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Der große Gesellschaftsroman von Emile Zola, der seiner Zeit einen Skandal auslöste: Im Zentrum steht Nana, die aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammt. Sie wittert den Aufstieg, als sie sich von der einfachen Straßenprostituierten zur Kurtisane entwickelt und sich als Operettenstar in Paris einen Namen macht – jedoch nicht aufgrund ihres Könnens, sondern wegen ihrer erotischen Ausstrahlung. Diese weiß sie geschickt einzusetzen und wickelt damit nicht nur den Pariser Adel um den kleinen Finger. Doch letztendlich ist selbst das nicht ihre Rettung...-
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Seitenzahl: 758
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Emile Zola
Übersetzt Gerhard Krüger
Saga
Nana ÜbersetztGerhard Krüger Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1880, 2020 Emile Zola und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642902
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Um neun Uhr war der Zuschauerraum des Théâtre des Variétés 1 noch leer. Auf dem Balkon und im Parkett warteten einige Leute verloren zwischen den granatfarbenen Samtsesseln im Dämmerlicht des mit halber Flamme brennenden Kronleuchters. Ein Schatten ertränkte den großen roten Fleck des Vorhangs, und kein Geräusch kam von der Bühne; das Rampenlicht war nicht angezündet, die Pulte der Musiker in Unordnung. Nur oben im dritten Rang rings um die Kuppel der Decke, wo sich nackte Frauen und Kinder in einen vom Gas grün gewordenen Himmel hinaufschwangen, drangen Zurufe und Gelächter aus einem ununterbrochenen Stimmengewirr hervor, stiegen mit Hauben und Mützen bedeckte Köpfe unter den breiten, runden, mit Gold umrahmten Fensteröffnungen stufenförmig an. Ab und zu zeigte sich eine geschäftige Platzanweiserin mit Eintrittskarten in der Hand und schob einen Herrn und eine Dame vor sich her — der Mann im Frack, die Frau dünn und gekrümmt —, die sich setzten und langsam den Blick umherschweifen ließen. Zwei junge Leute erschienen im Parkett. Sie blieben stehen und sahen sich um.
„Was habe ich dir gesagt, Hector?“ rief der ältere, ein großer Bursche mit kleinem schwarzem Schnurrbart. „Wir kommen zu früh. Du hättest mich ruhig meine Zigarre zu Ende rauchen lassen können.“
Eine Platzanweiserin kam vorbei.
„Oh, Herr Fauchery“, sagte sie vertraulich, ,,vor einer halben Stunde fängt es nicht an.“
„Warum steht dann neun Uhr auf den Plakaten?“ brummte Hector, dessen langes, hageres Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck annahm. „Heute morgen hat mir Clarisse, die mitspielt, noch geschworen, daß es Punkt neun Uhr anfängt.“
Einen Augenblick schwiegen sie, blickten hoch und suchten das Dunkel der Logen ab. Aber die grüne Tapete, mit der sie ausgeschlagen waren, machte sie noch düsterer. Unten versanken die Parterrelogen unter der Galerie in völliger Nacht. In den Balkonlogen befand sich nur eine dicke Dame, die sich auf den Samt der Brüstung lehnte. Die mit langen Fransenbehängen drapierten Proszeniumslogen, rechts und links zwischen hohen Säulen, blieben leer. Der weiße und goldene, mit zartem Grün belebte Zuschauerraum verschwamm, durch die niedrig brennenden Flammen des großen Kristallkronleuchters gleichsam mit feinem Staub angefüllt.
„Hast du deine Proszeniumsloge für Lucy bekommen?“ fragte Hector.
„Ja“, antwortete der andere, „aber es hat einige Mühe gekostet . . . Oh, es besteht keine Gefahr, daß ausgerechnet Lucy zu früh kommt.“ Er unterdrückte ein leichtes Gähnen; nach einem Schweigen sagte er dann: „Du hast Glück, du hast doch noch keine Premiere gesehen . . .,Die blonde Venusʻ wird das Ereignis des Jahres. Seit einem halben Jahr spricht man davon. Oh, mein Lieber, eine Musik! So ein Schwung! — Bordenave, der sein Geschäft versteht, hat das für die Ausstellung aufgehoben.“
Hector hörte andächtig zu. Er stellte eine Frage:
„Und Nana, der neue Stern, der die Venus spielen soll, kennst du sie eigentlich?“
„Hör bloß auf! Das geht also schon wieder los!“ rief Fauchery und warf die Arme in die Luft. „Seit heute morgen fällt man mir mit Nana auf die Nerven. Ich habe mehr als zwanzig Leute getroffen, und Nana hier und Nana dort! Was weiß ich denn? Kenne ich etwa alle Dirnen von Paris? — Nana ist eine Entdeckung von Bordenave. Das muß ja was Sauberes sein!“ Er beruhigte sich. Aber die Leere des Zuschauerraums, das Zwielicht des Kronleuchters, diese kirchengleiche Andacht voller flüsternder Stimmen und Türenschlagen reizte ihn. „Ach was“, sagte er plötzlich, „hier langweilt man sich ja. Ich, ich gehe hinaus . . . Vielleicht finden wir Bordenave unten. Er wird uns Näheres erzählen.“
Unten in dem großen, mit Marmorfliesen ausgelegten Vestibül, wo die Karten kontrolliert wurden, begann sich das Publikum zu zeigen. Durch die drei offenen Gitter sah man das hitzige Leben der Boulevards vorüberziehen, die in der schönen Aprilnacht wimmelten und flammten. Wagenrollen hielt plötzlich inne, Kutschenschläge schlossen sich geräuschvoll, und Leute traten in kleinen Gruppen ein, blieben vor der Kontrolle stehen und stiegen im Hintergrund die Doppeltreppe hinauf, auf der die Frauen, sich in den Hüften wiegend, verweilten. In dem grellen Gaslicht prangten aufdringlich auf der bleichen Nacktheit dieses Saales, aus dem eine dürftige Empiredekoration eine Tempelsäulenhalle aus Pappe machte, hohe gelbe Plakate mit dem Namen Nanas in dicken schwarzen Lettern. Herren lasen sie, gleichsam im Vorbeigehen aufgegabelt; andere plauderten im Stehen und versperrten die Türen, während an der Theaterkasse ein untersetzter Mann mit breitem, glattrasiertem Gesicht den Leuten, die darauf bestanden, noch Plätze zu bekommen, grobe Antworten gab.
„Da ist Bordenave“, sagte Fauchery und stieg die Treppe hinunter.
Der Direktor hatte ihn jedoch bemerkt.
„Na, Sie sind ja nett!“ schrie er ihm von weitem zu. „So also haben Sie die Besprechung für mich geschrieben . . . Heute morgen habe ich den ,Figaroʻ aufgeschlagen. Nichts.“ „So warten Sie doch!“ antwortete Fauchery. „Ich muß Ihre Nana doch erst kennenlernen, bevor ich sie bespreche . . . Übrigens habe ich nichts versprochen.“
Um der Sache ein Ende zu machen, stellte er dann seinen Vetter vor, Herrn Hector de la Faloise, einen jungen Mann, der nach Paris gekommen war, um seine Bildung abzuschließen. Der Direktor prüfte den jungen Mann mit einem raschen Blick. Hector jedoch musterte ihn aufgeregt. Das also war Bordenave, dieser Schausteller von Frauen, der sie wie ein Sträflingsaufseher behandelte, dessen Hirn immer von irgendeiner Reklame rauchte, der schrie, spuckte, sich auf die Schenkel schlug, zynisch war und einen Polizistenverstand hatte! Hector glaubte etwas Freundliches sagen zu müssen.
„Ihr Theater...“, begann er mit Flötenstimme.
Bordenave, als ein Mann, der klare Verhältnisse liebt, unterbrach ihn gelassen mit einem groben Wort:
„Sagen Sie: mein Puff.“
Da lachte Fauchery zustimmend, während La Faloise sein Kompliment in der Kehle steckenblieb. Er fühlte sich vor den Kopf gestoßen, versuchte aber so zu tun, als fände er Geschmack an dem Wort. Der Direktor war davongestürzt, um einem Theaterkritiker, dessen Feuilleton großen Einfluß hatte, die Hand zu drücken. Als er zurückkam, faßte sich La Faloise wieder. Er fürchtete, als Provinzler behandelt zu werden, wenn er sich zu verwirrt zeigte.
„Man hat mir gesagt“, begann er wieder, da er unbedingt etwas finden wollte, „Nana habe eine köstliche Stimme.“
„Die!“ rief der Direktor und zuckte die Achseln. „Eine richtige Klistierspritze!“
Der junge Mann fügte eilends hinzu:
„Aber eine ausgezeichnete Schauspielerin.“
„Die! — Ein Trampel! Sie weiß nicht, wo sie mit den Füßen und den Händen hin soll.“
La Faloise errötete leicht. Er wurde nicht mehr schlau daraus. Er stammelte:
„Um nichts auf der Welt hätte ich die Premiere heute abend versäumt. Ich wußte, daß Ihr Theater . . .“
„Sagen Sie: mein Puff“, unterbrach ihn Bordenave erneut mit dem kalten Eigensinn eines überzeugten Menschen.
Inzwischen betrachtete Fauchery in aller Ruhe die eintretenden Frauen. Er kam seinem Vetter zu Hilfe, als er ihn mit offenem Mund dastehen sah, wie er nicht wußte, ob er lachen oder sich ärgern sollte.
