Nanny über Nacht - Alexandra Zöbeli - E-Book + Hörbuch

Nanny über Nacht Hörbuch

Alexandra Zöbeli

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Beschreibung

Ein Neuanfang im wunderschönen englischen Lake District: Der Wohlfühlroman »Nanny über Nacht« von Alexandra Zöbeli jetzt als eBook bei dotbooks. Eigentlich wollte Harriet nur ihren freien Tag genießen, als sie Zeugin eines Autounfalls wird. Sofort schaltet die Rettungssanitäterin in den Krisenmodus: Während sie dem verletzten Tom hilft, gilt dessen Sorge einzig seiner Tochter Poppy. Und ehe Harriet es sich versieht, steht sie in der alten Mühle, in der die beiden leben, und kümmert sich um Poppy, während Tom im Krankenhaus ist. Verflixtes Helfersyndrom! Glücklicherweise kommt sie besser mit dem Mädchen zurecht als gedacht. Und auch zu Tom fühlt sie sich nach dessen Rückkehr zunehmend hingezogen. Doch Harriet fallen immer mehr Ungereimtheiten auf. Wieso lebt Tom so zurückgezogen? Was hat er zu verbergen? Und wie soll sie sich gegen ihre Gefühle wehren, wenn sich Poppy und Tom doch längst in ihr Herz geschlichen haben?  Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Cosy-Romance-Roman »Nanny über Nacht« von Alexandra Zöbeli ist der erste Band ihrer »Lakeland Love«-Reihe und wird Fans von Jenny Colgan und Julie Caplin begeistern. Die Printausgabe und das Hörbuch sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:11 Std. 33 min

Sprecher:Hannah Baus
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Über dieses Buch:

Eigentlich wollte Harriet nur ihren freien Tag genießen, als sie Zeugin eines Autounfalls wird. Sofort schaltet die Rettungssanitäterin in den Krisenmodus: Während sie dem verletzten Tom hilft, gilt dessen Sorge einzig seiner Tochter Poppy. Und ehe Harriet es sich versieht, steht sie in der alten Mühle, in der die beiden leben, und kümmert sich um Poppy, während Tom im Krankenhaus ist. Verflixtes Helfersyndrom! Glücklicherweise kommt sie besser mit dem Mädchen zurecht als gedacht. Und auch zu Tom fühlt sie sich nach dessen Rückkehr zunehmend hingezogen. Doch Harriet fallen immer mehr Ungereimtheiten auf. Wieso lebt Tom so zurückgezogen? Was hat er zu verbergen? Und wie soll sie sich gegen ihre Gefühle wehren, wenn sich Poppy und Tom doch längst in ihr Herz geschlichen haben? 

»Nanny über Nacht« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Alexandra Zöbeli lebt gemeinsam mit ihrem Mann im Zürcher Oberland in der Schweiz. Sie ist bekennende Britoholikerin – verrückt nach allem, was von der Insel kommt. Mit ihren warmherzigen und humorvollen Romanen konnte sie sich eine große Fangemeinde erobern. Ihre Bücher werden aktuell in sechs Sprachen übersetzt.

Die Autorin im Internet: facebook.com/alex.zoebeli und instagram.com/alexandra.zoebeli/

Bei dotbooks erscheint außerdem ihr Roman »Scones zum Frühstück« als eBook.

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eBook-Ausgabe Juli 2024

Copyright © der Originalausgabe 2024 by Alexandra Zöbeli und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-139-1

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Alexandra Zöbeli

Nanny über Nacht

Roman, Lakeland Love 1

dotbooks.

Kapitel 1

Endlich Ferien! Endlich Zeit, sich um den verlotterten Garten zu kümmern. Es tat Harriet im Herzen weh, ihn derart vernachlässigt zu sehen, nachdem ihre Großmutter all die Jahre unzählige Stunden damit verbracht hatte, ihn liebevoll zu pflegen. Granny, wie Harriet ihre Großmutter immer genannt hatte, war anders als der Rest der Familie mit einem grünen Daumen geboren worden. Ganz egal, was Granny in die Erde gesteckt hatte, es war wunderbar gediehen, während bei Harriet sogar ein Kaktus ums nackte Überleben kämpfen musste. Aber sie gelobte Besserung. Zumindest hatte Harriet jetzt den entsprechenden Anreiz dazu.

Vor ein paar Monaten war sie in das alte Cottage mit den grüngrauen Fensterläden eingezogen, das idyllisch am Fuße der nördlichen Pennine-Gebirgskette lag. Nach Grannys Tod war das kleine Haus in den Besitz von Harriets Mum Sarah gelangt. »Ich habe nie verstanden, wie meine Mutter es hier ausgehalten hat. Die winzigen Räume sind völlig unpraktisch, und bei den tiefen Decken kriegt man Platzangst«, hatte Sarah damals schaudernd zu Harriet und ihren beiden Brüdern, Gregg und Giles, gesagt. Sie hatten ihr gerade dabei geholfen, die Sachen ihrer Granny auszuräumen. »Wenn keiner von euch hier einziehen will, übergebe ich es einem Immobilienmakler.«

Der Gedanke, jemand Fremdes könnte auf Grannys hölzerner Bank unter dem Apfelbaum sitzen, hatte Harriet einen Stich versetzt.

Zu jener Zeit hatte sie noch mitten in Penrith gewohnt, in einer Zweizimmerwohnung über einem Lebensmittelladen, gleich gegenüber einem Pub. Das war zwar ziemlich praktisch gewesen, aber auch nervtötend laut. Sie hatte daher kaum eine Sekunde gezögert, als ihre Brüder kein Interesse an dem alten Cottage gezeigt hatten. Im Gegensatz zu ihrer Familie störte Harriet sich nicht an den tief liegenden Balken im Wohnzimmer. Sie fand das gemütlich, und die dicken Mauern wirkten beschützend auf sie. Schon als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, sich mit einem Kissen in einem der Sitzfenster einzurichten und in die Welt der Bücher abzutauchen. Gerade wenn es draußen regnete und sie nicht im Garten ihren eigenen Abenteuern nachjagen hatte können.

Natürlich war Harriet sich bewusst gewesen, dass ihr Einsatzplan als Flugrettungssanitäterin bei der Great North Air Ambulance ihr kaum Zeit für die Pflege des Kleinods lassen würde. Aber es weggeben? Granny hätte sich im Grabe umgedreht. Und so war sie noch vor Weihnachten aus ihrer Wohnung ausgezogen, um gleich die Tücken der eigenen vier Wände kennenzulernen. Bereits in der dritten Nacht hatte die Heizung gestreikt. Wie praktisch war es zuvor gewesen, als sie einfach den Vermieter hatte bitten können, sich des Problems anzunehmen. Damit war es nun vorbei, sie musste sich selbst darum kümmern. Nach einer weiteren durchgefrorenen Nacht schaffte sie es, einen Handwerker aufzutreiben, der sogar Zeit hatte. Aber sein sorgenvoller Blick gefiel ihr gar nicht, als er aus dem Heizungsraum kam. Eine Reparatur würde sich nicht mehr lohnen, war seine nüchterne Zusammenfassung der Lage gewesen. Die Summe seines Kostenvoranschlags für eine neue Heizung hatte bei Harriet zu einem Schweißausbruch geführt. Leider hatte der aber nur kurz angehalten – ansonsten wäre das wohl die günstigste Variante gewesen, für Wärme zu sorgen.

Zwei Wochen später war ihr Kontostand zwar in Schieflage geraten, doch dafür musste sie nachts nicht mehr mit drei Schichten Kleidern, einer Mütze und einer Wärmflasche ins Bett gehen. Um den finanziellen Rückschlag wettzumachen, hatte sie in den letzten Monaten zusätzliche Schichten übernommen. Wer wusste schon, welche technischen Katastrophen das Cottage noch zu bieten hatte?

Aber nun hatte sie endlich eine ganze Woche Urlaub, und die schönste Jahreszeit hatte begonnen: der Frühling!

Genussvoll nahm Harriet einen Schluck aus ihrer Teetasse, mit der sie durch den Garten schlenderte. Gedanklich machte sie sich Notizen, was sie als Erstes in ihrem grünen Reich angehen wollte. Es war ihm deutlich anzusehen, dass Grannys Kräfte in den letzten Jahren nachgelassen hatten. Die Sträucher mussten dringend ausgelichtet werden. Brombeerranken hatten einige Teile des Gartens ganz übernommen, und auch die Ramblerrose am westlichen Zaun war zu einem verholzten Monster mutiert. Die Gemüsebeete waren unter dem Unkraut, das sich darin sichtlich wohlfühlte, nicht mehr zu erkennen. Wehmütig erinnerte sich Harriet daran, welche Leckereien Granny immer aus ihren Gartenschätzen gezaubert hatte. Aber, dachte Harriet mit einem leisen Seufzen, sie selbst würde kaum ähnliche Köstlichkeiten zubereiten. Denn wenn sie nach einer Zwölf-Stunden-Schicht nach Hause kam, hatte sie keine Lust, sich noch um das Gemüse zu kümmern, geschweige denn lange in der Küche zu stehen. Sie sollte stattdessen besser pflegeleichte Stauden in die Beete setzen oder gar eine Wildblumenwiese ansäen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie das blühende Paradies bereits vor sich. Schmetterlinge tanzten durch die Luft, während pummelige Hummeln versuchten, ihre Hintern in die pinkfarbenen Blüten der Fingerhüte zu zwängen.

