Narbenwald #Thriller - Chris Dominik - E-Book
SONDERANGEBOT

Narbenwald #Thriller E-Book

Chris Dominik

0,0
6,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Du hast es gesehen. Du hast es gehört. Du hast nichts gesagt. Wirst du es überleben?

Königstein im Taunus: In einem verlassenen Hotel werden die Augäpfel eines Mannes entdeckt, darunter steht mit Blut geschrieben: "Er hat es gesehen!" Nur einen Tag später findet die Polizei auch die dazugehörige und schwer misshandelte Leiche. Noch bevor Kriminalhauptkommissar Marc Davids und seine Kollegin Zoé Martin eine erste Spur verfolgen, verbreitet sich in den Sozialen Medien ein auf YouTube gepostetes Video. Es zeigt den nächtlichen Polizeieinsatz im Hotel, den Tatort, die Ermittler, alle grausamen Details - nur nicht den Mord.
Kurz darauf werden auf der Baustelle eines Luxushotels zwei menschliche Ohren gefunden - und wieder ein mit Blut geschriebener Satz: "Er hat es gehört!" Auch dieses Mal erscheint unmittelbar danach ein Video auf YouTube.
Marc Davids und Zoé Martin von der Abteilung für Sonderermittlungen in Frankfurt stehen vor einem grausamen Rätsel: Hat der Killer die Videos gedreht? Fordert er die Polizei heraus? Will er den Ermittlern Hinweise liefern? Oder wird der Mörder selbst von einem wahnsinnigen YouTuber verfolgt?

Der erste Fall für Marc Davids und Zoé Martin: Düster. Brutal. Verstörend. Ein atemloser Pageturner, in dem nichts so ist, wie es scheint.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 452

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Über den Autor

Impressum

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank, dass du dich für ein Buch von beTHRILLED entschieden hast. Damit du mit jedem unserer Krimis und Thriller spannende Lesestunden genießen kannst, haben wir die Bücher in unserem Programm sorgfältig ausgewählt und lektoriert.

Wir freuen uns, wenn du Teil der beTHRILLED-Community werden und dich mit uns und anderen Krimi-Fans austauschen möchtest. Du findest uns unter be-thrilled.de oder auf Instagram und Facebook.

Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich auf be-thrilled.de/newsletter für unseren kostenlosen Newsletter an.

Spannende Lesestunden und viel Spaß beim Miträtseln!

Dein beTHRILLED-Team

Melde dich hier für unseren Newsletter an:

Über dieses Buch

Du hast es gesehen. Du hast es gehört. Du hast nichts gesagt. Wirst du es überleben?

Königstein im Taunus: In einem verlassenen Hotel werden die Augäpfel eines Mannes entdeckt, darunter steht mit Blut geschrieben: »Er hat es gesehen!« Nur einen Tag später findet die Polizei auch die dazugehörige und schwer misshandelte Leiche. Noch bevor Kriminalhauptkommissar Marc Davids und seine Kollegin Zoé Martin eine erste Spur verfolgen, verbreitet sich in den Sozialen Medien ein auf YouTube gepostetes Video. Es zeigt den nächtlichen Polizeieinsatz im Hotel, den Tatort, die Ermittler, alle grausamen Details – nur nicht den Mord.

Kurz darauf werden auf der Baustelle eines Luxushotels zwei menschliche Ohren gefunden – und wieder ein mit Blut geschriebener Satz: »Er hat es gehört!« Auch dieses Mal erscheint unmittelbar danach ein Video auf YouTube.

Marc Davids und Zoé Martin von der Abteilung für Sonderermittlungen in Frankfurt stehen vor einem grausamen Rätsel: Hat der Killer die Videos gedreht? Fordert er die Polizei heraus? Will er den Ermittlern Hinweise liefern? Oder wird der Mörder selbst von einem wahnsinnigen YouTuber verfolgt?

Der erste Fall für Marc Davids und Zoé Martin: Düster. Brutal. Verstörend. Ein atemloser Pageturner, in dem nichts so ist, wie es scheint.

CHRIS DOMINIK

NARBENWALD

Prolog

Du kannst Schmerz nicht herausschneiden. Ich habe es versucht. Mehr als ein Mal. Ich war mir sicher, ich hätte jede versteckte Nuance, jede kleinste Verästelung aufgespürt und großflächig entfernt. Ich habe den Wunden beim Ausbluten zugesehen. Für einen Moment fühlte es sich an, als würde der Schmerz hinausfließen und außerhalb meines Körpers verklumpen und austrocknen. Tat er aber nicht.

Du kannst ihn auch nicht herausbrennen. Er bleibt, er wartet ab, er ist geduldig. Und wenn die Flammen langsam sterben, kehrt er an seinen Platz zurück. Er weiß, wo er hingehört.

Ich habe versucht, mit dem Schmerz zu leben. Jahrelang. Doch es macht einen Unterschied, ob du mit oder durch ihn lebst. Es ist eine Befreiung, wenn du es endlich erkennst. Und es ist dein Untergang.

Er ist wie ein Tropfen Wasser auf Sand. Du selbst kannst beides nie wieder voneinander trennen. Versuche es und du verlierst den Verstand.

Nein, ich bin natürlich nicht allein. Das zu glauben, wäre unangebracht. Wir alle empfinden Schmerz. Manche von uns definiert er, formt er nach seinem Willen. Er ist ein Künstler. Ein Maler oder Baumeister. Er lässt entstehen und zerstört. Er baut auf und reißt ein. Dich, mich, uns alle.

Er hat mir einiges beigebracht. Vor allem, dass manchmal das eigene Blut nicht ausreicht, um den Schmerz herauszuwaschen. Man braucht dazu viel mehr Blut.

Kapitel 1

»Guten Abend, Herr von Thun. Schön, Sie wieder bei uns zu haben. Schicker Anzug. Neu? Diese Taschenuhr habe ich noch nicht an Ihnen gesehen, habe ich recht? Ich frage mich, ob Sie die wirklich benutzen oder wie jeder normale Mensch das iPhone aus der Tasche ziehen. Warten Sie, jetzt weiß ich, was heute anders ist. Sie sind nicht so besoffen wie gewöhnlich. Sie riechen zwar immer noch nach Trinkhalle, aber der Schweißgeruch ist dezenter. Das wird Ihre Frau sicher begrüßen. Sie sind wieder allein hier? Das heißt also exzessiver Alkoholkonsum und teure Escortdamen? Jeder wie er kann, nicht wahr? So, da wären wir. Achter Stock, Suite mit Blick ins Tal, wie gewünscht. Übrigens, Sie müssen nicht am Fenster auf das Taxi warten. Ich schicke die Dame direkt und diskret zu Ihnen. Nein, danken Sie mir nicht. Ein Schein sagt mehr als tausend Worte. Ich wünsche Ihnen auch einen angenehmen Abend. Bis morgen!«

Ben Warner trat aus dem Aufzug im obersten Stockwerk des Kronen Hotels. Ein schmales Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und ein Gefühl der Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Der beige gemusterte Teppich ließ seine auf Hochglanz polierten Schuhe einsinken. Er zelebrierte seine imaginären Konversationen, die er mit einigen ausgewählten Hotelgästen der letzten Jahre führte. Die Anzahl angenehmer oder, besser gesagt, gewöhnlicher Gäste überwog. Doch an die erinnerte er sich kaum. Sie waren wie durchlaufende Posten, die wenig Chancen hatten, sich irgendwie im Gedächtnis zu verankern.

In Erinnerung blieben die Extreme. Einerseits die Netten, Zuvorkommenden, Großzügigen. Die ihm nicht das Gefühl gaben, lediglich ein Bediensteter zu sein, über den sie jederzeit nach Belieben verfügen konnten. Solche, die mit einem Lächeln und ehrlicher Freude ihren Aufenthalt genossen und sich nicht über zu wenige, zu viele, zu große, zu kleine, zu braune oder zu weiße Federn im Kopfkissen beklagten. Und natürlich diejenigen, die mit dem Trinkgeld besonders spendabel waren. Solche Gäste hatten seine Arbeit in den letzten Jahren angenehm gemacht und erinnerten ihn daran, warum er sich damals für den Job im Hotelgewerbe entschieden hatte.

