Naked at Lunch - Mark Haskell Smith - E-Book

Naked at Lunch E-Book

Mark Haskell Smith

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Beschreibung

Ein Mann zieht blank

Worin liegt der Kick, auf einem Kreuzfahrtschiff mitten unter 2.000 Nudisten einen Drink zu nehmen – und sich dann für den textilfreien Yoga-Kurs anzumelden? Wie fühlt es sich an, nackt zu dinieren? Ist die Aufmerksamkeit des Kenners bei der hüllenlosen Weinverkostung schärfer denn je? Und ist es überraschend, dass bei einer Nackt-Trekkingtour in Österreich alle Entgegenkommenden freundlich grüßen? Im Selbstversuch hat Mark Haskell Smith sich ein Jahr lang in die Welt der Nudisten begeben und ihre Undresscodes, ihren Lifestyle und ihre Philosophie erforscht. Stets unbekleidet, versteht sich. Ob nackt oder verhüllt – dieses Buch wird Ihr Leben freier machen ...

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Das Buch

Worin liegt der Kick, auf einem Kreuzfahrtschiff mitten unter 2000 Nudisten einen Drink zu nehmen – und sich dann für den bordeigenen textilfreien Yoga-Kurs anzumelden? Wie fühlt es sich an, nackt zu dinieren – während alle Oberkellner angezogen sind? Ist die Aufmerksamkeit des Kenners bei der hüllenlosen Weinverkostung schärfer denn je? Und ist es überraschend, dass bei einer Nackt-Trekking-Tour in Österreich alle Entgegenkommenden freundlich grüßen? Mark Haskell-Smith, der eine ganz eigene Auffassung von Enthüllungsjournalismus vertritt, wollte es wissen. Im Selbstversuch hat er sich ein Jahr lang in die Welt der Nudisten begeben und ihre Undress-Codes, ihren Lifestyle und ihre Philosophie erforscht. Stets unbekleidet, versteht sich. Haskell-Smith seziert die Welten der Nackten und der Angezogen mit all ihren verblüffenden Momenten und ohne Vorbehalte. Ob nackt oder verhüllt – dieses Buch wir Ihr Leben freier machen …

Der Autor

Mark Haskell Smith arbeitet als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist und unterrichtet an der University of California Riverside. Neben seinen Romanen ist er in Amerika vor allem mit seinem Sachbuch Heart of Dankness bekannt geworden, für das er sich in die Marihuana-Homegrown-Szene begeben hat. Zu seinen Einflüssen zählt er Richard Brautigan, Pedro Almódovar und The Eels. Smith lebt in Los Angeles und liebt mexikansiches Essen.

Mehr Infos zum Autor finden Sie unter www.markhaskellsmith.com

MARK HASKELL SMITH

NAKED ATLUNCH

EIN NACKTFORSCHER IN DERWELT DER NUDISTEN

Aus dem Amerikanischenvon Jan Schönherr

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe NAKED AT LUNCH – A RELUCTANT NUDIST’S ADVENTURES IN THE CLOTHING-OPTIONAL WORLD erschien 2015 bei Grove Press, New York.

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm sowie den monatlichen Newsletter. Weitere News unter facebook.com/heyne.hardcore

Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2016

Copyright © 2015 by Mark Haskell Smith

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: total italic / Thierry Wijnberg, Amsterdam / Berlin

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-17690-7V001

www.heyne-hardcore.de

Für David L. Ulin und Tod Goldberg

»Man kommt nackt zur Welt, der Rest ist Drag.«

– RuPaul

INHALT

Willkommen an Bord

Interview mit einem Nudisten

Haut zu Markte

Gymnophobie

Eine ganz kurze Geschichte der Anfänge Nichtsexueller Gemeinschaftlicher Nacktheit, Teil Eins

Ich hab noch einen Cockring in San Francisco

Der Aufstieg amerikanischer Nudistenclubs

Vera Playa

Der Mann in der Netzwindel

Die »Naked European Walking Tour«

Sex und der ungebundene Nudist

Formschnitt im Schritt

Florida sieht nicht ohne Grund aus wie ein Penis

Freie Strände

Die dunklen Geheimnisse der Lisa Lutz

Der Untergang der Nudistenclubs

Weltnacktwasauchimmertag

Spielverderber

Fashionista

Schöne nackte Welt

Nackt auf hoher See

Naked at Lunch

Danksagung

Auswahlbibliografie

Quellenangaben

WILLKOMMEN AN BORD

»Wir sind weit genug weg, und Sie können jetzt …«

Eine Pause, so als wüsste der Kreuzfahrtdirektor nicht recht, wie er das nennen sollte, was gleich passieren würde. Dann: »… eine entspannte Atmosphäre genießen.«

Die Ansage hallte noch durchs Schiff, da ging auch schon das große Sacklüften los. Shorts und Shirts fielen zu Boden, und Penisse baumelten in der südfloridianischen Sonne. Die Erlaubnis war erteilt worden. Pobacken durften endlich ungehindert vor sich hin wackeln, und aus dem Joch von Bluse und BH befreite Brüste drängten an die frische Luft, um sich von der sanften Tropenbrise liebkosen zu lassen. Auf einem Schiff. Eintausendachthundertsechsundsechzig Nudisten lebten den Traum von Textilfreiheit auf einem riesengroßen Schiff.

Nicht, dass nicht einige schon vor der Freigabe durch den Kreuzfahrtdirektor praktisch nackt gewesen wären. Viele hatten sich bereits in verschiedensten Stufen der Entkleidung befunden, in ungeduldiger Erwartung, endlich ganz die Hüllen fallen zu lassen. Ein skeletthafter Mann um die achtzig schlenderte in nichts als einem fluoreszierenden Tanga durchs Schiff, wobei die schlaffe Haut ihm in Kaskaden von den Knochen hing wie leberfleckige Zuckerglasur. Ein Hüne mit einem Brustkorb wie ein Fass – er sah wirklich aus, als hätte er ein Fass verschluckt – trampelte mithilfe eines Hochleistungs-Gehstocks in einem läppischen Lendenschurz übers Lido-Deck. Im Whirlpool schlüpften ein paar Leute bereits klammheimlich aus der Badehose, während die weniger rebellischen leicht bedröppelt am Pool rumlungerten und auf grünes Licht warteten. Schließlich waren sie Nudisten. Und sie hatten ordentlich Kohle hingelegt, um sich hier nackt zu vergnügen. Als das OK kam, wurde also nicht lange gefackelt.