Schmunzelnd öffnete Harriet wieder die Augen und blickte in die noch wenig erfreuliche Realität. Ob sie sich da nicht zu viel vornahm? Sie schaute um sich und entdeckte ein paar vereinzelte Narzissen und leuchtend rote Tulpen, die sich von dem Unkraut nicht hatten verdrängen lassen. Im Rasen, der mehr einer Wiese glich, verbreiteten Primeln und Gänseblümchen gute Laune. Es war, als ob die ersten Frühlingsblüher ihr Mut zuflüsterten, das Projekt Garten anzupacken.

Mittlerweile war Harriet bei dem Apfelbaum angelangt, dessen dicke Knospen verrieten, dass die Blüten nicht mehr lange auf sich warten ließen. Grannys Gartenbank, die sich unter seinen ausladenden Ästen befand, hatte allerdings ihre Blütezeit längst hinter sich. Shabby chic war ja schön und gut, aber chic war an der Bank nun leider gar nichts mehr. Sie würde sie abschleifen und frisch streichen müssen. Vielleicht sollte sie das gleich ganz oben auf ihre To-do-Liste setzen. So könnte sie im Sommer vor Schichtbeginn unter dem Apfelbaum ihren morgendlichen Tee genießen. Am besten ging sie gleich los und besorgte sich Schleifpapier und einen Eimer Farbe. Sie musste sowieso noch Lebensmittel einkaufen.

Mit diesem Ziel vor Augen kehrte sie zurück ins Haus, um sich ihre Geldbörse und die Autoschlüssel zu schnappen. Dabei warf sie einen kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel über der Kommode. Ihre rotblonden Locken hatte sie mit einem jeansfarbenen Tuch zusammengebunden, und der hellblaue Hoodie war noch ohne Flecken. Yep, sie war vorzeigbar. Mehr brauchte es nicht, denn sie war ja nicht auf dem Weg zu einer Party oder einem Date, sondern wollte lediglich einkaufen gehen.

Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Ein Date! Du meine Güte, als ob sie überhaupt noch wüsste, was das war. Ihre letzte Beziehung war mittlerweile vier Jahre her, seither war sie nur einmal mit einem Typen ausgegangen. Der hatte ihr aber so lange von seiner Ex vorgejammert, dass sie noch vor dem Nachtisch aufgestanden war und gemeint hatte: »Sei mir nicht böse, Rupert, aber besser, du lädst beim nächsten Mal deine Ex zum Essen ein.«

Mit offenem Mund hatte er ihr nachgeschaut, wie sie ihre Jacke angezogen und das Restaurant verlassen hatte. Irgendwann hatte sie ihr Glück noch mal über eine Dating-Plattform versucht, weil eine Kollegin ihr das empfohlen hatte. Tja, aber als ihr vermeintliches Match sie gebeten hatte, ihr ein Foto von ihren nackten Füßen zu senden, hatte sie sich nicht mehr gemeldet und ihr Konto gleich wieder gelöscht. Der Gedanke an den Fußfetischisten ließ sie auch jetzt noch schaudern.

Bei ihrer Arbeit lernte sie viele Menschen kennen, auch Männer natürlich. Einige, denen sie medizinisch geholfen hatte, hatten sie danach zu einem Date einladen wollen. Aber so etwas ging in Harriets Augen gar nicht. Job und Privatleben waren strikt zu trennen. Sie hatte schon oft genug mitbekommen, wie ehemalige Patienten Dankbarkeit mit Liebe verwechselten.

Natürlich wäre es schön, abends nach Hause zu kommen und von jemandem begrüßt zu werden, der auf sie wartete und sich dafür interessierte, wie ihr Tag gewesen war. Aber eigentlich ging es ihr auch allein gut. So musste sie zumindest keine Kompromisse eingehen, keine Probleme ausdiskutieren und sich nicht rechtfertigen, wenn ein Einsatz mal wieder etwas länger dauerte.

Zufrieden mit sich und der Welt setzte Harriet sich in ihren knallgrünen Mini und machte sich auf den Weg zum Farmers Market. Sie sang laut und leidenschaftlich einen Song im Radio mit, während sie Richtung Penrith fuhr. Erschrocken zuckte sie zusammen, als wie aus dem Nichts ein silberner Porsche Carrera mit völlig überhöhter Geschwindigkeit an ihr vorbeiflitzte. »Sag mal, geht’s noch?!«

Ihr Puls hatte sich gerade wieder normalisiert, als sie um die nächste Kurve bog, wo plötzlich mitten auf der Straße ein Lastwagen stand. Seine roten Rücklichter leuchteten ihr schrill entgegen. So heftig sie konnte, trat Harriet auf das Bremspedal. Es blieb nicht mal Zeit für ein Stoßgebet. Gottlob schien ihr Schutzengel zu den Strebern zu gehören, die keine persönliche Aufforderung brauchten. Nur wenige Zentimeter vor dem Lastwagenheck blieb ihr Mini stehen.

Erleichtert stieß Harriet den Atem aus und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Die Bremslichter vor ihr erloschen, die Kabinentür des Führerhauses flog auf, und der Fahrer kletterte hastig heraus. Ohne einen Blick an sie zu verschwenden, rannte er die leicht abfallende Wiese hinunter.

Erst jetzt bemerkte Harriet den dunkelblauen SUV, der in einer Trockensteinmauer steckte. Sie schaltete den Warnblinker ein und stieg ebenfalls aus. Dann schnappte sie sich ihr Warndreieck aus dem Kofferraum. So schnell sie konnte, lief sie damit ein Stück die Straße zurück, damit es nicht noch zu einem Auffahrunfall kam. Sobald das Warndreieck aufgebaut war, rannte auch Harriet über die Wiese zum Unfallwagen.

Das Dach des Toyotas war völlig zerbeult. Allem Anschein nach hatte er sich überschlagen, bevor er durch die Trockensteinmauer in den unmittelbar dahinter stehenden Baum geknallt war. Der Lastwagenfahrer zerrte an der Fahrertür, doch sie war so verzogen, dass er sie nicht aufbekam.

»Oh Gott, oh Gott …«, stotterte er und rüttelte weiter hektisch an der Wagentür. Es war offensichtlich, dass er selbst völlig neben sich stand.

»Ich bin Rettungssanitäterin, darf ich mal?«

Der Fahrer trat zur Seite, um Harriet Platz zu machen. Sie blickte in den Wagen hinein und sah darin einen Mann sitzen. Er hatte den Kopf gegen die Stütze gelehnt und hielt die Augen geschlossen. Wäre da nicht der erschlaffte Airbag gewesen, der über dem Lenkrad ausgebreitet lag, hätte man fast denken können, er würde schlafen.

Beherzt klopfte Harriet an die Scheibe: »Hallo, Sir, können Sie mich hören?« Der Mann regte sich nicht. Sie drehte sich zum Lastwagenfahrer herum. »Haben Sie in Ihrem Wagen etwas, womit wir die Scheibe einschlagen können?«

»Ich denke schon …«, stotterte der Typ, der sichtlich froh war, dass jemand anderes das Kommando übernahm.

»Dann holen Sie es bitte her. Los, los, Tempo!«, trieb sie ihn an.

Während der stämmige Kerl wieder zur Straße hochkeuchte, versuchte Harriet, eine der anderen Türen aufzubekommen. Ohne Erfolg. Glücklicherweise sah sie nirgendwo Rauch aus dem Fahrzeug aufsteigen. Zumindest würde ihnen nicht gleich alles um die Ohren fliegen.

Erneut klopfte sie energisch an die Fensterscheibe. »Hallo, Sir! Sir! Ist alles okay?« Der Mann im Wagen rührte sich noch immer nicht.

Routiniert zog Harriet ihr Handy aus der Jeans und wählte die 999. »Harriet Watts hier, ich bin Rettungssanitäterin bei der Flugrettung GNAA«, stellte sie sich kurz vor, kaum dass die freundliche Stimme der Notruf-Mitarbeiterin sich gemeldet hatte. »Ich bin nicht im Dienst, aber hier auf der B 6413 hat sich gerade ein Verkehrsunfall ereignet. Ein Personenwagen muss sich überschlagen haben und steckt in einer Trockenmauer, oder besser gesagt in dem Baum dahinter«, verbesserte sie sich. »Eine bewusstlose männliche Person befindet sich noch im Wagen. Wir brauchen die Feuerwehr und vermutlich auch die GNAA. Ich bin noch nicht zum Verletzten vorgedrungen und weiß daher nicht mit Sicherheit, ob er noch lebt.« Sie nannte der Dame die genauen Koordinaten, damit die Rettung so rasch wie möglich losgeschickt werden konnte. »Ich melde mich gleich noch mal, wenn ich ins Innere des Wagens gelangt bin und mehr über den Zustand des Verunfallten weiß«, versprach sie.

Der Lastwagenfahrer kehrte mit einem Schraubenschlüssel zurück. »Ich bin übrigens Pete«, stellte er sich atemlos vor, um ohne Pause fortzufahren: »Soll ich die Scheibe einschlagen?«

»Harriet. Ja, gern, Pete, aber beim Fond. Das ist für den Verletzten sicherer.«

»Okay, treten Sie etwas zur Seite, Harriet.« Der Mann holte aus und schlug zu. Es bedurfte noch drei weiterer Schläge, bis das Fenster zu Bruch ging. Danach übernahm Harriet den Schraubenschlüssel und wischte damit die restlichen Scherben aus dem Rahmen, sodass sie ins Auto hineinklettern konnte.

