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»Dürrenmatt ist ein Meister der sprachlichen Perspektive, er hat sie nicht zuletzt am Hörspiel ausgebildet.
Im
Unternehmen Wega wird die Auseinandersetzung zwischen West und Ost auf unserem Planeten ausgeweitet auf einen neuen möglichen Kriegsschauplatz: die Venus. Sie ist zur Strafkolonie der Erde geworden.
In
Stranitzky und der Nationalheld rückt das Staatsoberhaupt Baldur von Moeve infolge Erkrankung an Aussatz auf die Seite der Geächteten und Geschändeten. Einer von diesen, der an beiden Beinen amputierte Kriegsverletzte und ehemalige Fußballchampion Stranitzky, hält nun seine Stunde für gekommen. Die bisherigen Opfer der Politik werden regieren denn zum Regieren braucht es ja schließlich keine Beine, wohl aber einen Kopf.
Das
Nächtliche Gespräch ist nicht nur ganz allgemein ein Kurs für Zeitgenossen, sondern im besonderen eine Anleitung für Dürrenmatt-Leser, vielleicht sogar d i e Anleitung.«"
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Seitenzahl: 137
Friedrich Dürrenmatt
Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen | Stranitzky und der Nationalheld | Das Unternehmen der Wega
Hörspiele und Kabarett
Diogenes
Ein Kurs für Zeitgenossen
Der Mann
Der andere
Geschrieben 1951
Eine Fensterscheibe klirrt.
DER MANN ruhig und laut
Kommen Sie bitte herein.
Stille.
DER MANN
Kommen Sie herein. Es hat keinen Sinn, auf dem Fenstersims sitzen zu bleiben in dieser unangenehmen Höhe, wenn Sie schon heraufgeklettert sind. Ich kann Sie ja sehen. Der Himmel da draußen hinter Ihrem Rücken ist immer noch heller in seiner Dunkelheit als die Finsternis dieses Zimmers.
Ein Gegenstand fällt auf den Boden.
DER MANN
Sie haben die Taschenlampe fallen lassen.
DER ANDERE
Verflixt.
DER MANN
Es hat keinen Sinn, nach ihr auf dem Boden zu suchen. Ich mache Licht.
Ein Schalter knackt.
DER ANDERE
Vielen Dank, Herr.
DER MANN
So. Da sind Sie. Die Situation ist gleich sympathischer, wenn man sich sieht. Sie sind ja ein älterer Mann!
DER ANDERE
Haben Sie einen jungen erwartet?
DER MANN
Allerdings. Ich habe dergleichen erwartet. Nehmen Sie auch die Taschenlampe wieder zu sich. Sie liegt rechts vom Stuhl.
DER ANDERE
Verzeihung.
Eine Vase zersplittert.
DER ANDERE
Verflixt nochmal. Jetzt habe ich eine chinesische Vase umgeworfen.
DER MANN
Den griechischen Weinkrug.
DER ANDERE
Kaputt. Es tut mir leid.
DER MANN
Macht nichts. Ich werde kaum noch Gelegenheit haben, ihn zu vermissen.
DER ANDERE
Es ist schließlich nicht mein Metier, Fassaden zu klettern und einzubrechen. Was jetzt von einem verlangt wird, soll doch der Teufel – meine Ungeschicklichkeit tut mir wirklich leid, Herr!
DER MANN
Das kann vorkommen.
DER ANDERE
Ich glaubte –
DER MANN
Sie waren der Meinung, ich schliefe im andern Zimmer. Ich verstehe. Sie konnten wirklich nicht wissen, daß ich um diese Zeit noch im Finstern an meinem Schreibtisch sitze.
DER ANDERE
Normale Menschen liegen um diese Zeit im Bett.
DER MANN
Wenn normale Zeiten sind.
DER ANDERE
Ihre Frau?
DER MANN
Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Frau ist gestorben.
DER ANDERE
Haben Sie Kinder?
DER MANN
Mein Sohn ist in irgendeinem Konzentrationslager.
DER ANDERE
Die Tochter?
DER MANN
Ich habe keine Tochter.
DER ANDERE
Sie schreiben Bücher? Ihr Zimmer ist voll davon.
DER MANN
Ich bin Schriftsteller.
DER ANDERE
Liest jemand die Bücher, die Sie schreiben?
DER MANN
Man liest sie überall, wo sie verboten sind.
