Nachtmahr – Die Schwester der Königin - Ulrike Schweikert - E-Book

Nachtmahr – Die Schwester der Königin E-Book

Ulrike Schweikert

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Beschreibung

Sie ist das gefährlichste Wesen der Nacht - wird sie jemals lieben dürfen? Lorena ist ein Nachtmahr – und damit eine Gefahr für alle, die sie lieben. Um ihre Mitmenschen vor ihrer dunklen Seite zu schützen, begibt sie sich in das Haus der mächtigen Mylady, um ihre Ausbildung zu beginnen. Zudem gibt Lorena ihre große Liebe Jason zu seinem eigenen Schutz auf. Dann erreicht sie die Nachricht, dass die Nachtmahre ihre Schwester aufgespürt haben. Lucy wurde als Kind entführt, weil sie für die in der Prophezeiung erwähnte Eclipse gehalten wurde. Nun begibt sich Lorena nach San Francisco, um Lucy aus Alcatraz zu befreien. Doch sie ahnt nicht, dass eine finstere Verschwörung im Gange ist, in der niemand seine wahren Motive offenbart …

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Kurzbeschreibung:

Sie ist das gefährlichste Wesen der Nacht - wird sie jemals lieben dürfen?

Lorena ist ein Nachtmahr – und damit eine Gefahr für alle, die sie lieben. Um ihre Mitmenschen vor ihrer dunklen Seite zu schützen, begibt sie sich in das Haus der mächtigen Mylady, um ihre Ausbildung zu beginnen. Zudem gibt Lorena ihre große Liebe Jason zu seinem eigenen Schutz auf. Dann erreicht sie die Nachricht, dass die Nachtmahre ihre Schwester aufgespürt haben. Lucy wurde als Kind entführt, weil sie für die in der Prophezeiung erwähnte Eclipse gehalten wurde. Nun begibt sich Lorena nach San Francisco, um Lucy aus Alcatraz zu befreien. Doch sie ahnt nicht, dass eine finstere Verschwörung im Gange ist, in der niemand seine wahren Motive offenbart …

Ulrike Schweikert

Nachtmahr

Die Schwester der Königin

Teil 2

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2015 by Ulrike Schweikert

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Penhaligon Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDieses 

Werk wurde vermittelt durch die Agentur Montasser

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart Design

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-333-5

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Lorena hat sich von Jason getrennt, da sie weiß, dass sie ihren Geliebten zu seinem eigenen Schutz aufgeben muss. In Gryphon Manor, dem Haus der mächtigen Mylady, findet sie Ablenkung und erlernt den Kampf mit dem Schwert. Lorena will sich verteidigen können – gerade weil sie weiß, dass der Councillor nach ihr sucht, um sie gefangen zu nehmen und zu töten.

Eines Tages belauscht Lorena ein Gespräch und erfährt, dass die Nachtmahre ihre Schwester in San Francisco aufgespürt haben. Lucy wurde vor vielen Jahren als Kind vom Councillor und seinen Wanderern entführt, da sie Lucy versehentlich für die in der Prophezeiung erwähnte Eclipse hielten.

Lorena setzt nun alles daran, ihre Schwester zu befreien. Doch die alte Rivalität der Schwestern schwebt über der Rettungsaktion – und Lorena muss feststellen, dass Lucy nicht mit offenen Karten spielt. Ist ihr Hass auf Lorena und die Nachtmahre so groß, dass sie die Seiten gewechselt hat?

Prolog

LUCY

Irgendwo im Westen versank die Sonne, und die Nacht brach herein. Sie konnte es nicht sehen. Hier zwischen den felsigen Wänden herrschte Tag und Nacht das gleiche trübe Dämmerlicht, doch sie spürte es, und in ihrem Geist sah sie den glutroten Ball zwischen schroffen Felsen versinken, die sich durch ihre letzten Strahlen in eine Feuersbrunst zu verwandeln schienen. Das bei Tag tiefblau schimmernde Wasser verwandelte sich in Lava, die tosend zwischen den steil aufragenden Felswänden hindurchschoss. Jäh erlosch das Glühen und wich einem sanften rosa Schimmern, bis auch dieses zerrann. Zurück blieben der Fluss und die nun schwarzen Felsen, deren Silhouetten sich scharf vom immer dunkler werdenden Nachthimmel abhoben, an dem sich die ersten Sterne zeigten.

Lucy hatte keine Ahnung, ob es draußen wirklich so aussah, wie sie es sich in ihrer Fantasie ausmalte. Sie konnte sich nicht erinnern, die Umgebung über ihr bei ihrer Ankunft gesehen zu haben. Oder etwa doch? Es war schon so lange her. Fast fünf Jahre waren verstrichen, in denen ihr nichts blieb als ihre Fantasie, die sich mit ihren Erinnerungen vermischte. Mit der Wirklichkeit mochte sie sich schon lange nicht mehr beschäftigen. Sie war zu trostlos: ein steinerner Raum mit einem schmalen Bett. Kein Fenster, kein noch so schmaler Spalt, der eine Verbindung zur Welt über ihr hergestellt hätte. Die einzige Lichtquelle war eine schwache Glühbirne, die an einem Kabel von der hohen Decke hing. Unerreichbar. Die Kette an ihrem Fußgelenk, die fest in der Wand verankert war, war zu kurz. Und auch die Stahltür mit der vergitterten Luke in der Mitte, welche die Eintönigkeit der Felswand an der gegenüberliegenden Seite durchbrach, war außerhalb ihrer Reichweite.

Lucy saß reglos auf ihrem Bett, die Augen halb geschlossen. Sie konnte die Schritte ihrer Bewacher vor der Tür hören. Einmal am Tag öffnete sich die Pforte, um einen Mann in schwarzer Uniform einzulassen, der ihr Wasser und Essen brachte und ihren Eimer für die Notdurft austauschte. Die Männer wechselten sich ab, doch es waren stets die gleichen Typen: große, muskulöse Kerle mit wettergegerbter Haut und kurz geschnittenem Haar. Sie trugen Waffen, und stets wartete noch ein zweiter Mann vor der Tür. Normalerweise sprachen ihre Bewacher kein Wort mit ihr und mieden ihren Blick. Lucy spürte, wie schwer es ihnen jedes Mal fiel. Neugier mischte sich mit Verlangen und mit Furcht, die Lucy zuerst erstaunte und dann mit Triumph erfüllte. Die muskulösen Männer mit ihren Waffen fürchteten sich vor einem zierlichen, achtzehnjährigen Mädchen!

Nein, das stimmte nicht ganz. Mit dem Mädchen, das während des Tages in seinem Verlies saß, glaubten sie, leicht fertig zu werden, doch das Wesen, das sie bei Nacht erwartete, jagte ihnen Angst ein. Vielleicht zu Recht! Vermutlich hatten sie deshalb strenge Anweisung, die Tür während der Nacht nicht zu öffnen, trotz der Kette um Lucys Bein, die ihren Bewegungsradius auf wenige Meter einschränkte.

Die Nacht schritt voran. Bald würde es Mitternacht sein. Lucy spürte, wie ihr Körper zu vibrieren begann. Dies war das einzig Aufregende ihrer trostlosen Tage. Gleich würde es geschehen. Sie musste keine Uhr schlagen hören. Ihr Körper wusste genau, wann es Zeit wurde, sich zu verwandeln.

Wie jede Nacht begann es mit einem ziehenden Schmerz, der ihr wie Lava durch die Adern rann. Ihr Körper zuckte, und es fühlte sich an, als würde er seine Form auflösen und fließen, um eine neue Gestalt anzunehmen. Ein Reißen unter den Schulterblättern beendete die Wandlung.

Lucy riss die Augen auf. Wie schon so oft blickte sie sich mit Staunen um. Ihre Sinne waren geschärft, und sie sah und spürte so viele Dinge, die sie während des Tages nicht wahrnehmen konnte. Lucy roch den Schweiß der beiden Männer vor der Tür, der von Hitze und Erschöpfung sprach, doch wenn sie sich wandelte, schoben Erregung und Lust die Erschöpfung der Männer beiseite. Sie roch ihre Furcht, wenn sie sich tiefer in die dunklen Gänge zurückzogen, obgleich ihr Geist und ihr Körper danach schrien, näher zu treten und die stählerne Pforte zu öffnen, die ihnen den Blick auf das wundervolle Wesen verwehrte.

