, dass man an allen möglichen Details sah, dass hier Frauen wohnten. Die bunten kleinen Töpfe mit Kräutern auf der Fensterbank, die Vase mit dem Blumenstrauß zum Beispiel.
Quinn, Cybil und Layla war es gelungen, in wenigen Wochen mit Flohmarktmöbeln, Stoffen und reichlich Farbe aus dem Haus ein Zuhause zu machen.
Dabei hatten sie die meiste Zeit damit verbracht, den Alptraum, der Hollow alle sieben Jahre für sieben Tage heimsuchte, zu recherchieren und zu ergründen.
Dieser Alptraum hatte vor einundzwanzig Jahren begonnen, an dem Tag, an dem Fox, Cal und Gage gemeinsam ihren Geburtstag feierten. Jene Nacht hatte ihn und seine Freunde – seine Blutsbrüder – verändert. Die Dinge hatten sich noch einmal verändert, als Quinn in die Stadt gekommen war, um für ihr Buch über Hollow und seine Legende zu recherchieren.
Mittlerweile war es für die reizvolle Blondine, die sich in Cal verliebt hatte, mehr als ein Buch geworden. Auch für Quinns Freundin aus dem College, Cybil Kinski, die exotische Forscherin, war es nicht mehr nur ein Projekt. Und für Layla Darnell stellte es wohl ein ziemliches Problem dar, dachte Fox.
Er, Cal und Gage kannten sich schon, seit sie Babys gewesen waren – sogar schon vorher, weil ihre Mütter den gleichen Schwangerschaftsvorbereitungskurs besucht hatten. Quinn und Cybil waren Zimmergenossinnen auf dem College gewesen und waren seitdem eng befreundet. Aber Layla war ganz alleine in diese Situation geraten.
Das rief er sich immer ins Gedächtnis, wenn er die Geduld verlieren wollte. Wie sehr sie auch mit der ganzen Situation verbunden war und wie gut sie auch mit den anderen beiden Frauen mittlerweile befreundet sein mochte, sie war alleine hier.
Cybil kam mit einem Notizblock herein. Sie warf ihn auf den Tisch und griff dann nach einer Flasche Wein. Ihre langen, schwarzen, lockigen Haare hatte sie mit Spangen zurückgesteckt, die silbern glitzerten. Sie trug eine schmale schwarze Hose und darüber ein knallrosa Hemd. Ihre Füße waren nackt, und ihre Nägel waren im gleichen Farbton wie die Bluse lackiert.
Solche Details faszinierten Fox. Er fand meistens noch nicht einmal passende Socken.
»Also …« Sie blickte ihn aus ihren dunkelbraunen Augen an. »Ich möchte deine Aussage hören.«
»Willst du mir nicht vorher meine Rechte vorlesen?« Als sie lächelte, zuckte er mit den Schultern. »Wir haben dir doch schon alles erzählt, als wir hereingekommen sind.«
»Details, Herr Anwalt!« Ihre Stimme war weich. »Quinn braucht für ihr Buch vor allem Details, wir alle sind darauf angewiesen, um uns das Gesamtbild vorstellen zu können. Quinn ist oben bei Layla und hört sich ihre Version an, während Layla sich umzieht. Sie hat Blut auf der Bluse. Deins vermutlich, da sie keinen einzigen Kratzer abbekommen hat.«
»Ich jetzt auch nicht mehr.«
»Ja, deine super-duper Heilkraft. Das ist praktisch. Am besten gehst du die Geschichte noch mal Schritt für Schritt durch, Süßer, ja? Ich weiß, das ist nervig, weil die anderen bestimmt auch noch mal alles hören wollen, wenn sie kommen. Aber vielleicht fällt dir ja beim Erzählen noch etwas auf.«
Da war etwas dran, und deshalb begann Fox mit seinem Bericht noch einmal in dem Moment, als er aufgeblickt und die Krähen gesehen hatte.