DER ANDERE
Und wo sie nicht verboten sind?
DER MANN
Haßt man sie.
DER ANDERE
Beschäftigen Sie einen Sekretär oder eine Sekretärin?
DER MANN
In Ihren Kreisen müssen über das Einkommen der Schriftsteller die wildesten Gerüchte zirkulieren.
DER ANDERE
So befindet sich demnach zur Zeit außer Ihnen niemand in der Wohnung?
DER MANN
Ich bin allein.
DER ANDERE
Das ist gut. Wir brauchen absolute Ruhe. Das müssen Sie begreifen.
DER MANN
Sicher.
DER ANDERE
Es ist klug von Ihnen, mir keine Schwierigkeiten zu machen.
DER MANN
Sie sind gekommen, mich zu töten?
DER ANDERE
Ich habe diesen Auftrag.
DER MANN
Sie morden auf Bestellung?
DER ANDERE
Mein Beruf.
DER MANN
Ich habe es immer dunkel geahnt, daß es heute in diesem Staat auch Berufsmörder geben muß.
DER ANDERE
Das war immer so, Herr. Ich bin der Henker dieses Staats. Seit fünfzig Jahren.
Stille.
DER MANN
Ach so. Du bist der Henker.
DER ANDERE
Haben Sie jemand anders erwartet?
DER MANN
Nein. Eigentlich nicht.
DER ANDERE
Sie tragen Ihr Schicksal mit Fassung.
DER MANN
Du drückst dich reichlich gewählt aus.
DER ANDERE
Ich habe es heute vor allem mit gebildeten Leuten zu tun.
DER MANN
Es tut nur gut, wenn die Bildung wieder etwas Gefährliches wird. Willst du dich nicht setzen?
DER ANDERE
Ich setze mich ein wenig auf die Schreibtischkante, wenn es Sie nicht geniert.
DER MANN
Tu nur wie zu Hause. Darf ich dir einen Schnaps offerieren?
DER ANDERE
Danke, aber erst für nachher. Vorher trinke ich nicht. Damit die Hand sicher bleibt.
DER MANN
Das sehe ich ein. Nur mußt du dich dann selbst servieren. Ich habe ihn extra für dich gekauft.
DER ANDERE
Sie wußten, daß Sie zum Tode verurteilt worden sind?
DER MANN
In diesem Staate ist alles zum Tode verurteilt, und es bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als durchs Fenster in den unermeßlichen Himmel zu starren und zu warten.
DER ANDERE
Auf den Tod?
DER MANN
Auf den Mörder. Auf wen sonst? Man kann in diesem verfluchten Staat alles berechnen, denn nur das Primitive ist wirklich übersichtlich. Die Dinge nehmen einen so logischen Verlauf, als wäre man in eine Hackmaschine geraten. Der Ministerpräsident hat mich angegriffen, man weiß, was dies bedeutet, die Reden Seiner Exzellenz pflegen unästhetische Folgen zu haben. Meine Freunde beschlossen zu leben und zogen sich zurück, da sich jeder zum Tode verurteilt, der mich besucht. Der Staat schloß mich in das Gefängnis seiner Ächtung ein. Aber einmal mußte er die Mauern meiner Einsamkeit aufbrechen. Einmal mußte er einen Menschen zu mir schicken, wenn auch nur, um mir den Tod zu geben. Auf diesen Menschen habe ich gewartet. Auf einen, der so denkt, wie meine wahren Mörder denken. Diesem Menschen wollte ich noch einmal – zum letztenmal – sagen, wofür ich ein ganzes Leben lang gekämpft habe. Ich wollte ihm zeigen, was die Freiheit ist, ich wollte ihm beweisen, daß ein freier Mann nicht zittert. Und nun bist du gekommen.
DER ANDERE
Der Henker.
DER MANN
Mit dem zu reden es keinen Sinn hat.
DER ANDERE
Sie verachten mich?
DER MANN
Wer hätte dich je achten können, verächtlichster unter den Menschen.
DER ANDERE
Einen Mörder hätten Sie geachtet?
DER MANN
Ich hätte ihn wie einen Bruder geliebt, und ich hätte mit ihm wie mit einem Bruder gekämpft. Mein Geist hätte ihn besiegt in der Triumphstunde meines Todes. Aber nun ist ein Beamter zu mir durch das Fenster gestiegen, der tötet und einmal fürs Töten eine Pension beziehen wird, um satt wie eine Spinne auf seinem Sofa einzuschlafen. Willkommen, Henker!