Lucy erhob sich von dem schäbigen Bett. Sie kam sich wie eine Königin vor. Auch ohne einen Spiegel wusste sie, dass sie wunderschön war. Nein, perfekt! Ihr Haar fiel ihr in goldenen Locken über den Rücken, ihre Brauen und langen dunklen Wimpern rahmten ihre tiefblauen Augen ein, deren Blick so fesselnd war, dass ihm keine Menschenseele widerstehen konnte. Ihr Körper war schlank, die Brüste fest, die Taille schmal. Sie sah an ihren langen Beinen hinunter bis zu den wohlgeformten Füßen, ohne auch nur den kleinsten Makel zu entdecken. Jeder Mensch musste diesem Wesen zu Füßen liegen. Lucy wusste, sie war nicht nur schön, sie war mächtig!

Zu dumm, dass es keinen gab, der ihrem Ruf folgen konnte. Ihre Gedanken tasteten nach den Männern draußen vor der Tür. Sie lockte und zog sie an, doch ihr Geist griff ins Leere. Sie hatten längst die Flucht ergriffen und sich irgendwo hinter meterdicken Felswänden und Stahl in Sicherheit gebracht.

Lucy stieß einen heiseren Schrei aus und stampfte frustriert auf. Die kaum sichtbaren Schlitze unter ihren Schulterblättern öffneten sich. Durchscheinende Flügel entfalteten sich und peitschten durch die Luft. Ihr Körper erhob sich und schoss der felsigen Decke entgegen, bis die Kette an ihrem Bein sich straffte und sie mit einem Ruck zurückriss.

Lucy schrie erneut auf, mehr aus Frust denn aus Schmerz. Ein paar Mal schlug sie noch mit den Flügeln, doch sie wusste, dass es nicht helfen würde. Mit einem klagenden Ton ließ sie sich auf den Boden zurücksinken und faltete die Flügel ein.

Sie musste hier raus! Sie brauchte ihre Freiheit. Sie musste durch die Nacht fliegen, ihre Sinne geschärft auf der Jagd nach Beute. Hier drin würde das stolze Wesen verkümmern und irgendwann qualvoll verenden.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die langen, spitzen Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, bis das Blut hervorquoll.

Alles in ihr lechzte nach Luft, nicht nach diesem abgestandenen, staubigen Gemisch, das sich aus der Klimaanlage quälte. Sie verlangte nach frischer, unverbrauchter Nachtluft. Nach dem Sturmwind, auf dessen Wogen der Adler dahingleitet.

Lucy öffnete den Mund, aber es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Wie erstarrt blieb sie in der Mitte ihres Kerkers stehen, bis ein erneutes Zittern die Rückverwandlung ankündigte, und ein zitterndes, junges Mädchen mit verfilztem Haar und ausgemergelten Wangen in der Felsenkammer zurückblieb.

Kapitel 1

LORENA

»Genug für heute«, ertönte die Stimme der Lady in ihrem Geist. Sie sprach nur selten laut, dennoch war Lorena klar, dass sie keinen Widerspruch duldete. Das Wort der Lady war Gesetz, und niemand wagte es, sich darüber hinwegzusetzen.

Lorena betrachtete den Saum des altmodischen Gewands und traute sich nicht, die Lider weiter zu heben. Nur einmal hatte die Lady ihr gestattet, ihr Gesicht kurz anzusehen, aber ihr waren nur die Augen in Erinnerung geblieben. Das Gesicht war so zeitlos, so ohne Ecken und Kanten, dass es zu fließen schien. Der Blick jedoch war scharf und durchdringend und schien jedes noch so tief verborgene Geheimnis aufspüren zu können.

Lorena zögerte. Sie rührte sich nicht von der Stelle, obgleich sie die Aufforderung durchaus verstanden hatte. Es kostete sie all ihre Beherrschung, sich dem stillen Befehl zu widersetzen.

»Du kannst jetzt gehen!«, verdeutlichte Morla in scharfem Ton und trat zwischen Lorena und ihre Herrin, der sie bedingungslos diente. »Mylady hat dich entlassen.«

»Ich habe aber noch so viele Fragen«, beharrte Lorena, die spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und an den Schläfen herabrann, und blieb sitzen. Ihr war klar, dass sie den Machtkampf gegen die Lady nicht gewinnen konnte, dennoch versuchte sie, so lange wie möglich standhaft zu bleiben. War sie nicht Eclipse, die lang Erwartete, die die Nachtmahre in eine neue, bessere Zeit führen sollte? Dann hatte sie auch das Recht, Fragen zu stellen und auf Antworten zu beharren!

Du bist Eclipse, und du hast das Recht, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, doch für heute ist es genug. Ich werde dir rechtzeitig alles mitteilen, was du wissen musst. Geh jetzt. Es warten noch andere Aufgaben auf dich.

Wie von einer fremden Macht gesteuert, erhob sich Lorena und tappte unbeholfen auf die Tür zu, die sich vor ihr öffnete. Myladys Butler Carter hielt die Tür auf und schloss sie dann hinter ihr. Unschlüssig blieb Lorena in der Halle stehen und ließ den Blick schweifen, bis er an einer Gestalt hängen blieb.

Eine Frau saß lässig in einem mit rotem Brokat bezogenen Sessel und starrte gelangweilt vor sich hin. Als sie Lorena bemerkte, sprang sie auf. »Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du bleibst die ganze Nacht dort drin. Gibt es interessante Neuigkeiten?«

Lorena sah die andere Frau an und fühlte sich plötzlich erschöpft. Sie war so wunderschön, groß, schlank, rassig, mit einem schmalen Gesicht und dunklen Augen, umrahmt von dichtem, schwarzem Haar, das ihr offen über den Rücken fiel. Ihre sinnlichen Lippen waren rot geschminkt. Sie hatte sich in ihre Nachtmahrgestalt gewandelt und sah Lorena mit blitzenden Augen an.

»Raika, was tust du hier?«

»Ich habe auf dich gewartet.«

»Das sehe ich«, antwortete Lorena ein wenig zu barsch. Ihre Gefühle für Raika waren zwiespältig. Sie war der erste andere Nachtmahr, den Lorena kennengelernt hatte, doch Raikas Art, wie sie mit ihrer »Gabe«, wie sie es nannte, umging, missfiel Lorena, die es zeit ihres Lebens eher als einen Fluch empfunden hatte. Natürlich gab es Momente, da sie die Wandlung genoss und die Freiheit, die ihr die Flügel verliehen. Der Rausch des Fliegens war unglaublich! Aber Raikas skrupellose Weise, sich jeden Mann, nach dem sie gerade Appetit verspürte, untertan zu machen und dann wieder wegzuwerfen, stieß sie ab. Menschenleben waren für Raika nicht viel wert. Und außerdem hatte sie sich an Jason vergriffen!

Lorena spürte den Knoten in ihrer Brust. Nein, an Jason wollte sie jetzt nicht denken. Das war vorbei. Sie konnte sich nicht vormachen, ihn nicht mehr zu lieben. Ganz im Gegenteil. Sie liebte ihn so sehr, dass sie entschieden hatte, ihn nicht mehr zu sehen. Sie würde ihn mit ihrem Verzicht retten und verhindern, dass ein Nachtmahr seine Seele verdarb.

Es sollte sich eigentlich edel anfühlen, doch sie schmeckte nur Bitterkeit.

»Und, willst du mir nicht verraten, was die Lady gesagt hat?«, erkundigte sich Raika und kam mit wiegenden Hüften näher. Ihr Blick war die reine Verführung, aber das funktionierte nur bei Männern. Lorena konnte sie damit nicht bezwingen.

»Wir haben miteinander gesprochen, aber ich denke nicht, dass dich unser Gespräch etwas angeht«, wehrte Lorena kühl ab.

