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Abgründige Leidenschaften, atemberaubende Spannung
Emma lebt mit einem schrecklichen Trauma. Als Kind musste sie mit ansehen, wie ihr kleiner Bruder ermordet wurde. Inzwischen ist sie zu einer schönen jungen Frau herangewachsen, doch solange die Mörder noch frei herumlaufen, schwebt auch sie in Lebensgefahr. Nur der Mann, den sie einmal geliebt hat, kann ihr noch helfen.
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Seitenzahl: 706
NORA ROBERTS
NÄCHTLICHES SCHWEIGEN
Roman
Aus dem Amerikanischen von Nina Heyer
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ZUM BUCH
Es ist ein glamouröses Leben, das Brian McAvoy als Kopf der umjubelten Popband Devastation führt. Doch für seinen Erfolg muss er einen entsetzlichen Preis bezahlen: Während einer rauschenden Party versuchen zwei Männer, seinen Sohn Darren zu entführen, und töten dabei versehentlich das Kind. Nur Emma, seine Tochter, beobachtet die Täter, aber auf der Flucht vor den Entführern stürzt sie die Treppe hinunter und verliert jede Erinnerung an die Mörder.
Jahre später, Emma ist inzwischen zu einer jungen Frau geworden, wird sie immer noch von dem Gefühl gequält, sie habe ihrem Bruder nicht geholfen. Um die Geister der Vergangenheit zum Schweigen zu bringen, versucht sie mit Hilfe des Polizeibeamten Michael Kesselring, dem Sohn des Beamten, der die Ermittlungen im Fall ihres Bruders leitete und in den sie sich damals stürmisch verliebt hatte, ihr Gedächtnis wiederzuerlangen. Doch dadurch gerät sie in größte Gefahr.
ZUR AUTORIN
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 400 Millionen Exemplaren überschritten. Mehr als 175 Titel waren auf der New-York-Times-Bestsellerliste und ihre Bücher erobern auch in Deutschland immer wieder die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.
Für meinen Vater, mein erstes Idol
Los Angeles, 1990
Sie trat voll auf die Bremse, und der Wagen schleuderte hart gegen den Bordstein. Das Radio dröhnte weiter. Beide Hände fest vor den Mund gepresst, versuchte sie, ein hysterisches Lachen zurückzuhalten. Einen Gruß aus der Vergangenheit hatte der Discjockey es genannt. Einen Gruß aus der Vergangenheit. Devastation spielte immer noch.
Irgendwie funktionierte ihr Verstand gut genug, um auf Kleinigkeiten zu achten: die Zündung auszuschalten, den Schlüssel abzuziehen, die Tür zu öffnen. Trotz der milden Abendluft zitterte sie.
Feiner Nieselregen und steigende Temperaturen verursachten Nebelschwaden, die über den Bürgersteig wehten. Sie rannte hindurch, wobei sie wie unter Zwang ständig nach rechts, links und über die Schulter blickte.
Die Dunkelheit. Sie hatte beinahe vergessen, was sich in der Dunkelheit verbarg.
Der Geräuschpegel schwoll an, als sie die Tür aufstieß. Die glitzernden Lichter blendeten sie. Sie rannte weiter; wusste nur, dass sie vor Angst außer sich war und dass jemand, egal wer, ihr zuhören musste.
Mit wild klopfendem Herzen lief sie durch die Halle. Mehr als ein Dutzend Telefone klingelten, Stimmen riefen durcheinander und verschwammen in einem Gemisch aus Schreien, Fragen und Beschwerden.
Jemand fluchte unaufhörlich leise vor sich hin. Sie fand die Tür mit dem Schild ›Mordkommission‹ und unterdrückte ein Schluchzen.
Er saß zurückgelehnt am Schreibtisch, einen Fuß lässig auf einen abgewetzten Aktenordner gelegt, einen Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, und war im Begriff einen Styroporbecher mit Kaffee zum Mund zu führen.
Sie fiel auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Bitte hilf mir«, stieß sie hervor. »Jemand versucht, mich umzubringen.«
London, 1967
Emma war fast drei Jahre alt, als sie ihren Vater zum ersten Mal traf. Sie wusste, wie er aussah, da ihre Mutter jede verfügbare Fläche der vollgestopften Dreizimmerwohnung mit sorgfältig aus Zeitschriften und Fanmagazinen ausgeschnittenen Fotos bedeckt hatte. Jane Palmer pflegte ihre Tochter von Foto zu Foto an der stockfleckigen Wand zu tragen und sich dann mit ihr auf dem staubigen, zerschlissenen Sofa niederzulassen, um ihr von der wundervollen Liebesbeziehung zwischen ihr und Brian McAvoy, dem Leadsänger der bekannten Rockgruppe Devastation, zu erzählen. Je mehr Jane trank, desto stärker verherrlichte sie diese Liebe.
Emma verstand nur Bruchstücke von dem, was man ihr erzählte. Sie wusste, dass der Mann auf den Fotos bedeutend war; dass er und seine Band sogar vor der Königin aufgetreten waren. Sie hatte gelernt, seine Stimme zu erkennen, wenn seine Songs im Radio gespielt wurden oder ihre Mutter eine der Platten aus ihrer Sammlung auflegte.
Emma mochte seine Stimme und das, was sie später als leichten irischen Akzent erkannte.
Einige Nachbarn redeten voll Mitleid über das arme kleine Ding von oben, deren Mutter eine Vorliebe für Gin und ein gefährliches Temperament hatte, weil man von Zeit zu Zeit Janes schrille Verwünschungen und Emmas verzweifeltes Schluchzen hören konnte. Dann kräuselten sich die Lippen der Frauen, und sie warfen einander wissende Blicke zu, während sie ihre Teppiche ausklopften oder die wöchentliche Wäsche aufhingen.
Zu Beginn des Sommers des Jahres 1967, dieses Sommers der Liebe, schüttelten sie nur die Köpfe, wenn sie die Schreie des kleinen Mädchens durch das offene Fenster der Palmerschen Wohnung hörten. Fast alle waren sich darin einig, dass die junge Jane Palmer ein so goldiges Kind gar nicht verdient hatte, aber das behielten sie für sich. In diesem Teil Londons kam niemand auf die Idee, eine solche Angelegenheit den Behörden zu melden.
Natürlich hatte Emma keine Ahnung von Begriffen wie Alkoholismus oder psychische Störungen, aber obwohl sie erst drei Jahre alt war, verstand sie es schon, die Launen ihrer Mutter einzuschätzen. Sie wusste genau, an welchen Tagen die Mutter lachen und sie knuddeln und wann sie schimpfen und sie schlagen würde. War die Stimmung in der Wohnung besonders gespannt, packte Emma ihren schwarzen Plüschhund Charlie und verkroch sich in dem Schrank unter der Küchenspüle, um in der feuchten Dunkelheit zu warten, bis die Mutter sich wieder beruhigt hatte.
An manchen Tagen war sie allerdings nicht schnell genug.
»Halt gefälligst still, Emma.« Jane zog die Bürste durch Emmas hellblondes Haar. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand sie dem Drang, ihrer Tochter damit quer über den Rücken zu schlagen. Heute würde sie nicht die Fassung verlieren, heute nicht. »Ich mache dich richtig hübsch. Du möchtest doch heute besonders hübsch aussehen, oder nicht?«
Emma lag nicht allzu viel daran, hübsch auszusehen, nicht, wenn die Bürstenstriche auf ihrer Kopfhaut brannten und ihr neues rosa Kleid so steif gestärkt war, dass es kratzte. Sie zappelte weiter auf dem Stuhl herum, als ihre Mutter versuchte, die widerspenstigen Locken mit einem Band zusammenzuhalten.
»Ich habe gesagt, du sollst stillhalten!« Emma quiekte vor Schmerz, als Jane sie hart am Hals packte. »Niemand will ein schmutziges, ungezogenes Kind.« Nach zwei tiefen Atemzügen lockerte Jane den Griff. Sie wollte keinesfalls, dass das Kind blaue Flecken bekam. Sie liebte es doch. Und blaue Flecken würden auf Brian einen sehr schlechten Eindruck machen, sollte er sie bemerken.
Nachdem sie Emma vom Stuhl hochgezogen hatte, legte ihr Jane fest die Hand auf die Schulter. »Mach nicht so ein mürrisches Gesicht, Mädchen.« Doch im Großen und Ganzen war sie mit dem Ergebnis zufrieden. Mit ihren blonden Wuschellocken und den großen blauen Augen sah Emma wie eine verhätschelte kleine Prinzessin aus. »Na, sieh doch mal.« Janes Hände waren wieder sanft, als sie Emma zum Spiegel drehte. »Siehst du nicht niedlich aus?«
Emma zog einen störrischen Flunsch, als sie sich in dem fleckigen Glas betrachtete. Ihre Stimme ahmte Janes Cockneyakzent nach, vermischt mit einem kindlichen Lispeln. »Das kratzt.«
»Eine Dame muss Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen, wenn sie auf Männer wirken will.« Janes eigenes enges Mieder schnitt ihr ins Fleisch.