„Mach doch Bordenave die Freude und nenne sein Theater, wie er es von dir verlangt, da es ihm nun einmal Spaß macht . . .Und Sie, mein Lieber, lassen Sie uns nicht unnütz warten. Wenn Ihre Nana weder singen noch spielen kann, werden Sie ein Fiasko erleben, das ist alles. Das fürchte ich übrigens.“
„Ein Fiasko! Ein Fiasko!“ rief der Direktor, dessen Gesicht purpurrot anlief. „Braucht eine Frau denn spielen und singen zu können? Oh, mein Kleiner, du bist zu dumm . . . Nana hat etwas anderes, wahrlich, und zwar etwas, was alles ersetzt. Ich habe es gewittert, es ist ganz schön stark bei ihr, oder ich habe nur die Nase eines Dummkopfes . . . Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen, sie braucht nur zu erscheinen, und der ganze Saal sperrt Mund und Nase auf.“ Er hatte seine großen Hände erhoben, die vor Begeisterung zitterten; und erleichtert senkte er die Stimme und brummte in sich hinein: „Ja, sie wird es weit bringen, verdammt, ja, sie wird es weit bringen . . . Eine Haut, oh, eine Haut!“
Als ihn Fauchery dann ausfragte, gab er mit einer Derbheit des Ausdrucks, die Hector de la Faloise in Verlegenheit setzte, bereitwillig Einzelheiten zum besten. Er hatte Nana kennengelernt, und er wollte sie herausbringen. Er suchte damals gerade eine Venus. Er fackelte nicht lange bei einer Frau; er wollte das Publikum lieber gleich etwas von ihr haben lassen. Aber er hatte einen Hundekrach in seiner Bude, die durch das Erscheinen dieser großen Dirne in Aufruhr versetzt wurde. Rose Mignon, sein Stern, eine durchtriebene Schauspielerin und bewundernswerte Sängerin, drohte jeden Tag, ihn aufsitzen zu lassen, und war wütend, weil sie eine Rivalin voraussah. Und wegen der Plakate — was für ein Spektakel, großer Gott! Schließlich hatte er sich entschlossen, die Namen der beiden Schauspielerinnen in Lettern von gleicher Größe anbringen zu lassen. Ärgern durfte man ihn nicht. Wenn eines seiner kleinen Weiber, wie er sie nannte, Simonne oder Clarisse, nicht spurte, versetzte er ihr einen Tritt in den Hintern. Anders war nicht durchzukommen. Er handelte mit ihnen, er wußte, was sie wert waren, diese Frauenzimmer!
„Sieh mal an!“ sagte er, sich unterbrechend. „Mignon und Steiner. Immer zusammen. Wissen Sie, Steiner hat Rose allmählich bis obenhin satt; daher weicht ihr Mann ihm auch keinen Fußbreit mehr vom Leibe, aus Angst, daß er sich aus dem Staube macht.“
Die Gaslichtrampe, die am Gesims des Theaters aufflammte, warf eine breite Fläche hellen Lichtes auf den Bürgersteig. Deutlich hoben sich zwei kleine Bäume grellgrün ab; eine Säule schimmerte in der scharfen Beleuchtung so weiß auf, daß man von weitem die Plakate auf ihr wie am hellen Tag lesen konnte; und dahinter war die undurchdringliche Nacht des Boulevards in der Verschwommenheit einer sich immerzu bewegenden Menge von Lichtern durchstochen. Viele Männer traten nicht sofort ein, blieben plaudernd draußen stehen, wobei sie unter dem Lichtschein der Rampe, der ihnen eine fahle Blässe verlieh und ihre kurzen schwarzen Schatten auf dem Asphalt abzeichnete, eine Zigarre zu Ende rauchten. Mignon, ein sehr großer und breiter fideler Kerl mit einem Quadratschädel wie ein Jahrmarktsherkules, bahnte sich mitten durch die Gruppen einen Weg, wobei er den Bankier Steiner am Arm mit sich schleppte, diesen ganz kleinen Mann mit schon starkem Bauch und rundlichem Gesicht, das von einem angegrauten Bart wie von einem Halsband umrahmt wurde.
„Na, Sie haben sie gestern in meinem Büro getroffen“, sagte Bordenave zu dem Bankier.
„Aha, das war sie also“, rief Steiner. „Ich vermutete es. Ich ging allerdings hinaus, als sie eintrat; ich habe sie bloß flüchtig gesehen.“
Mignon hörte mit gesenkten Lidern zu und drehte nervös einen großen Diamanten an seinem Finger hin und her. Er hatte begriffen, daß es sich um Nana handelte. Als Bordenave dann von seiner Debütantin eine Schilderung gab, die die Augen des Bankiers aufflammen ließ, griff er schließlich ein.
„Hören Sie auf, mein Lieber, eine Fose! Das Publikum wird ihr hübsch heimleuchten . . . Steiner, mein Kleiner, Sie wissen, meine Frau erwartet Sie in ihrer Garderobe.“ Er wollte ihn fortziehen.
Aber Steiner weigerte sich, Bordenave zu verlassen. Vor ihnen drängte sich eine Schlange an der Kontrolle, erhob sich Stimmenlärm, in dem der Name Nanas mit der singenden Lebhaftigkeit seiner zwei Silben ertönte. Die Männer, die sich vor den Plakaten aufpflanzten, buchstabierten ihn laut; andere warfen ihn im Vorübergehen in fragendem Tonfall hin, während die beunruhigten und lächelnden Frauen ihn leise mit verwunderter Miene wiederholten. Niemand kannte Nana. Woher stammte Nana? Und Geschichten, von Ohr zu Ohr geflüsterte Scherze liefen um. Dieser Name, ein kurzer Name, dessen Vertraulichkeit in aller Munde einging, war eine Liebkosung. Man brauchte ihn nur so auszusprechen, und die Menge wurde heiter und gutmütig gestimmt. Eine fieberhafte Neugierde trieb die Leute an, jene Pariser Neugierde, die die Heftigkeit eines Anfalles von heißem Wahnsinn hat. Man wollte Nana sehen. Einer Dame wurde der Besatz ihres Kleides losgerissen, ein Herr verlor seinen Hut.
„Also da fragen Sie mich zuviel!“ schrie Bordenave, den an die zwanzig Männer mit Fragen bestürmten. „Sie werden ja sehen . . . Ich mache mich aus dem Staube, man braucht mich.“ Er verschwand, entzückt, sein Publikum entflammt zu haben. Mignon zuckte die Achseln und erinnerte Steiner daran, daß Rose ihn erwarte, um ihm ihr Kostüm für den ersten Akt zu zeigen.
„Sieh mal! Da unten steigt Lucy aus dem Wagen“, sagte La Faloise zu Fauchery.
Es war tatsächlich Lucy Stewart, eine kleine, häßliche Frau von ungefähr vierzig Jahren mit zu langem Hals, magerem, ausgemergeltem Gesicht, einem plumpen, aber so lebhaften, so anmutigen Mund, daß sie über großen Liebreiz verfügte. Sie brachte Caroline Héquet und ihre Mutter mit — Caroline von kalter Schönheit, die Mutter sehr würdig, mit strohdummem Gesichtsausdruck.
„Du kommst mit uns, ich habe einen Platz für dich reserviert“, sagte sie zu Fauchery.
„O nein, fällt mir nicht ein! Damit ich nichts sehe!“ antwortete er. „Ich habe einen Sperrsitz; ich sitze lieber im Parkett.“
Lucy ärgerte sich. Wagte er es etwa nicht, sich mit ihr zu zeigen? Jäh besänftigt, sprang sie dann auf ein anderes Thema über:
„Warum hast du mir nicht gesagt, daß du Nana kennst?“ „Nana? Ich habe sie nie gesehen.“
„Wirklich? — Mir hat man geschworen, daß du mit ihr geschlafen hast.“
Aber vor ihnen machte Mignon, einen Finger auf den Lippen, ihnen ein Zeichen, daß sie schweigen sollten. Und auf eine Frage Lucys deutete er auf einen jungen Mann, der vorüberging, und flüsterte dabei:
„Nanas Liebster.“
Alle sahen ihn an. Er war hübsch. Fauchery erkannte ihn: das sei Daguenet, ein junger Mann, der dreihunderttausend Francs mit Frauen durchgebracht habe und der jetzt kleine Börsengeschäfte tätige, um ab und zu Blumensträuße und ein Essen für sie auszugeben. Lucy fand, er habe schöne Augen.
„Ah, da kommt Blanche!“ rief sie. „Die hat mir gesagt, daß du mit Nana geschlafen hast.“
Blanche de Sivry, ein üppiges blondes Mädchen, dessen hübsches Gesicht schon etwas aufgedunsen war, kam in Begleitung eines schmächtigen, sehr gepflegten Mannes von großer Vornehmheit.
„Graf Xavier de Vandeuvres“, flüsterte Fauchery La Faloise ins Ohr.
Der Graf wechselte einen Händedruck mit dem Journalisten, während zwischen Blanche und Lucy eine lebhafte Auseinandersetzung stattfand. Mit ihren volantbesetzten Röcken, die eine in Blau, die andere in Rosa, versperrten sie den Durchgang, und Nanas Name kam ihnen immer wieder auf die Lippen, so schrill, daß die Leute ihnen zuhörten. Graf de Vandeuvres führte Blanche fort. Doch jetzt erklang Nana wie ein Echo aus den vier Ecken des Vestibüls, noch lauter und in einem von der Erwartung gesteigerten Verlangen. Fing es denn nicht an? Die Männer zogen ihre Uhren hervor, Nachzügler sprangen aus ihren Wagen, bevor diese gehalten hatten, Gruppen verließen den Bürgersteig, wo die Spaziergänger langsam die leer gebliebene breite Fläche des Gaslichts durchquerten und den Hals reckten, um in das Theater zu blicken. Ein Straßenjunge, der pfeifend herankam, pflanzte sich vor einem Plakat an der Tür auf; dann schrie er mit Säuferstimme: „He! Nana!“ und setzte schlaksig mit schlurfenden Latschen seinen Weg fort. Gelächter machte die Runde. Hochelegante Herren wiederholten: „Nana, he, Nana!“ Man quetschte einander; an der Kontrolle brach ein Streit aus, ein Gezeter schwoll an, das aus dem dumpfen Lärm der Stimmen bestand, die nach Nana riefen, die nach Nana verlangten, in einem jener Anfälle von tierischem Unverstand und roher Sinnlichkeit, die über Menschenmengen hinfahren.