»Du bist noch immer sauer«, stellte Raika fest. »Wegen Noah oder wegen Jason?«

»Sauer ist nicht das richtige Wort«, erwiderte Lorena. »Wir passen einfach nicht zusammen. Ich werde dich niemals verstehen und du vermutlich mich nicht.«

Raika zuckte mit den Schultern. »Na und? Wir gehören dennoch zu einer Familie. Wir sind Nachtmahre!«

Lorena nickte müde. »Ja, das sind wir, und das wird in Zukunft mein Leben noch mehr bestimmen. Daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen.«

»Es gibt Schlimmeres«, sagte Raika, brach dann aber ab, als sich eine Tür öffnete und zwei in schwarzes Leder gekleidete Frauen eintraten. Die Jüngere war sehr groß, bestimmt einen Meter und neunzig, und hager. Sie hatte ein schmales Gesicht und trug ihr schwarzes Haar kurz geschnitten. Die andere Frau war bereits Mitte vierzig. Maddison war nicht so groß wie Sienna, doch auch ihr Körper wirkte durchtrainiert. Beide Frauen hielten Schwerter in den Händen. Sie gehörten zu den Guardians der Lady. Raika betrachtete sie interessiert.

»Das Outfit ist cool«, sagte sie. »So etwas muss ich mir auch zulegen.«

Während Maddison sie nur kalt musterte, lächelte Sienna. 

»Hast du dir Myladys Angebot überlegt? Willst du mit uns trainieren und Guardian werden?«

Raika winkte ab. »Nein, danke, das ist mir zu anstrengend. Ich finde nur eure sexy Lederkluft gut, und ich hätte auch gern so ein Schwert.« Sie trat auf Sienna zu und strich ehrfürchtig mit dem Finger über die kunstvoll gefertigte Waffe.

»Man muss sich diese Waffe verdienen!«, mischte sich Maddison ein. »So wie Grace es im Moment tut. Sie strengt sich an und trainiert viel. Sie wird es weit bringen.«

Raika trat zurück. »Das hört sich nach Schweiß und Disziplin an.«

Sienna nickte. »Ohne das geht es nicht.«

»Darm verzichte ich lieber auf das Schwert«, sagte Raika ohne Bedauern.

»Schade«, meinte Sienna und trat auf Lorena zu. Sie neigte den Kopf und suchte dann ihren Blick. »Eclipse, wir werden dich nach Hause begleiten. Wir sind jetzt für deine Sicherheit verantwortlich.«

»Ich heiße Lorena!«, sagte diese schärfer, als sie es vielleicht beabsichtigt hatte.

Siennas Miene blieb unbeweglich. »Wie du wünschst. Gehen wir?« Doch Lorena bewegte sich nicht vom Fleck.

»Wenn Raika nicht will, ist das ihre Sache, aber ich möchte es lernen.«

Sienna blinzelte verwirrt. »Was meinst du?«

Lorena streckte die Hand nach dem Schwert aus. »Ich möchte lernen, so wie ihr mit dem Schwert zu kämpfen. Sollte ich mich nicht selbst verteidigen können? Mylady hat mir von den Wanderern und dem Councillor erzählt, der meinen Tod will.«

Sienna drehte sich zu Maddison um, die nun mit energischem Schritt zu ihr trat. »Du brauchst dich nicht zu sorgen. Wir werden dich beschützen und dafür sorgen, dass die Wanderer nicht an dich herankommen. Hier in der Nähe von London kann dir nichts passieren. Dafür sorgt Myladys mächtige Magie.

Lorena kniff die Augen ein wenig zusammen. Sie spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. »Du meinst, ich kann darauf vertrauen?«

»Aber ja!«, bekräftigte Maddison. »Wir tun alles, was in unserer Macht steht.«

»Und wenn das nicht genug ist?«, fragte Lorena leise. »Wo wart ihr, als die Wanderer meine Schwester Lucy entführten? Und wie konnte es passieren, dass meine Mutter die Treppe hinunterstürzte und sich das Genick brach, als eure Leute bei uns im Haus waren?«

Sienna zuckte zusammen. Maddison dagegen hielt mit steinerner Miene Lorenas vorwurfsvollem Blick stand. »Das war ein bedauerlicher Unfall, den keiner beabsichtigt hatte.«

»Ein bedauerlicher Unfall, ja? So wie die Leiter, von der meine Großmutter gefallen ist, sodass sie seither im Rollstuhl sitzt, oder wie die durchgeschnittene Bremsleitung im Auto meines Vaters, die zu seinem tödlichen Unfall führte?«

»Davon wissen wir nichts«, behauptete Sienna. »Das geht sicher auf das Konto des Councillors und seiner Männer.«

»Wir wollten immer nur dein Bestes«, fügte Maddison hinzu. »Nichts ist uns so wichtig wie deine Sicherheit.«

Lorena schnaubte. »Das glaube ich gern, doch geht es hier wirklich um mich?«

»Es geht um den Fortbestand der Nachtmahre!«

»Oh ja, das ist das Allerwichtigste«, sagte sie sarkastisch.

Ein weicher Ausdruck legte sich auf Siennas schmales Gesicht. Sie legte sanft eine Hand auf Lorenas Arm. »Ja, das ist wichtig. Wir sind alle eine Familie und füreinander da. Die Wanderer sind unsere Feinde, die seit jeher versuchen, uns zu vernichten. Nur wenn wir geschlossen gegen sie antreten, haben wir eine Chance zu überleben.«

Noch immer nicht besänftigt, trat Lorena einen Schritt zurück. »Warum wollen uns die Wanderer vernichten? Was haben wir ihnen getan, um solch unauslöschlichen Hass zu erzeugen?«

Maddison lachte bitter. »Das Schlimmste, was eine Frau tun kann! Wir haben uns der männlichen Herrschaft entzogen. Wir ordnen uns keinem Mann unter und nehmen uns, was uns Spaß macht. Denkst du, das nimmt die Männerwelt einfach so kampflos hin? Wir rütteln an den Grundfesten der meisten Gesellschaften, die sich über Jahrtausende hinweg entwickelt haben, seien sie nun christlich, jüdisch oder muslimisch. Oder sieh dir Länder wie Indien an. Was ist eine Frau dort wert? Wie wird sie behandelt? Überall auf der Welt müssen sich Frauen unterordnen, auch wenn die Emanzipation in den westlichen Ländern manches abgemildert hat. Denkst du wirklich, die Männer würden ihren Herrschaftsanspruch kampflos aufgeben? Wir sind ihnen ein Dorn im Auge und der Stachel in ihrem Fleisch.«

»Aber lieben sie uns nicht auch? Begehren sie nicht unseren schönen Körper und wünschen sich nichts mehr, als dass wir all ihre heimlichen sexuellen Träume erfüllen?«

Maddison nickte. »Oh ja, wir sind der fleischgewordene Traum jeder Männerfantasie – mit einem kleinen, für sie unschönen Detail: Wir haben die Macht, und wir entscheiden, wann wir uns etwas nehmen oder etwas geben. Wir ordnen uns niemals einem Mann unter und geben ihm Macht über uns. Es geht um unseren freien Willen!«

Lorena trat wieder vor und griff gedankenverloren nach dem Schwert. »Und diesen freien Willen müssen wir mit Waffengewalt verteidigen.«

»Genau!«, rief Raika, die erstaunlich lange geschwiegen hatte. »Ich finde es toll. Hast du die beiden jemals kämpfen sehen? Es ist atemberaubend. Man kann sich nicht vorstellen, wie ein Wanderer oder gar der Councillor selbst dagegen bestehen könnte. Von normalen Menschen wollen wir gar nicht erst reden!«

Lorena nickte. »Ja, ich habe es gesehen. Deshalb möchte ich es lernen. Selbst wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass wir – wie im Mittelalter – mit dem Schwert gegen irgendwelche Wanderer, oder wie diese Typen heißen, angehen. Es ist einfach faszinierend, wie wundervoll grazil und wendig die Guardians sich bewegen können. Es gleicht mehr einem irrsinnig schnellen Tanz denn einem Kampf.«

Sienna nickte. »Ja, aber lass dich nicht täuschen. Der elegante Tanz endet mit dem Tod, blitzschnell und präzise!«

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Salon der Lady. Alle fuhren herum und starrten Morla an, die geräuschlos in die Halle glitt. Ihrer Miene war nichts zu entnehmen. Waren sie zu laut gewesen? Hatten sie Mylady gestört und würden nun gerügt werden?

Morlas Blick schweifte über die beiden Guardians und heftete sich dann auf Lorena. Raika ignorierte sie mal wieder.