Auf der anderen Seite waren diejenigen, auf die er am liebsten verzichtet hätte. Die Nörgler, die Überheblichen, die ständig Unzufriedenen. Er hatte ihnen meistens schon beim Einchecken angesehen, dass sie nur gebucht hatten, um sämtliche Hotelmitarbeiter an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit zu bringen. Die Zitrone im Wasser forderten, um im selben Moment der Auszubildenden im Restaurant mitzuteilen, dass die Zitronensäure auf keinen Fall die empfindlichen Lippen berühren dürfe. Denen es im Sommer zu warm, im Winter zu kalt, im Frühling zu schön und im Herbst zu Herbst war. Schuld am Herbst waren die gerade anwesenden Mitarbeiter. Und wenn diese nicht gewillt waren, aus Herbst Frühling zu machen, wurde gerne der Vorgesetzte hinzuzitiert, um mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass man schließlich im Oktober für Frühlingswetter bezahlt hatte.

Auch bei Ben dauerte es ungefähr zwei Jahre, bis die professionelle, innere Abgestumpftheit, flankiert von freundlichstem Servicelächeln, Teil seines Arbeits-Ichs geworden war. Er hatte diesen Zustand perfektioniert. Er konnte mit nahezu engelsgleicher Geduld überflüssige Diskussionen mit Gästen führen, während er sich innerlich an die schönsten Orte der Welt dachte. Manchmal malte er sich aus, wie sich die Situation wohl entwickeln würde, wenn er dem Gast obszöne Objekte mit einem wasserfesten Stift auf die Stirn kritzelte. Kindisch. Dafür effizient.

Doch auch diese Superkraft konnte nicht verhindern, dass sich einige ganz besondere Gäste noch nach Jahren im Unterbewusstsein tummelten und dort für Unruhe sorgten. Und genau mit diesen unterhielt sich Ben nun so, wie es seiner Meinung nach schon immer angebracht gewesen wäre. Jetzt, da die Tage des Hotels gezählt waren und sich die Gäste für immer verabschiedet hatten, konnte er seine offenen Rechnungen eine nach der anderen begleichen. Das tat gut. Sehr gut sogar.

Im Flur des achten Stockwerks herrschte Stille. Der märchenhafte Tiefschlaf, aus dem das Hotel nicht mehr erwachen sollte, umnebelte seine Gedanken. Er war die einzige Person im ganzen Haus. Keine Gäste, keine Angestellten, niemand. Zu beiden Seiten erstreckten sich die Korridore des alten Gebäudes, die jeweils zu drei Mastersuiten führten. Am Kopfende des rechten Flügels gab es einen Notausgang, der auf einen Dachvorsprung mündete. Von dort aus führte eine an der Außenmauer des Hotels befestigte Feuertreppe nach unten. So vertraut, so vertraut.

Er ging ein paar Schritte in den gläsernen Erker, der einen beeindruckenden Blick auf das unterhalb gelegene Königstein und den die Stadt umgebenden Taunus bot. Das Grün der Tannen erschien im Abendlicht verwaschener, ja, mystischer, als es am Tag der Fall war. Bis auf wenige Zentimeter trat er an die etwa sechs Meter breite Panoramascheibe heran.

Ben spürte die Wärme der untergehenden Sonne auf seinem Gesicht und atmete die trockene Luft tief durch die Nase ein. Es hatte etwas Erhabenes. Er sollte der letzte Mensch sein, dem dieser Anblick vergönnt war, bevor die Bautrupps anrückten, um das Gebäude zu entkernen und mit jeder Teppichfaser, mit jedem Mauerstein die Erinnerungen und Geschichten dieses Hauses verschwinden lassen würden. Morgen war es so weit. Dann würde er sich ein letztes Mal aus dem System ausloggen und das Kronen Hotel endgültig seine Türen schließen.

Er blickte auf die Kiesstraße, die sich bergauf durch den Hotelpark schlängelte und in einem von Büschen eingefassten Rondell vor dem Haupteingang endete. Die Einfahrt war von hier nicht zu sehen. Sie lag von dichten Tannen verborgen weiter unten im Tal.

Im selben Moment schob sich ein schwarzer BMW aus dem Wald, passierte die letzte Reihe hochgewachsener Tannen und näherte sich dem Hotel.

»Herzlich willkommen, Herr Doktor Rehmer, es ist mir eine Freude, Sie als letzten Gast im Kronen Hotel begrüßen zu dürfen. Sie hätten natürlich auch jedes andere Hotel im Ort wählen und mir damit Arbeit ersparen können. Nun gut, wo Sie schon mal hier sind, habe ich Ihnen den ausgeräumten Wäschekeller hergerichtet. Ruhig, kühl, geräumig und bestimmt ohne Service«, spottete Ben, während er sich umdrehte, den Aufzugknopf drückte und sich auf den Weg zur Rezeption machte.

Gut gelaunt trat Dr. Rehmer wenig später aus der Drehtür, durchquerte das Foyer und steuerte zielstrebig die Rezeption an. Er war ein hagerer Mann Ende fünfzig, mit gestutztem grau meliertem Bart und einem modischen Haarschnitt. Für gewöhnlich erlaubten seine zu kurz geschnittenen Anzüge den Blick auf seine bleichen Knöchel oder farbig gemusterten Socken. Gelbe Streifen, rote Streifen, hellblaue Ballons.

»Guten Abend, Ben, schön, Sie noch einmal zu sehen. Sie machen also hier das Licht aus? Hoffentlich erst morgen. Ich brauche heute Abend noch etwas davon. Kaum zu glauben, dass es dieses Hotel bald nicht mehr geben wird. Ich parke übrigens direkt vor dem Eingang. Wenn sich einer der anderen Gäste beschweren sollte, geben Sie mir Bescheid. Aber das Problem sollten wir ja nicht haben.«

Ben hatte den Redeschwall kommen sehen. Er war ihn ebenso gewohnt wie den jovialen Ton und die flachen Witze, die Dr. Rehmer gerne und häufig in seine Monologe einbaute. Er war keiner der nervigen Gäste. Er redete einfach immer etwas zu viel und zu laut.

»Herzlich willkommen. Wir hätten Ihnen gerne eine der Suiten gegeben, Herr Doktor, nur dort wurden die Betten bereits abgebaut«, entschuldigte sich Ben höflich, während er die Zimmerkarte codierte.

»Das ist vollkommen in Ordnung. Ich werde duschen, noch etwas an meinem Vortrag feilen und fernsehen. Oder haben Sie die TV-Geräte auch schon entfernt?«

Bevor Ben antworten konnte, griff Dr. Rehmer nach der Zimmerkarte, verabschiedete sich und machte sich lachend auf den Weg zum offenen Fahrstuhl.

»Bis morgen früh. Ich werde gegen halb neun auschecken. Dann gehört das Hotel Ihnen wieder ganz allein. Ehrlich gesagt, ist es schon etwas gruselig als einziger Gast in einem so großen Hotel, finden Sie nicht? Hoffentlich haben Sie die Brandmelder noch nicht abgenommen. Bei meinem Glück brennt es ausgerechnet heute. Aber Sie passen ja auf mich auf, nicht wahr? Gute Nacht, Ben.«

Ben sah ihm nach, während sich die Aufzugstür schloss.

»Stets zu Ihren Diensten, Doktor Rehmer.«

Ben wachte unsanft auf. Er saß noch immer mehr oder weniger auf dem Drehstuhl im Büro hinter der Rezeption. Der Stuhl musste nach hinten gerollt sein, denn seine Beine, die er auf dem Tisch abgelegt hatte, schlugen auf dem Boden auf, ließen ihn nach vorne kippen und rissen ihn endgültig aus dem Schlaf. Der Film, den er auf seinem iPad streamte, war bereits zu Ende, ohne dass er sich an den Schluss erinnern konnte. Wie lange hatte er geschlafen?

Ben stemmte sich aus dem Stuhl, dehnte seinen Nacken in alle Richtungen und schaute auf sein Handy. 1:15 Uhr. Früher war dieser Raum ein normales Büro gewesen. Vier Mitarbeiter kümmerten sich um alles, was in einem Hotel anfiel. Jetzt befanden sich hier nur noch ein Schreibtisch nebst Bürostuhl und eine alte, ausziehbare Schlafcouch, die von den Mitarbeitern der Nachtschicht genutzt wurde, um sich ein paar Minuten auszuruhen. Er musste vor ungefähr einer Stunde eingenickt sein. Unter normalen Umständen wäre ihm das nie passiert. Doch jetzt, allein in einem abgedunkelten, ruhigen Hotel ohne Gäste und Kollegen, fiel das Wachbleiben schwerer.

Ben fröstelte. Ihm Foyer war auf Notbeleuchtung umgestellt worden, die ihr Übriges zur einschläfernden Stimmung beitrug. Die Rezeption war in gelbes Licht getaucht. Darüber hinaus waren die beiden Aufzüge und die Notausgang-Schilder die letzten verbliebenen Lichtquellen. Jenseits der großen Glasscheiben des Eingangsbereichs strahlten vereinzelte kleine Lichtkegel, die die Auffahrt säumten und sich im Park verloren. Dahinter gab es nur noch tiefste Nacht.