Ich war noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen oder hatte mich auch nur für so was interessiert. Aber das war auch nicht irgendeine Kreuzfahrt, sondern die Big Nude Cruise, eine Charterfahrt im Auftrag von Bare Necessities, dem führenden »nakation«-Reiseunternehmen1. Und nicht nur das: Die Fahrt fand auf der Nieuw Amsterdam statt, einem der luxuriösesten Schiffe der Holland America Lines. Das hier war keine im tiefsten Wald gelegene Wohnmobilsiedlung für Nackedeis oder die Hippie-Wiese unten am See, sondern die Deluxe-Version nichtsexueller, gemeinschaftlicher Nackterholung. Also von Nudismus. Oder auch Naturismus. Kommt drauf an, wen man fragt. Es gibt diverse Theorien, was die beiden Begriffe eigentlich genau bedeuten, und historisch gesehen ist es tatsächlich nicht ganz dasselbe. Aber Tatsache war erst mal, dass ich auf einem Schiff mit beinahe zweitausend Menschen steckte, die keinen Fetzen Kleidung am Leib hatten.

Subkulturen faszinieren mich eigentlich immer – die Deadheads oder Juggalos zum Beispiel, die jeweils eine ganz eigene Kultur daraus gemacht haben, ihren Lieblingsbands auf Tour nachzureisen. Aber auch die Hobby-Ingenieure, die in ihren Garagen Roboter basteln, die Heim-Brauer, die in der Küche mit Bier experimentieren, oder die Foodies, die sich in illegalen Restaurants in Privathäusern zum Essen treffen. Menschen machen komische Sachen. Sie sammeln Briefmarken und beobachten Züge, sie ziehen ihre Haustiere an wie berühmte Filmfiguren, sie verkleiden sich selbst wie Anime-Helden, und sie fahren in Tierkostümen auf Conventions und haben Gruppensex in »Plüschhaufen«. Um all diese Aktivitäten bilden sich eigene Kulturen, Gruppen mit speziellem Jargon, den Außenseiter nicht verstehen. Besonders faszinieren mich Subkulturen, die als moralisch zwielichtig oder halblegal gelten; Leute, die ihrer Leidenschaft frönen, obwohl sie dafür in den Knast gehen oder ausgegrenzt werden könnten. Ich kann mir nicht helfen, ich mag sie einfach, diese Überzeugungstäter. Diese Fanatiker.

Mein erstes Sachbuch handelte von der Subkultur der Cannabis-Feinschmecker und Untergrundbotaniker, die sich Marihuana-Zuchtsorten aus der ganzen Welt beschaffen. Um Cannabis rankt sich eine reichhaltige Geschichte voll bunter Gestalten, die gegen erdrückende Drogengesetze rebellieren und fröhlich auf gesellschaftliche Normen scheißen. Von dort war es kein großer Sprung zur Neugier auf die Welt der Nudisten. Oder in den Worten meiner Frau: »Erst bist du ständig bekifft, und jetzt willst du nackt rumlaufen? Kannst du nicht mal ein Buch über Käse schreiben? Du magst doch Käse!«

Der Schiffslautsprecher knackte, und der Kapitän fügte als kleine Einschränkung hinzu: »Bitte denken Sie daran, sich in den Essensbereichen etwas überzuziehen.«

Das hinderte allerdings niemanden daran, auch dort nackt aufzukreuzen. Oder in den Bars. Oder überhaupt irgendwo. Sie waren nackt an Deck, im Bordkino, der Bibliothek, dem Casino und an der Schlange vorm Büfett. In der Pianobar drängten sich Nudisten und wünschten sich Songs von Elton John und Billy Joel. Das große Showtheater war voll von nackten Frauen und Männern. Sie waren in den Aufzügen und auf den Gängen, sie spielten Tischtennis, stemmten Gewichte im Kraftraum und schlürften Cocktails am Pool.

Im Fitnesscenter fragte eine Frau die bordeigene Yoga-Lehrerin, ob man sich für die Yoga-Stunden anziehen müsse. Die Lehrerin musterte sie verständnislos. Dann, als ihr die ganze Bedeutung der Frage aufging – ich schätze mal, sie sah plötzlich einen Raum voller Nackter beim Herabschauenden Hund vor sich –, antwortete sie mit panischem Gesichtsausdruck: »Oh, in der Stunde? Ja, anziehen! Unbedingt anziehen!«

Doch außerhalb der Yoga-Stunden hingen und baumelten Hoden und Brüste, wohin man auch sah, wiegten sich von links nach rechts mit dem Schiff auf den Weiten des Ozeans, und schwabblige Schwarten schwappten Richtung Boden wie dieses Blubberzeug in Lavalampen. Der menschliche Körper in seiner ganzen unverfälschten Pracht, unübersehbar zur Schau gestellt.

Am ersten Abend hörte ich an der sogenannten Ocean Bar mit an, wie ein aalglatter Silberschopf2 sich laut beklagte, es seien zu viele alte Leute an Bord. »Im Mittel fünfundsechzig, schätze ich.« Er war zweiundsechzig.

Wenn alte Leute sich darüber beschweren, dass zu viele alte Leute da sind, kann man davon ausgehen, dass wirklich zu viele alte Leute da sind.

Die meisten Passagiere waren Rentner, größtenteils aus Amerika. Ergo stolzierten auf dem Schiff eine ganze Menge übergewichtige Menschen herum, wie Gott sie geschaffen hatte. Dass sie das so unbefangen taten, ohne jeden Anflug der neurotischen Körperfixiertheit, der wir ganze Generationen diätverrückter, bulimischer, anorektischer oder einfach nur hundeelender Menschen verdanken, fand ich geradezu inspirierend. Sie schämten sich nicht für ihre Körper, akzeptierten sich und die anderen so, wie sie waren, und hatten offensichtlich Spaß dabei.

