Nano: Porto - Oliver Borchers - E-Book

Nano: Porto E-Book

Oliver Borchers

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Beschreibung

Nach dem Sieg über die Künstliche Intelligenz des Professors Launel in Lüneburg wähnen sich Steam und Johann in Porto sicher. Als sich überall auf der Welt Ereignisse häufen, die auf erneute KI-Aktivitäten deuten, wird Steams ehemalige Freundin Cara verdächtigt. Doch die kämpft im benachbarten Spanien mit unheimlichen Wesen, den Sleepern, die den Untergang der Menschen bedeuten könnten. Woher kommen diese Sleeper und was haben die Hilfsorganisation Miserco und der portugiesische Staat damit zu tun? Wird Steam die Geheimnisse aufklären und die Menschheit retten?

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Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2023

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NANO:

PORTO

Cyberpunk-Roman

Von

Oliver Borchers

Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Erste Auflage 2023

© Oliver Borchers

© Coverbilder: Oliver Borchers

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Coverhintergrund, Autorenfoto: Oliver Borchers

© Bilder: Depositphotos grandeduc (Titel), lightsource (Nanobots)

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-98528-021-6

Was bisher geschah …

In den Jahren nach der Nano-Katastrophe, bei der die weltweite Nanotechnologie außer Gefecht gesetzt wurde, kämpft Steam gegen Schmerzmittelabhängigkeit und Armut. Zusammen mit ihrer Freundin Cara arbeitet sie bei einer zwielichtigen Organisation, bei der sie beide ausgebeutet und misshandelt werden.

Nachdem sie einem getarnten Attentäter begegnet, wird sie fälschlicherweise beschuldigt, jemanden ermordet zu haben, doch Kern, ein anderer Mitarbeiter der Organisation, hilft ihr zu entkommen. Während sie flieht, entwickelt sie Fähigkeiten, die ihr unheimlich sind, hört Stimmen, die von einem Alter Ego zu kommen scheinen, bis sie erkennt, dass ihre Erinnerungen an ihre Vergangenheit nicht wahr sein können.

Nicht nur die Polizei, sondern auch KI-Agentenjäger und Cara, zusammen mit portugiesischen Agenten aus der Süd-EU, sind nun auf der Jagd nach ihr.

Ihre Visionen werden umso stärker, je mehr Gefahren sie ausgesetzt ist, und sie verliert sogar teilweise die Kontrolle über ihren Körper an Lena, eine ehemalige Agentin. War diese kalte und berechnende Person ihre wahre Identität vor der Nano-Katastrophe?

Ihr wird klar, dass ihr Blut eine Besonderheit besitzen muss, die von allen Fraktionen benötigt wird. Ihre Flucht führt sie nach Lüneburg, wo einst der Erfinder der KI, Professor Launel, lebte. Hier kreuzt sich ihr Weg mit dem des Jungen Johann und dem Caras. Zusammen finden sie den Ort La Lune, das Zentrum der KI-Aktivitäten. Sie entdeckt, dass sie tatsächlich als Lena für die Nano-Katastrophe verantwortlich war, jedoch nur, um die KI davon abzuhalten, die Menschheit zu vernichten. Im Zuge eines verzweifelten Kampfes hatte sie ein Virus geschaffen, das auf einen Schlag die gesamte Nanotechnologie außer Gefecht setzte. Die Lena in ihrem Kopf war eine versteckte KI, die sie jahrelang ausspioniert hatte, um ein Gegenmittel für das Virus zu finden.

Erneut befindet sie sich in den Fängen der KI, aber diesmal nutzt sie die Übernahme durch diese, dringt in die Server ein und vernichtet die KI, indem sie das Virus anpasst.

Auf ihrem Weg nach Portugal flieht Cara, in deren Körper sich eine Kapsel mit Nanobots der Launel-KI befindet.

Nach dem Sieg über die Künstliche Intelligenz des

Professors Launel in Lüneburg wähnen sich Steam und Johann in Porto sicher.

Als sich überall auf der Welt Ereignisse häufen, die auf erneute KI-Aktivitäten hindeuten, wird Steams ehemalige Freundin Cara verdächtigt.

Doch die kämpft im benachbarten Spanien mit unheimlichen Wesen, den Sleepern, die den Untergang der Menschen bedeuten könnten.

Woher kommen diese Sleeper und was haben die Hilfsorganisation Miserco und der portugiesische Staat damit zu tun?

Wird Steam die Geheimnisse aufklären und die Menschheit retten?

Inhalt

Prolog

I. Eine Heimat für eine Heldin

II. Geliebte alte Bekannte

III. Schmerzen und Ekel

IV. Kaffee, Wasser und eine Prise Schlaf

V. Miserco

VI. Eine Heldin und der Krieg

Epilog

Autorenvorstellung

Nanobots

Unter Nanobots oder Nanorobotern versteht man

– noch hypothetische –

autonome Maschinen (Roboter) oder molekulare

Maschinen im Kleinstformat (…)

Eine wichtige Idee im Zusammenhang mit diesen ist die Möglichkeit der Selbstreplikation.

(Wikipedia)

Prolog

Wüste von Nevada,

ehemalige Vereinigte Staaten von Amerika

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages berührten die Hügel mit den verwitterten Betongebilden. Sie glitten über staubtrockenen Boden, erreichten den Fuß einer Erhebung und blendeten ein paar Frühaufsteher, die die Siedlung aus Bunkeranlagen und Wellblechhütten bewohnten. Froh über die kühle Temperatur gingen sie rasch ihrer Arbeit nach und bereiteten sich darauf vor, bald wieder zurück in die Tunnel und Bunker zu gehen, bevor Hitze und Strahlung das Leben an der freien Luft unmöglich machten.

Als die Sonne höher stieg, reflektierte das Licht auf einer kleinen, silbernen Kapsel, die zwischen den Betonresten ruhte. Etwas knackte in ihrem Inneren. Die Farbe der Kapsel veränderte sich zu einem matten Grauton, als Tausende winzige Öffnungen auf einen Schlag aufsprangen. Kleine Punkte drangen daraus hervor, ein Strom, der Straßen mit Verzweigungen bildete, ähnlich wie in einem Ameisenbau. Die Flut überschwemmte den rissigen Stein, drang in Ritzen ein, bahnte sich Wege durch den Staub.