Der Mann auf dem Vordersitz schien langsam zu sich zu kommen. Er stöhnte und versuchte, sich von dem Gurt zu befreien.

»Nicht! Bleiben Sie besser so sitzen. Sie hatten einen ziemlich heftigen Unfall, Sir.« Harriet streckte ihren Kopf zwischen den beiden Vordersitzen hindurch. »Ich bin Rettungssanitäterin. Mein Name ist Harriet Watts. Wie heißen Sie?«

»Tom … Tom Bishop. Was ist passiert?« Seine Stimme war heiser. Aber obwohl der Mann sich offenbar nicht an den Unfallhergang erinnern konnte, wusste er zumindest seinen Namen. Das war doch schon mal was.

»Sie sind mit Ihrem Wagen von der Straße abgekommen und haben sich dabei überschlagen. Erinnern Sie sich, welchen Tag wir heute haben?«

Er zögerte kurz. »Montag?«

»Ja, genau. Können Sie mir sagen, wo Sie Schmerzen haben?«

Wieder versuchte er, sich von seinen Sitzgurten zu befreien. »Poppy … Ich muss zu Poppy.«

Beherzt griff Harriet von hinten nach seinem Arm, um ihn daran zu hindern, sich loszuschnallen. Dabei bemerkte sie den dünnen Schweißfilm auf seiner Haut, die sich ganz klamm anfühlte. Ihr war klar, dass er sich im Schockzustand befand. »Wer immer Poppy ist, sie muss warten. Sie können hier nicht raus, Tom. Das Dach muss zuerst von der Feuerwehr entfernt werden.«

»Sie sind doch auch reingekommen«, keuchte er.

»Schon, aber ich hatte auch keinen Unfall. Wir wissen nicht, ob und wie schwer Ihre Wirbelsäule verletzt wurde. Besser …«

»Was?!«, unterbrach er sie panisch. »Lande ich etwa im Rollstuhl?«

»Jetzt mal langsam. Ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen. Bis Ihre Wirbelsäule in einer Klinik untersucht werden konnte, sollten Sie sich möglichst nicht bewegen. Das ist alles.« Beruhigend tätschelte Harriet seinen Arm und ließ ihre Hand dann gleich weiterwandern, um seinen Puls zu kontrollieren. Wie befürchtet: unregelmäßig und schwach. »Haben Sie Kopfschmerzen?«, fragte sie.

»Ein wenig. Der Bauch … tut höllisch weh«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie haben nicht zufälligerweise Schmerzmittel dabei?«

»Leider nein. Aber die Rettung wird bald hier sein. Dann wird man Ihnen etwas geben. Ich muss noch mal kurz aus dem Wagen, bin aber gleich zurück, ja? Nicht bewegen«, rief sie ihm sicherheitshalber in Erinnerung.

»Okay«, brachte er mühsam hervor.

Ächzend kletterte Harriet aus dem Autowrack ins Freie. Unter Petes nervösem Blick zückte sie ihr Handy, um sich erneut beim Notruf zu melden.

»Harriet Watts hier. Ich habe vor ein paar Minuten schon mal angerufen, betreffend den Unfall auf der B 6413. Ich bin jetzt zum Verletzten vorgedrungen. Er atmet und ist ansprechbar. Sein Name ist Tom Bishop. Verdacht auf Wirbelsäulenfraktur und innere Verletzungen.« Sie gab auch die Anzeichen des Schocks durch, die sie an ihm wahrgenommen hatte. »Bitte schicken Sie die GNAA, falls das nicht bereits geschehen ist.«

Die Dame versicherte ihr, dass alle notwendigen Stellen alarmiert seien. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis Harriets Team mit dem nötigen Equipment eintraf. Von der Basis bis hierher brauchte der Heli nur wenige Minuten.

Harriet steckte ihr Handy weg und wandte sich an Pete. »Im Kofferraum meines Wagens befinden sich eine Rettungsdecke und ein schwarzer Rucksack. Könnten Sie bitte beides herholen?«

»Ja, sicher.« Sichtlich froh, etwas zu tun zu haben, eilte Pete erneut los, während sie selbst zurück ins Wageninnere kletterte. Mittlerweile zitterte Tom heftig und atmete stoßweise.

»Da bin ich wieder. Haben Sie Schmerzen beim Atmen?«, fragte Harriet.

»Nein, aber ich spüre meinen rechten Fuß nicht. Ich kann nicht gelähmt sein. Meine Tochter … sie braucht mich.«

»Ich wollte Ihnen vorhin wirklich keine Angst einjagen. Dass Sie Ihren Fuß nicht spüren, kann andere Gründe haben. Vielleicht haben Sie ihn gebrochen und ein Knochen drückt ungünstig auf die Blutzufuhr. Ich weiß, es ist leicht gesagt, aber Sie müssen jetzt Ruhe bewahren. Die Hilfskräfte werden gleich da sein. Es wird alles gut werden.« Harriet griff nach seiner Hand, um ihn zu beruhigen. »Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter«, forderte sie ihn auf, um ihn abzulenken.

»Poppy? Sie ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Versprechen Sie mir, dass Sie mich heil aus dieser Sache rausbringen. Poppy braucht mich wirklich.«

»Ich bin keine Ärztin, aber die Luftrettung wird gleich hier sein, und dann sind Sie in den besten Händen, Tom«, versicherte sie ihm. »Halten Sie noch etwas durch, ja?«

»Werde ich … Poppy wurde mit dem Downsyndrom geboren … Aber sie lässt sich davon nicht bremsen. Sie besucht eine ganz normale Schule und ist mächtig stolz darauf.«

»Klingt nach einem tollen Mädchen.«

Der Lastwagenfahrer war zurückgekehrt und streckte zuerst die Decke und dann den Rucksack durch das offene Fenster. Dankend nahm Harriet beides entgegen und versuchte, so gut es ging, die Rettungsdecke von hinten über Tom auszubreiten. Danach öffnete sie den Rucksack, den sie immer in ihrem Wagen mitführte und der mit den wichtigsten Rettungsutensilien bestückt war. Sie war ja schließlich Profi und wollte für solche Fälle ausgerüstet sein. »Sollen wir jemanden verständigen, der sich um Ihre Tochter kümmert?«, fragte Harriet und kramte bereits den Immobilisationskragen hervor.

»Es gibt … niemanden.« Tom stöhnte leise.

»Ich lege Ihnen jetzt ein sogenanntes Stifneck um. Das schränkt Ihre Bewegungsfreiheit ein, schützt aber die Wirbelsäule«, informierte sie ihn. Als es korrekt angelegt war, griff Harriet nach Toms Arm und drehte ihn vorsichtig, sodass die Armbeuge nach oben zeigte.

»Scheiße, tut das weh«, gab Tom schlotternd von sich.

»Sie haben es bald geschafft, Tom. Ich kann den Helikopter schon hören, und die haben ganz wunderbares Zeugs dabei, um Ihnen die Schmerzen zu nehmen. Versprochen. Ich lege Ihnen schon mal einen Venenzugang, damit Ihnen schneller Medikamente verabreicht werden können.« Harriet legte die Manschette um seinen Oberarm und staute sein Blut. Geschickt ertastete sie mit ihren Fingern die pochende Stelle und desinfizierte den Bereich, bevor sie die Kanüle mit der integrierten Nadel zückte. »Es pikst gleich etwas, das ist bloß der Einstich … So, das war’s auch schon.« Zügig zog sie die Nadel heraus, sodass nur noch die Kanüle mit dem Adapter zurückblieb. Mit einem Pflaster fixierte sie alles. »Gibt es denn keine Nachbarn, die ich verständigen könnte? Irgendwer sollte Poppy von der Schule abholen, nehme ich an.«

»Wir wohnen abgelegen und haben keinen … Kontakt zu den Nachbarn. Sie kommt … mit dem Schulbus gegen vier Uhr. Bitte, könnten Sie sich vielleicht um sie kümmern? Ich weiß, es ist viel … verlangt. Aber morgen kann ich wieder … nach ihr sehen.«

Wohl kaum, dachte Harriet. Sie vermutete schwerwiegende Verletzungen, die einen längeren Krankenhausaufenthalt nötig machen würden. Und wenn sie genauer darüber nachdachte, musste sein Kopf wohl auch einen ordentlichen Schlag abbekommen haben. Anders ließ es sich nicht erklären, dass er einer wildfremden Frau seine Tochter anvertrauen wollte. »Das geht nicht, Sie kennen mich doch gar nicht«, erinnerte sie ihn mit ruhiger Stimme.

»Bitte«, keuchte Tom. »Sie scheinen ein guter, hilfsbereiter … Mensch zu sein. Es wäre schön, … wenn Poppy die kommende Nacht … in ihrem Zuhause bleiben könnte. Sie wird schon genug Angst haben, wenn ich nicht bei ihr bin. Das Jugendamt würde sie … bestimmt nur irgendwohin verfrachten.«

»Sie sollten nicht so viel sprechen. Das strengt Sie zu sehr an.« Harriet beugte sich vor, um durch das Fenster nachzusehen, wo die Rettungskräfte blieben.

»Ich schweige sofort …, wenn Sie … sich um Poppy kümmern. Bitte.«

»Ahh, da kommt die Feuerwehr.«

Gottlob, das ersparte ihr vorerst eine Antwort. Spontan hätte sie ihm ein freundliches, aber bestimmtes »Geht’s noch!« an den Kopf geschleudert. Von einer völlig Fremden am Schulbus abgeholt zu werden, würde für seine Tochter auch nicht weniger erschreckend sein als das Jugendamt. Im Gegensatz zu ihr hatten diese Leute zumindest Erfahrung im Umgang mit Kindern. Und überhaupt, was, wenn Tom so gravierende Verletzungen hatte, dass er nicht überlebte? Dann musste die Behörde sowieso übernehmen.