Doch nicht alle an Bord waren in Rente. Ich habe einen Mathelehrer kennengelernt, eine Radiologin, einen Werkzeugverkäufer und ein paar Leute aus dem Militär. Es gab Pharmavertreter, Fotografinnen, Wissenschaftlerinnen, Ärzte, Wirtschaftsbosse, Lehrer, Anwältinnen, Anwaltsgehilfen, einen Harvard-Professor und einige Leute, die im Urlaub schlicht nicht über ihren Job sprechen wollten.

Und natürlich waren nicht alle fett und schwabbelig. Es gab ein großes LGBT-Kontingent, das sich eher am gesunden Ende des Body-Mass-Index bewegte, und ein paar waschechte junge Leute: trainierte, tätowierte Mittzwanziger, die zusammengluckten, als wären die nackten Rentner die Vorboten einer grausigen Apokalypse. Die nackten Mittzwanziger betrachteten die nackten Mittsiebziger, als könnten sie plötzlich in die Zukunft sehen, als hätte sich ein Portal im Raum-Zeit-Kontinuum aufgetan und den Blick auf eine dystopische Welt eröffnet, in der Schwerkraft und sesshafter Lebensstil sich verschworen hatten, alle Menschen aufgehen und in sich zusammensinken zu lassen wie ein misslungenes Soufflé. Herzzerreißend unvermeidlich. Möglicherweise erklärte dieser Blick in den Abgrund zumindest teilweise den ungezügelten Alkoholkonsum der Jüngeren.

Die meisten Kreuzfahrtgäste waren weiß, aber auch ein paar asiatische und afroamerikanische Textilfeinde waren darunter. Von überall waren sie gekommen. Manche waren dem Polarwirbel entflohen, der eisigen Wind und Rekordschneefälle nach Chicago, Milwaukee, Cincinnati, Philadelphia, Boston und in andere Städte gebracht hatte; andere stammten aus wärmeren Gefilden wie Tampa, Phoenix, Los Angeles oder San Diego; Nudisten aus Kansas, Iowa, Oklahoma und Texas vertraten das Kernland. Nackte aus dem Ausland gab es auch: Kanadier aus Toronto und Québec sowie echte Ausreißer aus so exotischen Ländern wie Finnland, Australien, Deutschland und den Niederlanden. All diese Menschen waren den weiten Weg gekommen, nur um auf dem Lido-Deck eines Kreuzfahrtschiffs die Seele baumeln zu lassen – und alles andere gleich mit.

Einige klammerten sich an Cocktails-des-Tages in leuchtenden Plastikgläsern, andere räkelten sich auf Liegen. Manche tanzten zur Stampfmusik aus der Stereoanlage, manche vergnügten sich im Whirlpool. Aber die meisten unterhielten sich einfach miteinander, lachten und wirkten unglaublich nett.

Und niemand hatte auch nur den kleinsten Fetzen am Leib.

Wie kommen scheinbar ganz normale Menschen dazu, Tausende Dollar hinzulegen, nur um mit einem Haufen anderer Leute die Penisse schlenkern zu lassen? Was denken sie sich dabei? Wo liegt der Reiz? Geht es da um eine Art exhibitionistischen Kick? Oder wollen sie selber spannen? Fühlen sich die Frauen, die oben ohne Blackjack spielen, dabei irgendwie stärker und befreiter? Was ist da los?

Das herauszufinden war ich hergekommen. Mit Hunderten anderer Leute nackt auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffs ein Stück Pizza zu essen und ein Bierchen zu trinken kam mir geradezu bizarr vor. Zumindest war mir nicht ganz wohl dabei – und ich stehe echt auf Pizza und Bier. Aber wenn ich Nudismus als Kultur wirklich erleben wollte, wenn ich verstehen wollte, wieso jemand seinen Job, seine Freiheit oder seinen guten Ruf dafür aufs Spiel setzt: Tja, dann musste ich wohl die Hosen runterlassen wie alle anderen auch.

1 »Nakation« ist ein Kofferwort aus naked und vacation und bedeutet ganz einfach Nackturlaub. Aber darauf sind Sie wahrscheinlich auch selber schon gekommen.

2 Der Mann war auf beunruhigende Weise besessen davon, Schamlippen zu fotografieren. Immerhin fragte er jedes Mal um Erlaubnis.

INTERVIEW MIT EINEM NUDISTEN

Offenbar muss man schon ein paar Regeln befolgen, um Nudist zu sein. Einfach nur Hosen runter und Gemächt in die Sonne halten reicht nicht. Das mag zwar Spaß machen – oder einen in den Knast bringen, je nachdem, wo man’s tut –, aber Nudismus ist es nicht. Man kann auch nackig über ein Fußballfeld rennen, aber das ist Flitzen, nicht Nudismus. Mit ein paar Freunden au naturel in den See hopsen? Nacktbaden. Lustig, aber kein Nudismus. Selbst in einem japanischen Onsen zu baden ist noch keiner. Klar, man hängt nackt mit einem Haufen anderer Nackter in einer heißen Quelle ab, aber nachdem man sich gründlich aufgeweicht, abgeschrubbt und unter der kalten Dusche abgekühlt hat, zieht man sich was an und geht eine Schüssel Ramen essen. Ein Nudist isst seine Nudeln nackt, mit anderen Nackten.

Ich bin kein Nudist. Abgesehen von ein paarmal Nacktbaden als Teenager habe ich meine Genitalien meist bedeckt gehalten, zumindest in der Öffentlichkeit. Ich bin kein Anhänger »gemeinschaftlicher Nacktheit«, kein »Garten-Naturist« und praktiziere auch sonst keine Form von Nudismus. Das heißt nicht, dass ich nicht gerne nackt bin. Ich schlafe nackt, bade und dusche nackt, und ich amüsiere mich mit Freuden hüllenlos in meinem eigenen Schlafzimmer. Ich bin nicht prüde. Ich unternehme bloß nichts mit anderen Leuten, ohne was am Leib zu haben. Außer mit meiner Frau, aber die kennt mich ja.