»Warum?«
»Das gehört zum Job einer Frau.« Sie drehte sich vor dem Spiegel und prüfte ihr Äußeres von allen Seiten. Das dunkelblaue Kleid schmeichelte ihrer üppigen Figur und brachte ihre vollen Brüste zur Geltung. Brian hatte ihre Brüste immer gemocht, erinnerte sie sich und fühlte einen kurzen Schub sexueller Erregung. Himmel, niemand je vor oder nach ihm konnte ihm im Bett das Wasser reichen. In ihm brannte ein wilder Hunger, den er hinter seiner kühlen, selbstbewussten Fassade so gut verbarg. Sie kannte ihn seit seiner Kindheit und war über zehn Jahre lang mit Unterbrechungen seine Geliebte gewesen. Niemand wusste besser als sie, wozu Brian in höchster Erregung fähig war.
Einen Moment lang stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn er ihr das Kleid abstreifen, sie mit den Augen verschlingen und mit seinen schlanken Musikerfingern das enge Mieder aufhaken würde.
Sie waren gut miteinander ausgekommen, dachte sie und spürte ihre eigene Erregung. Sie würden wieder gut miteinander auskommen.
Reiß dich zusammen, befahl sie sich und griff nach der Bürste, um sich das Haar zu kämmen. Die Hälfte des Haushaltsgeldes hatte sie beim Friseur gelassen, um ihre schulterlangen, glatten Haare im gleichen Farbton wie die Emmas zu färben. Sie schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen. Nach dem heutigen Tage würde sie sich nie wieder Sorgen um Geld machen müssen.
Ihre Lippen waren sorgfältig blassrosa geschminkt – in derselben Farbe, die das Supermodel Jane Asher auf der Titelseite der neuen Vogue verwendet hatte. Nervös griff sie zu ihrem schwarzen Kajalstift und betonte die Augenwinkel stärker.
Fasziniert beobachtete Emma ihre Mutter. Heute duftete sie nach Parfüm statt nach Gin. Versuchsweise langte sie nach dem Lippenstift und bekam sofort einen Klaps auf die Hand. »Lass die Finger davon.« Ein weiterer Klaps. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst meine Sachen nicht anfassen?«
Emma nickte, ihre Augen schwammen bereits in Tränen.
»Und fang bloß nicht an zu heulen. Ich will nicht, dass er dich das erste Mal mit roten Augen und verquollenem Gesicht sieht. Er sollte eigentlich schon hier sein.« In Janes Stimme schwang ein Unterton mit, der Emma veranlasste, sich vorsichtig außer Reichweite zu begeben. »Wenn er nicht bald kommt …« Sie brach ab und listete im Geiste ihre Vorzüge auf, während sie sich im Spiegel bewunderte.
Schon immer war sie üppig, jedoch nie dick gewesen. Vielleicht saß das Kleid etwas eng, aber es betonte die richtigen Stellen. Dünne Frauen mochten ja in Mode sein, aber sie wusste, dass Männer die kurvenreichen bevorzugten, sobald das Licht ausging. Lange genug hatte sie von ihrem Körper gelebt, um sich dessen sicher zu sein.
Ihr Selbstvertrauen wuchs noch, als sie sich betrachtete und sich einredete, dass sie den blassen, ewig gelangweilten scheinenden Modellen glich, die zurzeit in London tonangebend waren. Sie war nicht einsichtig genug zu erkennen, dass das neue Make-up ihr nicht stand und die neue Frisur ihr Gesicht bitter und hart erscheinen ließ. Sie wollte im Trend liegen, wie immer.
»Vielleicht glaubt er mir ja nicht – oder will mir nicht glauben. Kein Mann will Kinder.« Sie zuckte die Achseln. Ihr eigener Vater hatte sie nie gewollt, bis sich ihre Brüste zu entwickeln begannen. »Denk immer daran, Emmakind.« Ihr abschätzender Blick glitt über Emma. »Männer wollen keine Kinder. Sie wollen eine Frau nur für das eine, und was das ist, wirst du früh genug herausfinden. Wenn sie mit dir fertig sind, sind sie fertig, und du sitzt da mit einem dicken Bauch und gebrochenem Herzen.«
Sie griff nach einer Zigarette, rauchte mit kurzen, abgehackten Zügen, während sie auf und ab ging. Hätte sie doch nur etwas Gras, süßes, beruhigendes Gras, dachte sie, doch sie hatte das gesamte restliche Geld für Emmas neues Kleid ausgegeben. Die Opfer einer Mutter.
»Na ja, vielleicht will er dich ja nicht, aber nach dem ersten Blick kann er nicht abstreiten, dass du von ihm bist.« Mit schmalen Augen betrachtete sie ihre Tochter durch den Rauch und fühlte so etwas wie mütterlichen Stolz. Das kleine Biest war tatsächlich bildhübsch, wenn es sauber und ordentlich aussah. »Du bist sein gottverdammtes Ebenbild, Emmaschatz. In der Zeitung steht, dass er diese Wilson-Schlampe heiraten will – jede Menge Geld und was Besseres –, aber wir werden sehen, wir werden ja sehen. Er wird zu mir zurückkommen. Ich hab’ immer gewusst, er kommt zurück.« Die Zigarette landete in einem überquellenden Aschenbecher und qualmte dort weiter. Jane brauchte dringend einen Drink – nur einen Schluck Gin, nur, um ihre Nerven zu beruhigen. »Du setzt dich aufs Bett. Bleib da sitzen und sei still. Und wehe, du gehst an meine Sachen, dann setzt es was.«
Als es an der Tür klopfte, hatte sie zwei Drinks heruntergekippt. Ihr Herz begann wild zu klopfen. Wie die meisten Alkoholiker fühlte sie sich nach ein paar Gläschen wesentlich attraktiver und selbstbewusster. Sie glättete ihr Haar, setzte ein, wie sie meinte, verführerisches Lächeln auf und öffnete.
Er sah blendend aus. Einen Augenblick sah sie nur ihn in der hellen Sommersonne, groß und schlank, mit seinen wehenden blonden Haaren und dem vollen, ernsten Mund, der ihm das Aussehen eines Dichters oder Apostels verlieh. Soweit sie überhaupt dazu fähig war, war sie verliebt.
»Brian. Nett von dir, kurz reinzuschauen.« Ihr Lächeln verblasste, sowie sie die beiden Männer hinter ihm bemerkte. »Reist du neuerdings in Begleitung, Bri?«
Er war in schlechter Stimmung, verspürte einen unterschwelligen Zorn, dass er gezwungen war, Jane wiederzusehen, und gab daran hauptsächlich seinem Manager und seiner Verlobten die Schuld. Nun, da er einmal hier war, wollte er nur noch so schnell wie möglich wieder fort.
»Du erinnerst dich an Johnno?« Brian betrat die Wohnung. Der Geruch nach Gin, Schweiß und dem gestrigen Mittagessen erinnerten ihn unangenehm an seine eigene Kindheit.
»Klar.« Jane nickte dem großen Bassisten kurz zu. Er trug einen Diamantring am kleinen Finger und ließ sich einen buschigen schwarzen Bart stehen. »Du hast es zu was gebracht, wie, Johnno?«
Dieser blickte in die schäbige Wohnung. »Manche schaffen’s eben.«
»Das ist Pete Page, unser Manager.«
»Miss Palmer.« Der ruhige Dreißiger zeigte beim Lächeln ein strahlendweißes Gebiss und streckte eine manikürte Hand aus.