»Ich weiß, was … Sie denken«, brachte Tom mühsam hervor. »Wie kann er … nur. Aber wenn Poppy zu Hause bleiben kann, ist es das Beste für sie. Ich kenne sie …«

»Jetzt wird die Feuerwehr Sie erst mal hier herausholen, dann sehen wir weiter«, unterbrach sie ihn, und das nicht nur, damit er seine Kräfte schonte. Harriet kannte sich selbst zu gut. Sie wusste: Wenn sie nicht aufpasste, würde sie doch noch nachgeben.

Einer der Feuerwehrmänner streckte den Kopf durch das eingeschlagene Fenster. »M‘am … Wir werden in den nächsten Minuten das Dach aufschneiden. Kommen Sie besser aus dem Wagen raus. Jemand von uns wird in Schutzkleidung Ihren Platz beim Verletzten übernehmen.«

Harriet ließ Toms Hand los, um der Aufforderung nachzukommen.

»Harriet!« Tom klang leicht panisch. »Bitte … lassen Sie mich nicht allein. Ich habe … Schiss«, gestand er leise.

Verständlich. Sie war selbst schon oft dabei gewesen, wenn die Feuerwehr jemanden aus einem Wrack hatte bergen müssen. Es ging zwar immer sehr professionell zu, war aber auch laut und furchteinflößend. Hinzu kam die Angst um den eigenen Gesundheitszustand. Daher zögerte sie keinen Augenblick und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, ich gehe nirgendwohin.« Dann drehte sie sich um und streckte den Kopf aus dem Fenster.

Der Feuerwehrmann stand noch immer neben dem Wagen, bereit, ihr beim Herausklettern zu helfen. Doch sie schüttelte nur den Kopf und erklärte ihm, dass sie Rettungssanitäterin war. »Ich kann den Verletzten nicht allein lassen. Sein Puls ist sehr schwach, und er droht mir wegzusacken.« Das war noch nicht mal gelogen.

»Wie Sie meinen, M’am. Ich gebe Ihnen gleich feuersichere Decken rein. Legen Sie diese über sich und den Verunglückten, damit Sie keine Funken abbekommen.«

»Alles klar.«

Der Lärm war ohrenbetäubend. Und auch wenn die Männer schnell und effizient arbeiteten, kam es Harriet wie eine Ewigkeit vor. Unter der Decke legte sie weiter die Hand auf Toms Arm. Seine Haut fühlte sich immer noch erschreckend kalt und feucht an. Kein gutes Zeichen. Es wurde Zeit, dass er hier rauskam.

»Sie werden … Poppy nicht allein lassen, oder?«, drang seine Stimme durch das Ächzen des berstenden Metalls.

Innerlich stöhnte sie. Ihr Bruder Gregg behauptete immer, sie habe ein Helfersyndrom. Und, ja, genau das drohte jetzt die Oberhand zu gewinnen. »Na schön, ich werde um vier Uhr an der Schulbus-Haltestelle stehen. Aber was mache ich, wenn sie nicht mit mir mitkommt? Sie kennt mich ja nicht.«

»Nehmen Sie … Maisie mit … unsere Hündin. Ihr vertraut Poppy. Es kann sein, dass ich gleich … ohnmächtig … werde. Die Adresse … auf meinem … Handy. Passwort: Poppy.«

»Sie werden einen Teufel tun und jetzt ohnmächtig werden!«, schimpfte Harriet und ließ ihre Hand wieder zu seinem Handgelenk wandern. Verdammt, der Puls war kaum noch fühlbar. »Beeilt euch, bitte!«, rief sie den Feuerwehrkräften unter der Schutzdecke heraus zu. Solange Tom in diesem verfluchten Sitz eingeklemmt war, konnte man ihm nicht vernünftig helfen.

Wenige Sekunden später verstummten die Motoren, und sie hörte, wie die Retter das Dach vom Wagen hoben. Rasch richtete Harriet sich auf und blickte suchend um sich. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass Ethan und Bridget vor dem Autowrack standen. Ethan war Rettungsarzt und Bridget Sanitäterin bei der GNAA. Während Bridget der Feuerwehr half, Tom aus dem Wrack zu bergen, übermittelte Harriet Ethan alles, was sie über den Zustand des Patienten wusste.

»Danke, Harriet, gute Arbeit«, meinte Ethan anerkennend.

Nach der Fallübergabe trat Harriet ein paar Schritte zurück und beobachtete, wie Tom so vorsichtig wie möglich auf das Bergungsboard umgelagert wurde. Dabei wurde akribisch darauf geachtet, dass sein Körper sich nicht bewegte. Jede falsche Bewegung konnte lebensverändernde Folgen für ihn haben. Danach wurde er mit Sauerstoff versorgt, und Ethan begann mit der genaueren Untersuchung.

Toms Unterschenkel wies einen solch seltsamen Winkel auf, dass man kein Röntgengerät brauchte, um einen Bruch zu diagnostizieren. Nachdem Ethan sich einen Überblick verschafft hatte, erklärte er Tom, dass er sich vermutlich das Becken gebrochen habe und innere Verletzungen nicht auszuschließen seien. Als Nächstes werde ihm daher ein Beckengurt zur Stabilisierung umgelegt. Leider müsse auch noch das gebrochene Bein gerichtet werden, um die Durchblutung des Fußes zu sichern. Bridget werde ihm gleich Ketamin spritzen, ein ziemlich heftiges, aber effektives Schmerzmittel. Die Patienten fühlten sich dabei manchmal wie auf einem seltsamen Trip. Das müsse ihn nicht beunruhigen und sei völlig normal.

Harriet wusste aus Erfahrung, dass das Geraderichten trotzdem höllische Schmerzen verursachen würde, aber dank des Medikaments konnten die Patienten sich später nicht mehr daran erinnern.

»Harriet«, rief Ethan sie herbei. »Kannst du bitte den Tropf halten, während wir das Bein richten?«

Das verabreichte Ketamin tat ziemlich rasch seine Wirkung. Dennoch jaulte Tom wie erwartet kurz auf, als Ethan und Bridget das Bein mit geübten Handgriffen in die richtige Position drehten. »Schon vorbei, Tom. Das haben Sie gut gemacht«, tröstete Harriet ihn.

Sie hörte, wie Ethan im Hintergrund mit dem Krankenhaus telefonierte, um Tom anzumelden. »Verdacht auf Beckenfraktur, Wirbelsäulenfraktur, Milzriss, Unterschenkelbruch und Gehirnerschütterung. Wir werden in zirka zehn Minuten bei euch sein. Okay? Gut, bis gleich.«

Harriet richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Tom. Seine Pupillen waren geweitet, und ein Lächeln lag auf seinen Lippen. »Engel …«, faselte er unter der deutlichen Wirkung des Medikaments. Den Blick auf Harriet geheftet, murmelte er weiter: »Bin wohl doch gestorben.«

»Nein, Sir, Sie leben noch«, antwortete Bridget grinsend. »Wir gehören zum Bodenpersonal. Auch wenn wir Sie gleich ins Krankenhaus von Carlisle fliegen werden.«

Ein paar Feuerwehrmänner halfen mit, Tom auf der Trage hochzuheben und zum Helikopter zu befördern.

»Wartet!«, rief einer der Helfer und eilte ihnen mit einer Jacke hinterher. »Die muss bestimmt mit. Seine Geldbörse und sein Handy sind da drin.«

Harriet griff danach, bevor es ein anderer tun konnte, und während sie dem Trupp zum Helikopter folgte, fischte sie sein Handy und einen Schlüsselbund aus der Jacke.

Nachdem sie zugesehen hatte, wie der Heli Richtung Krankenhaus davonflog, beantwortete sie die Fragen des Polizisten, der sie und den Lastwagenfahrer als Zeugen vernehmen musste. Viel konnte Harriet ihm allerdings nicht sagen, denn den wirklichen Unfallhergang hatte sie nicht gesehen. Sie hörte jedoch, wie Pete zu Protokoll gab: »So ein silberner Porsche Carrera kam wie aus dem Nichts angeschossen und setzte gleich zum Überholen an. Ausgerechnet an dieser unübersichtlichen Stelle! Wäre Tom nicht ausgewichen, wäre es zu einer Frontalkollision gekommen. Und dann hält dieser Idiot noch nicht mal an und fährt weiter, als wäre nichts geschehen!« Der Schock war Pete noch immer anzumerken. »Solche Typen gehören echt weggesperrt.«

»Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?«, fragte der Beamte.

Pete schüttelte den Kopf. »Es ging alles so schnell«, sagte er zerknirscht.

Als Harriet den Unfallort verlassen durfte, hatte sie nur noch das Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren. Vergessen waren ihre Einkaufspläne. Stattdessen setzte sie sich mit Toms Handy unter den Apfelbaum. Sie war schlimme Unfälle gewohnt, und normalerweise steckte sie so was rasch weg. Das musste sie auch, sonst hätte sie sich den falschen Beruf ausgesucht. Aber das Gespräch mit Tom in dem zertrümmerten Wagen, die Sorge um seine Tochter und sein vertrauensvoller Blick, während er auf der Trage gelegen und sie seinen Tropf gehalten hatte … Das alles ließ sie nicht mehr los. Noch immer hatte sie Zweifel, ob sie Poppy wirklich vom Schulbus abholen oder nicht doch besser das Jugendamt verständigen sollte. Was wusste sie schon von Kindern? Und mit Trisomie 21 kannte sie sich auch nicht aus.