Den Drang, mir in der Öffentlichkeit die Kleider vom Leib zu reißen, hatte ich nie. Eigentlich empfinde ich im Gegenteil den starken Zwang, sie anzubehalten und mich mit Leuten zu umgeben, die das auch tun. Ich versuche sogar, meine Kleider so zu kombinieren, dass dabei was rauskommt, das ich für Stil halte. Man kann das sozialer Konditionierung zuschreiben, aber ich weiß, dass ich in dieser Sache nicht allein bin. Die Schwierigkeiten mit meinem Körperbild, die mir Werbung und Medien von frühester Kindheit an eingeimpft haben – diese Gefühle der Unzulänglichkeit, die Angst, gehänselt zu werden, weil man pummelig oder haarig oder beschnitten oder, na ja, einfach uncool ist –, haben sich mir tief ins Bewusstsein gegraben. Und so geht es den meisten, die ich kenne.

Was macht nun aber einen Nudisten aus? In seiner eigenwilligen Anthologie The Nudist Idea1 schlägt der Historiker Cec Cinder folgende Definition für den Hausgebrauch vor: »Der nudistische Gedanke ist Grundlage einer ganz eigenen, umfassenden, heilsamen Philosophie, der es bei Weitem nicht bloß um kollektive Nacktheit geht, sondern die auch sexuelle und körperliche Gesundheit, Anti-Militarismus, Abhärtung, zwischengeschlechtlichen Respekt, politischen Libertarismus, religiöse Toleranz, Tierrechte, Freiheitsrechte, Geburtenkontrolle sowie die Verkleinerung von Staat und Bürokratie mit einschließt.«

Ich weiß ja nicht, ob Nudismus sich wirklich um Tierrechte, Geburtenkontrolle oder Verminderung staatlicher Kontrolle dreht. Für mich klingt das eher nach einem Autor, der politische Reizthemen aneinanderreiht. Andererseits fange ich ja gerade erst an, mich mit Nudismus zu beschäftigen, und vielleicht trifft das doch alles zu.

Seit die Idee gemeinschaftlicher Nacktheit 1929 aus Deutschland in die USA herüberschwappte, bemühen sich die verschiedensten Nudisten- und Naturisten-Gruppen um eine Definition von Nudismus. Für manche geht es dabei um einen Lebensstil, zu dem auch gesunde Ernährung, Sport und Liebe zur Natur gehören. Andere sehen das Ganze philosophischer und betrachten den Nudismus als politische Position gegen eine unterdrückerische, »textilozentrische« Gesellschaft, die Konsum und kapitalistischen Wachstumshunger über Umwelt und geistige Gesundheit stellt. Wieder anderen gefällt, dass ihr Körper akzeptiert wird, wie er ist, statt sich dem Diktat von Mode und Werbung beugen zu müssen. Und einige relaxen einfach nur gern textilfrei in der Sonne.

Aber auch wenn verschiedene Gruppen verschiedene Ansichten und Interpretationen vertreten, sind sich doch alle recht einig, dass Nudismus eine soziale Aktivität ist. Wer ganz allein nichts anhat, ist einfach nackt. Wer sich dagegen in einer geschlechtergemischten Gruppe ganz bewusst damit beschäftigt, im Adams- und Evakostüm rumzustehen, ist praktizierender Nudist.2

Doch was finden Leute daran, die Hüllen fallen zu lassen und mit anderen Nackten abzuhängen? Ist da eine Art Urtrieb im Spiel? Wenn die Gesellschaft uns nicht vorschriebe, Klamotten zu tragen, würden wir sie uns dann alle sofort vom Leib reißen und auf der Wiese rumhopsen?

Als mein Sohn Jules noch klein war, rannte er oft mit nichts als einem kleinen Superheldenumhang am Leib durchs Haus, gemacht aus einem gefälschten Hermès-Schal. Ich band ihm den Schal um den Hals, und das Ding brachte ihn in Fahrt, als ob es wirklich Superkräfte verlieh. Beim Rennen fauchte Jules wie eine startende Rakete und versuchte, so schnell zu laufen, dass der Schal in seinem Windschatten flatterte wie bei einem richtigen Superhelden. Manchmal warf er dabei einen Blick über die Schulter, um seinen Umhang zu bewundern. Nicht immer eine gute Idee, aber die gelegentlichen Kollisionen mit Möbeln, Wänden oder Bäumen motivierten ihn eigentlich nur noch mehr.

Außer dem Umhang wollte er am liebsten gar nichts tragen und weigerte sich konsequent, zu Hause irgendwas überzuziehen. Keine Schuhe, keine Windel, kein T-Shirt. Gegenargumente zu finden war nicht leicht: Wir wohnten in Südkalifornien, und dass ihm zu kalt wurde, stand nicht zu befürchten. Also rannte und spielte er und terrorisierte seine große Schwester und ihre Spielkameradinnen in nichts als seinem falschen Hermès-Schal. Spielte er dabei wirklich nur den Superhelden? Oder ging das tiefer? Gibt es eine Art angeborenen Nackttrieb, den die Gesellschaft uns per Schamgefühl ausgetrieben hat? 3 Sogar in der Bibel heißt es von Adam und Eva: »Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und sie schämten sich nicht.« Was ist seither passiert? Wann wurde es strafbar, nackt rumzulaufen? Wann wurde daraus was für Hippies und Spinner?

Ich dachte mir, am besten spreche ich erst mal mit einem eingefleischten Vollblutnudisten. Also arrangierte ich ein Interview mit dem bekannten amerikanischen Naturisten Mark Storey und buchte einen Flug nach Seattle. Mark Storey ist nicht nur im Vorstand des Naturist Action Committee und Gründungsmitglied der Body Freedom Collaborative, die sich für FKK-Strände einsetzt und den World Naked Gardening Day ins Leben gerufen hat, sondern auch Redakteur des Naturistenmagazins N und Autor des Buchs Cinema Au Naturel: A History of Nudist Film sowie Herausgeber von Theatre Au Naturel: A Collection of Naturist Plays. Obendrein hat er jede Menge über die Geschichte des Nudismus, zivilen Ungehorsam und Rechtsfragen im Zusammenhang mit öffentlicher Nacktheit geschrieben.

Mit anderen Worten: Er ist Nudist mit Leib und Seele.