»Ich hab’ schon viel von Ihnen gehört.« Sie legte ihre Hand mit dem Rücken nach oben in die seine, eine Aufforderung, sie an die Lippen zu führen. Er übersah die Geste. »Sie haben unsere Jungs zu Stars gemacht.«
»Ich habe nur den Weg geebnet.«
»Vor der Königin spielen, Fernsehauftritte, ein neues Album in den Charts und demnächst eine große Amerikatournee.« Sie sah wieder zu Brian. Sein Haar fiel ihm fast bis auf die Schultern, sein Gesicht war schmal, blass und empfindsam. Dieses Gesicht zierte die Zimmer von Jugendlichen auf beiden Seiten des Atlantiks, seit sein zweites Album, Complete Devastation, die Hitparaden erobert hatte. »Jetzt hast du ja alles, was du willst.«
Der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich von ihr Schuldgefühle machen lassen würde, nur weil er etwas aus sich gemacht hatte. »Stimmt genau.«
»Manch einer kriegt mehr, als er verdient.« Sie warf das Haar zurück. Die Vergoldung ihrer großen Ohrringe blätterte bereits ab. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war sie ein Jahr älter als Brian und hielt sich für sehr viel erfahrener. »Ich würde euch ja Tee anbieten, aber auf eine Party war ich nicht gefasst.«
»Wir sind nicht zum Tee gekommen.« Brian schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Der missmutige Gesichtsausdruck, den er während der gesamten Fahrt zur Schau getragen hatte, verstärkte sich. Er mochte jung sein, aber er hatte seine Lektionen gelernt. Diese abgewrackte, trinkfreudige Vettel würde ihm keinen Ärger mehr machen. »Diesmal habe ich die Polizei noch aus dem Spiel gelassen, Jane, nur wegen der alten Zeiten. Aber wenn du mich weiter dauernd anrufst, mit Drohbriefen bombardierst und Erpressungsversuche startest, glaub mir, dann wird das anders.«
Ihre zu stark geschminkten Augen verengten sich. »Du willst mir also die Bullen auf den Hals hetzen. Tu das nur, Freundchen. Wir wollen doch mal sehen, was passiert, wenn all deine kleinen Fans und ihr Spießbürgerpack von Eltern lesen können, wie du mich geschwängert und dann mit einem armen kleinen Mädchen sitzengelassen hast, während du in Geld schwimmst und dir ein schönes Leben machst. Wie würde das wohl ankommen, Mr. Page? Können Sie Bri und den Jungs dann noch einen Auftritt im Königshaus verschaffen?«
»Miss Palmer.« Petes Stimme blieb ruhig und gelassen. Er hatte Stunden damit verbracht, das Für und Wider der Lage abzuwägen. Ein Blick überzeugte ihn, dass das reine Zeitverschwendung gewesen war. Hier ging es nur um Geld. »Ich bin sicher, dass Sie Ihre persönlichen Angelegenheiten nicht in der Presse wiederfinden möchten. Ich denke auch, dass Sie nicht böswilliges Verlassen unterstellen sollten, wenn dies nicht vorgelegen hat.«
»Hört, hört. Ist er dein Manager, Brian, oder dein verdammter Rechtsanwalt?«
»Als ich dich verlassen habe, warst du nicht schwanger.«
»Da hatte ich noch keine Ahnung«, schrie sie und klammerte sich an Brians schwarze Lederweste. »Ich hab’s erst zwei Monate später bestätigt bekommen, da warst du schon weg, und ich wusste nicht, wo ich dich suchen sollte. Ich hätte es wegmachen lassen können.« Als Brian versuchte, ihre Hände wegzuschieben, krallte sie sich nur noch stärker fest. »Ich kannte da ein paar Leute, die das für mich geregelt hätten, aber ich hatte davor noch mehr Angst als vor der Geburt.«
»Sie hat also ein Kind gekriegt.« Johnno setzte sich auf eine Stuhllehne und nahm sich eine Gauloise, die er mit einem schweren goldenen Feuerzeug anzündete. In den letzten zwei Jahren hatte er sich teure Angewohnheiten zugelegt. »Das heißt noch nicht, dass es von dir ist, Bri.«
»Es ist seins, du Scheißkerl.«
»Meine Güte.« Johnno zog ungerührt an seiner Zigarette und blies ihr den Rauch direkt ins Gesicht. »Ganz Dame, wie?«
»Lass gut sein, Johnno.« Petes Stimme blieb immer noch beherrscht. »Miss Palmer, wir sind hier, um die Sache ohne großes Aufsehen zu klären.«
Und genau das war ihre Trumpfkarte. »Jede Wette, dass Sie kein großes Aufsehen wollen. Du weißt genau, dass ich in dieser Zeit mit keinem anderen was hatte, Brian.« Sie lehnte sich gegen ihn und presste ihren Busen an seine Brust. »Du erinnerst dich doch an Weihnachten, das letzte Mal, wo wir zusammen waren. Wir waren high, ein bisschen aufgedreht und haben keine Verhütungsmittel benützt. Und Emma wird im September drei.«
Und ob er sich erinnerte – besser, als ihm lieb war. Er war neunzehn gewesen, erfüllt von Musik, wie im Rausch. Irgendwer hatte Kokain mitgebracht, und nachdem er zum ersten Mal geschnupft hatte, fühlte er sich wie ein Bulle, wild darauf, sie zu vögeln.
»Du hast also ein Baby bekommen und glaubst, es ist von mir. Warum hast du bis jetzt gebraucht, mir das zu sagen?«
»Wie gesagt, zuerst konnte ich dich nicht finden.« Jane leckte sich die Lippen und sehnte sich nach einem Drink. Es wäre sehr unklug, ihm zu erzählen, dass sie es eine Weile genossen hatte, die Märtyrerin zu spielen, die arme, ledige Mutter, ganz auf sich gestellt. Außerdem hatte es da den einen oder anderen Mann gegeben, der ihr ein wenig unter die Arme gegriffen hatte.
»Ich bin zu diesem Verein gegangen, du weißt schon, für Mädchen in Schwierigkeiten. Ich dachte, ich könnte sie vielleicht zur Adoption freigeben, aber als sie erst mal da war, brachte ich es nicht übers Herz. Sie hat genauso ausgesehen wie du. Ich dachte, wenn ich sie weggebe und du das erfährst, würdest du wütend auf mich sein. Ich hatte Angst, du würdest mir keine Chance mehr geben.«
Sie begann zu weinen, große, dicke Tränen, die ihr schweres Make-up verschmierten und umso abstoßender und erschreckender wirkten, als sie echt waren. »Ich wusste immer, dass du zurückkommst, Brian. Ich hab’ deine Songs im Radio gehört, deine Poster in Plattenläden gesehen. Du hast es geschafft. Ich wusste ja immer, dass du es schaffen würdest, aber ich hätte nie gedacht, dass du so berühmt wirst. Dann habe ich nachgedacht …«
»Darauf möchte ich wetten«, murmelte Johnno.
»Ich habe nachgedacht«, knirschte sie. »Dass du vielleicht von dem Kind erfahren solltest. Ich bin zu deiner alten Wohnung gegangen, aber du warst weggezogen, und niemand wollte mir sagen, wohin. Aber ich hab’ jeden Tag an dich gedacht. Hier.«
Sie nahm seinen Arm und wies auf die mit Fotos übersäte Wand. »Ich hab’ alles, was ich über dich finden konnte, ausgeschnitten und aufgehoben.«
Er starrte auf Dutzende seiner Abbilder, und ihm drehte sich der Magen um. »O Gott.«
»Ich habe bei deiner Plattenfirma angerufen, bin sogar hingegangen, aber die haben mich wie Dreck behandelt. Ich sagte ihnen, dass ich die Mutter von Brian McAvoys kleiner Tochter bin, und da haben sie mich rausgeschmissen.« Wohlweislich verschwieg sie, dass sie in betrunkenem Zustand auf die Empfangsdame losgegangen war. »Dann habe ich das von dir und Beverly Wilson gelesen und war verzweifelt. Ich wusste zwar, dass sie dir nichts bedeuten konnte, nicht nach dem, was zwischen uns war, aber ich musste irgendwie mit dir reden.«
»Zu Bevs Wohnung gehen und da wie eine Verrückte zu toben, war nicht unbedingt der beste Weg.«
»Ich musste mit dir reden, dich dazu bringen, dass du mir zuhörst. Du weißt ja nicht, wie das ist, Brian, sich immer zu fragen, wie man die Miete bezahlen soll und ob genug Geld für Essen da ist. Ich kann mir keine schicken Sachen mehr kaufen oder abends ausgehen!«
»Also willst du Geld?«
Sie zögerte eine Sekunde zu lange. »Ich will dich, Bri, schon immer.«
Johnno drückte seine Zigarette im Topf einer Plastikpflanze aus. »Weißt du, Bri, hier wird dauernd von diesem Kind geredet, aber es ist keine Spur von ihm zu sehen.« Er stand auf und warf gewohnheitsmäßig seinen glänzenden dunklen Haarschopf zurück. »Können wir hier verschwinden?«
Jane warf ihm einen hinterhältigen Blick zu. »Emma ist im Schlafzimmer, und ich lasse nicht zu, dass ihr alle da reintrampelt. Das geht nur Brian und mich an.«
Johnno grinste sie an. »Du hast schon immer deine beste Arbeit im Bett geleistet, was, Schätzchen?« Ihre Augen trafen sich, und die Abneigung, die schon immer zwischen ihnen bestanden hatte, flackerte wieder auf. »Bri, sie mag ja mal eine Edelnutte gewesen sein, aber heute ist sie nur noch zweitklassig. Können wir weitermachen?«
»Du miese Schwuchtel!« Bevor Brian sie um die Taille fassen konnte, ging Jane auf Johnno los. »Du wüsstest ja gar nicht, was du mit einer richtigen Frau anfangen solltest, selbst wenn sie dich am Schwanz packen würde!«
Sein Grinsen blieb unverändert, aber seine Augen wurden hart. »Möchtest du’s mal ausprobieren, Süße?«
»Zähl nur auf Johnno, wenn es darum geht, etwas in Ruhe zu besprechen«, brummte Brian vor sich hin und drehte Jane herum. »Du hast gesagt, das hier geht nur dich und mich an, also bleib dabei. Ich werde mir das Mädchen ansehen.«
»Die beiden aber nicht.« Sie zeigte Johnno die Zähne, der nur die Achseln zuckte und sich eine weitere Zigarette anzündete. »Nur du. Das bleibt Privatsache.«
»Gut, wartet hier.« Er hielt Jane am Arm fest, als sie ins Schlafzimmer ging. Es war leer. »Ich bin das Spielchen leid, Jane.«
»Sie versteckt sich, das ist alles. Die ganzen Leute machen ihr Angst. Emma! Komm sofort zu Mamma!« Jane kniete sich neben das Bett und rappelte sich dann hoch, um den engen Schrank zu durchsuchen. »Vielleicht ist sie auf dem Klo.« Sie stürmte hinaus und riss die Tür zum Flur auf.