Ben öffnete eine Flasche Wasser und nahm einen tiefen Schluck. Er musste nur noch ein paar Stunden überstehen, bevor er einen letzten Rundgang machen und das Hotel hinter sich abschließen würde. Alles andere lag danach in der Verantwortung der Besitzer.

Das Geräusch war laut. Im regulären Hotelbetrieb wäre es wahrscheinlich nicht aufgefallen und vom Zusammenspiel von Menschen und Alltagsgeräuschen übertönt worden. Hier und jetzt war es jedoch laut. Zu laut. Ben saß im Bürosessel hinter der Rezeption und surfte auf dem Smartphone durch seine Social-Media-Profile, als der Schlag ihn zusammenzucken ließ. Reflexartig stand er auf, schaute in die Dunkelheit des Foyers und lauschte. Was, zur Hölle, war das?

Es war aus dem Hotel gedrungen. Und ziemlich sicher aus dem ersten Stock, direkt über ihm, als hätte jemand einen Geschirrwagen im Speisesaal umgeworfen. Allerdings befand sich der Speisesaal im Erdgeschoss, und alle Geschirrwagen waren längst abtransportiert. Er setzte sich wieder, während er in Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten durchspielte. Konnte ein Spiegel von der Wand gefallen sein? Unwahrscheinlich. Die waren so fest montiert, dass man eher ein Stück Wand als den Spiegel rausriss. Eine heruntergefallene Vase? Alle bereits verpackt und abgeholt. Konnte ein TV-Gerät aus seiner Verankerung gefallen sein? Möglich, aber unwahrscheinlich. Es blieb noch eine weitere, die wahrscheinlichste Option: Dr. Rehmer.

Ben griff zum Telefonhörer, wählte die Nummer des Zimmers im ersten Stock und wartete. Das Rufzeichen ertönte. Keine Reaktion. Er ließ es dreißig Sekunden lang klingeln, doch am anderen Ende der Leitung rührte sich niemand. Schlief der Doktor so fest, dass er weder den Schlag gehört hatte noch den Anruf mitbekam? Ben legte den Hörer auf. Vielleicht war er in der Dusche gestürzt und benötigte Hilfe.

Ben stieß sich vom Tisch ab, rollte einen Meter weit und erhob sich in einer fließenden Bewegung aus dem Drehstuhl. »Ich muss nachsehen.«

Wenn ihn all die Jahre, die er in Hotels arbeitete, eines gelehrt hatten, dann dass es nichts gab, was es nicht gab. Wasserrohrbruch in der Hochzeitsnacht über dem Bett des sich liebenden Paars? Check. Schlittenhundefahrer, die vier ihrer Huskies über die Feuertreppe ins Zimmer schmuggelten? Check. Hobbyfotografen, die ihr Equipment nicht im Griff hatten und die neu erworbene Drohne zielsicher in ein Fenster des Hotels steuerten? Check.

Die Erinnerungen ließen Ben schmunzeln, und seine Besorgnis hielt sich in Grenzen, als er die Tür zum Treppenhaus öffnete, um sich auf den Weg in den ersten Stock zu machen. Augenblicklich verharrte er in der Bewegung. Das Treppenhaus lag in fast völliger Dunkelheit. Die taghelle Beleuchtung, die, gesteuert durch Bewegungssensoren, normalerweise ausgelöst wurde, sprang nicht an. Er stand im diesigen grünlich weißen Licht des Notausgangschilds, das auf dieser Seite über der Tür montiert war, während sie sich schloss und den letzten Rest Helligkeit ins Foyer zurückdrängte. Ben zuckte zusammen, als die Tür mit einem letzten Ruck ins Schloss fiel. Reflexartig griff er zur Klinke. Er wollte zurück ins Licht. Genauso gut konnte er den Aufzug nehmen.

»Ernsthaft?«, zischte er mit spöttischem Unterton. »Angst im Dunkeln?«

Er rang sich ein unsicheres Grinsen ab und unterdrückte den Drang, zurückzugehen und sich dem Unwohlsein zu entziehen, das sich in seinem Magen ausbreitete. Er atmete einige Male tief durch, zog sein Smartphone aus der Tasche, schaltete die integrierte Taschenlampe ein und folgte den Stufen nach oben.

Auf dem ersten Absatz angekommen, drehte er sich nach links und spähte um die Ecke. Am Ende des zweiten Treppenabschnitts konnte er bereits die schwere, weiß lackierte Holztür zum ersten Stockwerk erkennen. Auch sie hatte einen Heiligenschein aus grünweißem Licht. Es war ruhig. Was hatte er erwartet? Zugegeben, im Halbdunkel des Treppenhauses brauchte es nicht viel, um sich in die Angst hineinzusteigern.

Leise stieg er nach oben und stand nach wenigen Schritten auf dem zweiten Absatz. Er trat dicht an die Tür, drehte den Kopf und presste ein Ohr an die kühle Oberfläche. Er hörte das Rauschen seines eigenen Bluts. Sein Atem ging schneller. Ansonsten schien alles ruhig. Seine Rechte suchte den Türgriff und drückte ihn nach unten. Er schob sie ein Stück auf und verharrte. Ein blasser Lichtschein stahl sich durch den Spalt ins Treppenhaus und mit ihm ein gedämpftes, kaum wahrnehmbares Wimmern.

Ben hielt die Luft an. Da war es wieder. Ein Wimmern. Erstickt, hoch, angsterfüllt. Und eindeutig menschlichen Ursprungs. Sein Magen zog sich zusammen. Auf der anderen Seite der Tür war ein Mensch. Er musste etwas tun. Den Notruf wählen? Was sollte er melden?

Hier ist das Kronen Hotel in Königstein. Ich verstecke mich hinter einer Tür und höre ein Wimmern ein paar Meter entfernt von mir, traue mich aber nicht nachzusehen. – Ja, ich bin der Verantwortliche hier heute Nacht.

Ganz sicher nicht.

Er schaltete die Handytaschenlampe aus und öffnete die Tür so weit, dass er den Kopf hindurchstecken konnte. Seine Augen mussten sich an die dämmrige Szenerie gewöhnen. Er redete sich ein, dass er ohne die Taschenlampe weniger auffallen würde. Die Schwärze war unheimlich, bot ihm jedoch einen gewissen Schutz.

Rechts von ihm in dem langen, geraden Flur befand sich der Aufzugskern des Hotels. Die Lichter der Digitalanzeigen über den beiden Aufzügen schimmerten rötlich und verloren sich nach wenigen Zentimetern im Schwarz des Korridors. Hinter den Aufzügen befanden sich zehn Zimmer. Fünf auf jeder Seite des Gangs, die Türen versetzt, sodass nie ein Gast direkt vor der gegenüberliegenden Tür stand, wenn er sein Zimmer verließ oder betrat.

Am Ende des Flurs ein Fenster, hinter dem die Feuertreppe nach unten führte. Wie in allen Stockwerken war auch in diesem die Beleuchtung auf ein Minimum reduziert. An der Wand, gegenüber den beiden Aufzügen, in der Mitte des Korridors und vor dem Fenster am Ende befanden sich Lampen, deren dezentes Licht sich durch Milchglas kämpfte. Sie waren so schwach, dass sich die Lichtkegel nicht trafen und den Gang in dunkle und helle Abschnitte unterteilten. Und aus einer der fast schwarzen Inseln entsprang das hohe, ängstliche Wimmern.

Ben wagte kaum zu atmen. Wenn das Treppenhaus ihm einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, rief dieser Gang echte Angst in ihm hervor. Eine Bewegung. Ein leichtes Wippen im vorletzten dunklen Abschnitt. Er wusste nicht, ob ihm seine Sinne einen Streich spielten oder sich dort wirklich etwas bewegte. Knapp über dem Boden schien sich die Schwärze in kleinen Wellen auszubreiten.

Seine Muskeln waren steif, als er einen Schritt aus der Tür machte. Seine Augen bewegten sich schnell von einem Zimmer zum nächsten, von einer Lampe in die Schwärze und wieder zurück. Er hielt sich dicht an der Wand. Seine Schulter schrammte beim Gehen an der Tapete entlang. Das leise Kratzen von Stoff auf Papier erschien ihm so laut, dass es im ganzen Hotel zu hören sein musste. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er fixierte den Punkt, an dem die Dunkelheit pulsierte. Immer deutlicher zeichneten sich Linien und Umrisse gegen das Schwarz ab.

Ben hielt mitten in der Bewegung inne, als sein Gehirn aus den Konturen und Schatten ein Bild formte. Dort, auf dem Boden zwischen zwei Türen in der Dunkelheit, saß ein Mensch.