Sie starrte auf Toms Handy und aktivierte das Display. Augenblicklich ploppte ein Selfie auf, das Tom mit einem Mädchen zeigte, das Poppy sein musste. Beide strahlten so in die Kamera, dass auch Harriet unweigerlich lächeln musste. Was die beiden da wohl gerade erlebt hatten?

Besonders niedlich fand Harriet die Grübchen in Poppys Wangen. Bei ihrem Vater zeigten sich längliche Falten an der gleichen Stelle. Seine Kinnlinie war scharf ausgeprägt, während Poppys Gesicht eher rundlich war. Aber Vater und Tochter hatten dieselbe grünbraune Augenfarbe. Allerdings standen Poppys mandelförmige Augen leicht schräg. Ihre Haare hatten einen deutlich dunkleren Farbton als die von Tom, und sie trug sie schulterlang. Seine Frisur sah ein bisschen zerzaust aus, so als ob jemand sie in Unordnung gebracht hätte. Poppys schelmisches Grinsen lieferte einen Hinweis darauf, wer dahinterstecken konnte. An den Schläfen waren Toms kurze haselnussbraune Haare bereits ein bisschen ergraut. Alles in allem ein ziemlich attraktiver Typ, wenn er nicht gerade schwer verletzt aus einem Autowrack befreit werden musste.

Kopfschüttelnd tippte Harriet das von ihm genannte Passwort ein. Jeder Idiot wusste doch, dass man sein Handy besser sichern musste als mit dem Vornamen eines Familienmitgliedes.

Durch das Selfie neugierig geworden, schwebte ihr Zeigefinger bereits über dem Icon des Fotoalbums. Echt jetzt, Harriet?! Man schnüffelt nicht in fremden Handys herum, erinnerte sie sich gerade noch rechtzeitig an ihre Manieren. Artig tippte sie stattdessen auf die Kontakte und fand schnell heraus, dass die beiden in der alten Mühle etwas außerhalb von Renwick wohnten. Hatte Tom nicht noch eine Hündin namens Maisie erwähnt? Vielleicht wäre es besser, etwas früher hinzufahren und sich mit der Hündin anzufreunden, bevor sie gemeinsam Poppy abholen gingen? So viel zu ihrem ersten freien Tag!

Seufzend stand Harriet von der Bank auf und ging ins Haus, um ein paar Klamotten und Toilettensachen für die Nacht zusammenzupacken. Auf was hatte sie sich da bloß wieder eingelassen?

Kapitel 2

Harriet bog von der Straße in einen schmalen Weg ein. Er verlief am Waldrand entlang, vorbei an einem weitläufigen Teich bis hin zu einer Brücke, die über einen Bach führte. Schließlich gelangte sie zu dem alten Haus, das in früheren Jahren als Wassermühle gedient hatte. An seiner steinernen Fassade rankte eine Rose empor, die bestimmt hübsch aussah, wenn sie im Sommer blühte. Welche Farbe sie wohl hatte? Das Dach des Gebäudes war mit Schiefer gedeckt, und zwei Schornsteine verrieten, dass es im Inneren Kaminöfen gab. Harriet parkte auf dem gekiesten Parkplatz und griff nach ihrer Reisetasche.

Kaum näherte sie sich der uralten hölzernen Tür, hörte sie dahinter ein tiefes, bedrohliches Bellen. Das klang gar nicht nach dem kleinen niedlichen Hündchen, das sich Harriet unter dem Namen Maisie vorgestellt hatte. Sie hatte mit einem Vierbeiner in Taschenformat gerechnet. Vielleicht ein Cockerspaniel, ein Zwergspitz oder irgendein Terrier. Aber was da bellte, klang weder klein noch süß. Mist, was sollte sie bloß tun? Todesmutig einfach die Tür öffnen und reingehen? Andererseits: Tom hätte es doch bestimmt erwähnt, wenn sie irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen einhalten müsste, um nicht zerfleischt zu werden. Beherzt steckte sie den Schlüssel ins Schloss, doch damit schien Maisie überhaupt nicht einverstanden zu sein. Es folgte ein heftiger Knall, so als ob das Tier mit ganzer Wucht gegen die Tür springen würde. Das Holz erzitterte unter Harriets Hand.

Mit einem lauten Huuuuaaaah! wich sie erschrocken ein paar Schritte zurück. O mein Gott! Hoffentlich hielt die alte Tür dieser Attacke stand. Harriet überlegte, um das Haus herumzugehen und durch ein Fenster ins Innere zu schauen, damit sie einen Blick auf die Bestie erhaschen konnte. Da fiel ihr das Handy wieder ein. Bestimmt hatte Tom – wie jeder begeisterte Tierhalter – Fotos von Maisie gespeichert.

Was sie kurz darauf auf dem Display sah, wirkte allerdings nicht wirklich beruhigend. Maisie war eine Deutsche Dogge. Obwohl … von der Größe her entsprach sie eher einem Kalb als einem Hund. Selbst wenn Poppy auf dem Bild ihre Arme um Maisie geschlungen hielt und überglücklich in die Kamera strahlte, traute sich Harriet nach diesem Anblick nicht, die Haustür zu öffnen. Wer konnte schon sagen, wie die Dogge reagierte, wenn eine Fremde vor ihr stand? Rasch zog Harriet ihr eigenes Telefon aus der Jackentasche und wählte die Nummer ihres Bruders Gregg. Immerhin bildete er Suchhunde aus. Wenn jemand Ahnung von Hunden hatte, dann wohl er.

»Hey, kleine Schwester. Was gibt’s?«, meldete Gregg sich gut gelaunt.

»Ich brauche deine Hilfe, Gregg«, kam sie gleich zur Sache und schilderte ihm im Schnelldurchlauf ihren Vormittag. »Und nun soll ich das Mädchen mit diesem Monster von Hund abholen. Dabei habe ich keine Ahnung, ob Maisie mich überhaupt ins Haus lässt. Klingt eher, als würde sie mich für einen kleinen Snack zwischendurch halten. Könntest du nicht herkommen und mir helfen?«, flehte sie.

Greggs gute Laune schien mit einem Mal verflogen. »Mann, Harriet, du und dein Helfersyndrom!«

»Bitte, Gregg. Bitte, bitte, bitte … Ich brauche dich. Du bist doch mein großer Bruder«, spielte sie ihr Ass aus. Er war gerade mal zwei Jahre älter als sie, aber fühlte sich dadurch auch als ihr Beschützer.

Ein ergebenes Seufzen drang an ihr Ohr. »Okay. Bin in zwanzig Minuten da. Geh nicht ohne mich rein, hörst du?«

»Keine Sorge. Maisie hat mir ihren Standpunkt mehr als deutlich gemacht.« Sie nannte ihm die Adresse.

Während sie auf Gregg wartete, schaute Harriet sich auf dem Gelände ein wenig um. Hühner und Laufenten teilten sich ein geschütztes Gehege. Hinter dem Haus gab es eine Wiese, auf der zwei Esel und ein Maultier friedlich nebeneinander grasten. Zwischen ihren Hufen hoppelten wilde Kaninchen umher. Harriet schloss die Augen. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Bestimmt würde sie sich auch noch um den ganzen Zoo kümmern müssen. Blieb zu hoffen, dass zumindest Poppy wusste, was es da zu tun gab.

Mann, Mann, Mann, warum hatte sie sich bloß dazu breitschlagen lassen? Das war ja alles ganz idyllisch hier, aber sie war nicht so naiv zu glauben, dass sich die Arbeit von allein machte.

Sie kehrte in den Garten zurück und entdeckte dort unter einer knorrigen Linde eine Schaukel. Ob die wohl ihrem Gewicht standhalten würde? Stabil sah sie zumindest aus. Vorsichtig setzte Harriet sich darauf, gewappnet für den Fall, dass der Eindruck täuschte. Doch die Schaukel hielt. Am Anfang bewegte sich Harriet nur sachte etwas vor und zurück, aber dann konnte sie einfach nicht widerstehen und stieß sich kräftig ab. Je höher sie flog, desto mehr kitzelte es in ihrem Bauch. Herrlich. Schon als Kind hatte sie dieses Gefühl geliebt. Sie hatte geglaubt, wenn sie es nur hoch genug schaffte, würde sie mit den Händen nach einer Wolke greifen können. Auch wenn sie heute wusste, dass Wolken sich nicht einfangen ließen, so war sie immer noch vom Fliegen fasziniert. Was vielleicht erklärte, warum sie bei der Air Ambulance gelandet war. Natürlich stand der Wunsch, Menschen zu helfen, im Vordergrund. Aber die Zeit im Helikopter war für Harriet die Kirsche auf der Sahnetorte.

Endlich hörte sie das tiefe Brummen von Greggs Land Rover. Sie sprang von der Schaukel und ging ihm entgegen.

»Mein Held in schimmernder Rüstung!«, sagte sie und lachte, als er ausstieg.