Aber über den Spektakel hinweg ließ sich die Pausenklingel vernehmen. Ein verworrenes Getöse drang bis auf den Boulevard: „Es hat geläutet, es hat geläutet“; und es setzte ein Geschiebe ein, jeder wollte durchkommen, während sich die Kartenkontrolleure geradezu vervielfältigten.
Mignon erwischte endlich mit unruhiger Miene Steiner wieder, der das Kostüm Roses nicht ansehen gegangen war. Beim ersten Läuten hatte sich La Faloise einen Weg durch die Menge gebahnt, wobei er Fauchery mit sich zog, um die Ouvertüre nicht zu versäumen. Diese Hast des Publikums brachte Lucy Stewart auf. Was für rücksichtslose Personen, die die Frauen anrempelten! Sie blieb mit Caroline Héquet und ihrer Mutter als letzte zurück. Das Vestibül war leer; der Boulevard hinten behielt sein anhaltendes Grollen bei.
„Als ob ihre Stücke immer spaßig wären!“ meinte Lucy mehrmals, während sie die Treppe hinaufging.
Im Zuschauerraum sahen sich Fauchery und La Faloise vor ihren Plätzen erneut um. Jetzt erstrahlte der Zuschauerraum. Hohe Gasflammen entzündeten den großen Kristallkronleuchter mit einem Geriesel gelber und rosa Feuer, die sich vom Kuppelgewölbe bis ins Parkett in einem Regen von Licht brachen. Der granatfarbene Samt der Sitze flammte wie Lack, während die Goldverzierungen leuchteten und die zartgrünen Ornamente ihren Glanz unter den allzu grellen Malereien der Decke milderten. Die erhöhte Rampe legte mit einer jähen Fläche von Licht Brand an den Vorhang, dessen schwere Purpurdraperie von dem Reichtum eines Märchenschlosses war, was grell gegen die Dürftigkeit des Rahmens abstach, wo Risse den Gips unter der Vergoldung sehen ließen. Es war schon warm.Die Musiker stimmten an ihren Pulten die Instrumente unter leichten Flötentrillern, gedämpften Hornseufzern und singenden Violinstimmen, die sich inmitten des anwachsenden Stimmengewirrs aufschwangen. Beim Sturm auf die Plätze redeten alle Zuschauer, stießen sich und ließen sich nieder; und das Gedränge auf den Gängen war so gewaltig, daß jede Tür nur mühsam einen unversiegbaren Strom von Menschen hindurchließ. Es war ein Winken mit Zurufen, ein Rauschen von Stoffen, eine Parade von Röcken und Frisuren, die vom Schwarz eines Fracks oder eines Gehrocks unterbrochen wurden. Doch allmählich füllten sich die Sesselreihen; eine helle Toilette hob sich ab, ein Kopf mit feinem Profil senkte seinen Haarknoten, über den das Aufblitzen eines Schmuckstückes hinlief. In einer Loge hatte ein Stück einer nackten Schulter ein seidiges Weiß. Andere Frauen fächelten sich ruhig und lässig Luft zu, wobei sie dem Gestoße der Menge mit den Blicken folgten, während junge Herren, die mit weit offener Weste, eine Gardenia im Knopfloch, im Parkett standen, ihre Operngläser mit ihren behandschuhten Fingerspitzen umherrichteten.
Jetzt suchten die beiden Vettern die Gesichter von Bekannten. Mignon und Steiner saßen Seite an Seite zusammen in einer Parterreloge, die Handgelenke auf den Samt der Brüstung gestützt. Blanche de Sivry schien ganz allein eine Proszeniumsloge im Parkett einzunehmen. Aber La Faloise musterte vor allem Daguenet, der einen Sperrsitz zwei Reihen vor ihm hatte. Neben ihm riß ein blutjunger Mann von höchstens siebzehn Jahren, irgendein Wildfang, seine schönen Cherubinoaugen ganz weit auf. Fauchery lächelte, als er ihn betrachtete.
„Wer ist denn diese Dame auf dem Balkon?“ fragte La Faloise plötzlich. „Die mit einem jungen Mädchen in Blau neben sich.“ Er deutete auf eine dicke, in ihr Korsett eingeschnürte Frau, deren ehemals blondes Haar weiß geworden und gelb gefärbt war und deren rundes, rotgeschminktes Gesicht sich unter einem Regen kleiner, kindlicher Löckchen aufblähte.
„Das ist Gaga“, antwortete Fauchery bloß. Und da dieser Name seinen Vetterzu verblüffen schien, fügte er hinzu: „Du kennst Gaga nicht? — Sie hat die ganze Lust und Wonne in den ersten Jahren der Herrschaft Louis-Philippes ausgemacht. Jetzt schleppt sie ihre Tochter überall mit hin.“ La Faloise hatte keinen Blick für das junge Mädchen übrig. Der Anblick Gagas erregte ihn, seine Augen ließen sie nicht mehr los; er fand sie immer noch sehr gut aussehend, wagte es aber nicht zu sagen.
Inzwischen hob der Kapellmeister seinen Geigenbogen; die Musiker stimmten die Ouvertüre an. Immer noch traten Leute ein; die Unruhe und der Lärm wuchsen an. Unter diesem besonderen Premierenpublikum, das sich nicht veränderte, gab es vertrauliche Winkel, wo man sich immer wieder lächelnd einfand. Stammgäste wechselten, den Hut auf dem Kopf, ungezwungen und vertraulich Grüße. Paris war anwesend, das Paris der Literatur, der Finanz und des Vergnügens, viele Journalisten, einige Schriftsteller, Börsenleute und mehr Dirnen als anständige Frauen; eine eigenartig gemischte Gesellschaft, aus allen Talenten zusammengesetzt, von allen Lastern verdorben, über deren Gesichter dieselbe Erschöpfung und dasselbe Fieber strich. Fauchery, den sein Vetter ausfragte, zeigte ihm die Logen der Zeitungen und der Klubs, dann nannte er die Theaterkritiker bei Namen, einen mageren mit vertrockneter Miene und verkniffenen, bösartigen Lippen und besonders einen dicken, gutmütig aussehenden, der sich gegen die Schulter seiner Nachbarin lehnte, einem unschuldig wirkenden Mädchen, das er unverwandt väterlich und zärtlich anblickte.
Aber er hielt inne, als er sah, wie La Faloise Leute grüßte, die in einer Mittelloge Platz genommen hatten. Er schien überrascht.
„Was?“ fragte er. „Du kennst Graf Muffat de Beuville?“ „Oh, seit langem“, antwortete Hector. „Die Muffats hatten ein Gut in der Nähe von unserem. Ich gehe oft zu ihnen . . . Der Graf ist mit seiner Frau und seinem Schwiegervater, dem Marquis de Chouard, zusammen.“ Und aus Eitelkeit, glücklich über das Erstaunen seines Vetters, legte er Nachdruck auf Einzelheiten: der Marquis sei Staatsrat, der Graf sei vor kurzem zum Kammerherrn der Kaiserin ernannt worden.
Fauchery, der sein Opernglas ergriffen hatte, betrachtete die Gräfin, eine mollige Brünette mit weißer Haut und schönen schwarzen Augen.
„Du wirst mich in einer Pause vorstellen“, sagte er schließlich. „Dem Grafen bin ich schon begegnet, aber ich möchte zu ihren Dienstagsempfängen gehen.“
Energisches Pst-Pst drang aus den oberen Rängen. Die Ouvertüre hatte begonnen, es kamen immer noch Leute herein. Die Nachzügler zwangen ganze Reihen von Zuschauern aufzustehen. Die Logentüren klappten. Grobe Stimmen stritten sich auf den Gängen. Und das Geräusch der Gespräche hörte nicht auf, gleich dem Geschilpe eines Schwarmes schwatzhafter Spatzen, wenn der Tag zur Neige geht. Es herrschte ein Durcheinander, ein Gewirr von Köpfen und Armen, die sich hin und her bewegten, da die einen sich setzten und es sich bequem zu machen suchten und die anderen eigensinnig stehen blieben, um einen letzten Blick um sich zu werfen. Der Ruf „Hinsetzen! Hinsetzen!“ ertönte ungestüm aus den dunklen Tiefen des Parketts. Ein Schauer war darüber hingestrichen: endlich sollte man also diese berühmte Nana kennenlernen, mit der sich Paris seit acht Tagen beschäftigte.
Nach und nach flauten die Gespräche jedoch kraftlos ab mit wieder einsetzenden undeutlichen Stimmen. Und inmitten dieses vor Wonne vergehenden Gemurmels und dieser ersterbenden Seufzer stimmte das Orchester mit schnellen, feurigen Noten einen Walzer an, dessen pöbelhafter Rhythmus wie das Lachen über eine Zote klang. Das Publikum lächelte bereits gekitzelt. Doch die Claque in den ersten Parkettreihen klatschte rasend in die Hände. Der Vorhang hob sich.
„Sieh mal!“ sagte La Faloise, der immer noch plauderte. „Da ist ein Herr bei Lucy.“ Er schaute zur Proszeniumsloge rechts auf dem Balkon hinauf, in der Caroline und Lucy die vorderen Plätze einnahmen. Im Hintergrund gewahrte man das würdige Gesicht von Carolines Mutter und das Profil eines großen Burschen mit schönem blondem Haar und untadeliger Haltung. „Sieh doch!“ wiederholte La Faloise beharrlich. „Es ist ein Herr da.“
Fauchery entschied sich, sein Opernglas auf die Proszeniumsloge zu richten. Aber er wandte sich sofort wieder ab. „Ach, das ist Labordette“, murmelte er mit unbekümmerter Stimme, als müsse die Anwesenheit dieses Herrn für jedermann selbstverständlich und ohne Bedeutung sein.