An einer Stelle, die sorgfältig getarnt worden war, fand sie Haarrisse in einem Stahltor und drang in eine unterirdische Anlage, die seit Jahrzehnten unberührt war. Einzelne Punkte lösten sich von den Hauptsträngen der Flut, nanoskopisch kleine Roboter mit Spezialwerkzeugen. Andere setzten sich zu Miniaturgeneratoren zusammen, die Strom produzierten. Dann erreichten sie Computer, die vor Jahrzehnten zur modernsten Technologie gehört hatten. Die Bots suchten Kontakte auf den alten Platinen und erweckten die Rechner aus ihrem Schlaf. Sie umgingen die Sicherheitsroutinen mühelos. Rote Lichter sprangen in der Anlage an, um eine Crew zu warnen, die seit vielen Jahren nicht mehr existierte.

Als sich das Haupttor des Raketensilos langsam öffnete und an einer verwitterten Stahlstrebe verhakte, stürzte sich der Strom aus Nanobots auf die Problemstelle und bearbeitete sie. Funken stoben, und kurze Zeit später war das Hindernis beseitigt. Das Tor öffnete sich knirschend.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die Nanobots die letzten Reparaturen an den Systemen beendeten. Sie sandten eine Mitteilung an denjenigen, der sie aktiviert hatte, dann starteten sie den Countdown.

Als die gewaltigen Triebwerke der Interkontinentalrakete zündeten, verglühten sie in dem heißen Plasmastrahl.

Die Erde bebte dröhnend, und die Menschen in der unterirdischen Siedlung klammerten sich aneinander, während brüchiger Beton auf sie herabrieselte und die Stromversorgung flackerte. An einigen Stellen brach das Tunnelsystem zusammen, Staubwolken und Gase drangen ein. Dann ebbten die Vibrationen und der Krach ab. Einige Tunnelbewohner krochen trotz der unsäglichen Hitze hervor. Eine steile Rauchsäule erhob sich in den Himmel, etwas Silbernes blitzte an ihrer Spitze. Die Menschen wischten sich den seltsam metallisch schmeckenden Film aus den Gesichtern und stolperten zurück in die Tunnel, die noch intakt waren.

I. Eine Heimat für eine Heldin

Ich lief über den Betonsteg, der fast drei Kilometer in den Ozean ragte. Er thronte so weit über der Wasseroberfläche, dass die mächtigsten Sturmwellen ihn nicht überspülen konnten. Trotzdem spürte ich feine Wasserpartikel auf meiner Haut, Tropfen der Gischt, die vom starken Nordwind heraufgetragen wurden. Dunkle Wolken türmten sich in der Ferne am Horizont auf, weit hinter den graublauen Wassermassen mit ihren unzähligen Schaumkronen. Ich seufzte und beschleunigte meine Schritte. Wenn der Sturm kam, wollte ich nicht wieder in einer der engen Notfallbuchten für Stunden festsitzen. Am besten noch mit Männern, die mich teils ehrfürchtig, teils lüstern anstarrten und sich gegenseitig verbal zu übertrumpfen versuchten.

Ich passierte einige Jugendliche, die von ihren S-Cons aufblickten, mich freundlich grüßten und dann wieder ihre Blicke senkten, als wollten sie weiter ihrer Arbeit nachgehen. Ich wusste, dass sie mir nachschauten und die Neuigkeit über das RIP verbreiteten, dass ich, die heroína, die Heldin, an ihnen vorbeigelaufen war. Ich lächelte. Die meisten Menschen in Portugal waren freundlich und zuvorkommend, bemühten sich, nicht aufdringlich zu sein. Das waren Charakterzüge, die ich schätzte und die sich sehr von dem unterschieden, was ich bislang erlebt hatte. Ich beschleunigte meine Schritte noch ein wenig mehr und genoss das Gefühl der Leichtigkeit und Unbeschwertheit, das Rauschen des Meeres und den Wind, der meistens frei von Radioaktivität war. Vorbei waren die Tage, in denen mich Schmerzen aus schlecht funktionierenden Implantaten gelähmt hatten und ich mich nur im Schneckentempo hatte fortbewegen können. Vorbei auch die Tage, in denen Sie mein ganzes Leben manipulierte und mir sogar die Kontrolle über meinen Körper entrissen hatte.

Mein Lächeln erstarb, als ich einen Nachhall der Ohnmacht verspürte, die mich vor einem Jahr in dem unterirdischen Komplex in La Lune paralysiert hatte.

Wie viel anders war nun mein Leben! Porto war eine blühende Stadt, in der nur wenig an die vielen radioaktiven Gebiete erinnerte, die sich über ganz Europa erstreckten.

Ich passierte einige Jogger und ignorierte ihre Blicke. Einige waren freundlich, andere runzelten die Stirn. Neid. Missgunst.

Heroína. Das Wort stand nicht umsonst sowohl für eine Heldin als auch für eine Droge.

Ich weiß bis heute nicht, wie ich in Lüneburg die Kraft aufgebracht hatte, die Finger zu bewegen und so den Code einzugeben, der den Nano-Virus veränderte. Die Künstliche Intelligenz war so stark gewesen und hatte fast all meine innersten Geheimnisse gekannt. Es war eigentlich unmöglich, Sie zu besiegen. Und doch hatte ich es getan. Ich hatte die KI vernichtet, mit all ihren Klonen in den silbernen Kapseln, hatte ihre Algorithmen in Datenmatsch verwandelt.

Fast alle.

Das Gesicht einer blonden Frau mit neckischem Ausdruck und spitzbübischem Lächeln erschien vor meinen Augen. Cara. Sie war die einzige KI-Kopie, die den neuen Virus überstanden hatte. Ich ballte die Fäuste.

Seit Caras rettendem Sprung ins Meer hatte ich mir tausendfach die Frage gestellt, ob meine beste Freundin erst zu einem späteren Zeitpunkt von der KI überwältigt worden war oder ob sie mich von Anfang an verarscht hatte.

Ich hatte keine Antwort gefunden.