»Brian.« Von der Küchentür machte Johnno ihm ein Zeichen. »Hier ist etwas, was du dir ansehen solltest.« Er hob ein Glas und prostete Jane zu. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich mir einen Drink genehmige, Schätzchen? Die Flasche war schon offen.« Mit dem Daumen seiner freien Hand deutete er auf den Schrank unter der Spüle.
Hier war der abgestandene Geruch noch stärker, schaler Gin, gärende Abfälle, vor sich hin schimmelnde Lumpen. Brians Schuhe blieben am Linoleum kleben, als er zum Schrank ging und sich bückte. Er öffnete die Tür und spähte hinein.
Klar erkennen konnte er das Mädchen nicht, er sah nur, dass es sich in die Ecke geduckt hatte und etwas Schwarzes im Arm hielt. Sein Magen hob sich, aber er versuchte zu lächeln.
»Hallo.«
Emma vergrub ihr Gesicht in dem schwarzen Fellbündel in ihrem Arm.
»Verdammte Gör, ich werde dir helfen, dich vor mir zu verstecken.« Jane wollte nach ihr greifen, aber ein Blick von Brian hielt sie zurück. Er streckte seine Hand aus und lächelte erneut.
»Ich fürchte, ich passe nicht mehr mit rein. Wie wär’s, wenn du kurz rauskommst?« Er sah sie über ihre verschränkten Arme hinweg blinzeln. »Niemand tut dir weh.«
Er hat so eine schöne Stimme, dachte Emma, weich und melodisch, wie Musik. Das Licht aus dem Küchenfenster fiel auf sein sattblondes Haar und ließ es wie Engelshaar glänzen. Kichernd krabbelte sie hervor.
Ihr neues Kleid war schmierig und voller Flecken, ihr wuscheliges Babyhaar von einem Leck unter der Spüle feucht. Beim Lächeln zeigte sie weiße Zähnchen, ein Schneidezahn stand schief. Brian fuhr mit der Zunge über ein Gegenstück in seinem Mund. Als sie die Lippen krümmte, tanzte genau wie bei ihm ein Grübchen im linken Mundwinkel, und seine eigenen tiefblauen Augen sahen ihn an.
»Und dabei hatte ich sie so hübsch zurechtgemacht.« Janes Stimme klang weinerlich, der Geruch nach Gin ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber sie hatte Angst, sich ein Glas einzuschenken. »Ich habe ihr extra gesagt, sie soll sich nicht schmutzig machen. Habe ich dir das nicht gesagt, Emma? Ich werde sie waschen gehen.« Sie fasste Emma so hart am Arm, dass das Mädchen in die Höhe sprang.
»Lass sie los.«
»Ich wollte sie doch nur …«
»Lass sie los«, wiederholte Brian mit flacher, bedrohlicher Stimme. Wenn er sie nicht unverwandt angestarrt hätte, wäre Emma wohl wieder unter die Spüle gekrochen. Sein Kind. Für einen Moment konnte er sie nur weiter anstarren, sein Kopf wurde leicht und sein Magen verkrampfte sich. »Hallo, Emma.« Nun schwang in seiner Stimme diese Süße mit, in die sich Frauen verliebten. »Was hast du denn da?«
»Charlie. Mein Hündchen.« Sie hielt Brian das Stofftier zur Inspektion hin.
»So ein schönes Hündchen.« Es drängte ihn, sie zu berühren, ihr über das Gesicht zu streichen, aber er beherrschte sich. »Weißt du, wer ich bin?«
»Auf den Fotos.« Zu jung, einem Impuls zu widerstehen, griff sie in sein Gesicht. »Schön!«
Johnno lachte und nahm einen Schluck Gin. »Typisch Frau.«
Ohne auf ihn zu achten, zupfte Brian an Emmas feuchten Locken. »Du aber auch.«
Er redete Unsinn, wobei er sie genau beobachtete. Seine Knie waren wie Gummi, und in seinem Magen tanzten ein paar Schmetterlinge. Beim Lachen verstärkte sich ihr Grübchen, es war, als würde er sich selbst zusehen. Es wäre einfacher und mit Sicherheit bequemer, dies abzustreiten, aber es war unmöglich. Gewollt oder ungewollt, er hatte sie gezeugt. Doch sie zu beschützen, hieß nicht, sie zu akzeptieren.
Er erhob sich und wandte sich an Pete. »Wir sollten besser zur Probe gehen.«
»Du willst weg?« Jane sprang auf und verstellte ihm den Weg. »Einfach so? Schau sie dir doch an!«
»Ich weiß, was ich sehe.« Ein plötzliches Schuldgefühl durchzuckte ihn, als Emma zum Schrank zurückschlich. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
»O nein, du haust mir nicht einfach ab. Du denkst nur an dich, wie immer. Was ist am besten für Brian, was ist am besten für seine Karriere. Ich lasse mich nicht noch mal beiseite stoßen.« Er war schon fast an der Tür, als sie Emma hochriss und ihm nachlief. »Wenn du gehst, bringe ich mich um.«
Er hielt lange genug inne, um sich umzudrehen. Diesen Text kannte er, er hätte ein Lied daraus machen können. »Das zieht schon lange nicht mehr.«
»Und sie.« Voller Verzweiflung stieß sie diese Drohung hervor und ließ sie in der Luft schweben. Ihr Griff um Emmas Taille wurde so fest, dass das Mädchen zu schreien begann.
Panik wallte in Brian hoch, als die Schreie des Kindes, seines Kindes, von den Wänden widerhallten. »Lass sie los, Jane, du tust ihr weh.«
»Was geht dich das an«, schluchzte Jane; ihre Stimme wurde schriller und schriller bei dem Versuch, ihre Tochter zu übertönen. »Du gehst einfach weg.«
»Nein, das tue ich nicht. Ich brauche nur Zeit, um über alles nachzudenken.«
»Klar, Zeit, damit dein sauberer Manager eine hübsche Geschichte erfinden kann, meinst du.« Ihr Atem ging heftig, sie hielt die sich wehrende Emma mit beiden Händen fest. »Ich will mein Recht, Brian.«
Er ballte die Fäuste. »Lass sie runter.«
»Ich bringe sie um.« Sie wurde ruhiger, konzentrierte sich auf diesen Gedanken. »Ich schwöre dir, ich schneide erst ihr die Kehle durch und dann mir selber. Kannst du damit leben, Brian?«
»Sie blufft doch nur«, murmelte Johnno, doch seine Handflächen wurden feucht.
»Ich habe nichts mehr zu verlieren. Glaubst du, ich will so weiterleben? Ganz allein das Gör großziehen, während die Nachbarn über mich herziehen? Nie mehr ausgehen und mich amüsieren können? Denk darüber nach, Bri, und denk daran, was die Presse mit dir macht, wenn ich die ganze Geschichte erzähle. Und das mache ich – ich sage alles, bevor ich uns beide umbringe.«
»Miss Palmer.« Pete hob beruhigend die Hand. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir eine allseits befriedigende Lösung finden werden.«
»Lass Johnno Emma in die Küche bringen, Jane, und wir besprechen alles.« Brian näherte sich ihr vorsichtig. »Wir werden einen Weg finden, der für alle Seiten akzeptabel ist.«
»Ich will doch nur, dass du zu mir zurückkommst.«
»Ich bleibe noch hier.« Erleichtert bemerkte er, dass sie ihren Griff lockerte. »Wir reden darüber.« Er nickte Johnno leicht zu. »Wir reden jetzt über alles, komm, setzen wir uns erst mal.«
Zögernd nahm Johnno das Mädchen auf den Arm. Pingelig wie er war, rümpfte er die Nase, als er den unter der Spüle angehäuften Unrat sah, aber er trug sie in die Küche. Da sie nicht aufhörte zu weinen, nahm er sie auf den Schoß und streichelte ihr Haar.
»Komm schon, Häschen, nicht weinen. Johnno lässt nicht zu, dass dir etwas passiert.« Er schaukelte sie hin und her und überlegte, was seine Mutter wohl getan hätte. »Möchtest du einen Keks?«
Sie schluckte, nickte dann, die Augen immer noch feucht.
Er schaukelte sie weiter und stellte fest, dass sie unter all den Tränen und dem Schmutz ein einnehmendes kleines Ding war. Und eine McAvoy, gab er seufzend zu. Eine McAvoy durch und durch. »Können wir irgendwo welche stibitzen?«
Endlich lächelte sie und wies auf einen hohen Schrank.