Hinter ihnen wurde „Ruhe!“ gerufen. Sie mußten schweigen. Der Zuschauerraum war nun mit Reglosigkeit geschlagen; weite Flächen aufrechter und aufmerksamer Köpfe stiegen vom Sperrsitz bis zu den hinteren Plätzen an. Der erste Akt der „Blonden Venus“ spielte im Olymp, einem Olymp aus Pappe, mit Wolken als Kulissen und Jupiters Thron zur Rechten. Zuerst sangen Iris und Gany med, von einer Schar himmlischer Diener unterstützt, einen Chor, wobei sie die Stühle für den Rat der Götter aufstellten. Erneut setzten von ganz allein die regelmäßigen Bravorufe der Claque ein; das Publikum, das sich nicht ganz zurechtfand, wartete ab. La Faloise hatte jedoch Clarisse Besnus Beifall geklatscht, einem der kleinen Weiber Bordenaves, die in zartem Blau, eine große siebenfarbige Schärpe um den Leib gewunden, die Iris spielte.
„Weißt du, sie zieht ihr Hemd aus, damit sie das ankriegt“, sagte er so laut zu Fauchery, daß man ihn hören mußte.
„Wir haben das heute morgen ausprobiert . . . Ihr Hemd war unter den Armen und im Rücken zu sehen.“
Doch ein leichtes Beben brachte den Zuschauerraum in Wallung. Rose Mignon war soeben als Diana aufgetreten. Obwohl sie weder über die Figur noch über das Gesicht für die Rolle verfügte — sie war mager und schwarz, von der anbetungswürdigen Häßlichkeit eines Pariser Straßenjungen —, so sah sie doch reizend aus, wie eine richtige Verspottung der Gestalt. Ihre Auftrittsarie mit einem zum Heulen blöden Text, worin sie sich über Mars beklagte, der im Begriff war, sie wegen Venus sitzenzulassen, sang sie mit züchtiger Zurückhaltung, die so voller frecher Zweideutigkeiten war, daß das Publikum in Hitze geriet. Ihr Mann und Steiner lachten selbstgefällig, Arm an Arm. Und der ganze Saal brach los, als Prullière, der höchst beliebte Schauspieler, als General erschien, ein Mars aus La Courtille, mit einem riesigen Federbusch geschmückt und einen Säbel hinter sich herschleifend, der ihm bis an die Achseln reichte. Er hatte wirklich genug von Diana; sie tat sich ja allzu dick. Da schwor Diana, auf ihn aufzupassen und sich zu rächen. Das Duett schloß mit einem possenhaften Jodler, den Prullière ganz drollig mit der Stimme eines gereizten Katers hinlegte. Er besaß die amüsante Geckenhaftigkeit eines jugendlichen Helden und Frauenlieblings und rollte die Augen wie ein Maulheld, was helles Frauengelächter in den Logen hervorrief.
Dann wurde das Publikum wieder kühl; die folgenden Szenen fand man langweilig. Kaum daß der alte Bose, ein schwachsinniger Jupiter, dessen Kopf von einer riesigen Krone erdrückt wurde, einen Augenblick lang das Publikum erheiterte, als er mit Juno einen Ehekrach wegen der Rechnung ihrer Köchin hatte. Die Götterparade von Neptun, Pluto, Minerva und den anderen hätte beinahe sogar alles geschmissen. Man wurde ungeduldig; ein beunruhigendes Gemurmel wuchs langsam an. Die Zuschauer verloren das Interesse und blickten sich im Saal um. Lucy lachte mit Labordette, Graf de Vandeuvres reckte seinen Kopf hinter Blanches kräftigen Schultern vor, während Fauchery verstohlen die Muffats beobachtete: der Graf war sehr ernst, als habe er nichts begriffen, die Gräfin lächelte unbestimmt und träumte mit verlorenen Blicken vor sich hin. Doch jäh prasselte der Beifall der Claque mit der Regelmäßigkeit von Rottenfeuer in diese Mißstimmung hinein. Man wandte sich der Bühne zu. War das endlich Nana? Diese Nana ließ wirklich auf sich warten.
Es war eine Abordnung von Sterblichen, die Ganymed und Iris hereingeführt hatten, ehrbare Bürger, alles betrogene Ehemänner, die dem Göttervater eine Klage gegen Venus vorbringen wollten, die ihre Frauen wahrlich mit allzu starker Glut entflammte. Der Chor in seinem wehleidigen und einfältigen Tonfall, von Pausen voller Eingeständnisse unterbrochen, belustigte sehr. Ein Wort machte die Runde im Zuschauerraum: „Der Hahnreichor, der Hahnreichor“, und das Wort sollte bleiben; man schrie: „Da capo!“ Die Köpfe der Chorsänger waren komisch; man fand, ihre Gesichter sähen wie geschaffen dafür aus, besonders ein Dicker mit einem runden Mondgesicht. Mittlerweile kam Vulkan an und forderte wütend seine Frau zurück, die ihm vor drei Tagen weggelaufen war. Der Chor setzte wieder ein und flehte Vulkan an, den Gott der Hahnreie. Die Rolle Vulkans spielte Fontan — ein Komiker von pöbelhaftem und urwüchsigem Talent, der über eine verrückte Phantasie beim Verrenken der Hüften verfügte — als Dorfschmied mit flammender Perücke und nackten Armen, die mit pfeildurchbohrten Herzen tätowiert waren. Einer Frauenstimme entfuhr es ganz laut: „Ach, ist der aber häßlich!“; und alle Frauen lachten und klatschten Beifall.
Eine Szene danach schien nicht enden zu wollen. Jupiter wurde nicht damit fertig, den Rat der Götter zusammenzurufen, um ihm das Gesuch der betrogenen Ehemänner zu unterbreiten. Und noch immer kam Nana nicht! Man hob Nana wohl bis zum Fallen des Vorhanges auf? Ein so ausgedehntes Warten hatte das Publikum schließlich doch gereizt. Das Murren begann von neuem.
„Das geht schief“, sagte Mignon strahlend zu Steiner. ,,Ein schöner Reinfall, Sie werden sehen!“
In diesem Augenblick teilten sich die Wolken im Hintergrund, und Venus erschien. Nana, sehr groß, sehr stark für ihre achtzehn Jahre, in ihrer weißen Göttinnentunika, mit ihrem langen blonden Haar, das ihr einfach aufgelöst über die Schultern fiel, kam mit ruhiger Sicherheit nach vorn an die Rampe, wobei sie dem Publikum zulachte. Und sie stimmte ihre große Arie an: „Wenn Venus abends bummeln geht . . .“
Schon beim zweiten Vers sah man sich im Zuschauerraum an. War das ein Scherz oder irgendeine Wette Bordenaves? Noch nie hatte man eine so falsche Stimme gehört, die weniger kunstgemäß geführt wurde. Ihr Direktor beurteilte sie richtig, sie sang wie eine Klistierspritze. Und sie wußte nicht einmal, wie sie sich auf der Bühne benehmen sollte, sie warf die Hände nach vorn und wiegte den ganzen Körper hin und her, was man wenig schicklich und ohne Anmut fand. Schon stiegen Oh-Oh-Rufe aus dem Parkett und von den billigen Plätzen auf, und es wurde halblaut gepfiffen, als eine Stimme wie die eines jungen Hahnes, der Stimmbruch hat, im Sperrsitz voller Überzeugung ausrief: „Fabelhaft!“
Der ganze Zuschauerraum schaute hin. Er war der Cherubino, der Wildfang, der seine schönen Augen weit aufgerissen hatte und dessen blondes Gesicht von Nanas Anblick entflammt war. Als er sah, daß sich die Leute nach ihm umdrehten, wurde er über und über rot, weil er, ohne es zu wollen, so laut gesprochen hatte. Daguenet, sein Nachbar, musterte ihn lächelnd; das Publikum lachte gleichsam entwaffnet und dachte nicht mehr daran, zu pfeifen, während die jungen Herren in weißen Handschuhen, ebenfalls von den Rundungen Nanas hingerissen, vor Wonne vergingen und Beifall klatschten.
„Tatsächlich, sie sieht sehr gut aus! Bravo!“
Als Nana jedoch den Zuschauerraum lachen sah, hatte sie zu lachen begonnen. Die Heiterkeit verdoppelte sich. Immerhin war sie drollig, dieses schöne Mädchen. Wenn sie lachte, hatte sie ein allerliebstes Grübchen am Kinn. Sie wartete ungezwungen und gar nicht befangen und stand sofort mit dem Publikum auf gutem Fuße; sie sah so aus, als wolle sie selber mit einem Augenzwinkern sagen, sie habe für keinen Sechser Talent, doch dies mache nichts, sie habe etwas anderes. Und nachdem sie dem Kapellmeister einen Wink gegeben hatte, der bedeutete: „Los, alter Freund!“, begann sie die zweite Strophe: „Um Mitternacht geht Venus vorüber . . .“
Es war immer noch dieselbe Essigstimme, aber jetzt kratzte sie das Publikum so gut an der richtigen Stelle, daß sie ihm mitunter einen leichten Schauer entlockte. Nana hatte ihr Lachen beibehalten, das ihren kleinen roten Mund erhellte und in ihren großen Augen leuchtete, die von ganz hellem Blau waren. Bei gewissen, ein wenig feurigen Versen rümpfte sie naschhaft ihre Nase, deren rosige Flügel bebten, während ein Flammen über ihre Wangen lief. Sie wiegte sich weiter hin und her, weil sie nur das konnte. Und man fand das keineswegs mehr häßlich, im Gegenteil; die Männer richteten ihre Operngläser auf sie. Als sie mit der Strophe fertig war, versagte ihr völlig die Stimme, sie sah ein, daß sie niemals zu Ende kommen würde. Ohne sich etwas daraus zu machen, wippte sie kurz mit der Hüfte, so daß sich eine Rundung unter der dünnen Tunika abzeichnete, während sie mit eingeknickter Taille und herausgepreßtem Busen die Arme ausstreckte. Beifall brach los. Sogleich hatte sie sich umgedreht und ging auf den Hintergrund der Bühne zu, ihren Nacken zeigend, den rotes Haar wie mit einem Tierfell bedeckte; und der Beifall wurde rasend.