»Mylady nimmt dein Begehren erfreut zur Kenntnis. Dein Unterricht wird nach Einbruch der Dunkelheit beginnen. Nun aber werden dich ihre Guardians nach Hause begleiten. Du wirst den Tag über ruhen, um dem Training gewachsen zu sein. Der Wagen wird dich rechtzeitig abholen und nach Gryphon Manor zurückbringen.«

»Ich muss den ganzen Tag über arbeiten«, protestierte Lorena. »Ich kann mich nicht einfach ins Bett legen.«

»Mylady wird das regeln. Du wirst diese Woche nicht zur Arbeit gehen.«

Lorena wagte nicht zu widersprechen, fragte sich aber im Stillen, wie lange das gut gehen konnte. So, wie sie ihren Chef einschätzte, würde es nicht lange dauern, bis sie ein Kündigungsschreiben auf ihrem Schreibtisch finden würde. Natürlich standen ihr Urlaubstage zu, und er konnte auch nichts sagen, wenn sie eine Krankmeldung vorlegte, aber wenn Mr. Holwood nicht mehr überzeugt davon war, dass einer seiner Mitarbeiter den nötigen Einsatz für die Bank brachte, dann fand sich schnell ein Grund, denjenigen loszuwerden.

Lorena schob den Gedanken beiseite und nickte Morla zu. »Ich werde mich bereithalten. Gute Nacht.«

Sie folgte den beiden Guardians zu der großen schwarzen Limousine mit den abgedunkelten Scheiben, die draußen bereitstand. Raika schloss sich ihnen an.

»Fährst du auch mit?«, fragte Lorena.

Raika schüttelte den Kopf, dass ihr schwarzes Haar flog. »Ich brauche noch ein wenig frischen Wind um die Nase. Ich nehme lieber mein Bike.«

Sie schwang ihr Bein über den Sattel der schweren Maschine und ließ den Motor aufheulen. Kies spritzte auf, als sie mit durchdrehenden Reifen anfuhr und dann die lang gezogene Auffahrt zum Tor hinunterschoss. Die hohen, schmiedeisernen Flügel, die auf beiden Seiten von steinernen Gryphons bewacht wurden, hatten sich gerade erst einen Spalt weit geöffnet, als Raika in wahnwitzigem Tempo nach draußen auf die Straße schoss. Ihr Jauchzen vermischte sich mit dem Lärm des Motors, dessen Röhren rasch in der Ferne verklang.

Lorena sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Raika war so wild und unbeherrscht. Tief in ihrem Innern war sie auf die ungezügelte Lebensfreude ein wenig neidisch. Wenn Raika nur nicht so skrupellos wäre. So etwas wie ein Gewissen kannte sie nicht.

»Wollen wir?« Sienna hielt Lorena die Wagentür auf und ging dann auf die andere Seite, um sich neben sie zu setzen. Maddison nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Der Fahrer war ein großer, vierschrötiger Mann mit kurz geschnittenem rotem Haar, der, wie alle Männer, die Mylady auf ihrem Herrensitz dienten, kaum jemals ein Wort verlor. Wie Carter blickte er mit regloser Miene vor sich hin und öffnete nur den Mund, wenn er direkt angesprochen wurde.

Was hatte die Lady mit diesen Männern gemacht, dass sie zu solch willenlosen Marionetten geworden waren? Lorena starrte auf seinen rasierten Nacken und unterdrückte ein Schaudern. Die Macht der Nachtmahre war großartig, aber auch erschreckend. Sie dachte an Noah, den charmanten Schwarzen, den sie vor einigen Monaten in einer Jazzbar in ihrem Wohnviertel kennengelernt hatte und der sich dann unter Raikas und ihrem Einfluss zu einem jähzornigen Schläger und schließlich zum Mörder seines besten Freundes gewandelt hatte. Raika behauptete zwar, sie habe Noah ihr Gift eingeflößt, doch Lorena war sich nicht sicher, ob nicht auch ihr Einfluss seinen Charakter verdorben hatte. Für Männer waren Nachtmahre eine gefährliche Gesellschaft. Zum Glück hatte sie das rechtzeitig erkannt, ehe sie Jason hatte schaden können. Nun würde ihm nichts mehr geschehen. Die Stichwunde an seiner Schulter würde heilen, und dann konnte er ein neues Leben beginnen, eine andere Frau finden, sich verlieben und eine ganz normale Familie gründen. Lorena gönnte es ihm. Gerade weil sie ihn so sehr liebte, verzichtete sie auf ihn.

Verdammt, warum schmerzte der Gedanke so schrecklich? Warum nur fühlte es sich so gar nicht gut an?

Sie sah die dunkle Landschaft an sich vorbeihuschen. Es herrschte das übliche englische Winterschmuddelwetter. Kalt und regnerisch. Keine weiß verschneite Winterlandschaft wie früher daheim in Deutschland. Für einen Moment gestattete sie sich, an ihre Kindheit zu denken, als sie noch eine ganz normale Familie gewesen waren. Als Lorena noch nicht gewusst hatte, was in ihr schlummerte. Als ihre Eltern noch gelebt hatten und Lucy, ihre kleine Schwester, die sie mit so viel Misstrauen und Eifersucht beobachtet hatte. Sie hatte so viel falsch gemacht. Und dann war Lucy verschwunden und ihre Eltern auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen.

Lorena versank in ihre Grübeleien, während der Wagen Oxford hinter sich ließ und Richtung London fuhr.

Lange Zeit hatte sie gedacht, Lucy wäre ermordet worden, doch nun hatte sie erfahren, dass ihre Schwester noch lebte. Dass dieser Councillor und seine Männer sie entführt und seitdem in ihrer Gewalt hatten. Sie mochte es sich gar nicht vorstellen. Lucy war erst drei Jahre alt gewesen, als sie verschwunden war. Und nun musste sie – Lorena begann zu rechnen – achtzehn Jahre alt sein? War das möglich? Ja, Lucy, ihre Schwester, die sie als kleines Kind das letzte Mal gesehen hatte, war nun eine junge Frau. Aber wo war sie? Wo hielt man sie gefangen, und wie ging es ihr?

Lorena hatte gefragt, gebohrt und gedrängt, doch keiner war bereit, ihr eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Weil die Nachtmahre selbst nicht genau wussten, wo sie war? Nicht einmal Mylady?

Lorena konnte es nicht sagen. Eines jedenfalls schwor sie sich, sie würde nicht nachgeben. Sie würde Lucy nicht noch einmal im Stich lassen!

Die schwarze Limousine erreichte den Stadtteil Notting Hill und bog in die Portobello Road ein. Vor dem kleinen, bunten Häuschen, in dessen Erdgeschoss Mr. Gordon Antiquitäten verkaufte, hielt er an. Es war vier Uhr am Morgen, und Lorena hoffte, dass keiner der Nachbarn um diese Zeit aus dem Fenster schauen und diesen nicht gerade gewöhnlichen Wagen vor ihrer Tür sehen würde. Zuerst stiegen die beiden Guardians aus und sahen sich aufmerksam um, ehe Sienna ihr die Tür aufhielt.

»Gute Nacht Lorena, ruh dich aus. Wir holen dich gegen sechs Uhr wieder ab.«

»Ich kann auch mit meinem Wagen nach Oxford kommen«, protestierte sie. »Ist das nicht weniger auffällig?«

Maddison lächelte grimmig. »Wir haben den Auftrag, deine Sicherheit zu gewährleisten. Wir werden uns keinen Fehler erlauben. Wir holen dich ab. Mach dir keine Sorgen wegen des Wagens. Wenn wir es nicht wollen, wird er den Menschen nicht auffallen. Ihr Geist ist so leicht zu beeinflussen«, fügte sie in verächtlichem Ton hinzu.