Eine halbe Stunde später hatten sie die Platte mit Keksen fast geleert und süßen Tee getrunken, den er aufgebrüht hatte. Brian sah von der Küchentür aus zu, wie Johnno Grimassen schnitt und Emma zum Kichern brachte. Wenn alles, aber auch alles schiefging, dachte er, konnte man sich doch immer auf Johnno verlassen.
Er ging in die Küche und fuhr seiner Tochter mit der Hand durchs Haar. »Emma, möchtest du eine Fahrt mit meinem Auto machen?«
Sie leckte ein paar Krümel von den Lippen. »Mit Johnno?«
»Ja, mit Johnno.«
»Ich bin der absolute Renner.« Johnno stopfte sich den letzten Keks in den Mund.
»Ich möchte, dass du bei mir bleibst, Emma, in meinem Haus.«
»Bri…«
Brian hob die Hand und schnitt Johnno das Wort ab. »Es ist ein schönes Haus, und du könntest ein eigenes Zimmer bekommen.«
»Muss ich?«
»Ich bin dein Papa, Emma, und ich möchte gern, dass du bei mir lebst. Du kannst es ja mal versuchen, und wenn es dir nicht gefällt, überlegen wir uns etwas anderes.«
Emma musterte ihn aufmerksam und verzog den Mund zu einer Schnute. Sein Gesicht war ihr vertraut, aber es war irgendwie anders als auf den Fotos. Warum, das wusste sie nicht, und es interessierte sie auch nicht; allein seine Stimme gab ihr ein Gefühl der Sicherheit.
»Kommt Mama auch mit?«
»Nein.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie hob ihren schäbigen schwarzen Hund und drückte ihn an sich. »Und Charlie?«
»Aber sicher.« Brian nahm sie auf den Arm.
»Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.«
Vom Vordersitz des silbernen Jaguar aus sah Emma das große Haus zum ersten Mal. Sie war ein bisschen traurig, dass Johnno mit seinem komischen Bart nicht mehr da war, aber der Mann von den Fotos hatte sie mit den Knöpfen am Armaturenbrett spielen lassen. Zwar lächelte er nicht mehr, aber er schimpfte auch nicht, und er roch so gut. Das Auto roch auch gut. Sie drückte Charlies Schnauze in den Sitz und plapperte leise vor sich hin.
Das Haus aus wetterfestem grauem Stein, mit rautenförmigen Fenstern und geschwungenen Türmchen, erschien ihr riesig. Es war von dichtem grünem Rasen umgeben, und ein Duft nach Blumen lag in der Luft. Vor freudiger Erwartung grinste sie.
»Ein Schloss!«
Nun lächelte auch er. »Ja, das habe ich auch immer gedacht. Als ich klein war, wollte ich in so einem Haus leben. Mein Papa – dein Opa – hat hier im Garten gearbeitet.« Wenn er nicht gerade sturzbetrunken war, fügte Brian im Geist hinzu.
»Ist er auch hier?«
»Nein, er lebt in Irland.« In einem kleinen Cottage, erworben mit dem Vorschuss, den Pete ihm vor einem Jahr bewilligt hatte. »Irgendwann wirst du ihn und deine Onkel, Tanten und Cousins kennenlernen.« Er nahm sie auf, verblüfft über die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich an ihn schmiegte. »Du hast jetzt eine Familie, Emma.«
Als er ins Haus ging, Emma noch immer auf dem Arm, hörte er Bevs helle, lebhafte Stimme.
»Ich denke an Blau, reines Blau. Ich kann mit diesem Blumengarten an der Wand einfach nicht leben. Und diese schrecklichen Wandbehänge kommen weg, es sieht hier ja aus wie in einer Höhle. Ich möchte Weiß, Weiß und Blau.«
Er wandte sich zur Wohnzimmertür und sah sie, umgeben von Dutzenden von Musterbüchern, am Boden sitzen. Ein Teil der Tapete war bereits abgerissen und die Wand teilweise neu verputzt. Bev nahm eine einzige Aufgabe gern von allen Seiten in Angriff.
Wie sie da inmitten von Schutt saß, wirkte sie klein und zerbrechlich. Ihr dunkles, kurzgeschnittenes Haar lag wie eine Kappe am Kopf, und an ihren Ohren glitzerten große Goldreifen. Ihre seegrünen, goldgefleckten Augen unter schweren Lidern verliehen ihr ein beinahe exotisches Aussehen, zumal sie von dem Wochenende, das sie auf den Bahamas verbracht hatten, noch sonnengebräunt war. Er wusste genau, wie sich ihre Haut anfühlen, wie sie schmecken würde.
Niemand, der dieses schmale Persönchen mit dem herzförmigen Gesicht so dasitzen sähe, in engen Hosen und einem weißen Hemd, die Beine untergeschlagen, käme auf die Idee, dass sie im zweiten Monat schwanger war.
»Bev.«
»Brian, ich hab’ dich gar nicht gehört.« Sie drehte sich um, im Begriff aufzustehen, und hielt dann inne. »Oh.« Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, als sie das Kind auf seinem Arm erblickte, aber sie fing sich rasch wieder und machte den beiden Dekorateuren, die sich wegen einiger Muster nicht einig wurden, ein Zeichen. »Brian und ich müssen die endgültige Auswahl noch besprechen. Ich rufe Sie gegen Ende der Woche an.«
Nachdem sie sie unter Versprechungen und Schmeicheleien hinausgedrängt und die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, holte sie tief Luft und legte eine Hand schützend über ihren Bauch.
»Das ist Emma.«
Bev rang sich ein Lächeln ab. »Hallo, Emma.«
»’lo.« In einem Anflug von Schüchternheit vergrub Emma ihr Gesicht an Brians Hals.
»Emma, möchtest du ein bisschen fernsehen?« Brian gab ihr einen aufmunternden Klaps auf den Po. Als sie nicht reagierte, fuhr er verzweifelt fort: »Hier in dem Zimmer steht ein schöner großer Fernseher. Du und Charlie, ihr könnt auf dem Sofa sitzen.«
»Ich muss Pipi«, flüsterte sie.
»Ja, dann …«
Bev blies ihre Ponyfransen aus der Stirn. Beinahe hätte sie gelacht, wäre ihr nicht so elend zumute gewesen. »Ich bring’ sie auf die Toilette.«
Aber Emma klammerte sich noch fester an Brians Hals. »Ich glaube, ich bin der Auserwählte.« Er führte sie ins Bad, warf Bev noch einen hilflosen Blick zu und schloss die Tür.
»Kannst du schon, äh …« Er brach ab, als Emma ihr Höschen abstreifte und sich setzte.
»Ich mach’ nicht mehr in die Hose«, meinte sie sachlich. »Mama sagt, nur dumme, ungezogene Mädchen tun das.«
»Du bist ja auch schon groß.« Er unterdrückte einen neuerlichen Wutanfall. »Und schon so klug.«
Sie war fertig und kämpfte sich in ihr Höschen. »Kommst du mit, fernsehen?«
»In einer Weile. Ich muss erst mit Bev reden. Sie ist wirklich lieb, weißt du«, fügte er hinzu und hob sie zum Waschbecken. »Sie lebt auch mit mir zusammen.«
Emma spielte einen Moment mit dem fließenden Wasser. »Wird sie mich schlagen?«
»Nein.« Er nahm sie fest in die Arme. »Niemand wird dich je wieder schlagen, das verspreche ich dir.«
Gerührt trug er sie an Bev vorbei in ein Zimmer mit einem gemütlichen Sofa und einem großen Schrankfernseher, den er einschaltete und eine lustige Schau aussuchte. »Ich bin bald zurück.«
Emma sah ihm nach, als er das Zimmer verließ, und bemerkte erleichtert, dass er die Tür offen ließ.
»Wir gehen besser hier hinein.« Bev zeigte zum Wohnzimmer. Dort setzte sie sich wieder auf den Boden und machte sich an den Mustern zu schaffen. »Es scheint, dass Jane die Wahrheit gesagt hat.«
»Ja, Emma ist meine Tochter.«
»Das sehe ich, Bri. Sie sieht dir so beängstigend ähnlich.« Sie fühlte aufsteigende Tränen und hasste sich dafür.