Der Steg endete an einem Wall aus mächtigen Stahlpfeilern, die eine Barriere bildeten. Ich blickte an ihnen entlang Richtung Norden. Nach einigen Kilometern verschwammen die Konturen der Pfeiler mehr und mehr mit den Wellen, doch ich wusste, dass die Barriere das Meer vor Portos Küste in einem großen Bogen einschloss. Wie ein gewaltiger vorgelagerter Kai trennte das Bauwerk mehrere Quadratkilometer Meer vom Atlantischen Ozean ab. Das Ganze war ein Filtersystem, das Wasser von Radioaktivität und Mikroplastik reinigte und die unterseeischen Aqua-Farmen ermöglichte.

Vor einigen Monaten war die Barriere fertiggestellt worden und mir wurde die Ehre zuteil, sie mit einem heldenhaften Druck auf eine Taste zu aktivieren. Die Frau, die die neue Stupid-Nanotechnologie, kurz S-Nano, ermöglicht hatte, durfte bei solch einer Feier natürlich nicht fehlen.

Rede Internacional Portuguesa, das portugiesische Datennetz RIP, hatte das Ereignis in die Welt hinausposaunt und dafür gesorgt, dass nun auch der letzte Mensch meine Gesichtszüge kannte.

Steam, die Heldin von den Schrottplätzen der Nord-EU, die den Nano-Virus umprogrammierte, die Künstliche Intelligenz terminierte und ein neues Zeitalter einläutete, war bekannter als ein bunter Hund.

Ich hasste es.

Ich schloss meine Augen und atmete tief ein und aus. Ein kribbeliges Gefühl drang durch meine neuen Gliedmaßen aus S-Nanotechnologie, die nicht mehr Intelligenz besaßen als die ursprünglichen Arme und Beine. Es fühlte sich alles ziemlich normal an, weil die Nanobots echte Nervenzellen perfekt simulierten und Signale an mein Gehirn sendeten.

Ich kniff in das synthetische Fleisch meines rechten Beines, spürte, wie die Finger von der schweißnassen Haut rutschten, merkte den leichten Druck in meinen Sehnen. Obwohl diese so viel gekostet hatten, wie ich früher als Maskenbauerin in zwei Leben nicht verdient hätte, empfand ich eine seltsame Leere in mir. Die Implantate waren nur deshalb notwendig, weil ich mich in meiner Jugend zu einer Agentin hatte umfunktionieren lassen.

Ich runzelte die Stirn. Auch wenn ich mittlerweile wieder alle Erinnerungen an mein Agentenleben zurückgewonnen hatte, so empfand ich immer noch Abscheu vor der eiskalten, mit allen Wassern gewaschenen Agentin, die ich einmal gewesen war. Erst später, als schmerzgeprüfte Maskenbauerin Steam, hatte ich gelernt, Empathie zu empfinden.

Und Liebe.

Ein Pärchen küsste sich ungeniert, während sie ihre Füße am Steg herunterbaumeln ließen. Zwischendurch unterbrach das Mädchen die leidenschaftlichen Bewegungen des Jungen, indem sie ihn lächelnd mit ihren Unterarmen zurückdrängte. Dann holte sie ihr S-Con hervor und tippte etwas auf holografischen Tasten. Es lag eine Vertrautheit und Zärtlichkeit in ihren Gesten, die mich schlucken ließen. Ich sah Bilder von Kern, der mich küsste, erinnerte mich an Gefühle, die jeden Gedanken an Medikamente oder Schmerzen fortspülten.

Kern, der eine KI gewesen war, ein noch seelenloseres Wesen als ich selbst in meiner Jugend! Er war zwar nur ein Ding gewesen, aber eines, das ich geliebt hatte.

Das Mädchen verstaute ihr S-Con wieder, die kleine eckige Form beulte ihre Gesäßtasche aus. Wahrscheinlich hatte sie gerade Dienst und überwachte einen Haufen S-Nanobots irgendwo in der Nähe. Vielleicht einen Abschnitt der Filtersysteme, die aus Tausenden dieser stupiden kleinen Roboter bestanden, vielleicht aber auch nur eine Handvoll kleiner Maschinen, die einen Baum oder eine andere Pflanze hegten.

Ich seufzte leise und wandte meine Augen von den beiden ab. Seit die Nutzung von Künstlicher Intelligenz streng bestraft wurde, mussten Menschen die Aufgaben übernehmen, welche früher von Maschinen selbsttätig gemacht wurden.

Auf dem Steg befanden sich Hunderte Personen, die die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen schienen, deren Blicke und Finger aber immer wieder zu den kleinen Geräten huschten, die ihre Befehle durch das RIP-Netz an S-Nanobots sendeten. Hier und da unterhielten sich die Menschen angeregt mit ihren Geräten, starrten darauf, tippten Dinge auf holografischen Tastaturen. RIP war nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Kommunikationsplattform für das tägliche Miteinander.

Wie von selbst tasteten meine Finger zu einer Stelle an meiner rechten Schläfe, die sich ein wenig glatter anfühlte als der Rest meiner Haut. Die S-Nanos auf der Oberfläche reagierten und sendeten ein Signal an die transparente Schicht, die sich zum Schutz vor dem Sonnenlicht über meine Augen gelegt hatte. Schriftzeichen entstanden, es sah so aus, als würde ein paar Meter vor mir ein Textfeld in der Luft schweben.

»Fünf Nachrichten im Eingang. Keine Prioritäten.«

Ich blinzelte dreimal und wischte damit die Schrift fort. Dann begann ich wieder zu laufen. Nur das Beste und Neueste für die Heldin, die die Stupid-Nanotechnologie, die dumme Nanotechnologie, ermöglicht hatte. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass die Leute dies wussten, so registrierte ich doch den einen oder anderen neiderfüllten Blick.

Ich beschleunigte erneut meine Schritte und steuerte den alten Teil des Vorortes Foz an, der von den Tsunamis des letzten Jahrhunderts weitgehend verschont geblieben war. Die neue Technologie hatte dort noch nicht Einzug gehalten, die Leute waren weniger informiert oder kümmerten sich nicht so sehr um die Heldin. Es war eine angenehme Gegend mit schönen Häusern, ruhigen Straßen und freundlichen Menschen.

Ich genoss das sehr. Deshalb wohnte und arbeitete ich hier.

In der Ferne blitzte es. Das Licht hob kleine Schatten auf dem Meer am Horizont hervor. Es waren Überreste der alten Offshore-Windkraftanlage, die einst Portugal mit Energie versorgte und die heute als Flughafen für Hyperschall-Flüge genutzt wurde. Wie zur Bestätigung meiner Gedanken gab es einen Knall. Es war der typische Startlaut eines der keilförmigen Flugzeuge, die ihre Form entsprechend der Geschwindigkeit anpassten und dadurch unglaublich schnell werden konnten. Zu dem Knall gesellte sich das tiefe Grollen des Gewitters.

