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Der Nachtflug, auf der Strecke Rio—Buenos Aires 1928 erstmals unternommen, war noch ein gefährliches Wagnis, als wenig später Antoine de Saint-Exupéry, Betriebsdirektor der Companie Générale Aéropostale Argentina, seinen Roman >Vol de Nuit< niederschrieb. Die Schnelligkeit der Dampfer und Eisenbahnen, die nachts den Vorsprung der Flugzeuge wettzumachen suchten, zwang die Flieger in den dunklen Abgrund zwischen Tag und Tag. Sie erfuhren, zwischen Himmel und Erde, die gewaltige Schönheit und die furchtbare Drohung elementarer Kräfte, die Sehnsucht und die Furcht inmitten unermeßlicher Weite. Die Menschen dieses Romans erleben, »wie das Ungewollte immer wieder die Oberhand gewinnt«: über die Tat des planenden Willens und auch über das vertrauende persönliche Glück, die miteinander im Widerstreit stehen. Sekunden erweisen an zwei Menschen und ihrem Flugzeug das gnadenlose Wirken der Zerstörerin Zeit. Aber mit jedem neuen Start »wird das Brausen des Gebens alle Zweifel und Fragen gelöst haben«
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Seitenzahl: 97
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Der Nachtflug, auf der Strecke Rio—Buenos Aires 1928 erstmals unternommen, war noch ein gefährliches Wagnis, als wenig später Antoine de Saint-Exupéry, Betriebsdirektor der Companie Générale Aéropostale Argentina, seinen Roman >Vol de Nuit< niederschrieb. Die Schnelligkeit der Dampfer und Eisenbahnen, die nachts den Vorsprung der Flugzeuge wettzumachen suchten, zwang die Flieger in den dunklen Abgrund zwischen Tag und Tag. Sie erfuhren, zwischen Himmel und Erde, die gewaltige Schönheit und die furchtbare Drohung elementarer Kräfte, die Sehnsucht und die Furcht inmitten unermeßlicher Weite.
Die Menschen dieses Romans erleben, »wie das Ungewollte immer wieder die Oberhand gewinnt«: über die Tat des planenden Willens und auch über das vertrauende persönliche Glück, die miteinander im Widerstreit stehen. Sekunden erweisen an zwei Menschen und ihrem Flugzeug das gnadenlose Wirken der Zerstörerin Zeit. Aber mit jedem neuen Start »wird das Brausen des Gebens alle Zweifel und Fragen gelöst haben«.
Antoine deSaint-Exupery
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Die Höhenzüge, tief unter dem Flugzeug, gruben schon ihre Schattenfurchen ins Gold des Abends. Aber die Ebenen glommen noch in hartnäckigem Licht: sie können sich dortzulande nie entschließen, ihr Gold herzugeben, ebenso wie sie nach dem Winter nie von ihrem Schnee lassen wollen.
Und der Pilot Fabien, der das Postflugzeug Patagoniens vom äußersten Süden her nach Buenos Aires zurückführte, steuerte in den nahenden Abend wie in die Gewässer eines Hafens: Stille weithin, kaum gefurcht von ein paar leichten, regungslosen Wolken. Glückliche Geborgenheit einer riesigen Reede, Es war ihm auch, als schlenderte er langsam durch diesen Frieden dahin, fast wie ein Hirte. Die Hirten Patagoniens ziehen gemächlich von Herde zu Herde: er zog von Stadt zu Stadt, er war der Hirt der kleinen Städte. Alle zwei Stunden traf er auf welche, zur Tränke gedrängt ans Ufer der Flüsse oder weidend auf ihrer Ebene.
Manchmal, nach hundert Kilometern Steppe, unbewohnter als das Meer, überflog er eine verlorene Farm, die ihre Fracht Menschenleben nach rückwärts durch die Wogen der Prärie davonzutragen schien wie eine Arche, dann grüßte er mit seinen Flügeln.