»O Gott, Bev.«
»Nein, lass mich«, sagte sie, als er den Arm um sie legen wollte. »Ich brauche eine Minute Zeit, es ist ein Schock.«
»Für mich war es auch einer.« Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Du weißt, warum ich mit Jane Schluss gemacht habe.«
»Du hast behauptet, sie hätte dich am liebsten mit Haut und Haaren vereinnahmt.«
»Sie war unbeständig, Bev. Sie war schon so, als wir noch Kinder waren.«
Noch konnte sie ihm nicht ins Gesicht sehen. Sie selbst hatte ihn beschworen, Jane wiederzusehen und die Wahrheit über das Kind herauszufinden. Mit gefalteten Händen starrte Bev auf den staubigen Marmorkamin. »Du hast sie lange gekannt.«
»Sie war das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen habe. Ich war gerade dreizehn.« Er rieb sich die Augen, wünschte, es wäre nicht so einfach, sich zu erinnern. »Mein Vater war regelmäßig betrunken und steigerte sich dann in einen seiner berüchtigten Wutanfälle, bis er das Bewusstsein verlor. Dann habe ich mich immer im Keller versteckt. Eines Tages war Jane da, als ob sie auf mich gewartet hätte, und bevor ich mich versah, hatte sie mich in den Klauen.«
»Bri, du musst nicht alles wieder aufrühren.«
»Ich möchte, dass du Bescheid weißt.« Er ließ sich Zeit, sog den Rauch ein und stieß ihn langsam wieder aus. »Jane und ich hatten anscheinend viel gemeinsam. Bei ihr zu Hause gab’s auch immer Krach, und nie war genug Geld da. Dann habe ich angefangen, mich für die Musik zu begeistern, und damit mehr Zeit verbracht als mit ihr. Sie flippte vollkommen aus, bedrohte mich und sich selbst. Da habe ich mich von ihr zurückgezogen.
Nicht viel später, als die Jungs und ich uns schon zusammengefunden hatten und um den großen Durchbruch kämpften, tauchte sie wieder auf. Wir sind damals in Spelunken aufgetreten und haben nur das Nötigste verdient. Vielleicht habe ich mich wieder mit ihr eingelassen, weil sie jemand war, der mich kannte und den ich kannte. Hauptsächlich aber, weil ich damals ein richtiges Arschloch war.«
Bev schnüffelte und lächelte verkrampft. »Du bist immer noch ein richtiges Arschloch.«
»Hmm. Wir waren jedenfalls fast ein Jahr lang wieder zusammen, bis sie sich gegen Ende immer schlimmer aufführte. Sie versuchte, Unfrieden zwischen mir und den Jungs zu stiften, störte die Proben, machte Szenen. Einmal kam sie sogar in den Klub und bedrohte eins der Mädchen im Publikum. Hinterher hat sie immer geweint und mich angebettelt, ihr zu vergeben. Es kam dann soweit, dass ich nicht mehr sagen konnte, okay, schon gut, vergiss es. Sie sagte, wenn ich mit ihr Schluss machte, würde sie sich umbringen. Wir hatten uns gerade mit Pete zusammengetan und ein paar Auftritte in Frankreich und Deutschland gehabt, und er arbeitete unseren ersten Plattenvertrag aus. Wir haben London verlassen, und ich habe sie aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich wusste nicht, dass sie schwanger war, Bev, ich hatte die letzten drei Jahre keinen Gedanken mehr an sie verschwendet. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte …« Er verstummte und dachte an das Kind im Nebenzimmer, mit dem schiefen Zähnchen und dem kleinen Grübchen. »Ich weiß nicht, was ich tun würde.«
Bev zog die Knie an und lehnte sich darauf. Als praktisch veranlagte junge Frau aus stabilen Familienverhältnissen fiel es ihr schwer, Kummer und Armut zu verstehen, obwohl genau diese Dinge in Brians Vergangenheit sie zu ihm hingezogen hatten.
»Die Frage ist wohl eher, was du jetzt tun sollst.«
»Ich habe schon etwas getan.« Er drückte seine Zigarette in einer Porzellanschale aus dem neunzehnten Jahrhundert aus, doch Bev machte sich nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen.
»Was hast du getan, Bri?«
»Ich habe Emma zu mir genommen. Sie ist meine Tochter, und sie wird bei mir leben.«
»Ich verstehe.« Bev griff nach einer Zigarette. Seit sie schwanger war, hatte sie ihren gelegentlichen Alkohol- und Drogenkonsum aufgegeben, aber das Rauchen war eine hartnäckigere Angewohnheit. »Meinst du nicht, wir sollten darüber reden? Soweit mir bekannt ist, heiraten wir in ein paar Tagen.«
»Und ob!« Er fasste sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht, voller Angst, dass sie sich, wie so viele andere, von ihm abwenden würde. »Verdammt noch mal, Bev, ich wollte ja mit dir reden, aber ich konnte einfach nicht.« Als er sie losließ, sprang sie auf und versetzte den Musterbüchern einen Tritt. »Ich bin nur in diese schmierige, stinkende Bude gegangen, um Jane zu zwingen, uns in Ruhe zu lassen. Sie war genau wie früher, eine Minute hat sie gekreischt, dann wieder gebettelt. Sie sagte, Emma sei im Schlafzimmer, aber da war sie nicht.« Er bedeckte die Augen mit den Händen. »Bev, das Kind hat sich wie ein verängstigtes Tier unter der Spüle verkrochen.«
»O Gott.« Bevs Kopf sank auf die Knie.
»Jane wollte sie schlagen – sie wollte dieses kleine, zierliche Püppchen schlagen, nur weil es Angst hatte. Als ich sie sah … Bev, bitte sieh mich an. Als ich sie sah, dachte ich, ich sehe mich selber. Verstehst du das?«
»Ich versuch’s ja.« Sie schüttelte den Kopf, kämpfte immer noch mit den Tränen. »Nein, lieber nicht. Ich will, dass alles wieder so ist wie heute morgen, als du weggegangen bist.«
»Meinst du, ich hätte sie einfach dalassen sollen?«
»Nein. Doch.« Sie drückte die Fäuste an die Schläfen. »Ich weiß es nicht. Wir hätten darüber sprechen sollen, wir hätten schon eine Lösung gefunden.«
Er kniete sich neben sie und nahm ihre Hände in die seinen. »Ich wollte eigentlich gehen, etwas durch die Gegend fahren und dann nach Hause kommen und mit dir reden. Jane sagte, sie bringt sich um.«
»Ach, Bri.«
»Damit wäre ich noch fertig geworden. Ich war wütend genug, um sie noch dazu anzustacheln. Aber dann hat sie gesagt, dass sie Emma auch umbringen würde.«
Bev legte eine Hand auf ihren Bauch, über das Kind, das in ihr wuchs und für sie bereits wundervolle Wirklichkeit war.
»Nein. Nein, das kann sie nicht so gemeint haben.«
»Sie hat.« Sein Griff verstärkte sich. »Ich weiß nicht, ob sie es wirklich getan hätte, aber in dem Moment war es ihr ernst. Ich konnte Emma nicht dort lassen, Bev. Ich hätte auch ein fremdes Kind nicht dort lassen können.«
»Nein.« Sie löste ihre Hände, um sein Gesicht zu streicheln. Ihr Brian, dachte sie, ihr lieber, süßer Brian. »Nein, das hättest du nicht. Wie hast du Jane dazu bekommen, Emma gehen zu lassen?«
»Sie war einverstanden«, entgegnete Brian kurz. »Pete hat die entsprechenden Dokumente aufgesetzt, damit ist alles legal.«
»Bri.« Ihre Hand lag an seiner Wange. Sie mochte verliebt sein, aber sie war nicht blind. »Wie?«
»Ich habe ihr einen Scheck über hunderttausend Pfund ausgestellt. Weiterhin bekommt sie jedes Jahr fünfundzwanzigtausend Pfund, bis Emma einundzwanzig ist.«
Bev ließ die Hand fallen. »Himmel, Brian, du hast das Mädchen gekauft?«
»Du kannst nicht kaufen, was dir bereits gehört.« Er spie die Worte beinahe aus; sie gaben ihm das Gefühl, am ganzen Körper schmutzig zu sein. »Ich habe Jane genug Geld gegeben, um sicherzugehen, dass sie sich von Emma und uns fernhält.« Seine Hand legte sich auf ihren Bauch. »Und von unserem Kind. Hör zu, die Presse wird sich auf die Geschichte stürzen, und das wird nicht immer leicht. Ich bitte dich, bleib bei mir und steh das mit mir durch. Gib Emma eine Chance.«
»Wo sollte ich wohl hingehen?«
»Bev …«
Sie schüttelte den Kopf. Zwar würde sie bei ihm bleiben, aber sie brauchte etwas Zeit. »In der letzten Zeit habe ich einiges über das Thema gelesen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass man ein Kleinkind nicht so lange allein lassen sollte.«
»Stimmt. Ich gehe mal nachsehen.«
»Wir gehen beide nachsehen.«
Sie saß immer noch auf dem Sofa, die Arme fest um Charlie geschlungen. Der Lärm aus dem Fernseher störte sie offenbar nicht im Schlaf. Als Bev die Tränenspuren auf ihren Wangen bemerkte, wurde ihr Herz weich.
»Ich glaube, die Dekorateure sollten sich schleunigst um ein Schlafzimmer oben kümmern.«
Emma lag zwischen frischen, weichen Laken im Bett und kniff krampfhaft die Augen zusammen. Sie wusste, wenn sie sie öffnen würde, wäre es dunkel. Und in der Dunkelheit hielten sich Dinge verborgen.