Die Person lehnte an der Wand und hielt die bis zum Kinn angezogenen Beine mit den Armen umschlungen. Sie wippte vor und zurück.

»Doktor Rehmer?«

Keine Antwort. Zögernd machte Ben einen weiteren Schritt auf den Mann zu, während er sich im Gang umsah. Nichts als Dunkelheit.

»Doktor Rehmer, was ist mit Ihnen?«

Der Doktor reagierte nicht. Ben war bis auf zwei Meter an ihn herangetreten und ging vor ihm in die Hocke. Er versuchte, Augenkontakt herzustellen oder zumindest die Aufmerksamkeit des Doktors auf sich zu ziehen. Vergebens. Dr. Rehmer starrte auf einen imaginären Punkt in der Dunkelheit und schien überall zu sein, nur nicht hier.

»Doktor Rehmer, ich werde jetzt die Taschenlampe meines Handys einschalten. Keine Sorge. Wir brauchen nur etwas mehr Licht. Dann schauen wir uns an, was passiert ist, okay?«

Ben erwartete keine Antwort. In der rechten Hand hielt er noch immer sein Mobiltelefon. Das helle Display wirkte im Dunkel des Korridors wie ein Leuchtfeuer. Er entsperrte das Telefon, schaltete die Taschenlampe ein, leuchtete ein Stück neben den Doktor an die Wand und schaute ihn an.

Mit einem erstickten Schrei sprang Ben zurück. Er landete auf dem Hintern, stieß mit dem Rücken gegen die Wand und stützte sich reflexartig am Boden ab. Er verlor das Gleichgewicht und ließ sein Handy fallen, dessen Schein vom tiefen Teppich fast gänzlich verschluckt wurde. Sein Herz schlug so laut, als würde es den ganzen Korridor ausfüllen wollen. Er atmete unkontrolliert schnell. Dr. Rehmer reagierte nicht, sondern wippte weiter.

Ben griff panisch nach seinem Telefon, während er weiter zurückkrabbelte. Als er noch mehr Abstand zwischen sich und den Mann gebracht hatte, richtete er den Schein der Taschenlampe direkt auf das grauenhafte Bild.

Dr. Rehmer trug einen grau gestreiften Pyjama. Auf Gesicht und Händen glänzte dunkelrotes Blut. Sein Gesicht war fast gänzlich davon bedeckt, sodass die Augen im Schein der Taschenlampe wie helle LEDs leuchteten. Die Pyjamahose war an den Knien von Blut durchtränkt. Blutige Handabdrücke zeichneten sich dort auf dem Stoff ab, wo er seine angezogenen Beine umschlungen hielt. Seine Hose sog sich am Gesäß mit Blut voll. Ben leuchtete auf den Boden und erkannte, dass der Doktor in einer Blutlache hockte. Ein Stück vor sich erkannte Ben eine weitere tiefrote Lache. An der gegenüberliegenden Wand prangte ein großer roter Fleck. Lange Schlieren liefen nach unten.

Ben musste sich fast übergeben. Panisch leuchtete er das Stück Boden ab, auf dem er saß. Kein Blut. Er hielt den Lichtstrahl in den Gang hinter sich und entdeckte eine dritte dunkle Lache auf dem Teppich. Blutige Fußabdrücke führten zu Dr. Rehmer. Ruckartig bewegte Ben die Taschenlampe zurück auf den Doktor. Er hatte aufgehört zu wippen. Reglos saß er im Zentrum des Lichtstrahls und blickte vor sich in die Schwärze. Langsam drehte er den Kopf zu Ben. Seine weit aufgerissenen Augen blitzten im Schein der Lampe. Das Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Rotz lief aus seiner Nase und zeichnete eine weiße Linie in den blutigen Bart. Er öffnete den Mund, und sofort erfüllte das hohe, sirenenhafte Wimmern den Flur, hallte von den Wänden wider und bohrte sich tief in Bens Kopf.

Ben fühlte sich wie gelähmt. Er konnte den Blick nicht abwenden. Der Doktor schaute ihm direkt in die Augen, wimmerte, jaulte, schien den Verstand zu verlieren – und verstummte. Von einer auf die andere Sekunde lag der Gang in absoluter Stille. Der Doktor hob den Arm, krümmte den Zeigefinger seiner Linken und deutete vor sich in die Dunkelheit.

Ben bewegte sich nicht und versuchte, die Bilder in seinem Kopf zu sortieren. Sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Doktors. Er deutete auf eine Zimmertür. Jetzt erst bemerkte Ben, dass sich der Mann gegenüber einem Zimmer befand.

»Was ist da drin?«, fragte Ben leise.

Es war nicht das Zimmer, das er dem Doktor zugeteilt hatte. Das lag am Anfang des Flurs, nah am Aufzug.

»Was ist da drin?«, wiederholte Ben.

Ein einziges leises Piepsen drang aus der Kehle des Doktors, als er den Zeigefinger so stark durchstreckte, dass sein Arm zitterte.

Bens Blick wanderte zwischen dem Doktor und der Tür hin und her. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, stieß er sich vom Boden ab. Den Lichtstrahl der Taschenlampe auf den Doktor gerichtet, stand er auf und stützte sich Halt suchend an der Wand ab. Seine Beine trugen ihn kaum, so sehr krampften die angespannten Muskeln. Er machte zwei schnelle große Schritte, drückte sich an die gegenüberliegende Wand und leuchtete auf das Zimmer. Die Tür stand offen.

Bevor Ben überlegen konnte, was er als Nächstes tun sollte, machte er einen weiteren Schritt auf die Tür zu. Seine Beine bewegten sich von allein, als hätten Körper und Geist eine Übereinkunft getroffen. Er näherte sich dem Zimmer.

Im Lichtkegel der Taschenlampe führten lange dunkle Schlieren auf dem Teppich ins Zimmer. Er trat über die Türschwelle und leuchtete ins Innere. Links von ihm die geschlossene Tür des Badezimmers, rechts die Kombination aus Garderobe und Schrank. Weiter hinten der Schreibtisch samt Stuhl und der an die Wand montierte Fernseher. Die Vorhänge vor dem großen Fenster waren zugezogen. Die Schlieren machten einen Bogen nach links auf das Doppelbett zu. Er machte drei Schritte nach vorne und versuchte, so viel Platz wie möglich zwischen sich und der Blutspur zu lassen. Das Licht der Taschenlampe ließ er mit jedem Schritt mehr Richtung Bett gleiten.

Fünf Sekunden. Nicht länger. Fünf Sekunden lang betrachtete Ben die Szenerie, die sich vor ihm auftat. Die Schlieren endeten abrupt vor dem Bett. Die Taschenlampe tauchte das weiße Laken in blendendes Licht. In der Mitte des Betts zeichneten sich zwei dunkle Punkte auf dem Laken ab. Er ging ans Fußende und leuchtete auf die Stelle.

Blut war in das Laken gesickert und hinterließ zwei deformierte dunkle Kreise, aus deren Zentren ihn zwei Augäpfel anstarrten. Der stechende Blick durchbohrte ihn, als ob er in seine Seele eindringen wollte. Die Sehnerven hingen in blutigen Fetzen an den Rückseiten der Augen und glänzten feucht im Licht. Davor stand ein in roten Buchstaben geschriebener Satz auf dem Laken.

Er hat es gesehen!

Ben drehte sich um, durchquerte das Zimmer mit wenigen schnellen Schritten und erbrach sich im Korridor.

Kapitel 2

So fühlte sich Sterben an.

Es überkam ihn unangekündigt und brutal. In einer Sekunde ging noch alles seinen gewohnten Gang, in der nächsten wusste er, dass er nicht überleben würde. Sein Herz raste. Es fühlte sich an, als ob es zu schnell schlug. Als ob es nur eine Frage der Zeit war, bis sein Organismus kollabieren würde. Er atmete zu schnell und zu flach. Er spürte, wie die Luft durch seine Nase strömte. Doch er fühlte sie nicht. Schaffte sie es bis in seine Lungen? Konnte er genug Sauerstoff aufnehmen? Oder erstickte er jämmerlich, während er hektisch nach Atem rang?

Er lag auf dem Rücken. Kalter Schweiß klebte auf seiner Haut. Er fror und bekam gleichzeitig Hitzewallungen. Noch schlimmer war nur sein Kopf. Alle Synapsen explodierten. Sein Gehirn wurde mit Gedanken geflutet, während er außerstande war, auch nur einen zu fassen.