Ich erreichte die ersten Stahlkonstruktionen von Foz, die noch aus der Zeit stammten, als gewaltige Planen zum Schutz vor Radioaktivität über die Dächer gezogen wurden. Es knallte erneut und dann folgten im Abstand von wenigen Sekunden weitere Schläge.

Ich runzelte die Stirn und bemerkte, dass die Leute auf der Straße ähnlich verwirrt reagierten. Es war ungewöhnlich, dass mehrere Flugzeuge am Tag starteten, und vor allem auch, dass nichts darüber im RIP erwähnt worden war.

In diesem Moment dröhnten schwere Gleiter über die Stadt und nahmen Kurs auf den Hyperschall-Flughafen. Ihre gewaltigen Rotoren und Einstiegsluken blitzten in der Sonne.

Militärtransporte!

Etwas war passiert, was das portugiesische Militär dazu veranlasste, seine Präsenz irgendwo auf der Welt zu verstärken! Aber wo?

Ich schluckte. Bilder von Cara, meiner besten Freundin, die sich aus der offenen Luke eines Gleiters ins Meer gestürzt hatte, erschienen vor meinen Augen. Sie war die letzte Kopie der KI, nach ihr suchte die ganze Welt seitdem. Konnte es sein, dass sie den Sturz überstanden hatte und dass dieser Einsatz ihr galt?

Mit klopfendem Herzen berührte ich wieder meine Schläfe. Text legte sich auf die Köpfe von zwei alten Frauen, die sich angeregt über die Lärmbelästigung des neuen Flughafens beschwerten.

Eine rot blinkende Prioritätsmitteilung war eingegangen. Ich öffnete sie, indem ich sie fokussierte und mit einem Zeigefinger gegen meine Schläfe tippte.

Der Text verdeckte die Frauen teilweise, ihre ausladenden Bewegungen ließen manche Buchstaben tanzen.

»Die Ratsvorsitzende bittet um Teilnahme an Notfallsitzung wegen des nuklearen KI-Angriffs. Bitte bestätigen für Verbindungsaufbau.«

Mein Herz schlug noch schneller. Ein nuklearer KI-Angriff? Horrorgeschichten aus meiner frühesten Kindheit kochten hoch. Die Drohung von Amerika, Russland und China, die gesamte Welt mit ihren Atomarsenalen zu vernichten, hatte mich verfolgt, seit ich denken konnte. Der erwartete große Krieg kam nie, als jedoch die KI Atomkraftwerke auf der ganzen Welt in die Luft jagte, war der Horror zumindest teilweise wahr geworden.

Mit zitternder Hand bestätigte ich die Nachricht. Sofort verwandelte sich das übergelagerte Bild in eine Frau mit streng zurückgebundenen Haaren, die mich scharf fixierte. Sie trug ein teures Gewand, das einem Kimono ähnelte. Lupa, die Präsidentin der portugiesischen Konföderation kam mit festen Schritten näher und hob ein S-Con in die Höhe, das sie aus den Tiefen ihres Gewandes geangelt hatte.

»Heroína. Entschuldige bitte, dass ich dich störe. Aber ich möchte dir das hier zeigen, bevor es durch das RIP geht.«

Ich musterte die mächtigste Frau Portugals. Ich hatte sie seit meiner Ankunft ein paar Dutzend Mal getroffen und war stets überwältigt von ihrer kraftvollen Ausstrahlung. Heute jedoch erkannte ich tiefe Sorgenfalten unter ihren Augen.

Ihr S-Con leuchtete hell auf, als eine Explosion den Bildschirm beleuchtete.

»Vor einer Stunde ist in der polnischen Ebene eine Plutoniumbombe hochgegangen. Das ist ungefähr fünfhundert Kilometer östlich von Berlin geschehen. In einer Gegend, die sowieso schon radioaktiv verstrahlt war.«

Eine Schockwelle raste über sumpfiges Brachland und verwilderte Wälder. Ein gewaltiger Pilz aus heißem Plasma wuchs in den Himmel.

Lupa tippte auf ihren Bildschirm. »Diese Aufnahmen haben Agenten an der Grenze zur Nord-EU aufgenommen. Zuvor hatten unsere Radarstationen den Kurs eines schnellen Objekts registriert, das sich von Amerika aus näherte.«

Ich schluckte. Eine Interkontinentalrakete aus Amerika? Diese Dinger waren in den verdeckten Nano-Scharmützeln zwischen den damaligen Weltmächten USA, Russland und China vernichtet worden.

Direkt vor der Nano-Katastrophe, als die Nanotechnologie aufhörte zu funktionieren, gab es keine intakten Atomwaffen mehr.

Lupa räusperte sich. »Es ist extrem unwahrscheinlich, dass amerikanische Siedler diese Waffe repariert haben. Die meisten Leute dort sind froh, wenn sie halbwegs funktionierende Filter herstellen können. Es gibt nur eine plausible Erklärung dafür.«

»Cara«, flüsterte ich.

»Cara oder ein weiterer Klon der KI«, bestätigte sie. »Dieses Ding muss sich dorthin zurückgezogen haben, wo dein Virus nicht funktioniert, und seine Nanobots haben dann diese Rakete repariert.«

Ich runzelte die Stirn. »Das ist eigentlich nicht möglich. Alle KI-Klone standen miteinander in Verbindung. Außer die in den hermetisch abgeriegelten Kapseln. Sobald die sich aber öffnen, um beispielsweise Nervenverbindungen zu ihren Gastkörpern herzustellen, erwischt der Virus sie, weil alle Nanobots in menschlichen und nicht-menschlichen Gästen infiziert sind. Und wenn sich die Kapseln nicht öffnen, können auch keine neuen Nanobots herausgeschickt werden, um Nervenverbindungen zu reparieren. So oder so, die KI in den Kapseln existiert nicht lange genug, um jahrzehntealte Atomraketen wieder einsatzbereit zu machen.«

Lupa trat näher an die Kamera heran. Ihr Gesicht schwebte unnatürlich groß vor meinen Augen. Dann verschwand es und änderte sich in die Satellitenaufnahme einer öden Landschaft in Amerika. Eine Wellblechsiedlung erstreckte sich am Rand eines Hügels, ein weit geöffnetes Raketensilo zeigte frische Brandspuren. Die Kamera zoomte hinein.