Lorena zog ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. »Dann gute Nacht und bis später«, sagte sie und zog sich in die dunkle Diele zurück. Dort wandte sie sich noch einmal um und sah dem Wagen nach, der im Nebel der Nacht verschwand. Kaum war er um die Ecke gebogen, schob sie die Tür wieder auf und trat auf den Gehweg hinaus. Prüfend ließ sie den Blick schweifen. »Wo versteckst du dich?«, fragte sie halblaut. »Denkst du, ich habe dein Motorrad nicht erkannt?«

Raikas Gestalt löste sich aus einem Durchgang schräg gegenüber und kam auf Lorena zu. »Du bist wachsamer, als ich gedacht hätte. Du hast dazugelernt. Das ist gut.«

»Lungerst du deshalb vor meiner Wohnung herum, um mich zu testen, oder gehörst du auch zu meinen Bewachern?«

Raika schüttelte den Kopf. »Ich hatte den Auftrag, ein Auge auf dich zu haben, aber ich bin mir nicht sicher, ob das noch gilt, nun, nachdem du offiziell in die Arme der Lady heimgekehrt bist und die Guardians dich bewachen, wobei ich mich frage, warum sie weggefahren sind. Denken sie, wenn du in deiner Wohnung bist, kann dir nichts mehr passieren? Das ist lächerlich! Wenn der Councillor oder einer seiner Wanderer vorbeikäme, wären eine Haustür und ein paar Schlösser sicher kein ernst zu nehmendes Hindernis.«

»Vielleicht sind noch andere Guardians in der Nähe?«, vermutete Lorena.

Raika sah sich um und zuckte dann mit den Schultern. »Vermutlich, aber deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte dich etwas wegen Jason fragen.«

»Was gibt es da zu fragen?«, gab Lorena schroff zurück. »Ich rufe jeden Tag im Krankenhaus an und erkundige mich nach seinen Genesungsfortschritten. Es geht ihm schon viel besser. Ich denke, er wird in einigen Tagen entlassen.«

Raika machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich dachte mir gleich, dass der Stich nicht so schlimm war, aber was ich eigentlich wissen will, ist, wirst du wieder mit ihm zusammenkommen?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht ... Aber nein! Ich habe mich entschieden.«

»Und Mylady? Hat sie nichts dazu gesagt?«

»Nein, hat sie nicht.«

Raika schwieg und kaute auf ihrer Unterlippe. »Seltsam. Sie sagte, dass es wichtig sei, dass du mit ihm zusammenbleibst, und dass eure Nachkommen ... Nun ja, ist ja egal. Das wollte ich nur wissen.« Sie wandte sich um und kehrte zu ihrem Motorrad zurück.

»Warum? Was hast du vor?«, rief ihr Lorena nach, doch da heulte schon der Motor auf, und das Motorrad schoss durch die Portobello Road davon. Mit einem mulmigen Gefühl sah Lorena ihr hinterher.

Lucy fuhr aus ihrem Dämmerschlaf auf. Sie schlief nie besonders tief und auch immer nur kurze Phasen. In ihrem Verlies mit der immer gleichen trüben Glühbirne an der Decke fehlte ihr der normale Tag-und-Nacht-Rhythmus. Nur ihre Verwandlung um Mitternacht gab der Eintönigkeit eine Struktur. Jetzt war es erst früh am Abend, doch irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Etwas war anders.

Lucy kroch auf allen vieren auf die Tür zu, bis die gespannte Kette an ihrem Bein sie aufhielt. Sie lauschte und versuchte, all ihre Sinne auf die Männer hinter der Tür zu konzentrieren. Wie so oft vernahm sie die plärrenden Laute eines Fernsehers oder eines Radios, deren Nachrichtensprecher ihre einzige Informationsquelle darstellten. Darüber erhoben sich die Stimmen zweier ihrer Bewacher. Sie stritten. Lucy konnte ihren Unmut spüren. Etwas passte ihnen nicht. Sie waren frustriert und zornig. Auf wen?

Auf die Gefangene und auf ihren Vorgesetzten, der sie diese Nacht zum Dienst eingeteilt hatte.

Warum? Was war an dieser Nacht anders als an anderen? Lucy überlegte und versuchte zu verstehen, was der Fernsehsprecher sagte.

Silvester? War heute Silvester? Ging wieder ein Jahr zu Ende?

Lucy überlegte. Ja, das konnte stimmen. Vor etwa zehn Nächten hatte sie es wieder gespürt. Die Nacht der Nächte. Die absolute Finsternis. Wintersonnwende. Ihre ganz besondere Nacht. Die Nacht der Eclipse, wie Lucy früher manches Mal genannt worden war. Lucy wusste nicht so recht, warum, aber es gefiel ihr.

Sonnenfinsternis.

Ja, sie wollte der Schatten sein, der die Sonne besiegte. Kaum einer Unterrichtsstunde war sie aufmerksamer gefolgt als der über die Sonnen- und Mondfinsternis, über die Sonnwenden und Tag- und Nachtgleichen. Sie hatte schon damals gespürt, dass diese Naturphänomene irgendetwas mit ihr zu tun hatten. Wie so oft machte sie sich Vorwürfe, nicht genauer nachgefragt zu haben. Früher, als sie noch bei Linda gelebt und täglich neue Dinge hatte lernen müssen. Sie hatte Bücher gelesen und war mit ihr durch die Natur gewandert, wo Linda ihr die Namen jeder Pflanze und jedes Tieres genannt hatte. Damals hatte Lucy es nicht richtig geschätzt, war oft frech und widerspenstig gewesen. Damals hatte sie auch nicht geahnt, dass diese Zeit nach ihrem dreizehnten Geburtstag jäh enden würde, um von da an ohne jede Abwechslung in diesem Verlies davonzurinnen.

Es war kurz nach ihrer ersten Wandlung gewesen. Das wusste sie noch genau, und sie ahnte, dass genau das der Grund dafür war, warum man sie Linda weggenommen und hierher an diesen trostlosen Ort gebracht hatte.

Aber was hatte man mit ihr vor? Wollte man sie einfach nur gefangen halten, bis sie irgendwann starb? Oder hatte sie noch eine andere Aufgabe zu erledigen?

Tief in ihrem Innern wusste Lucy, dass es so sein musste. Vielleicht hätte sie es anders auch nicht ausgehalten.

Lucy konzentrierte sich wieder auf die beiden Männer vor der Tür. Sie stritten miteinander. Worum ging es? Um Las Vegas, die glitzernde Stadt der Spieler in der Wüste von Nevada. Dorthin wollten sie, zur größten Silvesterparty weit und breit, doch sie durften ihre Gefangene nicht unbewacht lassen.

Lucy spürte, wie sich ihr Mund zu einem schadenfrohen Lächeln verzog.

Ach, ihr Armen. Bringe ich euch um euer Vergnügen? Das tut mir aber leid. Wie wäre es, wenn ihr mich mitnehmt und wir zusammen nach Las Vegas gehen würden? Wäre das keine gute Idee?

Lucy suchte nach den Gedanken der Männer, doch in ihrer normalen Gestalt hatte sie keine Chance, sie zu erreichen, und noch war die Nacht nicht hereingebrochen, sodass sie sich nicht wandeln konnte.

»Wenn du meinst, dass das gut geht, dann machen wir es so«, hörte sie den einen sagen.

»Es wird gut gehen, aber du musst schwören, dass niemals jemand davon erfährt. Wenn es dem Councillor zu Ohren kommen würde ...«

Der andere stöhnte. »Dann würde er uns in Stücke reißen!«

»Ja, das würde er, aber er ist weit weg in London. Also, abgemacht?«

»Abgemacht!«

Die beiden hatten sich ein Stück weit von der Tür zurückgezogen und ahnten sicher nicht, dass die Gefangene ihrem Gespräch mit ihrem scharfen Gehör folgen konnte. Oder es interessierte sie nicht. War das Mädchen doch angekettet und konnte niemandem gefährlich werden.

Sie hörte, wie sich die Schritte der beiden Männer entfernten. Dann war es still. Nicht einmal der Fernseher lief. Es war so totenstill, dass Lucy ihren eigenen Atem hören konnte und ein fernes Rumpeln, das sich durch den Fels fortzupflanzen schien.

Und nun?

Ihre Wächter waren fort, doch konnte ihr das irgendwie nützen? Nicht, solange es ihr nicht gelang, sich von der Kette zu befreien. Aber wie? Lucy zerrte daran. Sie hatte es monatelang immer wieder versucht und dann frustriert aufgegeben.

Die Nacht brach herein, und Lucy wandelte sich, um mit den Kräften des Nachtmahrs noch einmal den Kampf gegen ihre Fesseln aufzunehmen.

Vergeblich.

Schwer atmend ließ sie sich auf das Bett sinken. Da kehrten plötzlich die Schritte zurück. Lucy hob lauschend den Kopf. War die Party schon zu Ende? Das konnte nicht sein. Es war noch nicht einmal Mitternacht, und doch konnte sie die Schritte einer der Männer hören.