Alles war da. Und nichts. Es fühlte sich an, als ob ein heranrasender Zug vor ihm auftauchte und sein Gehirn ein ganzes Leben im Moment eines Lidschlags abspielte, kurz bevor alles in grellen Farben explodierte und endete. Verzerrt, verschwommen, zusammenhanglos und beängstigend.

Dieser Zustand blieb für Minuten, ohne an Intensität und Brutalität zu verlieren. Das Zittern des eigenen Körpers, der ihm nicht mehr gehorchte. Das immer enger werdende Blickfeld, in dem er alles doppelt so intensiv und hell wahrnahm, ohne es wirklich sehen zu können. Er wollte rennen. Einfach rennen. Aber er konnte weder seine Beine bewegen noch hätte er das Hyperventilieren abstellen können.

Übelkeit stieg in ihm auf. Er wollte sich übergeben, während er sich gleichzeitig davor fürchtete. Körperlicher Schmerz gesellte sich zu dem Gefühl, den Verstand zu verlieren. Übertroffen wurde alles von der Angst. Dem Gefühl überwältigender, überlebensgroßer Angst. Angst vor dem Sterben, während er starb. Nicht vor dem Tod, sondern vor dem sich dahinziehenden Prozess des Sterbens, den er bei vollem Bewusstsein miterlebte.

Schweißgebadet blickte Marc Davids in das Licht. Es war, als hätte der Zug ihn tatsächlich erfasst. Er hatte gerade zwanzig Minuten gegen den Tod gekämpft und das Duell auch dieses Mal für sich entschieden. Er spürte in sich hinein. Die Übelkeit war noch da, doch der Rest seines Körpers gehörte allmählich wieder ihm.

Er strich sich ein paar Strähnen seines schweißnassen Haars aus der Stirn und fixierte die Deckenbeleuchtung. Totale Erschöpfung. Er fühlte sich nicht mehr wie fünfundvierzig. Er war mindestens neunzig Jahre alt.

Vorsichtig setzte er sich auf. Die roten, mit Kunstleder bezogenen Bänke des Schnellrestaurants waren feucht vom Schweiß. Immer noch zittrig und unsicher nahm er die Beine von der Bank und schob die Füße unter den Tisch. Er verlagerte etwas Gewicht auf sie, um zu sehen, ob sie ihn tragen würden. Die Müdigkeit nach einer Panikattacke war überwältigend. Sie war sanft und bedrohlich zugleich. Wie die verdiente Ruhe nach einem erbarmungslosen Kampf, den nur einer der Kontrahenten, von denen er beide selbst verkörperte, überlebt hatte.

Er hob den Blick und schaute direkt auf die junge McDonald’s-Mitarbeiterin, die unsicher und in zu weit geschnittener Arbeitskleidung vor ihm stand. In der Hand hielt sie einen Becher Kaffee, den er beim Betreten des Restaurants bestellt hatte.

»Ich glaube, Ihr Kaffee ist mittlerweile kalt, aber ich wollte Sie nicht stören. Alles okay bei Ihnen?«, fragte sie von der Situation völlig überfordert.

Er blickte sich um. Er war der einzige Gast. Außer der jungen Frau arbeiteten zwei Männer hinter dem Tresen in der Küche. Wie lange stand sie schon da? Hatte sie seinen heldenhaften Sieg über die Angst die ganze Zeit über mit dem Kaffee in der Hand mitverfolgt? Oder war sie erst vor Kurzem zu ihm an den Tisch gekommen? Aus ihrer Perspektive hatte da seit gut zwanzig Minuten ein Mann auf einer der Sitzbänke gelegen, der zitternd und schwitzend wirres Zeug von sich gegeben hatte. Was unterschied ihn also von all den Junkies, die sich hier in Massen rund um den Hauptbahnhof und das Frankfurter Rotlichtviertel aufhielten?

»Alles in Ordnung. Hauptsache, ich bin nicht in einem McDonald’s gestorben«, antwortete er lächelnd und nahm ihr den Kaffeebecher ab, als er sich schwankend erhob und auf den Weg zur Tür machte.

Marc stieg in seinen Wagen, einen alten, restaurierten Opel Kadett B, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Panikattacken waren für ihn nichts Neues. Seit einem Jahr gehörte die Angst zu seinen engsten Vertrauten. Er hatte keine außergewöhnliche Geschichte, keinen eindeutigen Grund als Auslöser seiner Angst zu bieten. Sie hatte sich unbemerkt in seinen Alltag geschlichen und verleibte sich immer mehr seiner Leichtigkeit und Unbekümmertheit ein. Vielleicht hatte er es ihr auch etwas zu einfach gemacht.

Seine Arbeit war fordernd. Die Abteilung für Sonderermittlungen AS9, deren Leiter er war, hatte ihren Sitz im Frankfurter Polizeipräsidium. Und Frankfurt war ein raues Pflaster. Anders als Mord- oder Sonderkommissionen, die gewöhnlich für jeden Fall neu zusammengestellt und nach dessen Aufklärung aufgelöst wurden, arbeitete der Kern seines vierköpfigen Teams dauerhaft zusammen. Und er, Kriminalhauptkommissar Marc Davids, trug die Verantwortung für Fälle, die zumeist besonders waren. Seine hochspezialisierte Abteilung war eng mit dem LKA in Wiesbaden verbunden und wurde regelmäßig zu Fällen hinzugezogen, die sich außerhalb der Frankfurter Stadtgrenzen ereigneten. Sonderermittlungen bedeutete in den meisten Fällen Mord. Und zwar solche, die aus dem Rahmen fielen und nicht der organisierten Kriminalität oder dem Milieu zugeschrieben werden konnten. Mit anderen Worten, er und sein Team mussten sich mit der Crème de la Crème der Perversen befassen. Und davon gab es leider mehr, als er zu Beginn seiner Laufbahn gedacht hatte. Wenn das mal kein guter Grund für eine Angsterkrankung war.

Angst und Panik ließen ihn meistens in Ruhe, solange er sich mit einem Fall beschäftigte. Das war sein Glück. Bisher hatte sie noch nie in brenzligen Situationen dazwischengefunkt. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass das so bleiben möge. Sobald das Team einen Fall gelöst hatte und sich ein paar Tage Normalität abzeichneten, schlug die Panik dafür umso härter zu. Unangekündigt und unbarmherzig. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass sie um drei Uhr nachts in einem leeren McDonald’s vorbeischauen würde. Öfter mal was Neues.

Er öffnete die Lider und schaute in den Rückspiegel. Die Augenringe waren mittlerweile ein gewohnter Anblick. Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und hoffte, den Glanz des Schweißes loszuwerden.

Sein Handy vibrierte. Er schaute aufs Display und nahm den Anruf entgegen.

»Davids.« Nach Königstein. Er atmete tief ein und fügte mit müder Stimme hinzu: »Ich bin in fünfundvierzig Minuten da.«

Kapitel 3

Das knirschende Geräusch von Reifen auf Kies drang durch das halb geöffnete Seitenfenster, als er die Auffahrt zum Hotel hinauffuhr. Während er die letzten Bäume umrundete und sich die prachtvolle Kulisse des alten Hauses gegen den Mond abzeichnete, pfiff er durch die Zähne.

Der Weg vom Tor zum Hotel war erstaunlich lang und ziemlich schlecht ausgeleuchtet. Ihm fiel auf, dass nur ein Teil der Lampen der Auffahrt eingeschaltet war. Das Hotel wirkte alles andere als einladend. Marc parkte den Opel hinter dem letzten Streifenwagen am Rand des Rondells vor dem Haupteingang und stieg aus. Die Nacht war außergewöhnlich mild, und der Kies gab die gespeicherte Hitze des Tages nur langsam ab. Zwei Krankenwagen, drei Streifenwagen und ein paar zivile Fahrzeuge standen vor dem Hotel, von denen er die meisten den Kollegen der Spurensicherung und einen seiner Partnerin Zoé Martin zuordnen konnte.

Als er durch den Haupteingang trat, sah er Zoé mit einer Gruppe von Beamten reden. Sie bemerkte ihn, nickte ihm zu und fuhr mit der Einweisung fort. Sie trug bereits einen weißen Schutzanzug, hatte die Kapuze aber noch nicht übergestreift. Ihr schulterlanges dunkelbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Soweit Marc erkennen konnte, trug sie kein Make-up. Die markante, leicht nach unten gebogene Nase und die hohen Wangenknochen waren von einem Schweißfilm bedeckt. Die attraktive Halbfranzösin wirkte um einiges jünger als zweiunddreißig. Dennoch hatte sie das entschlossene Auftreten einer gestandenen Polizeibeamtin, was ihr den Ruf eingebracht hatte, zielstrebig und karriereorientiert zu sein. Für Marc war sie vor allem eine der besten Ermittlerinnen, mit denen er bisher zusammengearbeitet hatte. Nachdem sich die letzten Beamten entfernt hatten, kam sie lächelnd auf ihn zu.