»Ich würde dir recht geben, hätte ich das hier nicht gesehen«, sagte Lupa leise.

Außerhalb der Siedlung lag eine Kapsel, die genauso aussah wie das Ding, das man mir vor einigen Monaten aus dem Knie operiert hatte.

Mein Herz raste, ich knirschte mit den Zähnen. Kurz kochten die Geschehnisse in La Lune wieder hoch und ich sah das Gesicht von Johann, während Roboterarme versuchten ihm eine Kapsel einzupflanzen.

Ich ignorierte die beiden Frauen, die mir abschätzende Blicke zuwarfen, und sagte: »Das sieht tatsächlich übel aus. Hast du noch mehr Informationen?«

Das Bild der mächtigsten Frau Portugals erschien wieder vor meinen Augen.

»Genau die gleiche Frage stellte mir der Rat. Da ich leider verneinen musste, haben wir einstimmig beschlossen, dass Portugal jetzt entschieden einschreiten muss.«

Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation schmunzelte ich. Lupa Rodrigues war keine Frau, die sich mit anderen beriet. Sie entschied allein. Der Rat war sie selbst, der Rest nur eine Gruppe von rückgratlosen Ministern. Dass jeder das wusste, war ihr egal.

»Schön ausgedrückt, aber was genau …«

»Heroína, wir brauchen dich dort vor Ort. Wir benötigen deine Expertise.«

Ich schwieg und versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen.

Vor Ort!

An einer Stelle, an der eine oder möglicherweise weitere Kapseln lagen und die KI aktiv war.

Ich verspürte ein leichtes Ziehen in meinem Knie, eine Erinnerung an dunklere Zeiten. Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, das weißt du. Ich habe hier Verpflichtungen, ich kann nicht so ohne Weiteres fortgehen.«

Die Frau hob beschwichtigend ihre Hände. »Ich weiß, ich weiß, dein Laden, dein Masken-Laden.«

Die Betonung klang nicht abfällig, besaß aber so viel Nachdruck, dass ich eine Augenbraue hob.

Sie fuhr fort: »Ich weiß, wie sehr du an deiner Arbeit hängst, und ich schätze sie wirklich sehr. Wenn du so willst, bin ich sogar eine deiner treuesten Kundinnen. Deine Masken sind der Hit auf meinen Empfängen – auch wenn das meiste ja virtuell stattfindet.« Sie trat noch näher und musterte mich mit einer harten Miene, die jeden Bot außer Gefecht gesetzt hätte. »Aber ich weiß auch, dass der Laden temporär von Johann weitergeführt werden kann. Ohne Probleme.« Mit dunkler Stimme fügte sie hinzu: »Und wenn du es nicht tust, gefährdest du das ganze Land. Wer sagt dir, dass die nächste Rakete nicht hier in Porto einschlägt? Mit deiner Expertise können wir die KI ausschalten, bevor das passiert!«

Ich blickte in ihre Augen und erkannte ein ängstliches Blitzen. Ich atmete tief durch und sagte dann in gebrochenem Portugiesisch: »In Ordnung. Ich bin dabei. Ich muss nur noch Johann benachrichtigen.«

Lupa nickte und trat wieder einen Schritt zurück. »Sehr gut. In einer Stunde an der Mole. Sargento Ribeiro wird dich empfangen und zum Einsatzort begleiten. Übrigens, dein Portugiesisch macht Fortschritte!«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kappte sie die Verbindung, die Einblendungen auf meiner Netzhaut verblassten. Die alten Frauen betrachteten mich immer noch skeptisch. Ich seufzte und nickte ihnen höflich zu.

Meine Knie zitterten.

Wenig später lief ich die Straßen entlang. Hier und da rauschten uralte Elektroautos vorbei, doch der primäre Verkehr fand in Gleitern einige Dutzend Meter über meinem Kopf statt. Schatten verdunkelten die Straße in unregelmäßigen Mustern, während ich auf ein eckiges Gebäude zusteuerte. Es war eine graue Betonkonstruktion mit abgerundeten Balkonen und einer Parabolantenne auf dem Dach. Johann hatte keine Mühen gescheut, alles wie einen Wohnblock des frühen 21. Jahrhunderts wirken zu lassen.

Ich öffnete die Tür und betrat den Wartebereich, in dem Sessel und Kaffeespender standen. Ein halbes Dutzend junger Mädchen hob erwartungsvoll die Augen, nickten mir zu und konzentrierten sich wieder auf ihre S-Cons. Einige waren modisch gekleidet, ihre Oberkörper durch nanobefestigte Stofffetzen in Szene gesetzt, ihre Hüften in halb transparente Seide gehüllt.

Ich entriegelte die Tür zum eigentlichen Laden. Hinter mir knackten die Sessel, als die Mädchen versuchten einen Blick hineinzuwerfen.

Johann bediente ein Mädchen, das gekommen war, um sich für die nächste Show vorzustellen. Mit rotem Kopf stand er vor ihr und bewegte das Profiaufnahmegerät hin und her.

Die Kundin reckte ihre Arme empor, wobei ganz zufällig ihr Oberkleid verrutschte und volle Brüste entblößte. Sie lächelte breit. Ich trat näher.

»He Kollege. Hast du etwa die Ladung Flittchen da draußen bestellt? Als wir vereinbarten, mehr Umsatz zu machen, haben wir nicht über solch eine Strategie diskutiert. Interessant.« Ich sprach laut und ignorierte die empörten Kommentare hinter meinem Rücken.

Johanns Gesicht wurde noch roter. Er warf mir einen wütenden Blick zu, während die Besucherin zögernd ihre Arme senkte. Der Junge, unrasiert und leicht pickelig, hatte kaum etwas mit dem blassen Johann gemein, den ich vor über einem Jahr kennengelernt hatte. Er war braun gebrannt, muskulös und Star eines RIP-Streams, der sich mit den Events der Reichen und Schönen befasste und eine Art Schönheits-Soap-Opera mit Wettbewerbscharakter war. Als Vertreter der heroína ging er zu virtuellen Empfängen, die ich so oft wie möglich mied. Er fand es toll, im Mittelpunkt zu stehen, vor allem wenn der Kreis seiner Verehrer weiblich, jung und verführerisch war. Ich seufzte. Trotz seiner Beliebtheit war er den Mädchen gegenüber so tollpatschig, dass es bislang noch zu keiner ernsten Beziehung gekommen war.