Nein, es klang anders. Unsicher und zögerlich. Das war keiner ihrer üblichen Bewacher. Diesen Mann kannte sie noch nicht. Lucy sog prüfend die Luft ein und sandte die Fühler ihres Geistes aus, um seine Gedanken aufzufangen.

Er war jung. Erstaunlich jung. Vermutlich kaum älter als sie selbst, und er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er wusste genau, dass das, was er hier tat, nicht richtig war, und dass auch er Ärger bekommen würde, wenn die Geschichte aufflog. Aber offensichtlich hatte er sich gegen die beiden vergnügungssüchtigen Bewacher nicht wehren können und war nun dazu verdammt, in der Silvesternacht vor dieser eisernen Tür Wache zu schieben. Lucy ahnte, wie sein Blick immer wieder zur Uhr wanderte, um den zäh dahinschleichenden Zeiger zu verfluchen. Seine Furcht roch köstlich, und sie sog den Duft tief in sich ein. Im Geist verfolgte sie sein unruhiges Auf und Ab, das ihn jedes Mal gefährlich nah zu der Tür brachte, die zwischen ihnen aufragte. Vielleicht ließe sich da etwas machen.

Lucy richtete sich gerade auf. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Mann dort draußen, auf seine Wünsche und Ängste.

Es war geradezu lächerlich einfach! Er war so jung. So unerfahren und unschuldig. Sein Geist lag wie ein offenes Buch vor ihr.

Komm, komm zu mir!

Sie spürte, wie ihre lockende Stimme in ihn eindrang. Abrupt blieb er stehen. Noch glaubte er, er bilde sich lediglich etwas ein. Er hielt all die Geschichten und Warnungen, die er über die Mahre gehört hatte, für Schauermärchen und dachte, er sei aus dem Alter raus, in dem man an solche Wunderdinge glaubte.

Ein Fehler, mein Guter, das wirst du schon bald erfahren. Komm, nur ein Stückchen näher zur Tür, dann können wir uns besser unterhalten!

Er kämpfte, und wider Willen stieß er laut Worte des Protests aus.

»Ich darf nicht näher an die Tür, das haben James und Anthony mir eingeschärft.«

Er kam sich selbst albern vor, wie er laut Selbstgespräche führte. Lucy spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und an seinen Schläfen herabrann.

Verboten, ja und? Bist du ein kleines Kind? Was soll denn passieren? Die Tür ist fest verschlossen, also komm, trau dich!

»Wer spricht da?«

Ich heiße Lucy, und ich erzähle dir noch mehr, wenn du ein wenig näher kommst.

»Lucy? Bist du die Gefangene? Ich darf nicht mit dir sprechen!«

Trotz seiner Worte spürte sie, wie er Stück für Stück näher kam, bis er ganz dicht hinter der Tür stand, den Blick auf das lackierte Metall vor seiner Nase gerichtet.

»Was ist denn Schlimmes dabei?«, schnurrte sie. »Ich bin hier drin und du da draußen. Da kann doch nichts passieren. Ich bin so schrecklich einsam in dieser Nacht, in der alle feiern und fröhlich sind. Darf ich da nicht wenigstens ein paar freundliche Worte hören?«

Sie spürte, wie er in ihren Händen schmolz. Sie konnte ihn kneten wie weiches Wachs. Ihr Mitleid für diese armselige Kreatur schlug in Verachtung um. Es war zu leicht.

»Du hast recht. Du tust mir leid. Es gibt viele Geschichten über dich, weißt du. Über das arme, schöne Mädchen, das hier unten gefangen gehalten wird.«

»Willst du wissen, ob es wahr ist?«

»Was?«

»Ob ich so schön bin, wie man sich erzählt.«

Sie spürte, wie er schluckte. Seine Handflächen ruhten auf dem kalten Metall. Seine Stirn sank nach vorn, bis auch sie die Tür berührte.

»Sie sagen auch, dass du gefährlich bist«, murmelte er, doch sie konnte seine Worte laut und klar in ihrem Geist hören.

»Ein achtzehnjähriges Mädchen, das an die Wand gekettet ist?«, spottete sie. »Ja, es ist bestimmt höllisch gefährlich, einen Blick auf mich zu werfen!«

»Das haben James und Anthony gesagt«, beharrte er.

»Dann lauf am besten so weit weg, wie du kannst«, riet ihm Lucy, doch der junge Mann rührte sich nicht von der Stelle.

»Vielleicht wollen sie dir meinen Anblick einfach nicht gönnen«, fügte sie hinzu. »So wie sie nur sich selbst die große Silvesterparty in Las Vegas gönnen.«

Stille. Lucy spürte, wie er mit sich rang, doch sie ahnte, dass sie bereits gewonnen hatte, und so wunderte es sie nicht, dass kurz darauf ein leises Schaben erklang und in der Luke der Tür ein Gesicht mit großen braunen Augen erschien, die sich voll Staunen auf die Gestalt im Verlies richteten.

»Einen schönen guten Abend«, raunte sie. »Wie du bereits weißt, heiße ich Lucy ... Und wie ist dein Name?«

»Ben«, stieß er heiser hervor. »Ich heiße Ben.«

Kapitel 2

DER COUNCILLOR

Die Gulfstream beschleunigte auf der regennassen Startbahn. Der Duke of Roxburgh ließ sich in den weichen Ledersessel drücken und schloss die Augen, bis er spürte, dass das Fahrwerk mit einem letzten Rumpeln den Asphalt verließ und die Nase seines Privatjets sich dem wolkenverhangenen Himmel entgegenreckte. Das Flugzeug gewann rasch an Höhe. Nebelschwaden huschten vorbei. Dann umhüllten dichte Regenwolken den silbernen Körper, dessen spitze Nase sich nach Westen richtete. In zehn Stunden würde er Las Vegas erreichen.

Er sah sich um. Sechs seiner Männer begleiteten ihn. Wie stumme Schatten saßen sie hinter ihm in den luxuriösen hellen Ledersitzen. Auf den ersten Blick hätte man sie für die typischen Geschäftsleute der Londoner City halten können, die sich von den weißen Hemden über die schwarzen Anzüge bis zu den glänzenden Lederschuhen glichen wie ein Ei dem anderen. Ihre Gesichtszüge waren durchschnittlich, die Wangen sorgfältig rasiert, die Haare kurz geschnitten. Doch der Councillor wusste um die Kampfesstärke seiner Warriors, die sowohl mit dem Schwert und anderen Waffen vergangener Zeiten umgehen konnten als auch mit modernen Schusswaffen. Nun, sie hatten ja auch genug Zeit gehabt, sich ihre Kampfeskiinste anzueignen, dachte er mit einem Schmunzeln. Kein Mensch ahnte, wie alt und erfahren diese Männer waren.

Auch dem Duke sah man sein Alter nicht an, obgleich die Zeit an seinem Gesicht ebenfalls nicht ganz spurlos vorbeigegangen war. Auf den ersten Blick hätte man ihn vielleicht unauffällig nennen können, ein typisch britischer Landadeliger mittleren Alters, lediglich mittelgroß mit grauen Augen und grauem Haar, doch niemand, den der Duke einmal ins Auge fasste, konnte sich seinem stahlharten Blick entziehen, der jedes noch so tiefe Geheimnis zu entdecken schien und jeden Willen zu brechen imstande war.

Winston Campbell ließ die Lider wieder sinken und sandte seine Gedanken voraus nach Westen. Zur Glitzerstadt in der Wüste, Las Vegas, in der wie in kaum einer anderen Stadt heute Nacht das neue Jahr gefeiert werden würde. Doch das interessierte ihn nicht. Sollten die Menschen feiern, ihm stand etwas anderes im Sinn.

Eine schmächtige, blonde Gestalt stieg in seinem Geist auf. Es war mehr als drei Jahre her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er erinnerte sich vor allem noch an ihren zornigen Blick, in dem bereits die Macht zu lesen war, die sie über die Männer besitzen würde, wenn man sie frei herumlaufen ließ. Natürlich hatte er auch ihre Schönheit gesehen und die Kraft der Verführung gespürt, doch er hatte im Lauf seines langen Lebens genug Stärke gesammelt, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Nein, mit ihm hatte der junge Nachtmahr kein so leichtes Spiel wie mit den normalen Männern, die ihr in Scharen zu Füßen liegen würden, sollte sie welche zu Gesicht bekommen.