»Seit wann trinkst du Kaffee von McDonald’s?«, fragte sie und grinste schief, während sie ihm einen weißen Einwegoverall reichte.

Automatisch hatte er beim Aussteigen nach dem Pappbecher gegriffen, den kalten Kaffee jedoch nicht einmal probiert. Er stellte den Becher auf einen Tisch im Foyer und stieg umständlich in den weißen Anzug.

»Was haben wir?«

»Willst du mal ein Auge darauf werfen?«

Fragend sah er Zoé an.

»Schon gut. Komm mit, wir müssen in den ersten Stock. Du siehst übrigens ziemlich fertig aus.«

Sie traten aus dem Treppenhaus in den ersten Stock. Fast gleichzeitig hoben sie die Hand schützend vor die Augen und schirmten sie gegen die gleißende Helligkeit ab. Die zahllosen Scheinwerfer der Spurensicherung tauchten den Korridor in taghelles Licht. Über die Länge des Gangs waren etwa zehn Beamte damit beschäftigt, Spuren zu dokumentieren und zu sichern. Im Zimmer direkt vor ihnen kümmerten sich zwei Sanitäter um einen Mann auf einer Trage. Ein weiterer saß im Gang links von ihnen auf dem Boden und wurde ebenfalls von Sanitätern betreut. Schweigend betrachtete Marc den jungen Mann, der unverletzt schien, aber augenscheinlich unter Schock stand.

Der charakteristische Geruch von Eisen hing in der Luft. Beißend und schwer. Er konnte ihn auf der Zunge schmecken. Sein Blick wanderte zu dem großen Blutfleck an der Wand, dann zu einer Blutlache auf dem Boden vor ihm und zu ein paar weiteren, die sich bis zu einem Zimmer weiter hinten im Korridor erstreckten.

Jeder Tatort war einzigartig, doch eines einte sie alle. Sie waren der Beleg dafür, dass nichts auf dieser Welt Bestand hatte. Der Geruch von Blut erinnerte ihn immer wieder an die Vergänglichkeit der Dinge.

»Lass uns zuerst ins Zimmer gehen«, sagte Zoé und setzte sich in Bewegung. »Wir haben einen ganzen Flur voller Blut, zwei traumatisierte Personen und den Showroom. Der ist diesmal wirklich etwas Besonderes.«

Sie schoben sich an den Spurensicherungsleuten vorbei. Vor einem der Zimmer machte Zoé eine einladende Geste, die ihn aufforderte einzutreten. Er bemerkte die blutverschmierten Schlieren und ging die wenigen Schritte zum Bett, um das sich einige Personen versammelt hatten. Er erkannte Sebastian Schreiber. Der langjährige Kollege und Spezialist im Bereich der Tatortbeweiserhebung schoss Fotos und dirigierte seine beiden Mitarbeiter aus dem Blickfeld, die gerade dabei waren, Abstriche vom Bettlaken zu nehmen. Er nickte Marc zu, während er sich den Details des Raums widmete.

»Hi, Marc. Zu viel Blut, keine Leiche, dafür das hier.« Schreiber deutete aufs Bett. »Man denkt, die Überraschungen im Job werden mit der Zeit weniger. Und dann passiert so was.«

Im grellen Licht eines Scheinwerfers betrachtete Marc das Paar Augen, das leicht nach oben gerichtet dalag und seinen Blick erwiderte.

»Er hat es gesehen!« Zoé las den kurzen, mit Blut geschrieben Satz laut vor. Die Zweideutigkeit ihrer Worte ließen ihre Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde nach oben wandern.

Marcs Augen folgten den etwa zwanzig Zentimeter großen Buchstaben. Sie waren ordentlich, aber in Eile geschrieben worden. Innerhalb eines Buchstabens hatte der Verfasser mehrfach abgesetzt, auch die verwendete Blutmenge variierte stark. Selbst für einen solch kurzen Satz brauchte man einiges davon. Wenn man die Blutlachen im Flur und die Schlieren vor dem Bett hinzunahm, ließ sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Person, von der das Blut stammte, nicht mehr am Leben sein konnte. Vorausgesetzt, es handelte sich um dasselbe Blut.

»Wie weit sind wir mit der Durchsuchung des Hotels?«, fragte er. »Haben wir den Besitzer der Augen schon gefunden?«

»Die Kollegen sind noch dabei, aber wie es bisher aussieht, negativ.« Schreiber senkte die Kamera. »Wir haben zwei weitere Einheiten angefordert, die im Park unterwegs sind. Das Gelände ist weitläufig, der Wald macht die Suche nicht leichter. Das Hotel dagegen ist nicht allzu groß und überschaubar. Viele der Zimmer sind ausgeräumt. Morgen sollte hier eigentlich der letzte Tag sein, bevor der Laden endgültig schließt.«

»Wer hat die Polizei informiert?«, wollte Marc wissen.

»Der Portier. Du kannst vorne mit ihm reden. Er ist ansprechbar, nur ziemlich durch den Wind«, antwortete Zoé.

Marcs Blick verharrte auf der bizarren Anordnung aus Augäpfeln und Buchstaben, bevor er sich einmal, den Raum im Ganzen wahrnehmend, um sich selbst drehte.

»Haben wir irgendwo noch andere Nachrichten gefunden?«, fragte er.

»Bisher nicht. Soweit wir aktuell wissen, scheint sich alles in diesem Korridor und Zimmer abgespielt zu haben.« Zoé deutete zurück in den Flur. »Dem Portier ist ebenfalls nichts anderes aufgefallen. Doktor Rehmer, der Gast, den du auf der Trage gesehen hast, hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen. Die Kollegen haben ihn befragt, seine Aussage war wenig hilfreich. Vielleicht kann er uns weiterhelfen, sobald sich sein Zustand normalisiert hat.«

Sie traten zurück in den Gang. Ein Kollege untersuchte ein zerbrochenes Fenster am Ende des Korridors. Das Geländer einer Rettungstreppe zeichnete sich in der Dunkelheit dahinter ab. Ein Feuerlöscher lag unter dem Fenstersims auf dem Teppich. Sie kehrten zurück zum Treppenhaus und steuerten auf den Portier zu, der, noch immer blass und mit einem Becher Wasser in der Hand, neben den Sanitätern am anderen Ende des Flurs saß.

»Ben Warner?«, fragte Zoé.

Er nickte und hob den Kopf.

»Sie sind der verantwortliche Mitarbeiter der Nachtschicht und haben die Polizei verständigt, richtig? Das ist Kriminalhauptkommissar Davids, ich bin Kriminaloberkommissarin Martin. Können Sie uns bitte noch einmal schildern, was Sie den Kollegen erzählt haben? Bitte konzentrieren Sie sich. Versuchen Sie, so akkurat wie möglich zu sein.«

Der junge Mann trank den letzten Schluck Wasser und spielte mit dem leeren Becher in seinen Händen. Das Reden fiel im sichtbar schwer.

»Ich bin für die letzte Schicht heute eingeteilt worden. Morgen schließt das Hotel. Doktor Rehmer ist der letzte Gast. Ich habe ihm das Zimmer dort gegeben. Alle anderen sind so gut wie leer geräumt.« Er deutete auf die offene Tür weiter vorne, hinter der sie den Doktor auf der Trage gesehen hatten. »Gegen halb zwei hat es hier oben einen lauten Schlag gegeben. Außer dem Doktor hätte hier eigentlich niemand sein sollen. Ich musste nachsehen. Es gehört zu meinen Aufgaben, nach dem Rechten zu sehen.«

Er hob entschuldigend die Schultern, und das Vibrato in seiner Stimme verriet, dass die Situation zu viel für ihn war. Er schaute sie abwechselnd an, als wartete er auf eine Bestätigung.

»Sie machen das gut, Ben. Was haben Sie danach getan?« Marc schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, obwohl er wusste, dass der junge Mann heute Nacht den Schock seines Lebens erlitten hatte.

»Ich bin durch das Treppenhaus nach oben. Alles ist so schlecht beleuchtet. Morgen schließt das Hotel, habe ich das schon gesagt? Ich wollte nachsehen, ob es dem Doktor gut geht. Dann habe ich ihn hier wimmernd und blutüberströmt sitzen sehen. Er muss starke Verletzungen haben. Wie geht es ihm? Er hat auf das Zimmer da hinten gezeigt, ich habe nachgeschaut und …« Er sprach nicht weiter. Stattdessen starrte er in den leeren Becher.

Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte den Korridor und zog die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. Es schien aus dem Foyer zu kommen und war durch die offenen Türen des Treppenhauses selbst hier oben zu verstehen. Mehrere Personen redeten lautstark durcheinander. Der Tonfall war aggressiv.

»Vielen Dank«, sagte Marc. »Eine letzte Sache noch. Was hätte man in diesem Hotel sehen können, was jemand nicht sehen sollte? Können Sie sich darauf einen Reim machen?«

»Was?«, fragte der junge Mann irritiert. Er schien es wirklich nicht zu verstehen.

»Die Botschaft unter den Augen«, erklärte Zoé.

»Oh, ja, nein, also, die Augen haben bestimmt was gesehen, vorher. Ich meine, bevor sie aus dem Kopf … Verstehen sie? Aber woher soll ich wissen, was?«

Marc sah den Portier verständnisvoll an. Von ihm konnten sie zum jetzigen Zeitpunkt keine weitere Hilfe erwarten. »Bitte denken Sie noch einmal nach. Jedes Detail kann uns helfen. Der Beamte dort wird noch einmal Ihre Aussage durchgehen und alles ergänzen, woran Sie sich erinnern.«

Er nickte Richtung Treppenhaus und gab Zoé zu verstehen, ihm zu folgen. Bevor sie durch die Tür traten, blickte er noch einmal in den Gang. Das Blut, die Augen, die Botschaft. Scheiße, das war nicht gut.

Die Situation im Foyer war unübersichtlich und hektisch. Zwei Beamte versuchten erfolglos, einen wild gestikulierenden Mann im grauen Anzug zu beruhigen, während er abwechselnd sein Mobiltelefon und die Polizisten anschrie. Eine dunkelblonde Frau, etwa dreißig Jahre alt und in einem teuren Hosenanzug, sprach mit einer Beamtin. Ein weiterer Mann, ungefähr im gleichen Alter, stand neben ihr und redete ebenfalls auf die Beamtin ein. Er wollte sich an ihr vorbeischieben, blieb allerdings abrupt stehen, als sich Zoé ihm in den Weg stellte.

»Ruhe!« Marcs lauter, bestimmender Tonfall ließ nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass er genau das einforderte. »Mein Name ist Kriminalhauptkommissar Davids. Ich leite diese Untersuchung. Wer sind Sie? Und warum, verdammt noch mal, führen Sie sich so auf?«

Das Geschrei verstummte. Die Blicke aller Beteiligten richteten sich auf ihn. Fast gleichzeitig nutzten die Männer die Gelegenheit und ergriffen das Wort, diesmal an ihn gerichtet. Wieder versuchten die Beamten, sie zurückzuhalten. Der Lärmpegel schwoll erneut an.

»Ruhe! Ich lasse Sie aus dem Gebäude entfernen, wenn Sie nicht auf der Stelle still sind. Und das ist keine leere Drohung. Wer von Ihnen übernimmt das Reden?«

Der Mann im grauen Anzug tauschte einen Blick mit der jungen Frau. Marc schätzte ihn auf Mitte sechzig. Er war hochgewachsen, hatte schütteres graublondes Haar, einen wachen Blick und im Moment eine Zornesfalte auf der Stirn.

»Mein Name ist Hans-Peter Obernberg. Ich bin der Besitzer dieses Hotels.«

Mit einer Handbewegung wies Marc die Beamten an, den Mann loszulassen.

»Guten Morgen, Herr Obernberg, das ist Kriminaloberkommissarin Martin. Was tun Sie um diese Uhrzeit hier?«

»Wir wurden von unserem Portier über den Vorfall informiert.« Die junge Frau schob sich an der Beamtin vorbei, zog eine Visitenkarte aus einem kleinen metallenen Etui und reichte sie ihm. »Ich bin Anna Sasic, Assistentin der Geschäftsführung und rechte Hand von Herrn Obernberg. Es steht außer Frage, dass wir uns persönlich um die Angelegenheit kümmern.«

»Um die Angelegenheit kümmert sich die Kriminalpolizei, Frau Sasic«, sagte Marc ruhig, »aber danke, dass Sie da sind. Wir haben einige Fragen, bei denen Sie uns sicher helfen können.«

»Natürlich, Herr Hauptkommissar. Wir werden Sie unterstützen, wo wir können. Es ist auch in unserem Interesse, die Angelegenheit so schnell und diskret wie möglich zu klären.«

Marc deutete auf eine Sitzgruppe in der Nähe des Eingangs und forderte die drei auf, Platz zu nehmen. Zoé und er setzten sich dazu, während sich die übrigen Beamten ein Stück entfernt versammelten.

»Darf ich auch Sie bitten, uns Ihren Namen zu nennen?«, richtete Marc das Wort an den jungen Mann, der den Platz links neben Hans-Peter Obernberg eingenommen hatte.

Er war ähnlich groß gewachsen, trug ein weißes Hemd, dessen Ärmel bis zu den Armbeugen hochgerollt waren, und eine dunkelblaue Stoffhose, die kurz über den weißen Sneakern mit Versace-Logo endete. Die blonden Haare und die markante Augenpartie verrieten ein Familienverhältnis zwischen den beiden, ohne dass er es aussprechen musste.

»Mein Name ist Michael Obernberg«, antwortete er unaufgeregt. »Ich bin der Sohn und ebenfalls Mitglied der Geschäftsführung.«

Seine sportliche Statur und das gepflegte Auftreten passten zu sämtlichen Vorurteilen, die man gegenüber Söhnen reicher Eltern haben mochte. Marc musterte ihn unauffällig. Er wirkte offen und kooperativ. Allerdings war auch klar, dass er in diesem Trio nur die dritte Geige spielte.

»Herr Hauptkommissar«, Anna Sasic übernahm höflich, aber direkt die Gesprächsführung, »die Familie Obernberg sind erfolgreiche Geschäftsleute. Das Hotel ist oder besser war ein Teil unserer Firmengruppe. Auch wenn es Ihnen etwas pietätlos vorkommen mag, wir dürfen trotz dieses tragischen Vorfalls weder unsere noch die Interessen unserer Geschäftspartner aus den Augen verlieren. Wir wären Ihnen daher sehr dankbar, wenn wir diese Sache so diskret wie möglich behandeln könnten. Das Hotel ist bereits verkauft, die Übergabe beruht auf einer engen zeitlichen Taktung. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Es ist grausam, was passiert ist. Aber wir sind hier mit einer sehr unschönen Situation konfrontiert, mit der wir nichts zu tun haben und die wir aus der Welt schaffen müssen.«

Sie ist sehr eloquent, dachte Marc. Die wenigen Sätze, die sie an ihn gerichtet hatte, verrieten, dass sie ihren Job verdammt ernst nahm. Ihre dunkelblonden, mit hellen Strähnen durchzogenen Haare waren kinnlang, seitlich gescheitelt und modern geschnitten. Ihr Gesicht war markant. Sie fiel auf. Je länger er sie musterte, desto deutlicher nahm er ihre feinen Gesichtszüge wahr. Eine moderne junge Frau, die Karriere machte. Wie auf einem Bild aus dem Prospekt einer Unternehmensberatung lagen ein Tablet und ein Mobiltelefon vor ihr auf dem Tisch. Die Beine elegant übereinandergeschlagen, den Rücken gerade aufgerichtet, wartete sie auf seine Antwort. Sie hatte für ihr junges Alter eine erstaunliche Ausstrahlung.

»Frau Sasic, was hat Ihnen Ihr Mitarbeiter genau erzählt?«

Er überging bewusst die Andeutungen der Assistentin. Sie wirkte kein bisschen überrascht.

»Nun ja, dass er nach unserem Gast sehen wollte, ihn blutüberströmt vorgefunden und dann dieses abartige Szenario in dem Zimmer entdeckt hat.«

»Und genau aus diesem Grund müssen wir auf absolutes Stillschweigen Ihrerseits bestehen«, fiel Obernberg senior ihr ins Wort. »Ich muss Ihnen nicht erklären, was das für Kreise ziehen wird, sobald die Öffentlichkeit erst einmal davon erfährt. Medien, Presse, Getratsche …«

»Ich glaube, Sie verkennen die Situation, Herr Obernberg«, entgegnete Marc. »Das ist kein Geschäftstermin. Sie befinden sich an einem Tatort. Was hier genau passiert ist, wird gerade von meinen Kollegen untersucht. Was bereits feststeht, ist, dass wir es mit keiner gewöhnlichen Situation zu tun haben. Das heißt, solange wir diesen Ort untersuchen, ist er polizeilich gesperrt. Es wird nichts verändert, und es gibt keinerlei Spielraum für Verhandlungen. Natürlich ist Diskretion oberste Priorität. Aber damit meine ich Sie drei.«

Obernberg senior holte tief Luft und setzte zu einem Konter an. Noch bevor der Hotelchef seine Wut in Worte fassen konnte, antwortete Anna Sasic.