Er gab ihr ein Küsschen auf die Wange. »Du bringst dich aber auch immer wieder in Situationen, echt. Bist du sicher, dass der Typ ein anständiger Kerl ist? Vielleicht versteckt er Drogen oder sonst was in seinem Haus und hält sich daher einen Wachhund.«

Harriet verdrehte die Augen und zückte gleichzeitig Toms Handy. »Sieht mir eher nach einem Daddy und nicht nach einem Kartellboss aus, oder? Das Mädchen neben ihm ist anscheinend Poppy, um die ich mich kümmern soll.« Sie öffnete das Fotoalbum und hielt ihrem Bruder das Display unter die Nase. »Und das hier ist das süße Hundchen Maisie.«

»Okay, wirkt wie ein harmloser Familienhund.« Mit einem amüsierten Augenzwinkern öffnete Gregg das Heck seines Wagens und griff nach der dort verstauten Hundekeksbüchse. Daraus klaubte er ein paar Leckerchen und steckte sie in seine Jackentasche. Dann hielt er die Büchse Harriet entgegen. »Hier, nimm auch ein paar. Die helfen beim Anfreunden. So, und nun lass uns mal nach der Kleinen sehen.«

Der Schlüssel steckte noch immer im Türschloss, wo Harriet ihn zurückgelassen hatte. Kaum drehte Gregg ihn herum, war zu hören, wie Maisie im Haus prompt wieder in den Furien-Modus überging. Harriet klopfte das Herz bis zum Hals, aber Gregg schien von dem Gehabe kein bisschen beeindruckt.

Langsam öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Dabei redete er mit ruhiger, fester Stimme auf die Hündin ein. »Bist ein feines Mädchen, Maisie. Gut, wie du das Haus und deine Familie bewachst. Hier darf nicht jeder reinkommen, da hast du recht. Wir sind aber Freunde.« Gregg warf ein Leckerchen ins Haus. »Siehst du. Wir sind nett.« Dann streckte er der Dogge die Hand entgegen, damit sie daran schnüffeln konnte. »Fein, Maisie. Ich komme nun rein, okay?«

»Bist du irre?«, flüsterte Harriet hinter ihm, was Gregg aber nur ein leises Lachen entlockte. Ehe Harriet sichs versah, verschwand ihr Bruder im Innern des Hauses. Kurz darauf öffnete er die Tür. »Maisie ist superlieb. Ein wahrer Schatz von einem Hund. Kannst rein.«

Doch bevor Harriet der Aufforderung nachkommen konnte, galoppierte der sogenannte Schatz auch schon an Gregg vorbei und direkt auf sie zu. Es ging alles so schnell, dass Harriet im Nachhinein nicht mehr sagen konnte, wie es dazu gekommen war, denn in der nächsten Sekunde lag sie bereits auf dem Boden. Die Dogge stand über ihr, mit den Pfoten auf ihrer Brust, sodass Harriet nur schwer atmen konnte. Als sie schon dachte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, leckte eine warme, feuchte Zunge über ihren Hals. »Iiiiiek, Maisie! Aus!«, keuchte Harriet.

Erleichtert spürte sie, wie Gregg den Hund von ihr wegzog. »Nicht so stürmisch, kleine Maus«, tadelte er die Hündin.

Harriet rappelte sich auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. »Kleine Maus?! Das ist keine kleine Maus, das ist … ich weiß auch nicht.« Maisie blickte sie mit schief gelegtem Kopf an, und Harriet hätte schwören können, dass der Hund grinste. Nun musste sie selbst glucksen. »Okay, keine Maus, eher ein Clown auf vier Pfoten«, vollendete sie ihren Satz.

»Vermutlich hat sie die Leckerlis in deiner Hand gerochen. Gib sie ihr, jetzt, wo sie so brav sitzt.« Gregg schaute sich um. »Tolles Grundstück. Was macht der Typ beruflich noch mal?«

Harriet zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. So viel Zeit hatten wir nicht zum Reden.«

»Aber seine Tochter vertraut er dir gleich an.« Gregg schüttelte den Kopf. »Der kann von Glück sagen, dass du ein anständiger Mensch bist, Harriet.«

Harriet zuckte mit den Schultern, obwohl sie ja eigentlich das Gleiche gedacht hatte. »Danke für deine Hilfe, großer Bruder. Möchtest du noch eine Tasse Tee?«

»Nein, ich muss wieder los. Ich habe in einer halben Stunde einen Hundeführerkurs. Kann ich dich jetzt mit Maisie allein lassen?«

Harriet kraulte die Dogge hinter den Ohren. »Aber sicher doch. Wir beide hatten nur Startschwierigkeiten. Nicht wahr, meine Liebe? Jetzt sind wir so.« Harriet kreuzte Mittel- und Zeigefinger, um ihrem Bruder zu zeigen, wie dicke sie mit der Hündin nun war.

Doch der zog nur die Augenbrauen hoch und meinte: »Lass dich nicht wieder umrempeln, sonst glaubt sie, sie wäre hier der Boss. Du musst die Rudelführerin bleiben.«

»Alles klar. Ich bin der Chef.« Harriet hob den Kopf und sah Maisie streng an. »Geh ins Haus!« Nichts geschah. »Ins Haus mit dir!«

»Ja, ich seh schon: Du kommst zurecht«, meinte Gregg grinsend. »Kleiner Tipp: Bevor sie einen Befehl ausführen kann, muss sie ihn auch kennen.« Er hob die Hand winkend in die Luft. »Tschüs, Schwesterchen, wenn du Hilfe brauchst, ruf mich an, ja?«

»Mach ich.« Dann wandte sie sich wieder an die Hündin. »War das nötig, dass du mich so blamierst?« Sie griff nach Maisies Halsband und war erstaunt, als diese ihr ohne Gegenwehr ins Haus folgte.

Gemütlich, dachte Harriet, als sie von der Garderobe ins Wohnzimmer trat. Die Wände waren weiß verputzt, und dunkle Holzbalken zierten die Decke. Durch die großen Terrassenfenster konnte man direkt in den Garten hinausblicken. An der gegenüberliegenden Wand stand ein alter Kaminofen, daneben waren fein säuberlich Holzscheite aufgestapelt. Auf einem hölzernen Bücherregal standen gerahmte Fotos, die Harriets Neugierde weckten. Sie ging hin, um sich die Bilder genauer anzuschauen. Vielleicht fand sie darauf einen Hinweis auf ein weiteres Familienmitglied, das sich um Poppy kümmern konnte. Fehlanzeige. Die Fotos zeigten lediglich Poppy, Maisie oder Tom. Die drei schienen wirklich ganz für sich zu leben.

Harriet wandte ihren Blick zurück in den Raum. Der Boden bestand aus riesigen alten Natursteinplatten, und nur bei der Sitzecke war ein flauschiger hellgrauer Teppich ausgelegt. Ein anthrazitfarbenes Stoffsofa lud zum Abhängen ein. Aber dazu hatte Harriet jetzt keine Zeit. Sie wollte sich zuerst einen Überblick verschaffen.

Auf dem Weg durchs Haus trottete Maisie ihr gemächlich hinterher. Gegenüber dem Wohnzimmer befand sich ein Raum, den Tom offenbar als Büro nutzte. Harriet schloss diese Tür wieder und ignorierte vorerst die Treppe, die in den oberen Stock führte. Sie ging an ihr vorbei weiter in die riesige Wohnküche. Es war ein heller, freundlicher Raum, der auf beiden Seiten Fenster aufwies. Tom und Poppy schienen hier eine Menge Zeit zu verbringen, denn es gab sogar ein kleines rotes Sofa an der Wand neben der Tür. In der Ecke daneben befand sich Maisies Hundebett. Während Maisie es sich darauf gemütlich machte, steuerte Harriet den Kühlschrank an. Hoffentlich musste sie nicht noch einkaufen gehen. Nein, bestätigte ihr ein Blick in dessen Innenleben. Das sollte ausreichen, um zumindest heute ein hungriges Mädchen satt zu bekommen.

Zufrieden wandte sie sich um, wobei ihr Blick an dem Esstisch hängen blieb. Anscheinend hatte es an diesem Morgen schnell gehen müssen, denn das benutzte Frühstücksgeschirr war noch nicht weggeräumt worden. Vermutlich hatte Tom nach seiner Rückkehr klar Schiff machen wollen. Harriet entschied sich, zuerst die Erkundungstour fortzuführen und sich danach dem Aufräumen zu widmen.

Auf der oberen Etage befanden sich die Schlafzimmer und ein Badezimmer. Poppys Raum entsprach einem typischen Kinderzimmer. Von dem dunklen Holzparkett war kaum noch etwas zu sehen unter dem Kuddelmuddel aus Schulsachen, Bastelzeug und Klamotten, die vermutlich in den Wäschekorb gehörten. Auch das Bett war noch ungemacht. Nur die Wände passten irgendwie nicht so recht dazu. Harriet hätte eher ein wildes Durcheinander von Pop- und Filmstar-Plakaten erwartet. Stattdessen hingen niedlich gezeichnete Tierbilder in schlichten weißen Bilderrahmen an der Wand. Eine kleine Maus knabberte an einer Erdbeere, ein Igel schnupperte an einem Veilchen, und ein frecher Hase klaute ein Möhrchen aus dem Garten.