Es war nicht einfach gewesen, Männer zu finden, die er ruhigen Gewissens mit ihrer Bewachung betrauen konnte. Trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit war sie eine Gefahr, das wusste er. Der Councillor war nicht so leichtsinnig, die Macht der Mahre zu unterschätzen. Man brauchte ganz besondere Waffen, sie zu besiegen. Viele Jahre hatte er geglaubt, die Waffe gefunden zu haben, doch der Triumph, der ihn so lange in eine beschwingte Stimmung versetzt hatte, war verflogen.

Eclipse, so hatte er das Mädchen genannt, doch nun wusste er, dass er sich geirrt hatte. Den Nachtmahren war es gelungen, ihn an der Nase herumzuführen. Seine Finger schlossen sich unwillkürlich zur Faust, doch er wusste, dass er auch sich selbst Vorwürfe machen musste. Er war zu leichtgläubig gewesen. Hatte sich nicht selbst darum gekümmert. Nun war es also an ihm, den Fehler zu korrigieren und den Nachtmahren den tödlichen Schlag zu verpassen. Für einige Augenblicke gab er sich der verlockenden Vision hin, all ihre Hoffnungen vernichtet zu haben. Er weidete sich in seiner Vorstellung an ihrem Entsetzen, wenn sie erkannten, dass sie dem Untergang geweiht waren. Doch noch war es nicht so weit. Noch hatte er die wahre Eclipse nicht in Händen, noch wusste er nicht, wer ihr Erwählter war. Damit würde er sich später befassen. Im Augenblick musste er sich überlegen, was er mit dem Mädchen anfangen sollte, das nicht mehr die Königin war, sondern nur noch die kleine, zornige Lucy. War sie nun überflüssig geworden, oder konnte sie ihm auf andere Weise dienen? Vielleicht war es noch immer möglich, sie als Trumpfkarte zu verwenden. Ihm kam eine Idee, die ihm gut gefiel.

Ja, daraus könnte man vielleicht etwas machen. Er musste genauer darüber nachdenken. Er hatte Zeit. Viele Stunden Zeit, bis der Jet in Las Vegas gelandet sein und er das geheime Versteck tief in den Mauern des Hoover Dam erreicht haben würde.

»Hallo Jason.«

Er lag mit geschlossenen Augen im Bett und döste vor sich hin, als die Stimme ihn erschaudern ließ. Für einen winzigen Moment dachte er, Lorena wäre gekommen. Sie würde in ihrer unwiderstehlichen Gestalt als Nachtmahr dort in der Tür stehen, ihn verführerisch anlächeln und ihm sagen, sie wäre endlich zur Besinnung gekommen. Nichts könne sie jemals wieder von seiner Seite reißen. Sie liebe ihn über alles und würde ihr Leben mit ihm verbringen.

Doch es war nicht Lorena, die dort in der offenen Tür stand. Langsam öffnete Jason die Augen und betrachtete die umwerfend schöne Frau, die sich ihrer Wirkung wohl bewusst war. Mit ausgestellter Hüfte stand sie da, die sinnlichen Lippen ein wenig geöffnet. Ihr wundervoll schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern.

»Hallo Raika«, sagte Jason müde. »Was willst du?«

Obgleich er sie nicht dazu aufforderte, kam sie herein, schloss die Tür und trat an sein Bett. »Ich komme, um nach dem Patienten zu sehen. Macht man das nicht so? Wie geht es dir? Was ist mit deiner Schulter?«

Jason setzte sich mit einer Grimasse auf. »Tut noch weh, wird aber wieder.«

Raika ließ sich auf sein Bett plumpsen. »Na ja, vielleicht ist dir das eine Lehre.«

»Was für eine Lehre?«

Raika rollte mit den Augen. »Dich nicht in Sachen einzumischen, die dich nichts angehen und denen du nicht gewachsen bist.«

»Der Kerl ist mit einem Messer auf Lorena losgegangen«, brauste Jason auf.

Raika hob nur die Schultern. »Na und? Sie ist ein Nachtmahr! Hast du das immer noch nicht kapiert? Sie braucht keinen Mann, der sie beschützt und sich als Held aufspielt – und den sie dann retten muss.«

Jason ließ sich in seine Kissen zurücksinken. »Danke, das war deutlich. Muss ich sonst noch etwas wissen, oder war’s das?«

Raika lächelte. »Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt. Freu dich lieber, dass ich hier bin und dir deine Langeweile vertreibe. Gibt es einen grässlicheren Ort als ein Krankenhaus?« Sie rümpfte angewidert die Nase, als sie ihren Blick durch das blässlich grün gestrichene Zimmer schweifen ließ.

Jason betrachtete sie. Er fühlte, wie sein Herz schneller schlug und sein Körper aus seinem Dämmerschlaf erwachte. Er wollte es nicht, doch er konnte es nicht verhindern, dass er auf diese Frau so reagierte.

Nein, korrigierte er sich, nicht auf die Frau, auf den Nachtmahr in ihr, der eine seltsame Macht über Männer besaß. 

Die gleiche Kraft, die auch in Lorena wohnte.

Jason stemmte sich wieder hoch. »Warum bist du hier? Hat Lorena dich geschickt?« Er konnte selbst das Flehen in seiner Stimme hören und dachte, Verachtung in Raikas Blick lesen zu können ... Oder bildete er sich das nur ein?

Raika setzte die Musterung des Zimmers fort. »Nein, hat sie nicht. Ich habe sie nicht um Erlaubnis gebeten, dich besuchen zu dürfen. Muss ich ja wohl auch nicht, oder?«

Enttäuscht schüttelte Jason den Kopf. »Nein, natürlich nicht, ich dachte nur ...«

»Sie habe es sich anders überlegt? Nein, hat sie nicht.«

»Hast du mit ihr gesprochen?«, wollte er wissen.

Raika nickte. »Ja, noch vor wenigen Stunden, aber sie will mit mir nicht über das Thema reden.«

»Das Thema bin ich und unsere Beziehung, die sie mit diesen unsinnigen Argumenten beendet hat ...« Jason seufzte.

»Richtig, und noch ist sie leider nicht zur Vernunft gekommen, aber das wird schon wieder. Und wenn nicht«, fügte Raika mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen hinzu, »dann hast du ja immer noch mich.«

Jason schloss mit einem gequälten Ausdruck die Augen. »Herr im Himmel, steh mir bei!«

Die schwarze Limousine holte Lorena pünktlich ab und brachte sie nach Gryphon Manor vor den Toren von Oxford. Düster ragten die grauen Steinmauern des Herrenhauses in den Nachthimmel, dessen Sterne sich heute hinter dichten Wolken verbargen. Zu ihrer Überraschung entdeckte Lorena Raikas Motorrad am Rand der Auffahrt. Und da kam auch die Besitzerin schon über den Rasen auf sie zu.

»Hallo Lorena.«

»Guten Abend Raika. Was tust du schon wieder hier? Hast du dich doch noch entschlossen, das Training mitzumachen?«

Raika hob abwehrend die Hände. »Himmel nein, aber ich sehe mir gerne an, wie du schwitzt und dich abmühst.«

»Du meinst, erfolglos abmühst? Hoffst du, ich werde mich lächerlich machen? Den Gefallen werde ich dir nicht tun!«

»Habe ich ja auch gar nicht gesagt«, gab Raika erstaunlich versöhnlich zurück.

Lorena folgte den beiden Guardians in die Halle, wo sie von Morla erwartet wurden. Lorena fragte sich wieder einmal, was Morla war. War auch sie ein Nachtmahr? Sie sah so unscheinbar und farblos aus, dass man sie fast übersehen konnte, wie sie da in ihrem formlosen schwarzen Gewand in der Ecke stand.

Ein Schmerz fuhr durch Lorenas Geist. Sie fühlte Morlas Blick auf sich ruhen. Offensichtlich verfügte sie wie Mylady über die Gabe, Gedanken zu lesen. Sie würde in Zukunft vorsichtiger sein müssen und ihre Überlegungen lieber nur noch außerhalb des Herrenhauses anstellen.