Der Schluß des Aktes war kühler. Vulkan wollte Venus ohrfeigen. Die Götter hielten Rat und beschlossen, auf der Erde zu einer Untersuchung zu schreiten, bevor sie die betrogenen Ehemänner zufriedenstellten. Und jetzt schwor Diana, als sie zärtliche Worte zwischen Venus und Mars aufschnappte, sie werde beide auf der Reise nicht aus den Augen lassen. Weiter kam noch eine Szene vor, in der Amor, von einer Range von zwölf Jahren gespielt, auf alle Fragen in weinerlichem Tonfall, die Finger in der Nase, „Ja, Mama . . . Nein, Mama“ antwortete. Daraufhin sperrte Jupiter mit der Strenge eines Lehrers, der sich ärgert, Amor in ein dunkles Zimmer ein und gab ihm auf, zwanzigmal das Verb „lieben“ zu konjugieren. Mehr Anklang fand das Finale, ein Chor, den alle Mitwirkenden und das Orchester glanzvoll und mit Feuer vortrugen. Aber als der Vorhang gefallen war, versuchte die Claque vergebens, einen Hervorruf zu erreichen; alle Leute standen und wandten sich schon den Ausgängen zu.
Zwischen die Reihen der Sessel eingekeilt, trat man von einem Fuß auf den anderen, stieß sich herum und tauschte seine Eindrücke aus. Ein und dieselbe Bemerkung machte die Runde: „So ein Blödsinn!“
Ein Kritiker sagte, darin müsse man noch ganz schön streichen. Am Stück war übrigens niemand gelegen; es wurde vor allem über Nana gesprochen. Fauchery und La Faloise, die mit zuerst herausgegangen waren, trafen Steiner und Mignon auf dem Gang des Sperrsitzes. Man erstickte in diesem langen Schlauch, der eng und niedrig wie ein Bergwerksstollen war und den Gaslampen beleuchteten. Einen Augenblick lang blieben sie am Fuß der Treppe zur Rechten stehen, durch das vorspringende Geländer geschützt. Die Zuschauer der billigen Plätze kamen mit einem ununterbrochenen Krach derber Schuhe herunter; die Woge der schwarzen Fracks zog vorüber, während eine Platzanweiserin die größten Anstrengungen machte, einen Stuhl, auf dem sie Kleidungsstücke aufgehäuft hatte, vor dem Gedränge zu schützen.
„Aber ich kenne sie ja!“ rief Steiner, sobald er Fauchery erblickte. „Ganz bestimmt, irgendwo habe ich sie gesehen . . . Im Casino, glaube ich, und dort ist sie festgenommen worden, so besoffen war sie.“
„Ich weiß nicht mehr genau“, sagte der Journalist, „mir geht es wie Ihnen, ich bin ihr sicher begegnet...“ Er senkte die Stimme und fügte lachend hinzu: „Vielleicht bei der Tricon.“
„Donnerwetter! An einem schmutzigen Ort“, erklärte Mignon, der aufgebracht zu sein schien. „Es ist widerlich, daß das Publikum die erste beste hergelaufene Schlampe so empfängt. Bald werden keine anständigen Frauen mehr beim Theater sein . . . Ja, ich werde Rose schließlich verbieten zu spielen.“
Fauchery konnte nicht umhin zu lächeln.
Währenddessen nahm das Heruntergepolter der derben Schuhe auf den Stufen kein Ende; ein kleiner Mann mit einer Mütze sagte mit schleppender Stimme: „Oh, là là, die ist ganz schön mollig! Da ist was dran.“
Auf dem Gang stritten sich zwei junge Leute, die mit dem Brenneisen gekräuseltes Haar hatten und mit ihren Eckenkragen sehr korrekt aussahen. Der eine wiederholte das Wort: „Ekelhaft! Ekelhaft!“, ohne einen Grund dafür anzugeben; der andere antwortete mit dem Wort: „Großartig! Großartig!“, ebenfalls jeglichen Beweis verschmähend.
La Faloise fand Nana sehr gut; er wandte nur ein, daß sie besser wäre, wenn sie ihre Stimme bilden würde.
Da schien Steiner, der nicht mehr zuhörte, plötzlich aufzufahren. Im übrigen müsse man abwarten. Vielleicht würde in den folgenden Akten alles schiefgehen. Das Publikum habe Entgegenkommen gezeigt, aber erschüttert sei es bestimmt noch nicht.
Mignon schwor, das Stück werde nicht zu Ende gespielt werden, und als Fauchery und La Faloise sie verließen, um nach oben ins Foyer zu gehen, ergriff er Steiners Arm, drängte sich an seine Schulter heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Mein Lieber, im zweiten Akt, das Kostüm meiner Frau, sie werden ja sehen . . . Es ist einfach wüst!“
Oben im Foyer brannten drei Kristallkronleuchter mit grellem Licht. Die beiden Vettern zögerten einen Augenblick; die aufgeklappte Glastür ließ von einem Ende des langen Raumes zum anderen ein Gewoge von Köpfen erkennen, das zwei Strömungen in fortwährendem Strudel davontrugen. Sie traten trotzdem ein. Fünf oder sechs Gruppen von sehr laut redenden und gestikulierenden Männern behaupteten sich hartnäckig inmitten des Gestoßes; die anderen gingen reihenweise dahin und drehten sich auf ihren Absätzen um, die auf dem gebohnerten Parkett klappten. Rechts und links zwischen Säulen aus jaspisfarbigem Marmor betrachteten Frauen, die auf roten Samtbänken saßen, mit müder Miene, gleichsam erschlafft durch die Hitze, die vorüberziehende Woge; und hinter ihnen sah man in hohen Spiegeln ihre Haarknoten. Hinten vor dem Büfett trank ein Mann mit dickem Bauch ein Glas Fruchtsaft.
Doch Fauchery war auf den Balkon gegangen, um Luft zu schöpfen. La Faloise, der eingerahmte Photographien von Schauspielerinnen studierte, die, mit den Spiegeln abwechselnd, zwischen den Säulen hingen, folgte ihm schließlich. Soeben war die Gaslichtrampe am Giebel des Theaters ausgelöscht worden. Auf dem Balkon, der ihnen leer vorkam, war es stockdunkel und sehr frisch. Nur ein junger Mann stand, von der Finsternis eingehüllt, die Ellbogen auf das steinerne Geländer gestützt, in der rechten Türöffnung und rauchte eine Zigarette, deren Glut aufleuchtete. Fauchery erkannte Daguenet. Sie drückten sich die Hand.
„Was machen Sie denn hier, mein Lieber?“ fragte der Journalist. „Sie verstecken sich in engen Winkeln, wo Sie sonst an Premierenabenden nie das Parkett verlassen.“ „Aber Sie sehen doch, ich rauche“, antwortete Daguenet.
Darauf sagte Fauchery, um ihn in Verlegenheit zu bringen: „Na, was halten Sie von der Debütantin? — Auf den Gängen macht man sie ziemlich runter.“
„Oh“, murmelte Daguenet, „Männer, die sie wahrscheinlich nicht gewollt hat.“ Das war sein ganzes Urteil über Nanas Begabung.
La Faloise beugte sich vor und betrachtete den Boulevard. Gegenüber waren die Fenster eines Hotels und eines Klubs hell erleuchtet, während auf dem Bürgersteig eine schwarze Masse von Gästen die Tische des Café de Madrid einnahm. Trotz der vorgerückten Stunde drängte sich die Menge; man ging mit langsamen Schritten voran; ständig kamen Menschen aus der Passage Jouffroy, Leute warteten fünf Minuten lang, bevor sie die Straße überqueren konnten, so weit erstreckte sich die Reihe der Wagen.
„Was für ein Verkehr! Was für ein Lärm!“ sagte La Faloise immer wieder, den Paris noch in Erstaunen setzte.
Ein langes Klingeln ertönte, das Foyer leerte sich. In den Gängen hastete man. Der Vorhang war hochgezogen, als Leute scharenweise zum Mißvergnügen der schon sitzenden Zuschauer wieder hereinkamen. Jeder nahm mit belebtem und aufs neue gespanntem Gesicht seinen Platz wieder ein. La Faloises erster Blick galt Gaga; aber erstaunt stutzte er, als er den großen Blonden bei ihr sah, der vorhin in Lucys Proszeniumsloge gewesen war.
„Wie heißt denn dieser Herr?“ fragte er.
Fauchery sah ihn nicht.
„Ach ja, Labordette“, sagte er schließlich mit derselben unbekümmerten Geste.