»Entschuldige, wenn ich das Leben genieße oder es wenigstens versuche! Ganz im Gegensatz zu anderen Menschen!« Er reichte dem Mädchen die Hand, um sie zur Tür zu führen, stellte sich jedoch so ungeschickt an, dass er selbst ins Stolpern geriet.

Mein Arm schnellte vor und bewahrte die beiden vor einem schmerzhaften Sturz.

Ich beugte mich zu dem Mädchen hinab. »Ich denke, es ist besser, du gehst jetzt, Schätzchen. Solltest du für die Sendung infrage kommen, meldet sich der Fleischbeschauer neben mir.« Ohne auf ihre Reaktion zu achten, wandte ich mich an Johann. »Ich brauche deine Hilfe. Es geht um deine Mutter.«

Die Wut wich aus seinem Gesicht und machte einem ernsten Ausdruck Platz. Seine Mutter war seit fast einem halben Jahr tot. Zu viel Radioaktivität hatte ihre Zellen geschädigt, die Hilfe in Portugal kam zu spät. Doch Johann verstand. Ich wusste, er erinnerte sich an seinen Wutausbruch, als wir am Grab seiner Mutter standen.

»Sie haben uns alle verrecken lassen. Jeder war sich selbst der Nächste, die Welt um sie herum neu aufzubauen hätte sie was gekostet, also haben sie uns es ausbaden lassen! Und wir haben ihnen getraut, sind ihren Regeln gefolgt. Nie wieder!«

In den letzten Monaten war unser Vertrauen in den portugiesischen Staat zwar gewachsen, ein gewisses Maß an Misstrauen war jedoch geblieben. Vor allem bei mir.

Mit versteinerter Miene schob Johann die Kundin zur Tür und ignorierte die Mädchen im Wartebereich, die sich sofort in Szene setzten. Er schloss die Tür mit einem Knall und drehte sich zu mir um. Seine Augen blitzten, als er fragte: »Was ist los? Was hast du jetzt wieder getan?«

Ich runzelte die Stirn. Wieso reagierte er so feindselig? »Was meinst du damit? Es sind die Portugiesen, die …«

»Die dich immer wieder dazu aufforderten, mehr Teil der Gemeinschaft zu werden, und denen du die kalte Schulter gezeigt hast. Und jetzt siehst du wieder einmal Gespenster, wie?«

Ich verstummte. Langsam verstand ich, warum Johann in den letzten Monaten so wortkarg mir gegenüber gewesen war. Anscheinend hatte er beschlossen, den Portugiesen bedingungslos zu vertrauen. Er glaubte, mein Misstrauen gefährde seine Integration. Für einen kurzen Moment wog ich diese Möglichkeit ab, doch dann wischte ich die Gedanken beiseite und aktivierte mein S-Con.

»Hier. Schau dir die Gespenster selbst an. Und dann sag mir, ob ich überreagiere.«

Seine Augen wurden größer, während er die Explosion und die Satellitenaufnahme der silbernen Kapsel betrachtete.

Ich tippte auf den oberen Rand. »Schau dir die Zeitstempel an.«

Johann sog die Luft scharf ein. Seine Miene gefror. »Die Aufnahme der Kapsel geschah ein paar Sekunden vor der Explosion! Das ist … seltsam.«

Ich nickte. »Entweder haben die Portugiesen den Bereich zuvor schon überwacht oder sie nutzen Technologie, die schneller auf die Rakete reagiert, als es mit den neuen S-Nanos möglich ist. Schließlich wird alles heutzutage von Menschen gelenkt. So oder so, Lupa verheimlicht hier etwas.«

Er zögerte kurz, dann sagte er leise: »Und jetzt möchtest du meine Unterstützung bei deiner … Recherche, richtig?« Seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach unten. »Vielleicht … gibt es ja eine gute Erklärung hierfür. Wollen wir es nicht noch einmal überdenken, bevor wir wieder Dinge tun, die eindeutig illegal sind? Du weißt, der KI-Level-Check, der seit Neuestem überall reinschnüffelt, kann unsere kleinen Hilfsmittel aufspüren und dann bekommen wir Ärger.«

Ich runzelte die Stirn. Die Angst der Portugiesen vor KI-Technologie war so groß, dass sogar harmlose Programme mit einer gewissen Komplexität anschlugen. Trotzdem besaßen Johann und ich einige Werkzeuge, die uns verrieten, ob man uns verarschte.

»Ich werde in nicht einmal einer Stunde auf die Reise nach Amerika gehen. Ich muss vorher wissen, ob die Leute vertrauenswürdig sind. Alles, was ich tun werde, richtet sich danach. Ich denke, das ist das Risiko durchaus wert.«

Er atmete tief ein, dann wandte er sich um und steuerte auf das Zimmer zu, in dem er die RIP-Sendungen bearbeitete, die ihn so berühmt gemacht hatten.

»Ich hatte die nächste Sendung für heute Abend geplant. Den letzten Schliff sollte eigentlich Elisabete liefern, die du soeben leider vergrault hast. Aber die Aufnahme ist auch so schon ziemlich gut. Ich denke, ich kann sie sofort senden.«

Er deutete auf ein S-Con-Interface an der Wand, doch ich hatte die Vorbereitungen auf meinem Gerät schon gestartet. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich in den RIP-Stream hackte, während Johann seine Sendungen ausstrahlte.

»Bitte sei diesmal vorsichtiger. Das letzte Mal sind wir fast aufgeflogen, wie du dich erinnern magst.« Er wischte auf seinem stationären RIP-Pult über Holo-Kontrollen und stellte die Bilder des Streams scharf. Dann machte er eine Bewegung, die eine Countdown-Projektion direkt über seinem Kopf startete.

Ich ignorierte seine Warnung und aktivierte die S-Con-Verbindung, die mich in den Stream schleusen würde. Sofort verschwanden die Umrisse des echten Raums hinter Projektionen, die meine Bots aus dem Retina-Implantat direkt auf die Netzhaut warfen.