»San Julian ist in Sicht; wir landen in zehn Minuten.«
Der Bordfunker gab die Nachricht an alle Stationen der Linie weiter.
Auf zweitausendfünfhundert Kilometer, von der Magalhãesstraße bis Buenos Aires, reihten sich die Stationen gleichförmig gestaffelt; aber die, der man jetzt zuflog, erschien wie ein letzter Grenzort am Rande der Nacht, gleich einem jener letzten unterworfenen afrikanischen Nester am Rande des Unbekannten.
Der Funker schob dem Piloten einen Zettel zu:
»Es sind so viele Gewitter in der Luft, daß ich die Hörer ganz voll habe davon. Werden Sie in San Julian übernachten?«
Fabien lächelte: der Himmel war still wie ein Aquarium, und alle Stationen vor ihnen meldeten: »Klarer Himmel, kein Wind.« Er antwortete:
»Wir fliegen weiter.«
Aber der Funker dachte an Gewitter, die sich sicher irgendwo eingenistet hatten, wie Würmer in einer Frucht; mochte die Nacht noch so schön sein, sie war angefault: etwas in ihm sträubte sich dagegen, sich in dieses verwesungsreife Dunkel hineinzubegeben.
Während Fabien mit gedrosseltem Motor auf San Julian niederglitt, fühlte er sich müde. Alles, was das Dasein der Menschen behaglich macht, wuchs ihm entgegen: ihre Häuser, ihre kleinen Cafes, die Bäume ihrer Promenade. Er war wie ein Eroberer, der sich am Abend seines Siegs über die Lande des Reiches beugt und zum erstenmal das bescheidene Menschenglück gewahrt. Ein Verlangen war in ihm, die Waffen abzulegen, die Schwere und Steifheit seiner Glieder zu spüren, denn auch Mühsal schafft Behagen, und hier nur noch ein einfacher Mensch zu sein, der durch sein Fenster hinausschaut auf ein Daseinsbild, das sich nun nie mehr wandelt. Dieses winzige Nest, er hätte es gerne akzeptiert: hat man einmal gewählt, so gibt man sich zufrieden mit dem Zufall seines Daseins und kann sein Herz daran hängen. Es gewährt den Segen der Beschränkung, wie die Liebe. Fabien hätte gewünscht, lange Zeit hier zu leben, sein Teil Ewigkeit hier an sich zu nehmen; denn sie erschienen ihm wie etwas Ewiges, außerhalb seines Ich, diese kleinen Städte, in denen er immer nur eine Stunde verbrachte, und diese Gärten, umhegt von alten Mauern, die er überflog. Und die Ortschaft stieg der Besatzung entgegen und öffnete sich ihr.
Und Fabien dachte an die Freundschaften, an die zärtlichen Mädchen, an die Traulichkeit der weißen Tischtücher, an alles, was sich gemächlich einrichtet auf die Ewigkeit. Und die kleine Stadt glitt schon dicht unter den Flügeln dahin und enthüllte das Geheimnis ihrer geschlossenen Gärten, die ihre Mauern nicht mehr beschützten. Aber Fabien wußte, als er gelandet war, daß er nichts gesehen hatte als die langsame Bewegung von ein paar Menschen zwischen ihren Steinen. Diese Stadt hielt ihre Leidenschaften hinter ihrer Unbeweglichkeit verborgen, diese Stadt gab ihre Süße nicht preis: um sie zu gewinnen, hätte man auf die Tat verzichten müssen.
Als die zehn Minuten Aufenthalt um waren, mußte Fabien wieder scheiden.
Er schaute auf San Julian zurück: es war nur noch eine Handvoll Lichter, dann Sterne, dann verlor sich der Staub, der ihn zum letztenmal in Versuchung geführt hatte.