Das Klima in Seattle ist feucht und kühl – an einem guten Tag. Flechten sprießen in Hülle und Fülle, die Flora ist üppig und grün, und das Licht hat einen ganz sanften Grauton, so eine dezente, fast anstaltshafte Farbe, wie man sie in den Gängen des Schwedischen Instituts für Depressionsforschung finden könnte. Ich habe früher mal in Seattle gelebt und war daher auf Feuchtigkeit eingestellt, doch dank einer ungewöhnlichen Kaltfront lag an diesem Tag die Temperatur zudem nur knapp überm Gefrierpunkt. Ich wickelte mir den Schal enger um den Hals, zog mir die Mütze über die Ohren und stand zitternd im Nieselregen an der Bushaltestelle. Wie viele Tage pro Jahr kann so ein Nudist hier oben wohl draußen verbringen, ohne sich chronisch zu unterkühlen?, fragte ich mich.

Storey und ich waren im Bauhaus Coffee verabredet, einer lässigen Espresso-Bar im Niemandsland zwischen der Innenstadt von Seattle und dem hippen Viertel Capitol Hill. Offen gesagt, wusste ich nicht recht, was ich von dem Treffen erwarten sollte. Würde Storey sich als abgedrehter Nudismus-Apostel entpuppen? Als der Johnny Appleseed des Nacktbadens, der Che Guevara des Schniedelschlenkerns? Würde er was anhaben? Oder schlimmer noch: Würde er darauf bestehen, dass ich mich auszog, wenn ich ihn interviewen wollte? Dafür war es definitiv zu kalt.

Das Café fand ich problemlos. Tatsächlich hatte ich früher nur ein paar Blocks weiter gewohnt, aber das war so lange her, dass das Wort Barista damals noch ein Funkeln in den Augen irgendeines Marketingmenschen war. Durch große Fenster zur Straße fällt genug Licht ins Café, um darin keine Winterdepression aufkommen zu lassen, und eine beeindruckende Bücherwand verleiht dem Laden den Flair einer gruftigen Bibliothek. An einem Tisch im loftartigen Obergeschoss, inmitten stylischer junger Leute, die an Kaffeetassen nippten und konzentriert auf ihre Smartphones und Tablets starrten, saß Mark Storey.

Storey hat ein attraktives, ausdrucksstarkes Gesicht und wechselt nahtlos zwischen schallendem Gelächter und nachdenklicher Innenschau. Außerdem ist er ziemlich groß, etwa eins neunzig, und wirkt einigermaßen sportlich für jemanden, der seine Brötchen als Philosophiedozent am College verdient.

»Ganz klischeemäßig hab ich irgendwann mit Nackt-Volleyball angefangen und auf Turnieren überall in den Weststaaten gespielt. Hat Spaß gemacht!«

Offenbar erfreuten sich Baggern, Pritschen und Schmettern unter Nudisten großer Beliebtheit.

»O ja! Ich durfte sogar als Schiedsrichter bei der Landesmeisterschaft der Frauen mitmachen. Das nimmt mir keiner mehr weg. Großartig war das!«

Ich war unsicher, ob er das ernst oder als Witz meinte, bis mir klar wurde, dass vermutlich beides zutraf. Nackt-Volleyballer leben allerdings nicht ungefährlich, wie sich herausstellte, als Storey von der Bewerbung für seine derzeitige Dozentenstelle erzählte.

»Genau in der Woche, in der meine Bewerbung für den ersten Vollzeitjob an einem College lief, an dem ich wirklich gern unterrichten wollte, packte mich die Zeitschrift, für die ich arbeite, aufs Cover. Groß und frontal, wie ich grade einen Ball blocke. Die Volleyball-Ausgabe. Ich dachte nur: ›O Mann, das bricht mir das Genick.‹«

»Vielleicht haben die gar nicht richtig aufs Gesicht geachtet«, gab ich zu bedenken.

Er zuckte die Achseln »Später hatte ich dann als Leiter des Departments mit einem der Lehrbeauftragten zu tun. Wir unterhielten uns beim Essen. Er hat mir seine Leidensgeschichte erzählt. So Unikram eben. Und dann meint er: ›Na ja, kein Vergleich zu Ihrer Geschichte natürlich.‹ Ich: ›Welche Geschichte?‹ Und er: ›Na, die Zeitschrift. Ihr Volleyball-Cover.‹ ›Das haben Sie mitgekriegt?‹, frage ich, und er sagt: ›Alle haben das mitgekriegt!‹«

»Vielleicht wird so was von Philosophen ja auch einfach erwartet.«

Er lächelte. »Ich hab ziemlich coole Kollegen.«

Wir nippten an unseren Tassen. Leckeren Kaffee machten sie im Bauhaus, das musste ich zugeben. Von einem Schuss Koffein gestärkt, ging ich in medias res.

»Wie sind Sie eigentlich zum Naturismus gekommen? Ich vermute mal, Sie sind nicht einfach eines Morgens aufgewacht und haben beschlossen, sich nicht mehr anzuziehen.«

Storey lachte. »Da hat wohl jeder seine eigene Geschichte. Bei mir war’s so, dass mein Vater immer mit meinem Bruder und mir in die Sierra Nevada zum Angeln gefahren ist. Er war ein furchtbarer Geizkragen. Wenn ein Köder an einem Baumstamm im Bach hängen blieb, mussten wir ihn holen gehen. In den ersten Jahren hab ich das immer gemacht und war dann den restlichen Tag komplett durchnässt.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee. »Wir waren dort mitten in der Pampa, kein Mensch weit und breit. Also hab ich irgendwann einfach Jeans und T-Shirt ausgezogen, bevor ich reinwatete. Kaum war ich im Wasser, dachte ich: Das ist ja wohl das Coolste überhaupt! Danach hab ich wie irre Köder Richtung Baumstamm geschleudert, bloß um sie wieder holen zu können. Meinem Vater war völlig schleierhaft, wieso sich plötzlich dauernd meine Köder verhakten. Jedenfalls bekam ich irgendwann eine Trockenpause verordnet. Und ich dachte, statt rumzusitzen und vor mich hin zu trocknen, kann ich genauso gut den Wald erkunden.« Noch ein Schluck Kaffee. »Ein Teenager war ich da.«

»Sie haben’s nur getan, weil es sich gut anfühlte?«

Er nickte. »Dann, ich war so um die zwanzig, lag ich eines Samstagmorgens im Bett und hatte Lust, was zu tun, was ich noch nie getan hatte. Allerdings hatte ich keinen Plan. Geschirr spülen vielleicht, irgend so was Abgedrehtes. Und plötzlich dachte ich: Geh doch einfach mal in ein Nudisten-Camp.«

Die Jugendgeschichte mit dem Köder klang verdammt nach meinem Sohn und seinem Umhang. »Glauben Sie, es gibt eine Art angeborenen Drang zur Nacktheit?«, fragte ich.