Sie hielt Charlie eisern am Hals fest und lauschte. Manchmal machten die Dinge zischende Geräusche.
Jetzt konnte sie sie nicht mehr hören, aber sie waren da, das wusste sie. Warteten, dass sie die Augen aufmachte. Ein Schluchzen entfuhr ihr, und sie biss sich auf die Lippen. Mama wurde immer böse, wenn sie nachts weinte. Mama würde kommen, sie rütteln und sie ein dummes Baby nennen. Die Dinge würden unter das Bett und in die Ecken huschen, solange Mama da war.
Emma vergrub das Gesicht in Charlies vertrautem, übelriechendem Fell.
Ihr fiel ein, dass sie in einem anderen Haus war. Dem Haus, in dem der Mann von den Fotos wohnte. Etwas von der Angst verwandelte sich in Neugier. Er hatte gesagt, sie könne ihn Papa nennen. Komischer Name. Mit geschlossenen Augen probierte sie es aus, murmelte den Namen wie eine Beschwörung in die Dunkelheit.
Zusammen mit der dunkelhaarigen Frau hatten sie in der Küche Fisch und Chips gegessen. Musik hatte gespielt. In dem Haus spielte anscheinend ständig Musik. Immer, wenn der Papa-Mann etwas sagte, klang es wie Musik.
Die Frau hatte traurig ausgesehen, sogar wenn sie lächelte. Ob sie wohl nur wartete, bis sie mit ihr allein war, um sie dann zu schlagen?
Der neue Papa hatte sie gebadet. Emma erinnerte sich an seinen hilflosen Gesichtsausdruck, aber er hatte sie weder gezwickt noch ihr Seife in die Augen gerieben. Er hatte sie nach den blauen Flecken gefragt, und sie hatte gesagt, was ihre Mama ihr für diesen Fall befohlen hatte. Sie war ungeschickt. Sie war hingefallen.
Da hatte sie Ärger in seinen Augen aufsteigen sehen, aber er hatte ihr keinen Klaps versetzt.
Dann hatte er ihr ein T-Shirt gebracht, und sie musste kichern, weil es ihr bis auf die Füße reichte.
Die Frau war mitgekommen, als er sie ins Bett brachte. Sie hatte auf der Bettkante gesessen und gelacht, während er eine Geschichte von Schlössern und Prinzessinnen erzählte.
Aber als sie erwachte, waren beide fort. Sie waren fort, und es war dunkel. Sie hatte Angst. Angst, die Dinge würden sie erwischen. Sie hatten riesige Zähne. Sie würden sie beißen, sie fressen. Ihre Mama würde kommen und sie verprügeln, weil sie nicht zu Hause in ihrem eigenen Bett war.
Was war das? Sie war sicher, ein flüsterndes Geräusch gehört zu haben. Vorsichtig durch die Zähne atmend, öffnete sie ein Auge. Die Schatten im Zimmer tanzten, wuchsen, griffen nach ihr. Emma versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken und sich ganz klein zu machen, so klein, dass sie von den ekligen bösen Dingen im Dunkeln nicht gesehen und gefressen werden konnte. Ihre Mama hatte sie geschickt, weil sie mit dem Mann von den Fotos mitgegangen war.
Die Angst wurde so übermächtig, dass sie zu zittern und zu schwitzen begann, und entlud sich in einem entsetzten Aufschrei, als sie aus dem Bett kletterte und in die Diele stolperte. Irgendetwas zerbrach krachend.
Sie lag lang ausgestreckt am Boden, klammerte sich an den Hund und erwartete das Schlimmste.
Lichter gingen an und brachten sie zum Blinzeln. Die alte Angst machte einer neuen Platz, als sie Stimmen hörte. Emma wich zur Wand zurück und schaute wie erstarrt auf die Scherben der chinesischen Vase, die sie zerbrochen hatte.
Man würde sie schlagen. Fortschicken. In einen dunklen Raum sperren, damit sie gefressen würde.
»Emma?« Schlaftrunken und ein bisschen benommen von dem Joint, den er geraucht hatte, ehe Bev und er sich geliebt hatten, kam Brian auf sie zu. Sie rollte sich zusammen, wappnete sich für den Schlag. »Bist du in Ordnung?«
»Sie haben es zerbrochen«, flüsterte sie in der Hoffnung, sich zu retten.
»Sie?«
»Die Ungeheuer im Dunkeln. Mama hat sie geschickt, um mich zu holen.«
»Ach Emma.« Er rieb seine Wange an ihrem Haar.
»Brian, was …« Bev stürzte aus dem Zimmer und zog dabei den Gürtel ihres Morgenmantels fest. Dann sah sie, was von ihrer Dresdener Vase übriggeblieben war, seufzte leise und vermied es, auf die Scherben zu treten, als sie sich ihnen näherte. »Ist sie verletzt?«
»Ich glaube nicht. Sie hat nur furchtbare Angst.«
»Lass mal sehen.« Bev nahm Emmas Hand. Diese war zur Faust geballt, der Arm gespannt wie ein Drahtseil. »Emma.« Ihre Stimme wurde strenger, doch es lag keine Bosheit darin. Vorsichtig hob Emma den Kopf. »Hast du dich verletzt?«
Noch immer ängstlich deutete Emma auf ihr Knie. Auf dem weißen T-Shirt schimmerten ein paar Blutstropfen. Bev hob den Saum an. Der Kratzer war zwar lang, jedoch nicht tief. Trotzdem hätten die meisten Kinder deswegen wohl ein großes Geschrei angestimmt. Vielleicht tat Emma das nicht, weil der Kratzer, verglichen mit den blauen Flecken, die Brian auf ihrem Körper gefunden hatte, als er sie badete, nur eine Kleinigkeit war. In einer eher instinktiven als mütterlichen Geste beugte sich Bev hinunter, um einen Kuss auf die Wunde zu drücken. Als Emmas Mund sich daraufhin vor Überraschung öffnete, floss ihr Herz über.
»Gut, Süße, wir kümmern uns darum.« Sie nahm Emma auf und kitzelte sie am Hals.
»Da sind Ungeheuer im Dunkeln«, wisperte Emma.
»Dein Papi jagt sie weg, nicht, Bri?«
Sein irisches Erbe oder aber auch die Drogen machten ihn sentimental, als er sah, dass die Frau, die er liebte, sein Kind im Arm hielt. »Na klar, ich hack’ sie in Stücke und schmeiß’ sie dann raus.«
»Wenn du damit fertig bist, fegst du besser das hier auf.«
Wie jeden Tag, seit sie in dem neuen Haus lebte, saß Emma am Wohnzimmerfenster und schaute über den Garten, in dem Fingerhut und Akelei in voller Blüte standen, auf die lange kiesbestreute Auffahrt. Und wartete.
Sie hatte kaum zur Kenntnis genommen, dass ihre blauen Flecken langsam verblassten. Niemand in dem großen neuen Haus hatte sie bislang geschlagen. Noch nicht. Jeden Tag hatte sie Tee bekommen, und die Freunde, die im Hause ihres Vaters ständig ein und aus gingen, hatten ihr Süßigkeiten und Spielsachen mitgebracht.
Emma fand das alles sehr verwirrend. Sie wurde jeden Tag gebadet, sogar wenn sie sich gar nicht schmutzig gemacht hatte, und bekam immer saubere Kleidung. Niemand hier nannte sie ein dummes Baby, weil sie sich in der Dunkelheit fürchtete. Die Lampe mit dem rosa Schirm brannte die ganze Nacht, sodass die Ungeheuer so gut wie nie in ihr neues Zimmer kamen.
Und dennoch wehrte sie sich dagegen, sich hier wohl zu fühlen. Sicher würde Mama bald kommen und sie wieder mitnehmen.
In dem schönen Auto war Bev mit ihr zum Einkaufen gefahren, in einen großen Laden voller herrlicher Kleider und angenehmer Düfte, und hatte taschenweise Sachen für Emma gekauft. Am besten gefiel ihr ein pinkfarbenes Organdykleid mit einem Rüschenrock. Sie hatte es an dem Tag tragen dürfen, an dem ihr Papa Bev geheiratet hatte, und war sich darin wie eine Märchenprinzessin vorgekommen. Dazu hatte sie schwarze Lackschuhe und weiße Strumpfhosen angehabt, und niemand hatte geschimpft, als sie sich die Knie schmutzig gemacht hatte.
Die Hochzeit, die trotz tiefhängender Regenwolken zuerst im Garten stattgefunden hatte, war Emma sehr ernst und feierlich erschienen. Einer der Männer, den alle Stevie riefen, hatte ein langes, weißes Hemd und weiße, sackartige Hosen getragen, auf einer schneeweißen Gitarre gespielt und dazu mit rauer Stimme gesungen. Emma hatte ihn für einen Engel gehalten und Johnno nach ihm gefragt, aber der hatte nur gelacht.