»Ich sehe die Zeiger nicht mehr: ich mache Licht.«
Er schaltete die Instrumentenbeleuchtung ein, aber die roten Lampen warfen in diesem Dämmerblau nur ein so schwaches Licht auf die Zeiger, daß es sie nicht färbte. Er hielt seine Finger vor eine Birne: sie röteten sich kaum.
»Zu früh.«
Indessen stieg die Nacht herauf wie dunkler Rauch und füllte schon die Täler. Sie waren nicht mehr von den Ebenen zu unterscheiden. Dafür blitzten jetzt die Dörfer auf, Sternbilder, die einander antworteten. Und auch er ließ mit dem Finger seine Positionslichter blinken zur Antwort. Die ganze Erde war übersponnen von Lichtgrüßen, jedes Haus zündete seinen Stern an vor der unendlichen Nacht, so wie man das Feuer eines Leuchtturms gegen das Meer wendet. Alles, was Menschenleben barg, glitzerte. Fabien schwoll das Herz: wie in einen Hafen war diesmal die Einfahrt in die Nacht, sacht und schön.
Er beugte sich zum Schaltbrett. Das Radium der Zeiger begann zu leuchten. Eine nach der andern prüfte der Pilot die Ziffern und war zufrieden. Man saß ganz solide hier in diesem Himmelsraum. Er tippte mit dem Finger an einen Stahlspanten und fühlte das Leben durch das Metall rieseln: dieser Stahl vibrierte nicht, er lebte. Die fünfhundert Pferdestärken des Motors weckten in der Materie einen ganz sanften Strom, der ihre Eishärte in samtweiches Fleisch verwandelte. So war es immer. Weder Schwindel noch Rausch empfand man im Flug, sondern nur das geheimnisvolle Arbeiten eines lebendigen Organismus.
Er hatte sich jetzt seine Weit wiederhergerichtet und machte es sich mit den Ellbogen darin bequem.
Er griff an die elektrische Schalttafel, prüfte die Schalter der Reihe nach, rückte ein wenig herum, lehnte sich tiefer in den Sitz und suchte nach der besten Stellung, um das Schaukeln der fünf Tonnen Metall recht zu spüren, die die leise bewegte Nacht auf ihren Schultern trug. Dann tastete er umher, schob seine Notlampe an ihren Platz, ließ sie los, fand sie wieder, vergewisserte sich, daß sie nicht rutschen konnte, ließ sie wieder los, um an jeden Hebel zu rühren und seine Finger zu üben, wie für eine Welt von Blinden.
Dann, als er seiner Hände ganz sicher war, erlaubte er sich, eine Lampe anzuzünden, seine Präzisionsinstrumente zu schmücken, und überwachte nach den Zifferblättern sein Eintauchen in die Nacht. Dann, als nichts schwankte, nichts vibrierte, nichts zitterte und sein künstlicher Horizont, sein Höhenmesser und der Tourenzähler ganz ruhig blieben, streckte er sich ein wenig, lehnte seinen Nacken gegen das Leder des Sitzes und begann sich der tiefen Beschaulichkeit des Flugs hinzugeben, die einen wohlig mit einer unerklärlichen Hoffnung erfüllt.
Und so, wach im Herzen der Nacht wie ein Wächter, entdeckt er plötzlich, daß die Nacht den Menschen offenbart: diese Lichter, diese stummen Rufe, diese Unruhe. Der einzelne Stern dort im Dunkeln: die Einsamkeit eines Hauses. Einer erlischt: das ist ein Haus, das sich über seiner Liebe schließt.