»Was hast du kurz davor gemacht?«
»Ich bin die Main entlanggegangen, weil ich bei Cal vorbeischauen wollte, um dort ein Bier zu trinken.« Er lächelte ein wenig und hob seine Flasche. »Stattdessen bekomme ich jetzt hier eins umsonst.«
»Du hast den Kasten Bier gekauft, soweit ich mich erinnere. Eigentlich hättest du die Vögel schon früher bemerken müssen.«
»Ich war abgelenkt, ich habe über … über die Arbeit und solche Sachen nachgedacht.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die immer noch feucht waren, weil er sie unter den Wasserhahn gehalten hatte, um den Vogelkot daraus zu entfernen. »Außerdem habe ich eher über die Straße als geradeaus geguckt, weil Layla gerade bei Ma’s herauskam.«
»Sie hat für Quinn diese ekelhafte fettarme Milch gekauft. War es nun Glück – oder auch Pech -, dass ihr beide gerade zu diesem Zeitpunkt da wart?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Oder ging es genau darum?«
Ihr scharfer Verstand und ihre rasche Auffassungsgabe hatten ihm von Anfang an gefallen. »Ich denke, das hat zumindest eine Rolle gespielt. Wenn der Große Böse Bastard verkünden wollte, dass er wieder bereit ist, dann hat es so mehr Wirkung, als wenn nur einer von uns es mitbekommt. Und wenn wir nur davon hören würden, würde es nur halb so viel Spaß machen.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung. Wir wissen ja, dass der Dämon Tiere oder labile Menschen leichter und schneller beeinflussen kann. So etwas Ähnliches wie mit den Krähen ist ja schon früher passiert.«
»Ja. Krähen oder andere Vögel, die gegen Fensterscheiben fliegen, Menschen angreifen. Wenn es passiert, sind sogar Leute überrascht, die das Gleiche schon einmal erlebt haben. Es ist symptomatisch, dass es ihnen immer wie das erste Mal vorkommt.«
»Es waren auch andere Leute unterwegs – Fußgänger, Leute, die vorbeigefahren sind.«
»Ja, klar.«
»Und keiner von ihnen hat angehalten und gesagt: ›Ach, du liebe Güte, sieh dir mal diese Unmenge von Krähen an‹.«
»Nein.« Fox nickte, weil er ihrem Gedankengang folgte. »Nein. Niemand hat sie gesehen, oder niemand hat sie besonders bemerkenswert gefunden. Das ist früher auch schon mal so gewesen. Die Leute sehen Dinge, die nicht da sind, und sie sehen Dinge nicht, die da sind. Es hat nur noch nie zeitlich so weit entfernt von den Sieben stattgefunden.«
»Was hast du gemacht, als du Layla gesehen hast?«
»Ich bin weitergegangen.« Neugierig neigte er den Kopf, um zu lesen, was sie sich auf dem Block notiert hatte. Aber er konnte nur komische Kringel und Zeichen erkennen, die er auch nicht hätte entziffern können, wenn sie nicht auf dem Kopf gestanden hätten. »Vermutlich habe ich kurz innegehalten, wie man das eben so macht, dann bin ich weitergegangen. Und in dem Moment … ich habe es zuerst gespürt, das ist ja meine Art. So ein Bewusstsein, als ob sich die Haare im Nacken aufrichten oder man ein Prickeln zwischen den Schulterblättern spürt. Ich habe sie zuerst im Kopf gesehen, dann habe ich hochgeschaut und habe sie mit meinen Augen gesehen. Layla hat sie auch bemerkt.«
»Und sonst noch jemand?«
»Nein.« Wieder fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. »Ich glaube nicht. Ich wollte mit ihr irgendwo hineingehen, aber dazu hatten wir keine Zeit mehr.«
Während er den Rest der Geschichte erzählte, unterbrach sie ihn nicht mehr. Als er fertig war, legte sie ihren Stift auf den Tisch und lächelte ihn an. »Du bist süß, Fox.«
»Das ist wohl wahr. Warum?«
Lächelnd stand sie auf und trat um den kleinen Tisch herum. Sie umfasste sein Gesicht mit den Händen und küsste ihn leicht auf den Mund. »Ich habe deine Jacke gesehen. Sie ist zerrissen und voller Vogelkot und Gott weiß, was sonst noch. Das hätte Layla sein können.«
»Ich kann mir eine neue Jacke kaufen.«
»Wie ich schon sagte, du bist süß.« Erneut küsste sie ihn.