Er dachte kurz nach, rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ja, das glaube ich, auch wenn ich darüber bisher weder was gelesen noch geschrieben habe. Aber genau das glaube ich inzwischen. Hat sich wohl aus meinem aristotelischen Totalismus entwickelt, wenn Sie so wollen. Ich liebe Aristoteles, genau wie Thomas von Aquin und Konfuzius. Für alle drei sind wir Menschen im Wesentlichen erst mal soziale Wesen. Natürliche Wesen. Ich glaube, wenn Leute nacktbaden gehen, vor allem mit anderen – und ich spreche nicht von sexuellen Situationen –, öffnen sie sich füreinander auf eine Art, die einige als unglaublich, ja, nahezu als lebensrettend empfinden. Gerade bei nicht-sexualisierter gemeinschaftlicher Nacktheit.«

Skeptisch hob ich eine Augenbraue. »Gemeinschaftliche Nacktheit rettet Leben?«

Storey nickte. »Ich habe Menschen in Tränen ausbrechen sehen. Sie spüren einfach diese riesige Last von sich abfallen, weil sie sich vorher so entfremdet fühlten. Gemeinschaftliche Nacktheit verringert Entfremdung, davon bin ich wirklich überzeugt, und je weniger entfremdet wir voneinander sind, desto besser können wir als menschliche Wesen gedeihen.«

Er meinte das vollkommen ernst, das wurde mir jetzt klar. Während ich mir vorzustellen versuchte, wie ein paar Nackte schluchzend im Kreis saßen – das klang wie eine Szene aus einem meiner Albträume –, fuhr er fort: »Das heißt nicht, man muss nackt sein, damit es einem gut geht. Das wäre absurd. Es ist einfach ein bisschen wie Brokkoli. Man braucht keinen Brokkoli, um gesund zu bleiben. Aber er hilft, und ich glaube, gemeinschaftliche Nacktheit hilft bei der Ent-Entfremdung.«

Ich war nicht ganz sicher, ob ich mich als Nackter unter Nackten weniger entfremdet fühlen würde. Ehrlich gesagt, befürchtete ich eher das Gegenteil. Also bat ich ihn, das genauer zu erklären.

»Die Schminke, die wir auflegen, die Klamotten, die wir tragen, sind doch zum großen Teil bloß dazu da, zu verstecken, wer wir sind. Wir mögen uns selber nicht, also müssen wir ein paar Aspekte vor den anderen verbergen.«

Ich musste daran denken, wie mir mal auf einer Tagung in Philadelphia ganze Herden von Männern und Frauen aufgefallen waren, die in ihren primärfarbenen Poloshirts mit gemeinsamen Logos alle gleich aussahen, behaglich firmenidentisch. Sie hatten ihr individuelles Äußeres abgestreift und waren zu Verlängerungen der Branding-Strategien ihrer Unternehmen geworden. Werfen wir jetzt noch den Trend zu Khakihosen und Handyholstern mit in den Topf, haben wir’s fast schon mit einem Schotenmenschen-Szenario à la Die Körperfresser kommen zu tun – während am anderen Ende des Spektrums der mit Labels protzende Snobismus der Modefreaks steht, die sich über den Preis ihrer Klamotten definieren.

Mark Storey und ich waren uns in einigem einig. Menschen verstecken sich und ihr wahres Selbst tatsächlich hinter ihrer Kleidung. Uniformen sind ein perfektes Beispiel: Man erkennt daran die gesellschaftliche Rolle einer Person als Polizistin, Feuerwehrmann, Soldatin oder FedEx-Auslieferer, das Individuum erkennt man nicht.

Ich sah also ein, dass Kleidung entfremdend oder zumindest entpersönlichend sein kann. Aber ist es damit wirklich vorbei, bloß weil man sich auszieht?

»Auf jeden Fall muss man nur die Hüllen fallen lassen und ein paar Hundert Meter in den Wald gehen, um der Natur näherzukommen.«

Oder einer Festnahme wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Storey fuhr fort. »Ich glaube, es liegt in unserer Veranlagung als soziale Wesen, dass diese Offenheit anderen gegenüber – in sicherer, angenehmer Umgebung – was Lebensbejahendes hat. Ob man es merkt oder nicht, ich glaube, das spielt oft eine Rolle. Nach dem ersten Mal Nacktbaden ist einfach jeder begeistert.«

»Ich bade gerne nackt«, bemerkte ich.

Eine leichte Übertreibung, ehrlich gesagt. Was ich meinte, war, dass ich mit meiner Freundin auf der Highschool gerne nackt gebadet hatte, in einem See in der Nähe von Kansas City, wo ich aufgewachsen war. Aber damals war ich siebzehn, ständig spitz und wäre vermutlich auch über heiße Kohlen gelaufen oder hätte mit Klapperschlangen jongliert, wenn ich dafür mit ihr zusammen hätte nackt sein dürfen. Das verriet ich Storey allerdings nicht.

Er beugte sich vor und starrte mich an. Ich spürte ein philosophisches Kreuzverhör auf mich zukommen.

»Und was genau mögen Sie daran?«

Bevor ich antworten konnte, unterbrach er mich schon. »Klar, man empfindet so eine oberflächliche Körperlichkeit dabei. Das ist sinnlich und auch angenehm. Aber es gibt eine Menge sinnliche und angenehme Dinge, für die wir nicht Job oder Freunde riskieren. Irgendwas daran ist vielen Leuten offenbar extrem wichtig. Ich versuche seit Jahren rauszukriegen, was das ist. Warum tun die das, warum setzen sie so viel aufs Spiel? Man kann dafür in den Knast kommen. In Montana sogar lebenslänglich, wenn man dreimal beim Nacktbaden erwischt wird.«

Das war kein Witz. Das erste Mal kann einem in Montana bis zu sechs Monaten Haft einbringen, das zweite bis zu einem Jahr, und wenn man das dritte Mal mit runtergelassenen Hosen erwischt wird, liegt die Mindeststrafe bei fünf Jahren, Option auf lebenslänglich.