Die Dekoration des zweiten Aktes war eine Überraschung. Man befand sich in einer Tanzkneipe vor den Toren, in der „Boule-Noire“, mitten am Fastnachtsdienstag; Bettscheißermasken sangen einen Rundgesang, dessen Kehrreim sie begleiteten, indem sie mit den Hacken aufstampften. Dieser pöbelhafte Abstecher, auf den man ganz und gar nicht gefaßt war, erheiterte derartig, daß der Rundgesang wiederholt werden mußte. Und in diesem Augenblick kam die Schar der Götter, die von Iris, die sich fälschlicherweise rühmte, die Erde zu kennen, irregeleitet worden war, herein, um zu ihrer Untersuchung zu schreiten. Sie hatten sich verkleidet, um ihr Inkognito zu wahren. Jupiter trat als König Dagobert auf, mit verkehrt herum angezogener Kniehose und einer riesigen Krone aus Blech. Phöbus erschien als Postillon von Lonjumeau und Minerva als normannische Amme. Große Heiterkeitsausbrüche empfingen Mars, der das närrische Kostüm eines Schweizer Admirals trug. Aber das Gelächter wurde anstößig, als man Neptun erblickte, der — mit einem Kittel bekleidet, eine hohe Ballonmütze auf dem Kopf — Schmachtlocken an die Schläfen geklebt hatte, mit seinen Pantoffeln schlurfte und mit fettiger Stimme sagte: „Bitte! Wenn man ein schöner Mann ist, soll man sich ruhig richtig lieben lassen!“ Es waren einige Oh-Oh-Rufe zu hören, während die Damen ihre Fächer ein wenig höher hoben. Lucy lachte so schallend in ihrer Proszeniumsloge, daß Caroline Héquet sie mit einem leichten Schlag mit dem Fächer zum Schweigen brachte.
Von da ab war das Stück gerettet, ein großer Erfolg bahnte sich an. Dieser Götterkarneval, der in den Schmutz gezogene Olymp, eine ganze Religion, eine ganze Poesie, die lächerlich gemacht wurden, all das schien ein erlesener Festschmaus zu sein. Das Fieber der Ehrfurchtslosigkeit bemächtigte sich des gebildeten Premierenpublikums; man trampelte auf den Sagen herum und zerschlug die antiken Götterbilder. Jupiter konnte viel vertragen, Mars war famos gelungen. Das Königtum wurde zur Posse und die Armee zu einem Ulk. Als Jupiter, der sich urplötzlich in eine kleine Wäscherin verliebte, einen wilden Cancan aufs Parkett zu legen begann, schleuderte Simonne, die die Wäscherin spielte, dem Göttervater den Fuß ins Gesicht, wobei sie ihn so drollig „mein altes Dickerchen“ nannte, daß ein tolles Gelächter den Zuschauerraum erschütterte. Während getanzt wurde, spendierte Phöbus kübelweise Glühwein für Minerva, und Neptun thronte mitten unter sieben oder acht Frauen, die ihn mit Kuchen bewirteten. Man verstand die Anspielungen, fügte Zoten hinzu, die harmlosen Worte wurden durch die Zurufe aus dem Parkett in ihrem Sinn verdreht. Seit langem hatte sich das Publikum im Theater nicht in respektloserer Dummheit gesielt. Das verschaffte ihm Erholung.
Doch inmitten dieser Verrücktheiten nahm die Handlung ihren Fortgang. Vulkan, als schicker Bursche ganz in Gelb gekleidet, mit gelben Handschuhen, ein Monokel ins Auge geklemmt, lief dauernd hinter Venus her, die schließlich als Fischweib erschien, mit Kopftuch, überquellendem Busen und mit schwerem, goldenem Schmuck behängt. Nana war so weiß und so üppig, so sehr Natur in dieser Rolle mit tüchtigen Hüften und tüchtiger Schnauze, daß sie auf der Stelle den ganzen Zuschauerraum für sich gewann. Darüber vergaß man Rose Mignon, ein entzückendes Baby mit einem Tragkissen aus Weidengeflecht und einem kurzen Musselinkleid, die gerade die Klagen Dianas mit bezaubernder Stimme hingeschmachtet hatte. Die andere, diese dicke Dirne, die sich auf die Schenkel schlug, die wie eine Henne gluckste, verbreitete rings um sich einen Lebensgeruch, eine weibliche Allmacht, woran sich das Publikum berauschte. Von diesem zweiten Akt an war ihr alles erlaubt: sich ungeschickt auf der Bühne zu benehmen, keinen Ton richtig zu singen und ein schwaches Gedächtnis zu haben; sie brauchte sich nur umzudrehen und zu lachen, um Bravorufe zu ernten. Wenn sie in ihrer berühmten Weise kurz mit den Hüften wippte, fing das Parkett Feuer, und eine Glut stieg von Rang zu Rang bis zum Gewölbe empor. So wurde es denn auch ein Triumph, als sie den Betrieb in der Kneipe in die Hand nahm. Dort war sie zu Hause; die Faust in die Hüfte gestemmt, verpflanzte sie Venus in die Gosse an den Rand des Bürgersteiges. Und die Musik schien wie geschaffen für ihre Vorstadtstimme, eine Bumsmusik, ein Widerhall des Jahrmarkts von Saint-Cloud, mit Klarinettengeniese und Luftsprüngen der Piccoloflöten.
Zwei Stücke wurden noch da capo verlangt. Der Walzer aus der Ouvertüre, dieser Walzer im Gassenhauerrhythmus, war wiedergekehrt und riß die Götter mit. Juno, als Pächtersfrau, erwischte Jupiter mit seiner Wäscherin und ohrfeigte ihn. Diana, die Venus dabei überraschte, wie sie Mars ein Stelldichein gab, verriet schleunigst Ort und Stunde an Vulkan, der ausrief: „Ich habe meinen Plan.“ Der Rest schien nicht ganz klar. Die Untersuchung endete mit einem Schlußgalopp, nach dem Jupiter völlig außer Atem, schweißgebadet und ohne Krone, erklärte, die Frauchen auf der Erde seien köstlich und bei den Männern läge alle Schuld.
Der Vorhang fiel, als Stimmen, die die Bravorufe übertönten, ungestüm schrien: „Alle! Alle!“
Dann ging der Vorhang von neuem hoch; die Künstler erschienen wieder, sich an den Händen haltend. In der Mitte verbeugten sich Nana und Rose Mignon Seite an Seite. Es wurde geklatscht; die Claque stieß Beifallsrufe aus. Dann leerte sich der Zuschauerraum langsam zur Hälfte.
„Ich muß die Gräfin Muffat begrüßen gehen“, sagte La Faloise.
„Allerdings, du wirst mich vorstellen“, antwortete Fauchery. „Nachher werden wir hinuntergehen.“
Aber es war nicht leicht, zu den Balkonlogen zu gelangen. Im Gang oben herrschte ein furchtbares Gedränge. Um inmitten der Gruppen vorwärts zu kommen, mußte man sich dünn machen und sich durchzwängen, indem man die Ellbogen gebrauchte. Unter einer kupfernen Lampe, in der eine Gasflamme brannte, an die Wand gelehnt, beurteilte der dicke Kritiker das Stück vor einem aufmerksamen Kreis. Leute nannten beim Vorbeigehen einander halblaut seinen Namen. Den ganzen Akt hindurch habe er gelacht, ging das Gerücht in den Wandelgängen; er erwies sich jedoch als sehr streng und sprach von Geschmack und Moral. Weiter entfernt war der Kritiker mit den dünnen Lippen voller Wohlwollen, das einen schlechten Nachgeschmack wie sauer gewordene Milch hatte.
Fauchery durchsuchte die Logen mit einem Blick durch die runden Öffnungen, die in die Türen eingelassen waren. Aber Graf de Vandeuvres hielt ihn an und stellte ihm Fragen; und als er erfuhr, daß die beiden Vettern die Muffats begrüßen wollten, verwies er sie nach Loge sieben, aus der er gerade kam. Dann neigte er sich zum Ohr des Journalisten und meinte:
„Sagen Sie, mein Lieber, diese Nana, das ist doch sicherlich die, die wir einen Abend an der Ecke der Rue de Provence gesehen haben...“
„Sieh mal an! Sie haben recht“, rief Fauchery. „Ich sagte doch, daß ich sie kenne.“
La Faloise stellte seinen Vetter Graf Muffat de Beuville vor, der sich sehr kühlzeigte. Aber beim Namen Faucherys hatte die Gräfin den Kopf erhoben und beglückwünschte den Berichterstatter mit einem maßvollen Satz zu seinen Artikeln im „Figaro“. Mit den Ellbogen auf den Samt der Brüstung gestützt, drehte sie sich mit einer hübschen Bewegung der Schultern halb herum. Man plauderte einen Augenblick, und die Unterhaltung wandte sich der Weltausstellung zu.
„Es wird sehr schön werden“, sagte der Graf, dessen viereckiges und regelmäßiges Gesicht eine offizielle Würde wahrte. „Ich habe heute das Champ-de-Mars besichtigt . . . Ich bin ganz erstaunt von dort zurückgekommen.“
„Es wird behauptet, daß man nicht fertig wird“, wagte La Faloise zu sagen. „Es herrscht ein Durcheinander . . .“
Doch der Graf unterbrach ihn mitseiner strengen Stimme:
„Man wird fertig werden . . . Der Kaiser will es.“
Fauchery erzählte heiter, er sei eines Tages, als er dort hingegangen war, um Stoff für einen Artikel zu suchen, beinahe im Aquarium steckengeblieben, das damals gerade im Bau war.
Die Gräfin lächelte. Zuweilen schaute sie in den Zuschauerraum, hob einen ihrer Arme, die mit weißen, bis zum Ellenbogen reichenden Handschuhen bekleidet waren, und fächelte sich mit lässiger Hand Luft zu.
Der fast leere Zuschauerraum schlummerte. Im Parkett hatten einige Herren Zeitungen entfaltet. Frauen hielten, ganz ungezwungen wie bei sich zu Hause, Empfänge ab. Es war wie in guter Gesellschaft nur noch ein Geflüster unter dem Kronleuchter, dessen helles Licht von dem feinen Staub gedämpft wurde, der von dem Hin und Her in der Pause aufgewirbelt worden war. An den Türen pferchten sich Männer zusammen, die die auf ihren Plätzen sitzen gebliebenen Frauen sehen wollten; und unbeweglich standen sie eine Minute lang da mit dem großen weißen Herz ihrer Hemdbrüste und reckten den Hals.