»Tut mir leid, dass ich diesen bewegenden Moment stören muss.« Gage kam herein, die dunklen Haare windzerzaust, und blickte sie aus seinen grünen Augen zynisch an. Er verstaute das Sixpack, das er dabeihatte, im Kühlschrank und nahm sich dann ein Bier.
»Der Moment ist bereits vorbei«, verkündete Cybil. »Schade, dass du die ganze Aufregung verpasst hast.«
Er öffnete die Flasche. »Davon wird es noch reichlich geben, bis es vorbei ist. Alles okay?«, wandte er sich an Fox.
»Ja. In der nächsten Zeit werde ich mir allerdings meine DVD von Die Vögel nicht mehr anschauen.«
»Cal hat gesagt, Layla wäre nichts passiert.«
»Nein, ihr geht es gut. Sie ist oben und zieht sich um.«
Fox warf Cybil einen Blick zu, und sie zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl mein Stichwort, nach oben zu gehen und euch zwei alleine zu lassen.«
Gage blickte ihr nach, als sie das Zimmer verließ. »Sie sieht echt gut aus, egal ob sie kommt oder geht.« Er trank einen Schluck Bier und setzte sich Fox gegenüber. »Guckst du deshalb in die Richtung?«
»Was? Ach so, wegen Cybil. Nein.« Ihr Duft hing noch in der Luft, geheimnisvoll und anziehend zugleich. Aber … »Nein. Du?«
»Gucken kann man ja mal. War es heute sehr schlimm?«
»Wir haben schon Schlimmeres erlebt. Hauptsächlich Sachschaden, höchstens ein paar Schnitte und Schrammen.« Er biss die Zähne zusammen. »Sie hätten sie übel zugerichtet, Gage, wenn ich nicht da gewesen wäre. Sie wäre nicht mehr rechtzeitig hineingekommen. Sie sind nicht nur gegen Autos und Gebäude geflogen, sondern haben sie direkt angegriffen.«
»Es hätte jeden von uns treffen können.« Gage dachte einen Augenblick nach. »Letzten Monat ist er auf Quinn losgegangen, als sie alleine im Sportstudio war.«
»Er geht auf die Frauen los.« Fox nickte. »Vor allem, wenn sie alleine sind. Anscheinend ist er der Ansicht – der irrigen Ansicht -, dass eine Frau alleine verletzlicher ist.«
»Nein, nicht ganz irrig. Bei uns verheilt alles, bei ihnen nicht.« Gage lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir können sie nicht ständig absichern, vor allem nicht wenn wir gleichzeitig versuchen, einen jahrhundertealten, stinksauren Dämon um die Ecke zu bringen. Und wir brauchen sie dabei.«
Die Haustür ging auf, und Cal trat ein. Er hatte mehrere Take-out-Tüten dabei. »Burger und Sandwiches«, verkündete er. Er stellte die Tüten auf der Küchentheke ab und musterte Fox. »Bist du okay? Layla auch?«
»Das Einzige, was hinüber ist, ist meine Lederjacke. Wie sieht’s draußen aus?«
Cal holte sich ebenfalls ein Bier und setzte sich zu seinen Freunden. Seine grauen Augen waren hart. »Etwa ein Dutzend zerbrochene Scheiben auf der Main Street und der Autounfall am Platz. Dieses Mal keine ernsthaften Verletzungen. Der Bürgermeister und mein Vater haben ein paar Leute zum Aufräumen zusammengeholt, und Chief Larson nimmt die Aussagen zu Protokoll.«
»Und wie immer wird sich in ein paar Tagen niemand mehr daran erinnern. Vielleicht ist es ja besser so. Wenn die Leute es nicht mehr aus dem Kopf bekämen, wäre Hollow eine Geisterstadt.«