»Das verstehen wir vollkommen, Herr Hauptkommissar. Wir werden Sie dabei unterstützen, damit Sie Ihre Untersuchung schnellstmöglich abschließen können. Das liegt in unser beider Interesse.«

Sie blickte ihren Chef versöhnlich an. Der schluckte augenscheinlich herunter, was ihm auf der Zunge lag. Er wusste offensichtlich, dass er in hitzigen Diskussionen das Reden besser seiner Assistentin überließ. Demonstrativ starrte er auf das Display seines Smartphones.

»Warum übernachtete Herr Doktor Rehmer heute Nacht hier?«, fragte Zoé in die Runde.

Obernberg schnaubte. »Er ist ein alter Bekannter und langjähriger Gast unseres Hauses. Er brauchte ein Zimmer, wir hatten ein Zimmer.«

»Anscheinend aber kein so guter Bekannter, dass Sie sich nach seinem Zustand erkundigen würden.«

Die Spitze erfüllte ihren Zweck. Der Hotelchef nahm den Blick vom Display. Seine Augen fixierten Zoé. Marc konnte unterdrückte Wut darin aufblitzen sehen. Er war es nicht gewohnt, in der Rolle der Person zu sein, die Fragen beantworten musste, anstatt sie zu stellen. Schnell gewann er die Kontrolle über seine Mimik zurück.

»Sie können sich solche Andeutungen sparen. Wir hoffen inständig, dass es ihm gut geht. Können Sie uns sagen, in welchem Zustand er sich befindet?«

»Leider nein. Wir dürfen Ihnen keine solche Auskunft geben. Allerdings könnten wir es im Moment auch nicht«, beantwortete Marc die Frage für seine Partnerin. »Die beiden Kollegen dort werden Ihre Daten aufnehmen. Wir werden uns zeitnah mit Ihnen in Verbindung setzen, um weitere offene Punkte zu klären. Das Gebäude wird bis auf Weiteres versiegelt und darf nicht betreten werden. Ich bitte um Ihr Verständnis.«

Die Gruppe erhob sich von ihren Plätzen. Marc und Zoé verabschiedeten sich, die beiden Beamten übernahmen. Missmutig beugte sich Obernberg senior seinem Schicksal, nicht ohne noch einmal darauf hinzuweisen, dass er eine schnelle Klärung der Situation erwarte. Als sie bereits ein paar Schritte von den dreien entfernt waren, drehte sich Marc noch einmal zu dem Hotelbesitzer um.

»Er hat es gesehen! – können Sie sich den Satz erklären, Herr Obernberg?«

Ein trotziges Lächeln ließ sich in den Mundwinkeln des Geschäftsmanns erahnen.

»Herr Hauptkommissar, es ist mir vollkommen egal, wer was wo gesehen hat. Alles, was mich interessiert, ist, wie schnell Sie seine Augen aus meinem Hotel schaffen.«

Kapitel 4

Quelle: YouTube

Video: Narbenwald: Original Footage

Kanal: L/F/M

30 265 Aufrufe · vor 2 Stunden

Bäume schmiegen sich eng aneinander. Ein Lichtkegel bewegt sich über Kiefern und Tannen. Knacken und Rascheln von Schritten auf Waldboden. Angestrengtes Atmen. Das Kamerabild zieht von links nach rechts, vorbei an Bäumen und Schwärze. Es verharrt auf kleinen Lichtern, die entfernt in der Dunkelheit schweben. In einer langsamen Kamerafahrt schält sich das Gebäude aus dem Dunkel des Waldes.

»Da sind wir, meine Lieben. Darf ich vorstellen, das Kronen Hotel in Königstein. Heute noch Hotel, morgen Lost Place, übermorgen verschwunden.« Die flüsternde, heisere Stimme aus dem Off klingt triumphierend und enthusiastisch. »Kommt mit rein. Wir haben eine Mission.«

Die Kamera schwenkt um hundertachtzig Grad herum, der Kopf einer Person erscheint im Bild. Eine Sturmhaube verdeckt ihr Gesicht vollständig. Die Augenpartien unter der Maske sind mit Farbe geschwärzt. In einer energischen Geste streckt sie den Arm aus. Die Finger der Hand gespreizt, bewegt sich der Handschuh auf die Linse zu, bis Schwarz das Blickfeld ausfüllt. Cut.

Eine Mauer. Kameraschwenk zu beiden Seiten. Dunkles Mauerwerk. Schwenk nach oben. Das Ende einer Feuertreppe erscheint ein Stück oberhalb der Kamera.

»Wir müssen mal wieder nach oben. Ich schalte auf Kopfkamera um.«

Ein schwarzer Handschuh befestigt die Kamera an einem Stirnband. Teile eines in schwarze Kleidung gehüllten Körpers werden sichtbar.

Die Kamera richtet sich nach oben. Ein Sprung. Die dunklen Handschuhe ergreifen den unteren Rand der Metalltreppe. Das Bild wackelt, als sich die Person mühelos daran hochzieht. Sie schaut sich um. Dunkelheit. Sie setzt ihren Weg nach oben fort. Das Bild folgt den dynamischen Bewegungen der Person, die sich schnell und geräuschlos die Feuertreppe hocharbeitet. Immer wieder bleibt sie stehen und blickt durch die Fenster ins Innere des Gebäudes. Dunkle, lange Gänge. Jedes Stockwerk wirkt gleich. Sie tritt nah an das Geländer der Feuertreppe und blickt hinunter ins Tal. Die Lichter Königsteins erscheinen hinter den Bäumen.

»Schon nice. Aber wir sind aus einem bestimmten Grund hier.«

Die Person steigt die Treppe ein weiteres Stockwerk nach oben. Auf dem Fensterbrett steht ein überquellender Aschenbecher. Die leere Dose eines Energy Drinks liegt unter dem Sims. Eine Hand drückt gegen das Fenster. Es öffnet sich nach innen.

»Willkommen im Kronen Hotel.«

Das Kamerabild zeigt einen langen, von Türen gesäumten Gang. Keine Beleuchtung. Die eingebaute Lampe der Kopfkamera wird eingeschaltet. Ein mattes Licht erhellt die nähere Umgebung. Lautlos bewegt sich die Person auf eine Tür zu. Das Kontaktfeld der Schlüsselkarte glänzt golden im Schein der Lampe. Die Person drückt die Klinke nach unten. Die Tür lässt sich öffnen.

»Da hat das Geld für die Stromrechnung nicht mehr gereicht.«

Die Kamera schwebt durch die Tür. Das Zimmer ist so dunkel wie der Flur. Die Person öffnet das Badezimmer und wirft einen Blick hinein, bevor sie sich weiter durch den leeren Raum bewegt. Sie dreht sich um, verlässt das Zimmer und tritt zurück in den Flur. Behutsam setzt sie ihren Weg tiefer in das Gebäude fort.

Im Lichtkegel der Kamera erscheinen Türen. Die Digitalanzeige über den Aufzügen leuchtet in schwachem Rot. Daneben eine Tür mit der Aufschrift Treppenhaus. Weitere Zimmer den Gang hinunter. Die Kamera wandert zurück auf die Tür zum Treppenhaus. Die behandschuhte Hand drückt die Klinke nach unten. Ein Körper gleitet durch den Türspalt. Dunkelheit. Aufgeregtes Atmen. Eine große 4 erscheint im Lichtkegel. Der Blick richtet sich auf die Treppe nach oben, dann auf die Stufen nach unten.

»Wir gehen runter.«

Die Person setzt sich in Bewegung, folgt der Treppe. Der Lichtstrahl erfasst eine große 3 an der Wand neben einer Tür. Die Person nähert sich und öffnet sie ein Stück. Die Kamera schiebt sich hindurch, schwenkt den Gang hoch und runter. Das identische Bild wie im Stockwerk darüber. Die Person zieht sich ins Treppenhaus zurück.

»Ich verspreche euch, gleich wird es aufregend.«

Die große 2 erscheint im Licht der Kamera. Die Person geht daran vorbei, ignoriert die Tür zu dieser Etage. Ein verwaschenes grünes Licht in der Dunkelheit entpuppt sich als Notausgangschild über der Tür zum ersten Stock. Die Kamera wackelt und wird vom Kopf genommen. Die Sturmhaube erscheint.

»Ladies and Gentlemen, es geht los.«

Die Hand holt aus und bewegt sich theatralisch auf die Linse zu. Cut.