„Wir zählen auf Sie nächsten Dienstag“, sagte die Gräfin zu La Faloise. Sie lud Fauchery ein, der sich verneigte.
Von dem Stück wurde überhaupt nicht gesprochen; Nanas Name wurde nicht erwähnt. Der Graf wahrte eine so eisige Würde, daß man glauben konnte, er sei auf irgendeiner Sitzung des Corps législatif. Um ihre Anwesenheit zu erklären, sagte er bloß, sein Schwiegervater liebe das Theater. Die Logentür hatte offenbleiben müssen; der Marquis de Chouard, der hinausgegangen war, um seinen Platz den Besuchern zu überlassen, richtete seine Greisengestalt mit dem weichen, weißen Gesicht unter einem Hut mit breiter Krempe hoch auf und blickte mit seinen schwachen Augen den Frauen nach, die vorübergingen.
Sobald die Gräfin ihre Einladung ausgesprochen hatte, verabschiedete sich Fauchery, da er fühlte, daß es unpassend sei, über das Stück zu sprechen. La Faloise verließ die Loge als letzter. Er hatte eben in der Proszeniumsloge des Grafen de Vandeuvres den blonden Labordette bemerkt, der sich dort kurzerhand niedergelassen hatte und sich vertraulich mit Blanche de Sivry unterhielt.
„Also, hör mal“, sagte er, sobald er seinen Vetter eingeholt hatte, „dieser Labordette kennt wohl alle Frauen, was? — Jetzt ist er da bei Blanche.“
„Aber natürlich kennt er sie alle“, antwortete Fauchery seelenruhig. „Wo kommst du eigentlich her mein Lieber?“
Der Gang war etwas leerer geworden. Fauchery wollte gerade hinuntergehen, als Lucy Stewart ihn rief. Sie stand ganz hinten vor der Tür ihrer Proszeniumsloge. Da drinnen schmore man, sagte sie; und in Gesellschaft von Caroline Héquet und ihrer Mutter, die gebrannte Mandeln knabberten, nahm sie die ganze Breite des Korridors ein. Eine Logenschließerin plauderte mütterlich mit ihnen. Lucy zankte den Journalisten aus: er sei nett, er komme herauf und besuche die anderen Frauen und er erkundige sich nicht einmal danach, ob sie Durst hätten! Dann ließ sie dieses Thema fallen und sagte: „Weißt du, mein Lieber, ich finde, Nana sieht sehr gut aus.“
Sie wollte, daß er für den letzten Akt in der Proszeniumsloge blieb; doch er entwischte, indem er versprach, sie alle am Ausgang abzuholen.
Unten vor dem Theater zündeten sich Fauchery und La Faloise eine Zigarette an. Ein Auflauf versperrte den Bürgersteig, eine lange Reihe von Menschen, die die Freitreppe heruntergekommen waren und inmitten des abgeebbten Getöses des Boulevards die Kühle der Nacht einatmeten.
Mignon hatte inzwischen Steiner in das Café des Variétés mitgeschleppt. Da er Nanas Erfolg sah, hatte er begonnen, begeistert von ihr zu sprechen, wobei er den Bankier verstohlen von der Seite anblickte. Er kannte ihn; zweimal hatte er ihm geholfen, Rose zu betrügen. Dann hatte er ihn, als die kurze Liebschaft vorbei war, wieder reumütig und treu zurückgebracht. Im Café drängten sich die viel zu zahlreichen Gäste um Marmortische. Manche tranken überstürzt im Stehen; und die breiten Spiegel warfen dieses Gewimmel von Köpfen unendlich oft zurück und vergrößerten den engen Raum mit seinen drei Kronleuchtern, seinen Plüschbänken und seiner rot ausgeschlagenen Wendeltreppe ins Maßlose. Steiner ließ sich an einem Tisch im ersten Raum nieder, der nach dem Boulevard hin offen war und dessen Türen man ein bißchen früh für die Jahreszeit entfernt hatte. Als Fauchery und La Faloise vorbeigingen, hielt sie der Bankier an.
„Trinken Sie doch ein Bier mit uns.“
Doch ein Gedanke beschäftigte ihn unaufhörlich: er wollte Nana einen Blumenstrauß zuwerfen lassen. Schließlich rief er einen Kellner des Cafés, den er vertraulich Auguste nannte. Mignon, der zuhörte, sah ihn so offen an, daß er ganz verwirrt wurde und stammelte:
„Zwei Blumensträuße, Auguste, und geben Sie sie bei der Logenschließerin ab; einen für jede der Damen, im günstigen Augenblick, nicht wahr?“
Am anderen Ende des Raumes saß, den Nacken gegen den Rahmen eines Spiegels gelehnt, ein höchstens achtzehnjähriges Mädchen regungslos vor einem leeren Glas, wie erstarrt von langem und vergeblichem Warten. Unter den natürlichen Locken ihres schönen aschblonden Haars hatte sie ein jungfräuliches Gesicht mit sanften und unschuldigen Samtaugen; sie trug ein grünes, verschossenes Seidenkleid und einen runden Hut, den Ohrfeigen verbeult hatten. Von der Kühle der Nacht war sie ganz weiß.
„Sieh mal an, da sitzt Satin“, murmelte Fauchery, als er sie erblickte.
La Faloise fragte ihn aus. Oh, ein Straßenmädchen vom Boulevard, ganz unbedeutend. Aber sie habe eine solche Schandschnauze, daß man sich einen Spaß daraus mache, sie zum Reden zu bringen. Und mit erhobener Stimme fragte der Journalist:
„Was machst du denn da, Satin?“
„Ich kotze mich an“, antwortete Satin seelenruhig, ohne sich zu rühren.
Entzückt begannen die vier Männer zu lachen.
Mignon versicherte, sie brauchten sich nicht zu beeilen; für den Umbau zum dritten Akt benötige man zwanzig Minuten. Aber die beiden Vettern, die ihr Bier ausgetrunken hatten, wollten wieder hineingehen, ihnen wurde langsam kalt. Darauf stützte sich Mignon, der mit Steiner allein geblieben war, mit den Ellbogen auf und sprach ganz offen mit ihm:
„Na, abgemacht, wir gehen zu ihr, ich stelle Sie vor . . . Natürlich bleibt das unter uns, meine Frau braucht das nicht zu wissen.“
Als Fauchery und La Faloise auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, fiel ihnen in einer Loge des zweiten Ranges eine hübsche, bescheiden gekleidete Frau auf. Sie war in Begleitung eines gesetzt aussehenden Herrn, eines Bürovorstehers im Innenministerium, den La Faloise kannte, da er ihm bei den Muffats begegnet war. Fauchery seinerseits glaubte, sie heiße Madame Robert: eine anständige Frau, die einen Geliebten habe, nicht mehr, und immer einen achtbaren Mann.
Aber sie mußten sich umdrehen. Daguenet lächelte ihnen zu. Jetzt, da Nana Erfolg hatte, verbarg er sich nicht mehr; er hatte soeben auf den Gängen einen Triumph gefeiert. Neben ihm hatte der junge Wildfang seinen Sessel nicht verlassen, so betäubt war er vor Bewunderung, in die ihn Nana versetzt hatte. Das war es also, das war die Frau! Und er wurde ganz rot, mechanisch zog er seine Handschuhe an und wieder aus. Da sein Nachbar von Nana gesprochen hatte, wagte er ihn dann zu fragen:
„Verzeihung, mein Herr, kennen Sie die Dame vielleicht, die spielt?“
„Ja, flüchtig“, murmelte Daguenet überrascht und zögernd. „Dann kennen Sie ihre Adresse?“
Die an ihn gerichtete Frage fiel so unverblümt, daß er Lust hatte, sie mit einer Ohrfeige zu beantworten.
„Nein“, sagte er trocken. Und er kehrte ihm den Rücken zu.
Der blonde Jüngling begriff, daß er da etwas Unpassendes begangen hatte; er errötete noch mehr und blieb verstört sitzen.
Das dreimalige Klopfzeichen ertönte. Logenschließerinnen, die mit Pelzen und Mänteln beladen waren, wollten inmitten der hereinkommenden Menge unbedingt die Kleidungsstücke zurückgeben. Die Claque beklatschte das Bühnenbild: eine Grotte des Berges Ätna, die in eine Silbermine gegraben war und deren Wände wie neue Taler funkelten; die Schmiede Vulkans im Hintergrund sah aus wie ein Sonnenuntergang. Schon in der zweiten Szene einigte sich Diana mit dem Gott, der eine Reise vortäuschen sollte, um das Feld für Venus und Mars zu räumen. Kaum war Diana dann allein, erschien Venus. Ein Schauer erregte den Zuschauerraum. Nana war nackt. Sie war nackt mit gelassener Verwegenheit, der Allmacht ihres Fleisches gewiß. Lediglich ein Flor hüllte sie ein; ihre runden Schultern, ihre amazonenhaften Brüste, deren rosige Spitzen aufrecht und starr wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die in wollüstigem Wiegen rollten, ihre Schenkel einer üppigen Blondine, ihr ganzer Leib war unter dem leichten schaumweißen Gewebe zu erraten, zu sehen. Das war Venus, die aus den Wogen geboren wird und als Schleier nur ihre Haare hat. Und wenn Nana die Arme hob, gewahrte man im Rampenlicht die goldnen Haare ihrer Achselhöhlen. Es gab keinen Applaus. Niemand lachte mehr, die ernsten Gesichter der Männer spannten sich, die Nase schmal geworden, der Mund gereizt und ohne Speichel. Ein ganz sanfter, mit einer dumpfen Drohung geladener Wind schien vorübergeweht zu sein. Ganz plötzlich stand in dem gutmütigen Kind beunruhigend die Frau auf mit dem Wahnsinnsausbruch ihres Geschlechts, das Unbekannte des Verlangens eröffnend. Nana lächelte immer noch, aber mit dem grellen Lächeln einer männerverschlingenden Frau.