DER ANDERE
Bitte schön.
DER MANN
Du wirst verlegen. Das ist verständlich, ein Henker kann nicht gut antworten: Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.
DER ANDERE
Sie fürchten sich nicht?
DER MANN
Nein. Wie denkst du, die Exekution auszuführen?
DER ANDERE
Lautlos.
DER MANN
Ich verstehe. Es muß Rücksicht auf die Familien genommen werden, die noch in diesem Hause wohnen.
DER ANDERE
Ich habe ein Messer bei mir.
DER MANN
Also gewissermaßen chirurgisch. Werde ich zu leiden haben?
DER ANDERE
Es geht schnell. In Sekunden ist es vorbei.
DER MANN
Du hast schon viele auf diese Weise getötet?
DER ANDERE
Ja. Schon viele.
DER MANN
Es freut mich, daß der Staat wenigstens einen Fachmann schickt und keinen Anfänger. Habe ich noch etwas Bestimmtes zu tun?
DER ANDERE
Wenn Sie sich entschließen könnten, den Kragen zu öffnen.
DER MANN
Darf ich mir vorher noch eine Zigarette anzünden?
DER ANDERE
Klar. Das ist Ehrensache. Das bewillige ich jedem. Es eilt auch gar nicht so mit dem andern.
DER MANN
Eine Camel. Rauchst du auch eine?
DER ANDERE
Erst nachher.
DER MANN
Natürlich. Du machst alles erst nachher. Wegen der Hand. Dann lege ich sie zum Schnaps.
DER ANDERE
Sie sind gütig.
DER MANN
Zu einem Hund ist man immer gütig.
DER ANDERE
Da haben Sie Feuer.
DER MANN
Ich danke dir. So. Und nun ist auch der Kragen offen.
DER ANDERE
Sie tun mir wirklich leid, Herr.
DER MANN
Ich finde es auch etwas bedauerlich.
DER ANDERE
Dabei dürfen Sie von Glück sagen, daß dies alles so ganz privat in dieser Nacht zu geschehen hat.
DER MANN
Ich fühle mich auch ungemein bevorzugt.
DER ANDERE
Sie sind eben ein Schriftsteller.
DER MANN
Nun?
DER ANDERE
Da werden Sie für die Freiheit sein.
DER MANN
Nur.
DER ANDERE
Dafür sind sie jetzt alle, die ich töten muß.
DER MANN
Was versteht ein Henker schon von der Freiheit!
DER ANDERE
Nichts, Herr.
DER MANN
Eben.
DER ANDERE
Sie haben Ihre Zigarette zertreten.
DER MANN
Ich bin etwas nervös.
DER ANDERE
Wollen Sie jetzt sterben?
DER MANN
Noch eine Zigarette, wenn ich darf.
DER ANDERE
Rauchen Sie nur. Die meisten rauchen vorher noch eine Zigarette und dann noch eine. Jetzt sind’s amerikanische und englische. Früher französische und russische.
DER MANN
Das kann ich mir denken. Zwei Zigaretten vor dem Tod und ein Gespräch mit dir, das möchte ich auch nicht missen.
DER ANDERE
Obgleich Sie mich verachten.
DER MANN
Man gewöhnt sich auch ans Verächtliche. Aber dann ist es höchste Zeit zum Sterben.
DER ANDERE
Hier haben Sie noch einmal Feuer, Herr.
DER MANN
Danke.
DER ANDERE
Jeder hat eben doch ein wenig Furcht.
DER MANN
Ja. Ein wenig.
DER ANDERE
Und man trennt sich ungern vom Leben.
DER MANN
Wenn es keine Gerechtigkeit mehr gibt, trennt man sich leicht davon. Aber von der Gerechtigkeit wirst du auch nichts verstehen.
DER ANDERE
Auch nicht, Herr.
DER MANN
Siehst du, ich habe nie im geringsten das Gegenteil angenommen.