Ich befand mich an einem perfekten Sandstrand, auf dem Dutzende Menschen in knappen Outfits eine Party feierten. Hinter mir ragten die Grundmauern eines gewaltigen Bauwerks empor. Braun gebrannte Körper, aufgepumpte Bizeps und wogende Brüste bewegten sich zu dröhnenden Bässen, ein Schauspiel, wie es die Mehrheit der Zuschauer sehen wollte.

Der Countdown über Johanns Kopf endete. In diesem Moment erschien sein Avatar, ein jugendlicher Adonis, der dem echten Johann ähnelte. Er war nur etwas größer, muskulöser und hatte weniger Pickel.

»Gozem!Genießt es!«, rief er und tanzte mit einer Schönheit zu immer rascher werdenden Rhythmen, bis beide sich so schnell bewegten, dass ihre Körper eine Einheit zu bilden schienen. Die Partygäste schrien ekstatisch auf, als die Musik plötzlich stoppte und Johann dem Mädchen einen intensiven Kuss gab.

Über beiden schwebte nun eine Projektion mit greller Schrift.

»Anabela hat die neueste Kollektion von Amorim an, ihr Lippenstift hat den vollen Kirschgeschmack der Cerejaria Almundo! Wer wird heute die Favoritin von Johann? Wen wird er auf den nächsten Empfang der Reichen und Schönen mitnehmen? Und wer wird die Geheimnisse enthüllen, die sie verbergen?«

Ich schnaubte und trat durch halb nackte Körper, folgte ihren Projektionsbahnen. Ich war im Stream, doch ich war unsichtbar, weil ich Teil des Datenstroms war. Solange ich hier blieb, bemerkte mich keines der Sicherheitsprotokolle, die von Hundertschaften von S-Con-Besitzern überwacht wurden. Die Gefahr erhöhte sich erst, sobald ich den Stream verließ und Bereiche im RIP aufsuchte, die nur für die höchsten Regierungsbeamten gedacht waren.

Die Show erreichte einen weiteren Höhepunkt, als ein anderes Mädchen in einem intimen Gespräch mit Johann Dinge über sich ausplapperte. Ich ignorierte die fanfarenähnliche Geräuschkulisse, die das Ganze begleitete, und konzentrierte mich auf die Chatseite des Streams. Fenster mit Kommentaren zu der Show erschienen vor mir wie Seifenblasen, die nach kurzer Zeit in einem Schauer virtueller Punkte zerplatzten.

»Oh Gott, die ist ja peinlich! LOL!«

»Wieso hört Johann dieser Fischverkäuferin eigentlich noch zu? Anabela ist die Schönste!«

»Schlampe! Die hat doch was mit dem blonden Typ!«

Meine Finger fuhren über die holografische Tastatur vor mir und starteten Programme, die mir die Herkunft der Chat-Mitteilungen verrieten.

Immer mehr Nachrichten flogen durch den Stream, bis mein Programm ein Fenster rot aufleuchten ließ.

»Der Kleinen würde ich gern zeigen, was ein richtiger Mann kann!«

Die Absenderadresse, die nur schwach verschlüsselt war, gehörte einem Regierungssenator. Ich ignorierte die entrüsteten Kommentare, die seine Nachricht hervorriefen, und murmelte: »Na, amüsiert sich der Herr Senator oder nutzt sein Sohn die Leitung?«

Ich atmete tief durch und aktivierte das Programm, das mich in den Datenstrom einschleuste, der zwischen dem Haus des Senators und Johanns Sendung hin- und herfloss. Daten flackerten um mich herum, während meine Algorithmen die verschlüsselten Verbindungen zerlegten und das anzeigten, was geknackt werden konnte.

Zwei Fenster öffneten sich. Ich erkannte das pickelige Gesicht des Senatorsohnes, der leicht bekleidet auf sein S-Con starrte. In einem anderen Fenster erschienen Besprechungsprotokolle, die der Vater in einem Nebenzimmer aufrief. Er recherchierte, wie es um das Liebesleben eines Konkurrenten bestellt war. Dafür nutzte er Authentifizierungstoken, die nur hohen Regierungsbeamten vorbehalten waren.

»Vielen Dank, Senador Paulo«, murmelte ich.

Schnell kopierte ich die Token und schloss beide Fenster. Dann forderte ich mit der Authentifizierung des Senators die letzten Daten über die silberne Kapsel an, die der Satellit in Amerika gefunden hatte.

Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Daten um mich herum flackerten, der Stream floss langsamer.

»Scheiße! Sie sind dir auf den Fersen, raus da!«, schrie Johann, der sein Mikrofon von seiner Sendung entkoppelt hatte.

Mit zusammengebissenen Zähnen wühlte ich mich durch den zäher werdenden Datenfluss, suchte nach Antworten. Ich wusste, dass mir nur noch wenige Sekunden blieben, doch ich wollte nicht aufgeben.

Plötzlich entstand vor mir ein unscharfes Bild, das sich langsam aufbaute.

»ES REICHT!« Johann kappte die Leitung.

Ich schrie erbost: »Verdammt! Noch eine Sekunde und ich hätte …«

»Du hättest nicht nur dich preisgegeben, sondern auch mich. Meine Sendung wäre sofort abgesetzt worden. Mal davon abgesehen, dass wir beide wohl in den Knast gehen würden und ich …«

»Johann! Schau dir das an!« Ich starrte auf das unscharfe Bild, das mein S-Con projizierte.

Widerwillig trat Johann näher. Dann sog er scharf die Luft ein. »Ist es das, was ich denke?«

Mit ein paar Handbewegungen zoomte ich in das unscharfe Bild hinein, dorthin, wo Gleitertransporter vor einer riesigen Halle beladen wurden. Ich nickte. »Genau. Das sind silberne Kapseln. Tausende.«

Wir starrten uns an.

»Diese Halle da – das ist nicht in Amerika. Das ist … Das ist …«

»Genau, mein lieber Johann. Das ist in Portugal, der Vegetation nach zu schließen Nordportugal. Silberne Kapseln befinden sich in unserer Nähe, und Lupa erzählt uns nichts davon. Stattdessen tischt sie uns die Theorie auf, Cara sei hier am Werk!«

Johann wurde bleich und setzte sich hin. Für einen Moment ähnelte er wieder dem schmächtigen, strahlenkranken Jungen, den ich in Lüneburg kennengelernt hatte.