„Donnerwetter!“ sagte Fauchery lediglich zu La Faloise. Inzwischen kam Mars mit seinem Federbusch zu dem Stelldichein gelaufen und stand zwischen den beiden Göttinnen. Nun gab es eine Szene, die Prullière ausgezeichnet spielte: von Diana geliebkost, die einen letzten Versuch mit ihm anstellen wollte, bevor sie ihn Vulkan auslieferte, von Venus umschmeichelt, die die Gegenwart ihrer Rivalin aufstachelte, überließ er sich diesen Wonnen mit der seligen Miene eines Hahnes im Korbe. Dann schloß ein großes Terzett die Szene ab; und in dem Augenblick tauchte eine Logenschließerin in Lucy Stewarts Loge auf und warf zwei riesige weiße Fliedersträuße auf die Bühne. Es wurde geklatscht, Nana und Rose Mignon verneigten sich, während Prullière die Blumensträuße aufhob. Ein Teil des Sperrsitzes wandte sich lächelnd nach der Parterreloge um, die Steiner und Mignon innehatten. Der Bankier, blutrot im Gesicht, bekam ein schwaches, krampfartiges Zucken am Kinn, als sei ihm irgend etwas in der Kehle steckengeblieben.
Das Folgende packte den Zuschauerraum vollends. Diana war wütend davongegangen. Sogleich rief Venus, die auf einer bemoosten Bank saß, Mars zu sich. Noch niemals war eine hitzigere Verführungsszene gewagt worden. Nana hatte die Arme um Prullières Hals geschlungen und zog ihn an sich, als Fontan, der sich einer Mimik von spaßhafter Wut überließ und die Rolle eines beleidigten Ehemannes, der seine Frau auf frischer Tat ertappt, übertrieb, im Hintergrund der Grotte auftauchte. Er hielt das berühmte Netz mit den eisernen Maschen in der Hand. Einen Augenblick lang schwang er es hin und her wie ein Fischer, der ein Wurfnetz auswerfen will, und mit einem gewitzten Trick wurden Venus und Mars in der Falle gefangen. Das Netz umstrickte sie und machte sie in ihrer Stellung glücklich Liebender unbeweglich.
Ein Gemurmel stieg auf wie ein anschwellender Seufzer. Einige Hände klatschten, alle Operngläser waren auf Venus gerichtet. Nach und nach hatte Nana vom Publikum Besitz ergriffen, und jetzt war ihr jeder Mann hörig. Die Brunst, die von ihr aufstieg wie von einem läufigen Tier, hatte immer weiter um sich gegriffen und erfüllte den Zuschauerraum. Nun fachten ihre geringsten Bewegungen die Begierde an, mit einer Geste ihres kleinen Fingers wendete sie das Fleisch um und um. Rücken krümmten sich und bebten, als strichen unsichtbare Bogen über die Muskeln; auf Nakken waren Flaumhärchen zu sehen, die unter einem lauen, dahinhuschenden Hauch, der aus irgendeinem Frauenmund kam, aufflogen. Fauchery sah den Wildfang vor sich, den die Leidenschaft in seinem Sessel hochtrieb. Ihn packte die Neugierde, Graf de Vandeuvres zu betrachten, der sehr bleich war und die Lippen zusammengekniffen hatte, den dicken Steiner, dessen Apoplektikergesicht geradezu barst, Labordette, der mit der erstaunten Miene eines Pferdehändlers, der eine vollkommene Stute bewundert, durch sein Glas blickte, und Daguenet, dessen Ohren vor Erregung blutrot waren und zuckten. Dann ließ ihn eine dunkle Ahnung einen Blick nach hinten werfen, und er war ganz erstaunt über das, was er in der Loge der Muffats sah: hinter der bleichen und ernsten Gräfin stand hoch aufgerichtet der Graf mit offenem Mund, das Gesicht marmoriert von roten Flecken, während neben ihm im Dunkeln die schwachen Augen des Marquis de Chouard zu zwei phosphoreszierenden, mit goldenem Flitter durchsetzten Katzenaugen geworden waren. Man erstickte, das Haar lastete immer schwerer auf den schwitzenden Köpfen. Seit drei Stunden saß man da, der Atem hatte die Luft mit Menschengeruch erhitzt. Im Flackern des Gaslichts wurden die Staubschwaden, die unbeweglich unter dem Kronleuchter schwebten, immer dichter. Der ganze Zuschauerraum schwankte und taumelte matt und erregt in einem Rausch, von jenen schlummernden, mitternächtlichen Begierden ergriffen, die tief im Alkoven stammeln. Und diesem vor Wonne vergehenden Publikum, diesen fünfzehnhundert zusammengepferchten Menschen gegenüber, die in der Erschöpfung und der Nervenzerrüttung einer zu Ende gehenden Vorstellung ertrunken waren, blieb Nana siegreich mit ihrem marmornen Fleisch, ihrem Geschlecht, das stark genug war, alle diese Menschen zu vernichten und keine Schramme von ihnen abzubekommen.
Das Stück ging zu Ende. Auf Vulkans Triumphgeschrei hin zog der ganze Olymp mit verblüfften und anzüglichen Ohund Ah-Rufen an den Liebenden vorüber. Jupiter sagte: „Mein Sohn, ich finde es leichtfertig von dir, uns herzurufen, damit wir uns das ansehen.“ Jetzt schlug die Stimmung zugunsten von Venus um. Der Hahnreichor, der aufs neue von Iris hereingeführt wurde, flehte den Göttervater an, seinem Ansuchen nicht weiter stattzugeben; seitdem die Frauen zu Hause blieben, werde das Leben für die Männer dort unerträglich; lieber wollten sie betrogen werden und zufrieden sein, was die Moral der Komödie war. Nun wurde Venus befreit. Vulkan erreichte eine Trennung von Tisch und Bett. Mars versöhnte sich mit Diana. Jupiter schickte seine kleine Wäscherin in ein Sternbild, um Frieden in seiner Ehe zu haben. Und schließlich wurde Amor aus seinem Karzer gezogen, wo er Männchen gemalt hatte, statt das Verb „lieben“ zu konjugieren. Der Vorhang fiel über einer Apotheose, bei der der Hahnreichor niedergekniet war und einen Hymnus der Dankbarkeit an Venus sang, die lächelnd und erhaben in ihrer souveränen Nacktheit dastand.
Die Zuschauer waren schon aufgestanden und strebten den Türen zu. Man nannte die Namen der Autoren, und unter donnernden Bravorufen gab es zwei Hervorrufe. Rasend rollte der Ruf „Nana! Nana!“ Dann — der Zuschauerraum war noch nicht leer — wurde es dunkel; das Rampenlicht erlosch, der Kronleuchter wurde heruntergeschraubt, lange Überzüge aus grauem Leinen glitten aus den Proszeniumslogen und verhüllten die Vergoldungen der Ränge; und dieser so heiße, so lärmende Saal fiel mit einem Schlag in einen schweren Schlaf, während ein Geruch nach Moder und Staub aufstieg. Die Gräfin Muffat sah, hoch aufgerichtet an der Brüstung ihrer Loge, in Pelze eingemummt, in das Dunkel und wartete, bis sich die Menge verlaufen hatte.
Auf den Gängen wurden die Logenschließerinnen angerempelt, die zwischen Haufen von heruntergerutschten Kleidungsstücken den Kopf verloren. Fauchery und La Faloise hatten sich beeilt, um am Ausgang zugegen zu sein. Das ganze Vestibül entlang standen Männer Spalier, während langsam zwei nicht enden wollende lange Reihen gleichmäßig und dichtgedrängt die Doppeltreppe herunterkamen. Steiner, den Mignon fortgezogen hatte, war unter den ersten davongegangen. Graf de Vandeuvres ging Arm in Arm mit Blanche de Sivry fort. Einen Augenblick lang schienen Gaga und ihre Tochter verlegen, aber Labordette suchte ihnen eilfertig einen Wagen, dessen Schlag er galant hinter ihnen schloß. Niemand sah Daguenet vorbeikommen. Als der Wildfang mit brennenden Wangen und entschlossen, vor dem Künstlereingang zu warten, in die Passage des Panoramas rannte, deren Gitter er verschlossen fand, kam Satin, die auf dem Bürgersteig stand, heran und streifte ihn mit ihren Röcken; aber verzweifelt wies er sie roh ab und verschwand dann mit Tränen der Begierde und der Ohnmacht in den Augen in der Menge. Zuschauer zündeten Zigarren an und trällerten beim Weggehen: „Wenn Venus abends bummeln geht . . .“ Satin war wieder vor das Café des Variétés zurückgegangen, wo Auguste sie die von den Gästen übriggelassenen Zuckerreste essen ließ. Ein dicker Mann, der äußerst aufgeräumt herauskam, nahm sie schließlich mit in das Dunkel des allmählich eingeschlafenen Boulevards.
Doch immer noch kamen Leute herunter. La Faloise wartete auf Clarisse. Fauchery hatte versprochen, Lucy Stewart mit Caroline Héquet und ihrer Mutter abzuholen. Sie kamen an und nahmen sehr laut lachend eine ganze Ecke des Vestibüls ein, als die Muffats mit eisiger Miene vorübergingen. Bordenave hatte gerade eine kleine Tür aufgestoßen und erhielt von Fauchery die ausdrückliche Zusage für einen Artikel. Er war schweißgebadet, sein Gesicht gerötet wie von jäher Sonne, gleichsam berauscht von dem Erfolg.
„Das reicht für zweihundert Vorstellungen“, sagte La Faloise verbindlich zu ihm. „Ganz Paris wird in Ihrem Theater vorbeiziehen.“