Im Flur hingen weitere Zeichnungen des gleichen Künstlers an den Wänden. Aber keines der Bilder war signiert. Ob Tom die vielleicht selbst gezeichnet hatte? Sie ging weiter und öffnete die nächste Tür. Das musste sein Schlafzimmer sein. Auch hier war das Bett ungemacht. Sogar die Vorhänge waren noch zugezogen. Harriet drückte auf den Lichtschalter, bevor sie zum Fenster hinüberging und die schweren blickdichten Vorhänge zurückzog. Warmes Sonnenlicht ergoss sich sogleich in den Raum. Sie öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, obwohl es nicht unangenehm roch. Dann schüttelte sie die dunkelgraue Flanellbettwäsche auf und zupfte alles wieder zurecht. Auf dem fast schon schwarzen Parkettboden lag auf jeder Bettseite ein flauschiges Schaffell, damit man beim Aufstehen nicht gleich mit den nackten Füßen auf den kalten Boden auftraf. Ein modernes Badezimmer mit eigener Dusche grenzte an den Raum. Harriet streckte kurz den Kopf hinein. Im Gegensatz zum Schlafzimmer war das Bad in einwandfreiem Zustand zurückgelassen worden. Ein Hauch eines herben Rasierwassers lag noch in der Luft.

Wo wohl Poppys Mutter steckte? Vielleicht war sie gestorben. Aber würde dann nicht zumindest irgendwo ein Foto von ihr stehen? Harriet tippte eher auf eine unschöne Trennung. Doch welche Mutter würde ihr Kind zurücklassen? Erst recht, wenn es das Downsyndrom hatte. Auf alle Fälle schien es keinen Kontakt mehr zu geben. Ansonsten hätte Tom sie bestimmt gebeten, Poppy zu ihrer Mutter zu bringen. Wie auch immer, es ging sie nichts an. Sie half Tom nur für eine Nacht aus, danach musste er sich irgendwie anders organisieren. Sie hatte nicht vor, ihre Ferien als Mary Poppins zu verbringen.

Am Ende des Korridors fand Harriet etwas, das ursprünglich ein Gästezimmer gewesen sein musste. Im Moment erinnerte es allerdings mehr an eine Rumpelkammer. Hier schien alles hineinverfrachtet worden zu sein, wofür man sonst keinen Platz gefunden hatte. Vom Wäscheständer über einen vorsintflutlichen Staubsauger bis hin zu einer Kinder-Outdoor-Küche und einer Golfausrüstung. Schaudernd blickte sie auf den ausgestopften Hirschkopf mit riesigem Geweih, der von der Wand aus über das ganze Chaos wachte.

Unter einem Berg Winterklamotten fand Harriet letztendlich ein schmales Bett. Aufseufzend setzte sie sich drauf. Das würde für eine Nacht ausreichen. Die Gesellschaft könnte allerdings etwas weniger morbide sein, fand sie mit Blick auf die Hirschtrophäe. Wie konnte man sich so etwas bloß an die Wand hängen?

Sie ließ ihre Reisetasche in der Kammer stehen und ging zurück in den unteren Stock, den Frühstückstisch aufräumen. Mit einer Tasse Tee gönnte sie sich anschließend eine kurze Pause auf dem gemütlichen Küchensofa. Der Zeitpunkt, zur Schulbushaltestelle zu gehen, rückte näher. Ein flaues Gefühl breitete sich in Harriets Magen aus. Wie würde Poppy reagieren, wenn sie erfuhr, dass ihr Dad im Krankenhaus war?

Oh Mann, sie war echt die Falsche für diesen Job. Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf und stellte die leere Tasse in die Spüle. »Komm, Maisie! Holen wir Poppy ab.«

Kapitel 3

Auf dem Weg zur Hauptstraße suchte Harriet nach den richtigen Worten, um Poppy die schlechte Nachricht möglichst schonend zu überbringen. Aber die Fakten blieben am Ende immer die gleichen: Poppys Vater befand sich im Krankenhaus, und das Mädchen war allein mit einer Fremden.

Je länger Harriet darüber nachdachte, desto grimmiger wurde sie. Wie konnte Tom nur so verantwortungslos sein?! So rasch war etwas passiert, da musste er doch die Betreuung seiner Tochter sichergestellt haben. Herrgott noch mal!

Viel zu schnell erreichte sie die Straße, dabei war sie mit ihrer Wortwahl noch nicht weiter als »Hallo, Poppy, ich bin Harriet. Dein Dad hatte leider einen Unfall, aber es geht ihm gut.«

So ein Unsinn! Sie wusste überhaupt nicht, ob es Tom gut ging. Bevor sie mit Maisie losmarschiert war, hatte Harriet kurz überlegt, im Krankenhaus nachzufragen. Aber all die Untersuchungen brauchten Zeit, und ihrer Einschätzung nach musste Tom operiert werden. Sie würde gegen Abend anrufen und sich nach seinem Zustand erkundigen. Da Harriet keine Familienangehörige war, könnte es allerdings schwierig werden, Informationen zu erhalten. Ehe sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte, näherte sich bereits der Kleinbus. Der Fahrer setzte den Blinker und hielt am Wegrand an.

»Tschüs«, hörte Harriet ein Mädchen rufen, das kurz darauf aus dem Bus sprang. Sie trug ihre Schuluniform, die aus einem anthrazitfarbenen Rock, einer weißen Bluse und einer roten Strickjacke bestand. Ihre dunkelbraunen Haare waren an den Seiten zu zwei Zöpfen geflochten. In der Hand hielt sie einen pinkfarbenen Schulranzen, den sie sich jetzt etwas umständlich auf den Rücken packte. Maisie zog an der Leine, um zu ihrer Freundin zu gelangen. Es war ein ziemlicher Kraftakt, dieses Powerpaket von Hund zurückzuhalten.

»Poppy?«, fragte Harriet schnaufend.

Poppy, die noch mit ihrem Schulranzen beschäftigt war, drehte den Kopf in ihre Richtung. Kaum entdeckte sie Maisie, erschien auf ihrem Gesicht das zauberhafteste Lächeln, das Harriet je gesehen hatte.

In diesem Moment schaffte es die Dogge allerdings, sich loszureißen und auf Poppy zuzusprinten. Harriet befürchtete schon, das Mädchen könnte dasselbe Schicksal ereilen wie sie zuvor und ebenfalls unter Maisie landen. Aber nein, die Hündin hielt wenige Zentimeter vor Poppy an und platzierte ihren Hintern elegant auf dem Asphalt.

Sogleich schlang Poppy die Arme um sie. »Hallo, Maisie«, wisperte sie und drückte ihr einen Kuss aufs Fell. Danach richtete sie den Blick misstrauisch auf Harriet. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Harriet. Dein Dad hat mich gebeten, dich vom Bus abzuholen und auf dich aufzupassen.«

Poppy presste die Lippen zusammen und schien nachzudenken. »Das kann nicht sein«, meinte sie schließlich. »Er hat mir beigebracht, nicht mit Fremden mitzugehen.«

»Richtig. Das hast du dir gut gemerkt. Und weil dein Dad das wusste, hat er mir aufgetragen, Maisie mitzunehmen. Maisie kennst du doch, und mit ihr kannst du mitgehen.«

Poppy zögerte. »Wo ist Dad?«

»Das würde ich dir gern in Ruhe zu Hause bei einer heißen Schokolade erzählen. Wenn du magst, kannst du auch mit Maisie vorausgehen, und ich folge euch beiden.« Harriet hoffte, dass sie auf diese Weise Poppy die Angst etwas nehmen konnte.

Poppy nickte, schien aber noch immer auf der Hut zu sein. Wie ausgemacht, folgte Harriet den beiden mit einigen Metern Abstand. Der Hund und das Mädchen gaben ein seltsames Gespann ab. Poppy war nur wenig größer als ihre Hündin. Falls sich Maisie auf die Hinterpfoten stellte, würde sie Poppy sogar überragen. Und auch wenn das Mädchen die Leine in den Händen hielt, konnte sie Maisie unmöglich festhalten, sollte diese plötzlich lospreschen.

Aber die Dogge benahm sich mustergültig. Zwischendurch warf Poppy immer mal wieder einen Blick über die Schulter. Das Ganze schien ihr verständlicherweise nicht geheuer zu sein. Sie hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Poppy stehen blieb und sich ganz zu Harriet herumdrehte. »Das ist echt schräg! Was ist mit Dad? Ist ihm irgendwas Schlimmes passiert?«

Oh Mann, das hatte sie ja gründlich vermasselt. Wenn Harriet die Kleine nicht noch mehr verängstigen wollte, sollte sie besser gleich mit der Wahrheit herausrücken. Eine heiße Schokolade würde die Situation auch nicht wesentlich verbessern.

Also schloss Harriet zu Poppy auf und ging vor ihr in die Hocke. »Dein Dad kann nicht hier sein, weil er ins Krankenhaus musste. Er hatte einen Unfall mit seinem Wagen. Aber er hat mir euern Hausschlüssel gegeben und mich gebeten, bis morgen auf dich achtzugeben. Es tut mir leid, vermutlich habe ich mich nicht gerade geschickt angestellt. Ich wollte dir keine Angst machen.«

Poppy wirkte äußerlich gefasst. »Ist es sehr schlimm?«

»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich werde später das Krankenhaus anrufen und nachfragen, wie es ihm geht. Aber im Moment werden sie ihn vermutlich noch untersuchen und behandeln.«

»Sind Sie vom Jugendamt?«

»Nein. Ich war zufällig da, als der Unfall geschah, und bin bei deinem Vater geblieben, bis die Rettungskräfte eingetroffen sind. Weißt du, ich arbeite selbst als Flugrettungssanitäterin. Deshalb habe ich versucht, deinem Dad, so gut es ging, zu helfen. Während wir warten mussten, hat er mir von dir erzählt und mich gebeten, auf dich aufzupassen. Es war ihm sehr, sehr wichtig, dass du nicht allein bist.« Vorsichtig legte Harriet dem Mädchen eine Hand auf den Arm.