Oder über seiner Langeweile. Ein Haus, das aufhört, der übrigen Welt sein Zeichen zu geben. Sie wissen nicht, wohin ihr Hoffen geht, die Bauern, die da mit aufgestützten Ellbogen am Tisch hocken vor ihrer Lampe: sie wissen nicht, daß ihr Wünschen so weit trägt in der großen Nacht, die sie umfängt. Aber er, Fabien, erspäht es, wenn er tausend Kilometer weit daherkommt, auf und ab gewiegt in der Dünung der Luft, wenn er zehn Gewitter durchquert hat wie Kriegsgebiete, mit Mondlichtungen dazwischen, und wenn er diese Lichter erreicht, eins nach dem andern, im Gefühl des Siegs. Diese Menschen meinen, ihre Lampe leuchte für ihren bescheidenen Tisch, aber achtzig Kilometer weit von ihnen vernimmt man schon den Ruf dieses Lichts, so als schwenkten sie es verzweifelt auf einer verlassenen Insel am Rande des Meeres.
So flogen die drei Postflugzeuge Patagoniens, Chiles und Paraguays von Süden, Westen und Norden her nach Buenos Aires zurück. Dort erwartete man ihre Ladung, um gegen Mitternacht den Europakurier starten zu lassen.
Drei Piloten, jeder hinter einer Haube, schwer wie eine Schaluppe, verloren in der Nacht, bedachten ihren Flug und würden nun bald aus ihrem Gewitter- oder Sternenhimmel langsam herabsteigen zu der riesigen Stadt, wie fremdartige Bauern aus ihren Bergen.
Rivière, verantwortlicher Leiter des gesamten Streckennetzes, ging auf dem Landeplatz von Buenos Aires hin und her. Schweigend. Denn bis zur Ankunft der drei Flugzeuge blieb dieser Tag für ihn bedroht. Minute um Minute, mit jedem Funkspruch, der eintraf, hatte Rivière das wachsende Gefühl, dem Schicksal etwas zu entreißen, den Einfluß des Unbekannten zu verringern und seine Besatzungen aus der Nacht herauszuziehen ans Ufer.
Ein Arbeiter trat an ihn heran, um ihm eine Nachricht der Funkstation zu überbringen: »Der Chilekurier meldet, daß er die Lichter von Buenos Aires in Sicht hat.«
Bald würde Rivière dieses Flugzeug hören: eines lieferte die Nacht schon aus, so wie ein Meer voller Strömungen und Geheimnisse einen Schatz an den Strand treibt, den es lange hin und her gespült. Und später würde sie ihm auch die beiden anderen herausgeben.
Dann war ein Strich unter diesen Tag gemacht. Dann konnten die erschöpften Besatzungen schlafen gehen, ersetzt durch frische. Aber er, Rivière, würde noch keine Ruhe haben: der Europakurier würde ihm neue Unruhe bescheren. So würde es immer sein.
Immer. Zum erstenmal überraschte sich der alte Kämpfer dabei, daß er sich müde fühlte. Die Rückkehr der Flugzeuge würde nie der Sieg sein, der einen Krieg beendigt und eine Ara glücklichen Friedens eröffnet. Immer würden jedem Schritt, den er tat, tausend gleiche folgen. Ihm war, als trüge er eine bleischwere Last mit gestreckten Armen, wie lange schon; eine Mühe ohne Rast und ohne Hoffnung. >Ich werde alt…< Alt, wenn er nicht mehr im Tun selbst seine Befriedigung fand. Er wunderte sich über sich selber, daß er sich plötzlich mit Fragen abgab, die er sich nie gestellt hatte. Aber mit schwermütigem Flüstern umgeisterte ihn die Fülle aller Annehmlichkeiten, die er immer beiseite geschoben hatte: eine verlorene Welt. >So nah also ist das alles ? …< Er gestand sich ein, dass er alles, was das Leben süß macht, nach und nach auf das Alter verschoben hatte, auf den Augenblick, da er Zeit dazu haben< würde. Als ob man wirklich eines Tages Zeit dazu haben könnte; als ob man am Ende des Lebens den glücklichen Frieden gewinnen könnte, den man sich erträumt. Aber es gibt keinen Frieden. Es gibt vielleicht auch keinen Sieg. Es gibt keine endgültige Rückkehr aller Flugzeuge.