»Vielleicht wäre das besser so. Jetzt fang bloß nicht mit Heimat und so was an.« Gage schaute Cal an. »Es ist doch einfach nur ein Ort. Ein Punkt auf der Landkarte.«
»Es sind Menschen«, korrigierte Cal ihn, obwohl sie dieses Thema schon häufiger diskutiert hatten. »Es sind Familien, Geschäfte und Häuser. Und es ist unsere Heimat, verdammt noch mal. Wir lassen uns das von Twisse doch nicht wegnehmen.«
»Aber ist euch noch nie in den Sinn gekommen, dass es viel leichter wäre, ihn festzunageln, wenn wir uns nicht auch noch Sorgen um die dreitausend Einwohner im Ort machen müssten?« Gage warf den Kopf zurück. »Was machen wir denn die meiste Zeit während der Sieben, Cal? Wir versuchen, die Leute davon abzuhalten, sich selbst oder gegenseitig umzubringen. Wie sollen wir denn gegen ihn kämpfen, wenn wir viel zu viel mit den Auswirkungen zu tun haben?«
»Da hat er nicht unrecht.« Fox hob beschwichtigend die Hand. »Ich habe mir auch schon gewünscht, dass wir freie Bahn für einen Showdown hätten, um es hinter uns zu bringen. Aber du kannst nicht dreitausend Leuten sagen, sie sollen eine Woche lang ihre Geschäfte und Häuser verlassen. Du kannst nicht eine ganze Stadt evakuieren.«
»Die Anasazi haben das getan.« Quinn trat ein und ging zuerst zu Cal. Ihre langen blonden Haare fielen nach vorne, als sie sich zu ihm beugte, um ihn zu küssen. »Hi.«
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und Cal legte in einer besitzergreifenden Geste seine darüber.
»Städte und Dörfer sind immer schon aus mysteriösen und ungeklärten Gründen geräumt worden«, fuhr sie fort. »Die Anasazi, die komplexe Gemeinschaften in den Canyons von Arizona und New Mexico errichtet haben, die Kolonialstadt Roanoke. Gründe können Krieg, Krankheit oder auch etwas anderes gewesen sein, möglicherweise sogar das, mit dem wir jetzt zu kämpfen haben.«
»Meinst du, Lazarus Twisse hat auch die Anasazi und die Siedler von Roanoke ausgelöscht?«, fragte Cal.
»Vielleicht. Die Anasazi allerdings wahrscheinlich unter einem anderen Namen. Roanoke war nach sechzehnhundertzweiundfünfzig, das können wir also unserem Großen Bösen Bastard nicht anhängen. Es ist ja auch nur eine Theorie, mit der ich ein bisschen herumgespielt habe.« Sie wandte sich zu den Tüten auf der Theke und schaute hinein. »Wir sollten jetzt auf jeden Fall essen.«
Während sie Geschirr und Besteck ins Esszimmer trugen, zog Fox Layla beiseite. »Bist du okay?«
»Ja.« Sie ergriff seine Hand, drehte sie um und betrachtete die unversehrte Haut auf dem Handrücken. »Und du vermutlich auch.«
»Hör mal, wenn du ein paar Tage frei haben möchtest, ich meine, von der Kanzlei, ich hätte nichts dagegen.«
Sie ließ seine Hand los und blickte ihn an. »Hältst du mich wirklich für so … so zimperlich?«
»Nein. Ich meinte ja nur …«
»Doch, du hältst mich für einen Feigling, nur weil ich nicht in deine Gedanken eindringen will.«
»Das stimmt nicht.«
»Ach, nein?« Sie drängte sich an ihm vorbei und setzte sich an den Tisch.