DER ANDERE
Die Gerechtigkeit ist eine Sache von euch da draußen, denke ich. Wer soll auch klug werden daraus. Ihr habt ja immer wieder eine andere. Da lebe ich nun fünfzig Jahre im Gefängnis. Ich werde ja erst in der letzten Zeit auch nach außen geschickt, und dies nur bei Nacht. Hin und wieder lese ich eine Zeitung. Hin und wieder drehe ich das Radio an. Dann vernehme ich vom rasenden Ablauf der Schicksale, vom unaufhörlichen Versinken und Aufsteigen der Mächtigen und Glänzenden, vom donnernden Vorbeigang ihrer Trosse, vom stummen Untergang der Schwachen, doch bei mir bleibt sich alles gleich. Immer die gleichen grauen Mauern, die gleiche rinselnde Feuchtigkeit, die gleiche schimmelnde Stelle oben an der Decke, die fast wie Europa aussieht im Atlas, der gleiche Gang durch den dunklen, langen Korridor in den Hof hinaus im fahlen Morgengrauen, die immer gleichen bleichen Gestalten in Hemd und Hose, die mir entgegengeführt werden, das immer gleiche Zögern, wenn sie mich erblicken, das immer gleiche Zuschlagen, bei Schuldigen und bei Unschuldigen: zuschlagen, zuschlagen wie ein Hammer, zuschlagen wie ein Beil, das man nicht fragt.
DER MANN
Du bist eben ein Henker.
DER ANDERE
Ich bin eben ein Henker.
DER MANN
Was ist einem Henker schon wichtig!
DER ANDERE
Die Art, wie einer stirbt, Herr.
DER MANN
Die Art, wie einer krepiert, willst du sagen.
DER ANDERE
Da sind gewaltige Unterschiede.
DER MANN
Nenne mir diese Unterschiede.
DER ANDERE
Es ist gewissermaßen die Kunst des Sterbens, nach der Sie fragen.
DER MANN
Dies scheint die einzige Kunst zu sein, die wir heute lernen müssen.
DER ANDERE
Ich weiß weder, ob man diese Kunst lehren kann, noch wie man sie lernt. Ich sehe nur, daß sie einige besitzen und viele nicht, daß Stümper in dieser Kunst zu mir kommen und große Meister. Sehen Sie, Herr, vielleicht wäre für mich alles leichter zu verstehen, wenn ich mehr von den Menschen wüßte, wie sie in ihrem Leben sind, was sie denn eigentlich unternehmen die ganze ungeheure Zeit über, bis sie zu mir kommen; was das heißt, heiraten, Kinder haben, Geschäfte machen, eine Ehre besitzen, eine Maschine handhaben, spielen und trinken, einen Pflug führen, Politik betreiben, sich für Ideen oder ein Vaterland aufopfern, nach Macht streben, und was man nur immer tut. Das werden gute Leute sein oder schlechte, gewöhnliche und kostspielige, so wie man eben versteht zu leben, wie es die Umstände ergeben, die Herkunft, die Religion, oder das Geld, das man gerade dazu hat, oder zu was einen der Hunger treibt. Daher weiß ich denn auch nicht die ganze Wahrheit vom Menschen, sondern nur meine Wahrheit.
DER MANN
Zeig sie her, deine Henkerswahrheit.
DER ANDERE
Zuerst habe ich mir das alles ganz einfach vorgestellt. Ich war ja auch nicht viel mehr denn ein dumpfes Tier, eine brutale Kraft mit der Aufgabe zu henken. Da habe ich mir gedacht: Alles, was man verlieren kann, ist das Leben, etwas anderes als das Leben gibt es nicht, der ist ein armer Teufel, der dieses Leben verliert. Aus diesem Grunde war ich ja auch ein Henker geworden, damals vor fünfzig Jahren, um mein Leben wiederzugewinnen, das ich, aufgewachsen wie ein rohes Stück Vieh, vor dem Gericht verloren hatte, und als Gegenleistung verlangte man eben, daß ich ein tüchtiger Henker werde. Das Leben wollte doch auch verdient sein. Ich wurde Henker, wie einer da draußen bei euch Bäcker wird oder General: um zu leben. Und das Leben war das gleiche wie Henken. War das nicht ehrlich gedacht?
DER MANN
Gewiß.
DER ANDERE
Nichts schien mir natürlicher, als daß ein Kerl sich wehrte, wenn er sterben mußte, wenn sich zwischen ihm und mir ein wilder Kampf entspann, bis ich seinen Kopf auf dem Richtblock hatte. So starben die wilden Burschen aus den Wäldern, die im Jähzorn töteten oder einen Raubmord unternahmen, um ihrem Mädchen einen roten Rock zu kaufen. Ich verstand sie und ihre Leidenschaften, und ich liebte sie, war ich doch einer von ihnen. Da war Verbrechen in ihrem Handeln und Gerechtigkeit in meinem Henken, die Rechnung war klar und ging auf. Sie starben einen gesunden Tod.