Poppy nickte tapfer. »Kann ich zu ihm?«

»Ich fürchte, heute noch nicht. Aber ich werde dich hinbringen, sobald er Besuch haben darf. Versprochen. Bis dahin wäre ich froh, wenn du mir zeigst, wie ich bei euch zu Hause die Tiere versorgen kann. Ich habe davon nämlich keine Ahnung.«

»Gut, aber ich muss auch noch Hausaufgaben machen«, sagte Poppy ernst.

»Kriegen wir hin.«

Zurück in der Mühle, machte Harriet Poppy wie versprochen eine heiße Schokolade. Als die ausgetrunken war, versorgten sie gemeinsam die Tiere. Dabei erfuhr Harriet, dass Poppy elf Jahre alt war. Irgendwie hätte sie das Mädchen jünger geschätzt. Vermutlich eine Entwicklungsverzögerung, die dem Downsyndrom zuzuschreiben war, aber so genau kannte Harriet sich damit nicht aus. Während Poppy sich nach der Stallarbeit in ihr Zimmer verkrümelte, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, nutzte Harriet die Gelegenheit und rief im Krankenhaus an. Mit der Zentrale verbunden, erfuhr Harriet, dass James Howard der behandelnde Arzt war. Was für ein glücklicher Zufall! Mit ihm hatte sie so manche Schicht geteilt, als sie selbst noch im Krankenhaus gearbeitet hatte. Sie bat darum, mit ihm sprechen zu dürfen.

»Hey, Harriet, na, langweilst du dich bei der Air Ambulance? Willst wohl zurück an den Ort, an dem die wahre Magie vollbracht wird, was?«

Oje, er war noch genauso überheblich wie damals. Aber als Unfallchirurg war er begnadet.

»Nicht wirklich, James«, entgegnete Harriet. »Ich bin absolut glücklich, da wo ich bin.«

»Aha, und was verschafft mir dann die Ehre?«

»Heute Nachmittag haben meine Kollegen bei euch einen Patienten eingeliefert. Tom Bishop. Verdacht auf Beckenbruch, Wirbelsäulenbruch, Milzriss …«, versuchte sie, seine Erinnerung anzukurbeln.

»Ich weiß, wen du meinst«, unterbrach James sie knapp.

»Wie ist sein aktueller Zustand?«, fragte sie, als riefe sie aus beruflichen Gründen an.

Einen Moment herrschte Stille. »Du weißt, dass ich dir darüber keine Auskunft geben darf, Harriet«, meinte er schließlich. »Oder bist du etwa mit ihm verwandt?«

Harriet biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. »Ich bin Toms Freundin«, schummelte sie. Obwohl James ihr nicht gegenüberstand, fühlte sie, wie ihre Wangen sich bei der Lüge röteten. »Ich konnte bloß noch nicht ins Krankenhaus kommen, weil ich seine Tochter von der Schule abholen musste. Wir machen uns solche Sorgen …«

James seufzte. »Na schön. Wir haben ihn heute Nachmittag operiert. Die Milz musste raus, und die Schienbeinfraktur wurde gerichtet. Zudem hat er eine Beckenfraktur und eine Gehirnerschütterung.«

»Aber so weit ist er über den Berg, oder?«, fragte Harriet sicherheitshalber nach.

»Ja, einen Moment war’s kritisch, wegen der Blutung in den Bauchraum. Aber wir sind ja Profis und hatten das schnell wieder im Griff.« Etwas gönnerhaft fügte er hinzu: »Eure Leute haben gute Vorarbeit geleistet.«

»Das werde ich ihnen gern ausrichten. Wann, denkst du, können wir Tom besuchen?«

»Wenn alles gut läuft, kommt er morgen in ein normales Zimmer, dann könnt ihr ihn sehen.«

Auch wenn James optimistisch geklungen hatte, waren Harriets Bedenken nicht weniger geworden. Wie sie schon befürchtet hatte, würde Tom sich noch eine Weile nicht um seine Tochter kümmern können, geschweige denn um die Tiere auf seinem Hof. Sie beschloss, morgen zu ihm ins Krankenhaus zu fahren. Nach James’ Schilderungen sollte er eigentlich bis dahin wieder ansprechbar sein. Bestimmt fiel ihm dann doch noch jemand ein, der zu Hause für ihn einspringen konnte.

»Kann ich ihn anrufen?«, fragte Poppy eifrig, sobald sie die frohe Botschaft erhalten hatte, dass ihr Vater wieder gesund werden würde.

»Das geht noch nicht, Liebes.« Tröstend strich Harriet ihr über den Arm. »Weißt du, nach der Operation muss er viel schlafen und ist in einem Raum mit anderen Patienten, die auch schlafen müssen. Daher gibt es dort kein Telefon. Aber morgen nach der Schule werden wir zusammen ins Krankenhaus fahren.«

Poppy presste die Lippen zusammen und nickte tapfer. Doch in ihren Augen schimmerte es verräterisch.

»Es ist verständlich, dass du Angst hast, Poppy.« Harriet zog das Mädchen in ihre Arme und hielt sie einen Augenblick fest. »Aber weißt du, im Krankenhaus kümmern sie sich wirklich gut um deinen Dad. Er wird überwacht, und sollte auch nur das Geringste nicht in Ordnung sein, kommt sofort ein Arzt.«

Zum Abendessen kochte Harriet Nudeln mit Tomatensauce, in denen das Mädchen nur lustlos herumstocherte. Nachdem die Küche wieder aufgeräumt war, schauten sie sich gemeinsam einen Abenteuerfilm an, den Poppy sich ausgesucht hatte. Aber Harriet war sich ziemlich sicher, dass sie kaum was davon mitbekam. Noch ehe der Film zu Ende war, stand Poppy plötzlich auf und meinte, sie sei müde und wolle schlafen gehen. Da Harriet sich noch zeigen lassen wollte, wo frische Bettwäsche zu finden war, schaltete sie den Fernseher aus und ging mit ihr nach oben. Während sie ihr Bett bezog, hörte sie, wie Poppy sich im Bad die Zähne putzte.

Als die Geräusche verstummt waren, klopfte Harriet leise an Poppys Zimmertür, bevor sie den Kopf hineinstreckte. Das Mädchen saß in ihrem Bett, mit dem Rücken an der Wand angelehnt, und drückte ein Buch fest an ihre Brust.

»Soll ich dir daraus noch eine Geschichte vorlesen?«, bot Harriet an.

Vehement schüttelte Poppy den Kopf. »Das kann ich selber, ich bin nicht doof.«

Harriet trat ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. »Schon klar. Was liest du denn?« Sie verrenkte den Kopf, um den Titel lesen zu können. Lillys Abenteuer im Haselnusswald, stand auf dem Buchrücken, auf dem kleine Haselmäuse emporkrabbelten. Geschrieben war es von einem Harrison Doyle. War Poppy für ein Märchenbuch nicht schon ein bisschen zu alt? Harriet tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass Poppy ihre Frage nicht beantwortet hatte. »Darf ich es mir mal ansehen?«, fragte sie stattdessen. Erneut erhielt sie keine Antwort. Da schien jemand eindeutig keine Lust zum Reden zu haben. Mit einem Seufzer stand Harriet auf. »Okay, dann lasse ich dich mal in Ruhe. Wenn du was brauchst, bin ich im Gästezimmer und leiste dort euerm Hirsch Gesellschaft. Du musst nur rufen, dann stehe ich im Nullkommanichts da. Ja?«

Zumindest nickte Poppy jetzt.

Harriet war so erledigt von dem ereignisreichen Tag, dass auch sie schlafen gehen wollte. Aber zuvor brauchte sie dringend eine Dusche. Die Regendusche, die sie in Toms Badezimmer entdeckt hatte, war zu verlockend, um sie zu ignorieren. Schon lange hatte Harriet sich gefragt, ob der ganze Hype um diese Teile gerechtfertigt war. Und, oh Himmel, er war es! Am liebsten wäre sie unter dem sanften, warmen Regenschauer nie wieder hervorgetreten.

Erfrischt schlüpfte sie danach in ihren Pyjama und öffnete die Tür, um in ihr eigenes Zimmer zurückzukehren. Das leise Schluchzen hätte Harriet dabei beinahe überhört. Sie hatte schon fast den Flur erreicht, als es an ihr Ohr drang. Im schwachen Licht, das durch den Spalt der Vorhänge fiel, bemerkte Harriet den kleinen bebenden Hügel auf Toms Bett. Es war nicht schwer zu erraten, wer sich unter der Decke verkrochen hatte. Vorsichtig setzte Harriet sich neben das Häufchen Elend und legte ihre Hand auf die Stelle, wo sie Poppys Schultern vermutete. »Ich weiß, es ist schwer, aber es wird alles gut … ganz bestimmt«, murmelte sie tröstend. Sachte zog sie die Decke ein Stück zurück, um das Mädchen zum Vorschein zu bringen.

Poppy hielt das Kopfkissen ihres Dads fest an sich gedrückt, während sie ihre Angst und den Kummer herausweinte. Sanft strich Harriet der Kleinen die feuchten Haare aus dem Gesicht. »Soll ich mich etwas zu dir legen, oder möchtest du lieber allein sein?«, fragte sie leise. Als Antwort griff Poppy nach Harriets Hand. »Okay, dann rück etwas rüber«, forderte Harriet das Mädchen auf, bevor sie neben ihr unter die Decke schlüpfte.

»Ich will zu meinem Dad«, wisperte Poppy schniefend und hielt dabei das Kissen wieder umklammert.