»Okay.« Quinn betrachtete Cals Burger mit einem wehmütigen Blick, bevor sie sich ihrem gegrillten Hähnchen zuwandte. »Wir wissen alle, was am Platz passiert ist. Böse Vögel. Wir dokumentieren es, und ich habe vor, morgen mit Leuten zu sprechen, die den Zwischenfall beobachtet haben. Vielleicht sollten wir ja auch einen toten Vogel analysieren lassen. Vielleicht kann man bei einer Autopsie eine körperliche Veränderung, eine Infektion oder so etwas feststellen.«
»Das überlassen wir dir.« Cybil verzog das Gesicht, während sie an ihrer Portion Truthahnsandwich knabberte, die sie in vier Teile zerschnitten hatte. »Lass uns beim Essen nicht über Autopsien reden. Mir ist bei den Ereignissen heute etwas Interessantes aufgefallen. Layla und Fox haben beide die Vögel gespürt und gesehen, und soweit ich das beurteilen kann, so gut wie gleichzeitig. Nun, liegt das einfach daran, dass wir alle sechs eine Verbindung zu den dunklen und den hellen Seiten dessen haben, was in Hawkins Hollow passiert? Oder ist das so, weil die beiden eine spezifische Fähigkeit gemeinsam haben?«
»Ich würde sagen, beide Faktoren spielen eine Rolle«, meinte Cal. »Der Schwerpunkt liegt aber wohl auf der gemeinsamen Fähigkeit.«
»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Cybil zu. »Und, wie wollen wir sie benutzen?«
»Gar nicht.« Fox schaufelte sich Pommes frites auf den Teller. »Jedenfalls nicht, solange Layla nicht lernen will, wie sie mit ihrer Fähigkeit umgehen muss. So ist es eben«, verteidigte er sich, als Layla ihn anstarrte. »Du brauchst deine Fähigkeit ja nicht zu mögen, aber du hast sie. Nur, solange du sie nicht anwendest oder lernst, damit umzugehen, nützt sie niemandem etwas.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht will, aber ich lasse mir von dir auch nichts aufzwingen. Und es funktioniert auch nicht, wenn du mich in Verlegenheit bringst.«
»Wie funktioniert es denn?«, entgegnete Fox. »Ich bin offen für jeden Vorschlag.«
Cybil hob die Hand. »Da ich das Thema angeschnitten habe, versuche ich auch, es zu lösen. Du hast Vorbehalte, Layla. Warum sagst du uns nicht, was du denkst?«
»Ich habe das Gefühl, Stücke von mir selbst zu verlieren. Und mir wird klar, dass ich nie wieder so sein werde, wie ich einmal war.«
»Das mag sein«, warf Gage ein. »Aber wahrscheinlich wirst du den Juli sowieso nicht überleben.«
»Ja, natürlich.« Layla lachte ein wenig und griff nach ihrem Weinglas. »Ich sollte das Ganze positiv sehen.«
Cal warf Gage einen verweisenden Blick zu. Kopfschüttelnd sagte er: »Versuchen wir es doch lieber mal so: Du wärst heute höchstwahrscheinlich verletzt worden, wenn zwischen dir und Fox nicht etwas geklickt hätte. Und zwar ohne dass einer von euch beiden wissentlich etwas dazu beigetragen hat. Was ist?«, fragte er, als Quinn zum Reden ansetzte, dann aber abbrach.
»Nein. Nichts.« Quinn wechselte einen raschen Blick mit Cybil. »Ich verstehe schon, was jeder von euch meint. Vielleicht solltest du es mal aus einem anderen Blickwinkel betrachten, Layla. Nicht, dass du etwas verlierst, sondern dass du auch etwas gewinnen könntest. Wir sind übrigens Ann Hawkins’ Tagebücher noch einmal durchgegangen und haben uns auch die anderen Bücher angeschaut, die Cals Urgroßmutter uns gegeben hat. Cybil will unbedingt herausfinden, wohin Ann in der Nacht, als Dent Lazarus Twisse am Heidenstein bezwungen hat, gegangen ist. Wir wollen wissen, wo sie mit ihren Söhnen gelebt hat, bis sie schließlich, als sie zwei waren, wieder zurückgekommen sind. Wir haben immer noch Hoffnung, dass wir den Ort finden, dann finden wir möglicherweise auch noch weitere Tagebücher. Cybil hat auch ihren Stammbaum überprüft.«
»Ich musste nicht so weit zurückgehen wie ihr anderen, soweit ich das überblicke«, sagte Cybil. »Eine meiner Vorfahrinnen, eine Nadia Sytarskyi, ist Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrer Familie und mit anderen hierhergekommen. Sie heiratete Jonah Adams, einen Abkömmling von Hester Deale. Eigentlich kann ich sogar zwei Zweige nachweisen, weil etwa fünfzig Jahre später einer meiner anderen Vorfahren – von der Kinski-Seite – ebenfalls hierherkam und die Enkelin von Nadia und Jonah heiratete. Also bin ich, wie Quinn und Layla, eine Nachfahrin von Hester Deale und dem Dämon, der sie vergewaltigte und ihr ein Kind machte.«
»Also sind wir alle eine große, glückliche Familie«, warf Gage ein.