DER MANN
Ich verstehe dich.
DER ANDERE
Und dann waren andere, die starben anders, obgleich es mir manchmal scheint, daß es doch ein gleiches Sterben war. Die behandelten mich mit Verachtung und starben stolz, Herr, hielten vorher prächtige Reden über die Freiheit und über die Gerechtigkeit, spotteten über die Regierung, griffen die Reichen an oder die Tyrannen, daß es einem kalt über den Rücken lief. Die, denke ich, starben so, weil sie sich im Recht glaubten und vielleicht auch recht hatten, und nun wollten sie zeigen, wie gleichgültig ihnen der Tod war. Auch hier war die Rechnung klar und einfach: Es war Krieg zwischen ihnen und mir. Sie starben im Zorn und in der Verachtung, und ich schlug im Zorn zu, die Gerechtigkeit lag bei beiden, meine ich. Die starben einen imposanten Tod.
DER MANN
Brav umgekommen! Mögen heute viele so sterben!
DER ANDERE
Ja, Herr, das ist eben das Merkwürdige: Heute stirbt man nicht mehr so.
DER MANN
Wie das, Schurke! Gerade heute ist jeder ein Rebell, der durch deine Hand stirbt.
DER ANDERE
Ich glaube auch, daß viele so sterben möchten.
DER MANN
Es steht jedem frei, zu sterben, wie er will.
DER ANDERE
Nicht mehr bei diesem Tod, Herr. Da gehört durchaus Publikum dazu. Das war vorher noch so unter den vorigen Regierungen, da war die Hinrichtung ein Anlaß, zu dem man feierlich erschien: Der Richter war da, der Staatsanwalt, der Verteidiger, ein Priester, einige Journalisten, Ärzte und andere Neugierige, alle in schwarzem Gehrock, wie zu einem Staatsakt, und manchmal war sogar noch ein Trommelwirbel dabei, um die Angelegenheit recht imposant zu machen. Da lohnt es sich für den Verurteilten noch, eine zündende Schmährede zu halten, der Staatsanwalt hat sich oft genug geärgert und auf die Lippen gebissen. Aber heute hat sich das geändert. Man stirbt allein mit mir. Nicht einmal ein Priester ist dabei, und es war ja auch vorher kein Gericht. Da man mich verachtet, spricht man auch nicht mehr, und das Sterben stimmt dann auch nicht, weil die Rechnung nicht aufgeht und der Verurteilte zu kurz kommt. So sterben sie denn, wie Tiere sterben, gleichgültig, und das ist doch auch nicht die rechte Kunst. Wenn es aber doch ein Gericht gegeben hat, weil dies der Staat bisweilen braucht, und wenn einmal doch der Staatsanwalt und der Richter erscheinen, da ist der Verurteilte ein gebrochener Mann, der alles mit sich machen läßt. Das ist dann ein trauriger Tod. Es sind eben andere Zeiten gekommen, Herr.
DER MANN
Andere Zeiten! Sogar der Henker nimmt dies wahr!
DER ANDERE
Es wundert mich nur, was in der Welt heute denn eigentlich los ist.
DER MANN
Der Henker ist los, mein Freund! Auch ich wollte sterben wie ein Held. Und nun bin ich mit dir allein.
DER ANDERE
Allein mit mir in der Stille dieser Nacht.
DER MANN
Auch mir bleibt nichts anderes übrig, als umzukommen, wie die Tiere umkommen.
DER ANDERE
Es gibt ein anderes Sterben, Herr.
DER MANN
So erzähle mir, wie man in unserer Zeit anders stirbt denn ein Tier.
DER ANDERE
Indem man demütig stirbt, Herr.
DER MANN
Deine Weisheit ist eines Henkers würdig! Man soll in dieser Zeit nicht demütig sein, Bube! Man soll auch nicht demütig sterben. Diese Tugend ist heute unanständig geworden. Man soll bis zum letzten Atemzug gegen die Verbrechen protestieren, die an der Menschheit begangen werden.
DER ANDERE
Das ist die Sache der Lebenden, aber die Sache der Sterbenden ist eine andere.
DER MANN