Ich nippte an meinem Kaffee und betrachtete die paarundzwanzigjährigen Hipster, die ringsherum auf ihre Digitalbildschirme glotzten. Für die Verbindung zu anderen Menschen schienen sie sich nicht zu interessieren, zumindest nicht in der Realität. Sie runzelten angestrengt die Stirn, und ich hatte plötzlich den Verdacht, dass zwei Typen, die ausgelassen davon quatschten, nackt in der Sonne rumzutoben, während sie alle in der frostigen Tristesse eines Januarnachmittags in Seattle hockten, sie womöglich ganz schön aus dem Konzept brachten.

Ich wandte mich wieder an Storey. »Menschen sind sinnliche Wesen, die Haut ist ein Sinnesorgan. Ist Nudismus dann nicht eine Art Hedonismus?« Ich oute mich gern als Hedonist – nicht im Sinn irgendwelcher Ausschweifungen, sondern gemäß der klassischen Definition, laut der Glück und Genuss das höchste Gut darstellen. Das bedeutet, dass ich mindestens so viel Glück aus einer guten Tasse Kaffee, einer frischen Mango oder einem Spaziergang im Park ziehe, wie manche Menschen zu finden glauben, wenn sie einen Haufen Geld machen oder ihre Mannschaft die Meisterschaft gewinnt. Man unterschätzt die einfachen Freuden. Tatsächlich denke ich darüber nach, der Hedonistischen Internationale beizutreten.3 Ich sah Storey an. »Ich meine das positiv.«

Er nickte. »Möglich. Kann gut oder schlecht sein. Kommt beides vor. Aber wenn wir wirklich vernunftbegabte, soziale Wesen sind, wie Aristoteles sagt, dann ist alles, das mir hilft, meine vernünftige und soziale Natur auszubilden, erst mal was Gutes. Und alles, was mich davon abhält, auf gute Weise mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, entfremdet mich von ihnen.«

»Dann ist der Drang zur Nacktheit also eher sozial, nicht persönlich?«

»Wenn unser Wesen darin besteht, sozial zu sein, und Kleidung dazu beiträgt, uns voneinander zu entfremden, dann hilft Nacktheit beim Überwinden von Entfremdung. Ich glaube, dass sie darum so vielen gefällt. Ob ihnen das nun klar ist oder nicht.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee, bevor er mich fast entschuldigend musterte. »Das ist kein ausgereiftes Argument, aber Sie haben nun mal gefragt. Normalerweise hört man nur naive Knallkopf-Antworten wie ›Ich mach das, weil es sich so frei anfühlt.‹ Aber Freiheit von was? Zu was?« Er streckte die Hände aus und zuckte mit den Schultern. »Meistens plappern die Leute nur irgendwelche Gemeinplätze nach.«

Als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, wieso sich Leute gern ausziehen und ihre Zeit mit anderen Nackten verbringen, bekam ich diese Klischees tatsächlich alle zu hören. Die Freiheit, die der Nudismus einem theoretisch verschafft, ist Freiheit von dem Körperkult, den die Zivilisation uns aufzwingt, von all dem Quatsch, laut dem der Wert eines Menschen sich nach Jugend, Fitness und Schönheit bemisst. Riesige Multimilliarden-Dollar-Branchen drängen uns ununterbrochen mit wahren Bombenteppichen aus Werbung dazu, unerwünschte Haare zu entfernen, uns die Zähne mit Lasern zu bleichen, überschüssige Fettvorräte absaugen oder Kochsalz-Implantate in die Brüste einsetzen zu lassen und die Paleo-, South-Beach-, Atkins- oder Sonstwas-Diät zu machen. Das Letzte, was der diätetisch-industrielle Komplex gebrauchen kann, ist ein Haufen ent-entfremdeter Leute mit positivem Körperbild. Vielleicht kann nackt im Wald rumzuhopsen wirklich helfen, die kulturelle Gehirnwäsche abzuschütteln, unter der so viele Leute so unendlich leiden.

Ich blickte Storey an. »Ich will ja nicht zynisch klingen, aber glauben Sie wirklich, das ist der Grund, warum Leute gerne nackt sind?«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Antwort könnte viel komplexer sein. Und vielleicht gibt’s auch für jeden eine andere.«

3 Obwohl er inzwischen in San Francisco lebt, rennt Jules heute nicht mehr nackt und mit Superheldenumhang auf der Straße herum. Zumindest nicht, soweit ich weiß.

HAUT ZU MARKTE

Ich weiß nicht, woher der Ausdruck »seine Haut zu Markte tragen« kommt. Aber wenn ich den Nudismus verstehen wollte, musste ich wohl oder übel Nudistenkolonien und FKK-Strände besuchen, und zwar in dem Outfit, in dem ich auf die Welt gekommen war. Wie peinlich es mir auch sein mochte, vor anderen Nackten nackt zu sein und zu tun, was Nackte eben taten, wenn sie zusammen nackt waren, würde ich mich dem doch aussetzen müssen: Ich musste meine eigene Haut zu Markte tragen. Meine blassrosa, supersonnenempfindliche Haut, genauer gesagt.

Nicht ohne Grund schmiere ich mich sogar dann dick mit Sonnenmilch ein, wenn ich zum Supermarkt muss, und sehe am Strand lieber die Sonne untergehen, als tagsüber hinzufahren. Der alte Sonnencreme-Slogan »Bräunen, ohne zu brennen« passt nicht auf mich. Ich brenne, ohne zu bräunen.

Ich fragte mich, ob ich überhaupt irgendeine genetische Veranlagung, irgendeinen eingebauten Schutz gegen chronischen Sonnenbrand habe. Also spuckte ich in ein Röhrchen des Gentestunternehmens 23andMe und schickte meinen Speichel ins Labor. Trotz eines vielversprechenden Anfangs – offenbar bin ich zu 0,7 % amerikanischer Ureinwohner und gehöre einer Untergruppe von E1b1b1a mit entfernten Verbindungen nach Nordafrika und zur iberischen Halbinsel an – stellte sich heraus, dass meine Vorfahren hauptsächlich Briten, Iren und »unbestimmte Nordeuropäer« waren. Ergo würde ich mir erst professionellen Rat holen müssen, bevor ich am helllichten Tag die Hüllen fallen ließ.