»Na, davon haben wir was. Also, mir gefällt es nicht«, sagte Cybil und wandte sich direkt an Layla, »dass ich zum Teil von etwas Bösem, nicht Menschlichem abstamme. Es macht mich sogar richtig wütend. Ich werde auf jeden Fall alle Kräfte einsetzen, um den Dämon zu vernichten.«
»Hast du keine Angst, dass er das Nichtmenschliche in dir gegen dich verwendet?«
Cybil hob ihr Glas und trank einen Schluck. Ihre dunklen Augen blickten kühl. »Das soll er mal versuchen.«
»Aber ich habe Angst davor.« Layla blickte in die Gesichter der Menschen, die ihr in den letzten Wochen ans Herz gewachsen waren. »Es beunruhigt mich, dass etwas in mir ist, das ich nicht ganz verstehen oder kontrollieren kann. Und ich habe Angst, dass es eines Tages mich kontrolliert.« Sie schüttelte den Kopf, bevor Quinn antworten konnte. »Ich weiß immer noch nicht, ob ich aus freiem Entschluss hierhergekommen bin oder ob mich etwas gelenkt hat. Vielleicht bin ich ja nur Teil eines Masterplans, den diese Mächte – die dunklen und die hellen – geschaffen haben. Und das lähmt mich.«
»Niemand kettet dich an diesen Stuhl«, erwiderte Gage.
»Jetzt mal sachte«, wies Fox ihn zurecht, aber Gage zuckte nur mit den Schultern.
»Wenn sie ein Problem damit hat, haben wir alle ein Problem. Also müssen wir uns damit auseinandersetzen. Warum packst du nicht einfach deine Sachen und gehst wieder zurück nach New York? Verkaufst wieder teure Schuhe an gelangweilte Frauen mit zu viel Geld?«
»Hör auf, Gage.«
»Nein.« Layla legte Fox die Hand auf den Arm, als er aufstehen wollte. »Du brauchst mich nicht zu beschützen. Warum ich nicht gehe? Weil ich dann ein Feigling wäre, und bis jetzt war ich das noch nie. Ich gehe deshalb nicht, weil der Dämon, der Hester Deale vergewaltigt hat, sie in den Wahnsinn und zum Selbstmord getrieben hat, auch mich am liebsten vertreiben würde. Ich weiß besser als jeder andere hier, was er ihr angetan hat, denn ich habe es am eigenen Leib erlebt. Vielleicht habe ich deshalb auch mehr Angst als ihr; vielleicht war das Teil des Plans. Ich gehe nicht weg, aber ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich Angst habe. Vor dem da draußen und vor dem, was in mir ist. In uns allen.«
»Du wärst dumm, wenn du keine Angst hättest.« Gage prostete ihr zu. »Kluge, aufmerksame Menschen sind schwerer zu manipulieren als dumme.«
»Alle sieben Jahre drehen gute Menschen in diesem Ort durch und verletzen sich selbst und andere. Es sind ganz normale Menschen, kluge, bewusste Menschen, und sie tun Dinge, die sie zu anderen Zeiten nie in Erwägung ziehen würden.«
»Glaubst du, du könntest infiziert sein?«, fragte Fox sie. »Du könntest jemanden verletzen? Einen von uns?«
»Was macht uns so sicher, dass wir immun sind? Sollten wir nicht zumindest in Erwägung ziehen, dass wir aufgrund unserer Abstammung sogar noch verletzlicher sind?«
»Das ist ein guter Einwand. Beängstigend, aber gut«, fügte Quinn hinzu.