Morla glitt ihnen lautlos entgegen. »Mylady ist über dein Kommen erfreut und wünscht, dass ihr sogleich mit dem Training beginnt.«

Lorena sah an sich herunter. Sie trug Jeans und einen weiten Strickpullover über einer blau-weiß gestreiften Bluse. Oh Gott! Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie betrachtete die beiden Guardians in ihrer engen Lederkluft, die robust und praktisch schien und dennoch die weiblichen Formen vorteilhaft zur Geltung brachten. So etwas wie Begehren stieg in ihr auf.

»Ich möchte auch solche Ledersachen!«, rief sie unwillkürlich aus. »Ich meine, für die nötige Bewegungsfreiheit«, fügte sie rasch hinzu, als sie Raikas breites Grinsen sah, die ebenfalls keine Mühe zu haben schien, Lorenas Gedanken zu folgen. Die beiden Guardians dagegen schienen nichts Anstößiges an dieser Forderung zu finden. Maddison schickte den Butler mit dem entsprechenden Auftrag davon, und schon bald kam er mit einem schwarzen Bündel zurück und überreichte es Lorena mit einer knappen Verbeugung. Sienna führte sie in ein kleines Nebenzimmer, wo sie sich umkleiden konnte. Lorena wandelte sich zu ihrer Nachtmahrgestalt. Rasch schlüpfte sie aus Pulli und Jeans, die ihr in diesem Körper nicht mehr passten, und zog sich das knappe Lederoberteil über. Sie legte den kurzen Rock an, der nur wenig ihrer Oberschenkel bedeckte, dann schlüpfte sie in die kniehohen Stiefel, die wie angegossen passten. Ihre blonden Locken schlang sie zu einem Knoten und befestigte ihn mit einem Band. Fertig!

Lorena trat vor den hohen Spiegel und drehte sich langsam um die eigene Achse. Sie spürte ein seltsames Vergnügen, als sie sich betrachtete. Wie wunderschön sie war und wie unglaublich sexy sie in dieser Lederkluft aussah. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie Jason das wohl finden würde, und verbannte ihn sogleich wieder aus ihrem Kopf. Vermutlich würde es ihm gar nicht gefallen, sie so zu sehen, redete sie sich ein. Er liebte Lorena, die ganz normale Frau, die in Kostüm oder Anzug jeden Morgen zur Arbeit in die City fuhr, und nicht dieses Wesen dort im Spiegel. Dieser fleischgewordene Männertraum.

Egal.

Jedenfalls sah sie fantastisch aus, und sie würde sich mit dem Schwert gut schlagen! Selbstzufrieden ruhte ihr Blick auf dem Spiegelglas, bis sie ein Kichern herumfahren ließ.

»Ja, du hast allen Grund, mit deinem Aussehen zufrieden zu sein«, bestätigte Raika.

»Was fällt dir ein?«, schimpfte Lorena. »Kannst du nicht anklopfen?«

»Warum? Ich bin doch froh zu sehen, dass du ein echter Nachtmahr bist. Und nun zeig den beiden Mädels hier, was für eine Kämpferin in dir steckt!«

Mit vergnügter Miene begleitete Raika Lorena in einen Raum im Untergeschoss des Herrenhauses, den sie bisher noch nicht betreten hatte.

»Voilà«, sagte sie mit einer ausladenden Handbewegung. »Es ist angerichtet.«

»Wow«, stieß Lorena aus und sah sich staunend um. Der riesige Raum hätte mit seinem Parkettboden und der langen Spiegelfront auch ein Tanzsaal sein können. Nur die zahlreichen Waffen an den Wänden zeigten, wozu er diente. Lorena strich an den Schwertern und Krummsäbeln entlang. Ihr Blick glitt über orientalisch anmutende Dolche, lange Spieße und Schilde aus verschiedenen Epochen. Vor einer kunstvoll bearbeiteten Armbrust blieb sie stehen.

»Ihr macht mit eurer Waffensammlung ja dem Tower Konkurrenz«, sagte sie, um die Anspannung zu brechen, die sie erfasst hatte.

Maddison verzog keine Miene, doch Sienna lächelte. »Man muss mit allem vertraut sein, was der Gegner aufbietet.«

»Die Wanderer bekämpfen euch mit solchen mittelalterlichen Waffen? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Warum benutzen sie keine Pistolen oder Gewehre?«

»Sicher verfügen sie auch über moderne Waffen«, gab Maddison Auskunft. »Doch ihre Tradition liegt im Schwertkampf, und deshalb müssen wir trainieren, um ihnen ebenbürtig zu sein und sie in ihrer eigenen Disziplin besiegen zu können.«

Sie nahm sich ein Schwert mit goldziseliertem Griff von der Wand und warf Sienna eine ebenso kunstvoll verzierte Waffe zu, die sie geschickt auffing.

»Wie wäre es mit einer kleinen Demonstration zu Beginn?«, fragte Maddison. Lorena nickte begierig und wich bis in die Ecke zurück, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Raika gesellte sich zu ihr. »Na dann legt mal los, Mädels, und zeigt, was ihr so drauf habt.«

Die beiden Guardians brauchten keine Aufforderung. Sie hoben grüßend die Schwerter, neigten die Köpfe und stürzten dann aufeinander zu. Klirrend trafen die Klingen mit solcher Wucht aufeinander, dass Lorena sich nicht vorstellen konnte, wie man solch einen Schlag abfangen konnte, ohne die Waffe aus der Hand geschleudert zu bekommen. Doch die beiden Guardians schienen damit keine Schwierigkeiten zu haben. Sie wirbelten herum, duckten sich, schlugen wieder zu oder wichen blitzschnell vor dem Streich der anderen zurück. Dann schnellten sie wieder vor, drehten einen Salto rückwärts, liefen zwei schnelle Schritte an der Wand hoch und sprangen mit einem Überschlag wieder zurück. Immer rascher wurde der Tanz der Klingen. Die Frauen glitten so rasend schnell durch den Saal, dass Lorena ihnen kaum mit dem Blick folgen konnte. Sie wusste auch nicht zu sagen, welche der beiden Nachtmahre die Oberhand hatte. Bedrängte Maddison Sienna oder hatte diese sich nur zurückfallen lassen, um sie in eine Falle zu locken? Da entfaltete Sienna ihre Flügel und stieß in die Luft. Maddison folgte ihr sofort, und so tobte der Kampf in der Luft weiter. Die beiden schienen über die Decke zu tanzen, stießen sich ab und kehrten pfeilschnell zum Boden zurück, nur um gleich wieder die Klingen zu kreuzen.

Dann war es vorbei. Lorena konnte nicht ausmachen, wie sie sich verständigten, doch sie blieben plötzlich beide stehen und senkten die Schwerter. Dann falteten sie ihre Schwingen ein und wandten sich ihrem Publikum zu.

Begeistert klatschte Lorena in die Hände. »Umwerfend! Absolut unglaublich.«

»Ja, das war nicht schlecht«, fügte Raika hinzu.

Die Guardians nickten ihren beiden Zuschauern zu, und sogar Maddison lächelte. Sie schienen weder verschwitzt noch außer Atem zu sein.

Maddison ging zur Wand, nahm eines der einfachen Schwerter aus seiner Halterung und reichte es der neuen Schülerin. Lorena schloss die Finger um den kalten Griff und hob das Schwert langsam an, dass die Lichtreflexe der Deckenlampen über die Klinge huschten. Es war gar nicht so schwer, wie es aussah, und Lorena hatte den Eindruck, es wäre gut ausbalanciert, soweit sie das beurteilen konnte.

Raika kam neugierig näher und strich mit dem Daumen über die Klinge. »Die ist ja gar nicht richtig scharf«, sagte sie enttäuscht.

Sienna lächelte. »Ja, und das wird mein Schwert auch nicht sein, wenn ich mit Lorena übe. Unsere hier dagegen sind mehr als nur scharf!«

Sie zog ein seidig schimmerndes Tuch von einem Holzständer mit unterschiedlich geformten Krummsäbeln, warf es in die Luft und machte eine schnelle Bewegung mit ihrem Schwert. Zwei Hälften des Stoffs segelten sauber in der Mitte getrennt zu Boden.

Lorena schluckte. »Mir ist es ganz recht, wenn wir mit stumpfen Waffen beginnen«, versicherte sie.