Bev hatte einen Blumenkranz im Haar getragen und ein buntes, weitschwingendes Kleid, das um ihre Knöchel spielte. Emma hielt sie für die schönste Frau der Welt, und zum ersten Mal in ihrem jungen Leben war sie von Neid erfüllt gewesen. So schön zu sein, erwachsen, und neben Papa zu stehen! Sie würde nie wieder Angst oder Hunger leiden. Und wie die Märchengestalten, die Brian so liebte, würde sie bis an das Ende ihrer Tage glücklich leben.
Der Regen hatte dann alle ins Haus getrieben, wo Sekt und Kuchen bereitstanden. Es wurde gesungen, gelacht und Musik gespielt. Überall im Haus hatte sie wunderschöne Frauen in kurzen, engen Röcken oder fließenden Baumwollgewändern gesehen. Einige von ihnen hatten ein großes Gewese um sie gemacht und ihr über das Haar gestreichelt, aber die meiste Zeit blieb sie sich selbst überlassen.
Niemand hatte bemerkt, dass sie sich drei Stück Kuchen genommen und den Kragen ihres neuen Kleides mit Eis verschmiert hatte. Außer ihr waren keine anderen Kinder auf der Party gewesen, und Emma war noch zu jung, um von den Größen der Musikwelt, die durch das Haus strichen, beeindruckt zu sein. Da sie sich langweilte und ihr von all dem Kuchen ein wenig übel war, war sie zu Bett gegangen und, durch die Geräusche von der Party eingelullt, sofort eingeschlafen.
Später war sie dann wieder aufgewacht. Voller Unruhe hatte sie Charlie aus dem Bett gezogen und wollte nach unten gehen, doch der schwere Rauch, der in der Luft hing, hatte sie zurückgehalten. Damit war sie nur allzu vertraut. Genau wie der Gingestank war der süßliche Marihuanageruch in ihrem Geist fest mit der Person ihrer Mutter verbunden. Jane hatte sie immer dann gepiesackt und geschlagen, wenn die Wirkung der Droge nachließ.
Wie ein Häufchen Elend hatte sie sich auf der Treppe zusammengerollt und bei Charlie Trost gesucht. Wenn ihre Mama hier war, würde sie sie mitnehmen, und Emma wusste, sie würde nie wieder das hübsche pinkfarbene Kleid tragen, Papas Stimme hören oder mit Bev in die großen Läden gehen.
Als sie Schritte auf der Treppe hörte, hatte sie sich noch stärker zusammengerollt und war auf das Schlimmste gefasst gewesen.
»Ja, hallo, Emmaschatz.« Zufrieden mit sich und der Welt, hatte Brian sich neben ihr niedergelassen. »Was machst du denn hier?«
»Nichts.« Sie hatte sich eng an ihren Stoffhund gekuschelt und sich so klein wie nur möglich gemacht. Wen man nicht sehen konnte, dem konnte man auch nichts tun.
»Das ist vielleicht ’ne Party!« Auf die Ellbogen gestützt hatte Brian die Decke angegrinst. In seinen kühnsten Träumen hatte er sich nicht ausmalen können, eines Tages Popgiganten wie McCartney, Jagger und Daltrey in seinem Haus zu begrüßen. Und dann die Hochzeit! Gütiger Himmel, er war verheiratet. Der Goldreif an seinem Finger bewies es.
Mit dem nackten Fuß dem Rhythmus der Musik von unten folgend, hatte er den Ring lange betrachtet. Der Gedanke, dass es kein Zurück mehr gab, gefiel ihm. Seine katholische Erziehung und sein Idealismus bestärkten ihn in dem Glauben, dass eine einmal getroffene Wahl für immer galt.
Es war einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen, hatte er gedacht, während er in der Hemdtasche nach der Zigarettenpackung kramte. Wirklich einer der schönsten Tage überhaupt. Was machte es da schon, dass sein Vater zu bequem oder zu betrunken gewesen war, um die Flugtickets abzuholen, die er ihm nach Irland geschickt hatte? Alles, was Brian an Familie brauchte, hatte er hier.
Dann hatte er die Gedanken an die Vergangenheit energisch abgeschüttelt. Von heute an würde nur noch die Zukunft zählen, ein ganzes Leben lang.
»Wie wär’s, Emma? Möchtest du runtergehen und auf Papas Hochzeit tanzen?«
Sie hatte die Schultern hochgezogen und kaum merklich den Kopf geschüttelt. Der Rauch, der wie geheimnisvoller Nebel durch die Luft waberte, ließ ihre Schläfen pochen.
»Möchtest du etwas Kuchen?« Er hatte sich gereckt, um sie spaßhaft am Haar zu zupfen, doch sie war zurückgewichen. »Was ist denn?« Verständnislos hatte er ihr auf die Schulter geklopft.
Emmas ohnehin schon übervoller Magen hatte die Kombination von Furcht und zu viel Süßigkeiten nicht verkraftet. Ein heftiges Aufstoßen, und der gesamte Mageninhalt war über Brians Schoß geflossen. Sie gab ein jämmerliches Stöhnen von sich, ehe sie, fest an Charlie geklammert, liegenblieb; zu elend, um sich vor den zu erwartenden Schlägen zu schützen. Zu ihrer Überraschung hatte er angefangen zu lachen.
»Ich schätze, jetzt geht es dir sehr viel besser.« Zu high, um sich abgestoßen zu fühlen, hatte Brian sich hochgerafft und ihr die Hand hingehalten. »Und jetzt wird sich erst mal gewaschen.«
Emma verstand die Welt nicht mehr. Es hatte weder Schläge noch Ohrfeigen gegeben, stattdessen hatte er sie im Bad beide bis auf die Haut ausgezogen und Emma dann unter die Dusche geschoben. Beim Duschen hatte er sogar noch gesungen, irgendwas von betrunkenen Seeleuten, und so hatte sie ihre Übelkeit vergessen.
Reichlich unsicher auf den Beinen, hatte Brian die in Handtücher gehüllte Emma zurück in ihr Zimmer und ins Bett gebracht. Mit klatschnassen Haaren war er auf das Fußende des Bettes gefallen und hatte sofort zu schnarchen begonnen.
Emma war vorsichtig unter der Bettdecke hervorgekrabbelt, um sich neben ihn zu setzen, und hatte all ihren Mut zusammengenommen, sich über ihn gebeugt und einen feuchten Kuss auf seine Wange gedrückt. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie Liebe zu einem anderen Menschen; deshalb hatte sie Charlie unter seinen Arm geschoben und sich auf ihre Schlafseite gedreht.
Doch dann war er fortgegangen. Nur ein paar Tage nach der Hochzeit war ein großes Auto vorgefahren, und zwei Männer hatten Koffer aus dem Haus geschleppt. Papa hatte ihr einen Kuss gegeben und ihr ein schönes Geschenk versprochen. Emma konnte nur wortlos zusehen, wie er fortfuhr und aus ihrem Leben verschwand. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass er zurückkommen würde, selbst dann nicht, als sie seine Stimme am Telefon hörte. Bev sagte, er sei in Amerika, wo die Mädchen bei seinem bloßen Anblick hysterisch zu kreischen begannen und die Fans seine Platten fast so schnell kauften, wie diese produziert wurden.
Aber seit er fort war, war das Haus still und leer, und manchmal weinte Bev.
Emma erinnerte sich an Janes Weinen, an die Schläge und Quälereien, die diese Tränen zu begleiten pflegten, und wartete, doch Bev schlug sie nie, nicht einmal in der Nacht, in der die Arbeiter gingen und sie ganz alleine in dem großen Haus waren.
Tag für Tag kuschelte sich Emma, Charlie im Arm, in den Sessel am Fenster und sah hinaus, träumte, dass das lange schwarze Auto die Auffahrt heraufkäme, die Tür sich öffnete und ihr Papa ausstiege.
Doch mit jedem Tag verstärkte sich ihre Gewissheit, dass er nie wieder zurückkommen würde. Er war gegangen, weil er sie nicht mochte, sie nicht wollte. Weil sie ein Störenfried war, und strohdumm dazu. Sie wartete nur noch darauf, dass auch Bev fortgehen und sie in dem großen Haus allein lassen würde. Dann würde Mama kommen.
Was ging nur in dem Kopf des Mädchens vor? wunderte sich Bev. Wie üblich saß Emma in dem Sessel am Fenster. Stundenlang konnte das Kind so sitzen, geduldig wie eine alte Frau. Selten beschäftigte sie sich mit etwas anderem als dem schäbigen alten Stoffhund, den sie mitgebracht hatte. Noch seltener bat sie um etwas.
Fast einen Monat lang war sie nun schon ein Teil ihres Lebens, aber Bevs Gefühle ihr gegenüber hatten sich noch nicht sehr geändert. Ihre Liebe zu Brian war jedoch so groß, dass es sie manchmal selbst erschreckte. Und Emma war sein Kind. Was immer sie auch angestrebt haben mochte, wie immer auch ihre Zukunftspläne ausgesehen hatten, es bedeutete wohl, dass sie jetzt auch ihr, Bevs, Kind war.