Ich wohne im Nordosten von Los Angeles, unweit von Downtown und der Hipster-Enklave Highland Park. Meine Dermatologin hatte ihre Praxis früher in Pasadena gehabt, zehn schnelle Autominuten von meinem Haus, war jedoch inzwischen umgezogen. Also machte ich einen Termin und schleppte mich durch die ganze Stadt ans Meer nach Pacific Palisades.

Ärzte sind nicht unbedingt mein Ding – für alles Allgemeinmedizinische gehe ich normalerweise zu einem chinesischen Akupunktur-Spezialisten –, aber meine Dermatologin habe ich richtig gern. Dr. Dana Jo Grenier hat einen trockenen Humor, und man kann sich prima mit ihr unterhalten. Gleichzeitig ist sie auf eine Art detailbesessen, wie man sie oft bei Menschen findet, die zu ihrem Privatvergnügen so schnell sie können lange Strecken laufen, wie sie es früher getan hat. Sie hat immer noch die drahtige Figur einer Langstreckenläuferin, und wenn sie zur Hautuntersuchung ihre Vergrößerungsgläser aufsetzt, erinnert sie ein bisschen an eine Gottesanbeterin.

Während ich mich für die Untersuchung meiner Kleidung entledigte – nicht ahnend, dass dies nur der Anfang eines Jahres war, in dem ich mich ständig vor anderen ausziehen sollte –, erzählte ich ihr von meinem Plan. Sie schüttelte lachend den Kopf.

»Als ich die Praxis gerade frisch eröffnet hatte, kam ein Nudist zu uns, der gern Kopfstände im Garten machte.«

Sie begann ihre Untersuchung, das Gesicht ein paar Zentimeter von meinem Körper entfernt, und nahm meine Haut so ausführlich unter die Lupe wie ein belgischer Diamantengutachter einen Edelstein.

»Wie lange kann man denn auf dem Kopf in der Sonne stehen?«

Sie hob meinen Arm und studierte ihn genau.

»Lang genug, um ein Plattenepithelkarzinom unterm Hodensack auszubilden.«

Sie sagte das ganz sachlich, als handelte es sich dabei nur um eine simple Tatsache, nicht um ein krasses, abschreckendes Beispiel. Ich fragte mich, wie man sich einen Sonnenbrand im Schritt einfangen und trotzdem Tag für Tag wieder rausgehen und weitermachen kann? Ist einmal nicht genug? Sind gebratene Eier keine eindeutige Warnung?

Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. »Größere Verrenkungen sind bei mir nicht geplant. Eigentlich hab ich nicht mal vor, mich in die Sonne zu legen.«

Sie hob ihre Vergrößerungsgläser an und schenkte mir ein schiefes Lächeln, eine Mischung aus Zerstreutheit und aufrichtiger Sorge. »Das ist gut. Die Genitalhaut ist extrem empfindlich.«

Irgendwie ja wohl der Witz an Genitalhaut, oder? Sagte ich aber nicht. Stattdessen bemerkte ich: »Ich hab Sonnencreme zum Sprühen. Damit komme ich überall ran.«

Sie nickte. »Aber denken Sie dran, das Spray verteilt sich nur in kleinen Partikeln. Die müssen Sie erst verreiben. Und Sie brauchen mindestens Lichtschutzfaktor 30.«

Dann notierte sie etwas in meiner Akte – vermutlich eine Empfehlung, psychiatrische Hilfe zu suchen – und blickte mich an: »Und alle zwei Stunden neu einreiben.«

In meiner persönlichen, völlig unbegründeten Rangordnung der Wichtigkeit von Organen stehen für gewöhnlich Hirn, Herz oder Genitalien an erster Stelle, je nachdem, was ich gerade so treibe. Aber wenn ich’s mir recht überlege, ist die Haut eigentlich das interessanteste Organ. Sie ist das größte, und – ohne der Milz zu nahe treten zu wollen – auch das ansehnlichste. Ihr Aufgabenbereich ist komplex: Sie ist relativ widerstandsfähig und schützt vor Bakterien und Infekten. Sie hält die Eingeweide zusammen, sie dehnt sich, um die tägliche Plackerei aus Beugen, Drehen und Strecken mitzumachen, und sie ist ein sensibles Sinnesorgan.

Wenngleich natürlich all diese Eigenschaften der Haut wichtig sind – die meisten sind wohl schon glücklich, dass sie unsere Organe im Körper hält –, ist es doch der Tastsinn, der unserer Welt erst Sinn und Wert verleiht. Wir sind sinnliche Wesen. Wir mögen Gewebestrukturen. Wir legen viel Wert auf Dinge, die sich gut anfühlen. Kaschmir, Seide und ägyptische Baumwolle sind nicht etwa deshalb Luxusgüter, weil sie gut riechen oder schmecken, sondern weil sie so schön weich sind. Hautkontakt mit einem anderen Menschen ist im Allgemeinen ein ziemlich gutes Gefühl; das Gehirn nimmt diese Empfindung auf und ergänzt sie um Emotionen. Berührung schafft Intimität. Auch die Bindung zwischen Babys und ihren Eltern entsteht auf diese Weise.

So gesehen, ist es schon seltsam, dass wir so viel Zeit damit verbringen, unsere Haut zu bedecken. Wir kommen nackt zur Welt, und noch vor dem ersten Atemzug werden wir gewickelt und in Stoff gehüllt, als würde sich die Haut an der Luft sofort abschälen. Das ist die erste Schranke, die man uns hinsichtlich Intimität und Bindung setzt, die erste Stufe einer langen Folge von Textilien, von Windeln und Strampelanzügen über Kleidchen und Hosen, bis wir schließlich erwachsen sind und uns stolz die Symbole moderner Zivilisation in den Schrank hängen: Coco Chanels kleines Schwarzes oder ein klassisches blaues Sakko. Es folgt eine ganze Reihe von Jeans und Khakis und Röcken und Caprihosen und Pyjamas und Bademänteln, bis wir schließlich ins Gras beißen und im Sonntagsanzug begraben oder in ein Leichentuch gewickelt verbrannt werden.

ENDE DER LESEPROBE