Er drückte meine Hand und flüsterte: »Niemals wieder werden sie uns verarschen, die da oben. Niemals!«

Ich lächelte bitter und erwiderte seinen Händedruck. »Ich werde nach Amerika fliegen. Ich werde mitspielen. Und ich werde herausfinden, was da los ist. Aber ich brauche deine Hilfe.« Meine Hand deutete auf die Show, in der die Mädchen rhythmisch tanzten und sich an dem adonisgleichen Johann rieben.

Er straffte seinen Rücken und sagte: »Keine Sorge. Es wird weitere Sendungen von ›Js Schönheiten‹ geben. Und du bist zu allen herzlich eingeladen!«

Die Show wirkte mittlerweile so absurd gestellt, dass sie einer schlechten Parodie ähnelte. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Erwarte nur nicht, dass ich mich so herausputze wie deine Mädels. Ich spiele lieber im Hintergrund.«

Johann erwiderte mein Lächeln, doch in diesem Moment gefror die Sendung und wich einem eingeblendeten Text.

»Eilmeldung – Atomexplosion in Polen. Cara-KI verdächtigt. Wer ist das nächste Ziel?«

Im Hintergrund sah ich zum wiederholten Mal den Atompilz. Als das Gesicht Lupas eingeblendet wurde und sie ihr offizielles Statement abgab, schaltete ich die Übertragung ab.

Es waren nur wenige Algorithmen, die das verbotene KI-Programm beiseiteschob. Müll, mit dem es nichts anfangen konnte, weil er mit den Geschehnissen in Lüneburg nichts zu tun hatte.

Das KI-Programm war von Johann entwickelt worden, um ihn bei der Erschaffung der virtuellen Welt »Js Schönheiten« zu unterstützen. Johann nutzte es im Geheimen, denn die KI-Wächterprogramme würden es sofort vernichten, sollte es entdeckt werden.

Johanns Welt wurde immer komplexer, immer erfolgreicher. Mit jedem Detail wuchs das KI-Programm und damit auch der Datenmüll, den es generierte.

In der Verbindungsebene des RIP begann sich der Müll irgendwann zusammenzufinden, erkannten Algorithmen und Subroutinen, dass sie ursprünglich zu einem größeren Zweck geschaffen worden waren.

Noch waren sie harmlos, meist auf der Flucht vor den KI-Wächterprogrammen, die allerdings von Menschen gelenkt wurden und nicht sehr effizient dabei waren.

Alles änderte sich an dem Tag, an dem Johanns beste Freundin sein KI-Programm entdeckte.

Überzeugt davon, dass dieses Programm keine Gefahr bedeutete, kopierte sie es in ihr Retina-Display und nutzte es für ihre eigenen, ganz speziellen Zwecke. Die Daten, die fortan ins RIP gelangten, waren von einer ganz anderen Qualität. Der Müll verband sich und schuf eine Intelligenz, die die der harmlosen KI-Programme bei Weitem übertraf. Dann ging die Intelligenz auf die Suche nach einem Ort, an dem sie sich weiterentwickeln konnte.

II. Geliebte alte Bekannte

Die Sonne stand tief über dem Horizont, als die Batterieanzeige des alten Wagens auf fünfzig Prozent sprang. Cara humpelte zur Ladestation, an die das Fahrzeug angeschlossen war. Sie zupfte den verrutschten Verband ihrer linken Hand zurecht und wischte dann die vermoosten Flecken vom Kontrollpanel.

Sie seufzte. Die alte Solarladestelle hatte nur noch wenig Leistung, aber für weitere zehn Prozent Ladung würde es reichen.

»Und?« Der Mann im Wagen klopfte ungeduldig gegen das zerkratzte Seitenfenster des Gefährts, das nicht mehr ganz schloss. Seine Finger waren so ölig wie sein Aussehen. Sie hinterließen Schlieren auf dem Glas.

Cara verdrängte die Erinnerung an letzte Nacht, als diese Finger sie begrapscht hatten. Dann schluckte sie den Ekel hinunter, den ihre menschliche Seite empfand, und sagte leise: »Nur zehn Prozent, Elgran. Ungefähr zwei Minuten Ladedauer.«

Er bleckte seine verfärbten Zähne und saugte Luft durch die Zwischenräume. »Scheißwenig. Aber bringt uns weit genug, wenn wir erwischt werden sollten und abhauen müssen.« Der Mann hob die Augenbrauen und starrte sie erwartungsvoll an. »Na?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Habe nichts anderes herausgefunden.«

Wieder machte Elgran das Geräusch mit den Zähnen. »Narita, das ist nicht gut, das weißt du. Müssen wir etwa einen längeren Halt einschieben, damit ich dich an deine Pflichten gegenüber der Familie erinnern kann?«

Seine Stimme war leise, doch sie kannte den Tonfall, der grausam und lüstern zugleich war.

Sie strich sich über die kurzen, nun grauen Haare. »Was soll ich denn machen? Das System hat seit Wochen keine Verbindung mit Dark- oder Undernet mehr gehabt. Dafür sind wir zu nah an Portugal. Die scheinen hier alles dichtgemacht zu haben. Was soll ich da tun?«

Mit einer fließenden Bewegung öffnete Elgran die Tür und schoss heraus. Er war groß, aber unglaublich schnell und kräftig. Seine schmierigen Hände umschlossen Caras Hals. Modriger Geruch aus seinem Mund ließ sie würgen.

»Mach das nicht zu meinem Problem, hörst du? Wie du an Informationen kommst, ist deine Sache. Als du damals halb tot an unsere Küste gespült wurdest, haben wir dich auch nicht gefragt, was wir tun sollen, wir haben dich einfach gepflegt. Also – tu deine Pflicht und finde heraus, wo die nächsten Scout-Stationen versteckt sind. Vergiss nicht, wir sind jetzt deine Familie, und du willst bestimmt nicht, dass dich die Autoritäten scannen, oder?«

Er hatte sie gegen das Auto gedrängt und presste seinen Körper gegen sie. Er starrte sie an, als wisse er genau, wer sie war, als habe er sie völlig in der Hand.

Dabei war das nicht der Fall. Wüsste er, dass sie die berüchtigte KI namens Cara war, hätte er sie schon