Natur. Ein Essay - Ralph Waldo Emerson - E-Book

Natur. Ein Essay E-Book

Ralph Waldo Emerson

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Beschreibung

Zurück zur Natur! Kaum ein anderer Text hat wie Emersons Essay von 1836 Kreise gezogen: Naturschutz und grüne Bewegung sind ohne ihn kaum denkbar. Doch durchzieht den Text auch eine zweite Bedeutungsebene, denn "zurück zur Natur" bedeutet auch: "weg von den alten Fesseln" – und das heißt für Emerson: weg von den alten Traditionen Europas hin zu einer eigenständigen amerikanischen Kultur. "Warum sollten wir nicht eine Dichtung und Philosophie der Einsicht statt der bloßen Tradition haben und eine Religion zu uns selbst sprechender Offenbarungen anstelle einer Geschichte der Religion unserer Vorväter?"

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Ralph Waldo Emerson

Natur

Ein Essay

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Manfred Pütz und Gottfried Krieger

Reclam

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961464-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019517-8

www.reclam.de

Inhalt

NaturEinleitungNaturGebrauchsnutzenSchönheitSpracheErziehungIdealismusGeistAusblickeZu dieser AusgabeZu Autor und Werk

Natur

Eine zarte Verkettung von endlosen Ringen

Mag das Nächste dem Fernstens noch nahe zu bringen;

Das Auge liest Zeichen, wohin es auch schweift,

Die Rose alle Sprachen umgreift;

Und strebend Mensch zu sein, der Wurm

Erhebt sich durch alle Wandlung der Form1

Einleitung

Unser Zeitalter ist retrospektiv. Es baut die Grabdenkmäler seiner Väter. Es schreibt Biographien, Geschichtsbücher und Kritiken. Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir jedoch sehen nur mit ihren Augen. Warum sollten nicht auch wir uns einer ursprünglichen Beziehung zum Universum erfreuen? Warum sollten wir nicht eine Dichtung und Philosophie der Einsicht statt der bloßen Tradition haben und eine Religion zu uns selbst sprechender Offenbarungen anstelle einer Geschichte der Religion unserer Vorväter? Wenn uns nur ein einziges Mal die Natur umfangen hat, deren Lebensfluten um und in uns pulsieren und uns durch die Kräfte, die sie spenden, zum naturgemäßen Handeln einladen: Warum dann noch im Staub der Vergangenheit wühlen, warum dann noch die lebende Generation in den verblichenen Masken und Kostümen der Vergangenheit auftreten lassen? Auch heute scheint die Sonne. Es gibt immer noch Wolle und Flachs auf den Feldern. Es gibt immer wieder neue Länder, neue Menschen und neue Gedanken. Lasst uns darum unsere eigenen Werke, Gesetze und Weisen der Verehrung fordern.

Zweifellos stellen wir keine Fragen, die nicht beantwortet werden können. Wir müssen im Vertrauen auf die Vollendung der Schöpfung daran glauben, dass die Ordnung der Dinge eben jene Neugierde zu befriedigen vermag, die sie selbst erweckt hat. Die Befindlichkeit eines jeden Menschen ist eine verschlüsselte Antwort auf jene Fragen, denen er nachzuspüren vermag. Er lebt diese Antwort, bevor er sie als Wahrheit begreift. Auf ähnliche Weise beschreibt die Natur bereits in ihren Formen und Tendenzen ihren Gesamtplan. Lasst uns also die großartige Erscheinung, die uns so friedlich umgibt, zum Gegenstand unseres Fragens machen. Lasst uns erforschen, was der Zweck der Natur ist.

Alle Wissenschaft hat ein Ziel, nämlich eine Theorie der Natur zu finden. Wir kennen Theorien über Rassen und Funktionen, aber bis jetzt so gut wie keine auch nur entfernte Annäherung an die Idee der Schöpfung. Wir haben uns heute so weit vom Weg zur Wahrheit entfernt, dass religiöse Denker sich streiten und einander hassen und dass spekulative Menschen für krankhaft und albern gehalten werden. Aber für ein gesundes Urteil ist die abstrakteste Wahrheit zugleich auch die praktischste. Wann immer eine wahre Theorie auftaucht, wird sie ihren Beweis in sich selbst tragen. Ihr Prüfstein besteht darin, ob sie alle Erscheinungen hinreichend erklärt. Gegenwärtig gelten viele Erscheinungen nicht nur für unerklärt, sondern auch für unerklärbar, wie z. B. Sprache, Schlaf, Wahnsinn, Träume, Tiere, Geschlecht.

Philosophisch gesehen, besteht das Universum aus Natur und Seele. Deshalb muss, genau genommen, alles, was von uns verschieden ist und was die Philosophie als NICHT-ICH bezeichnet,2 d. h. beides, Natur und Kunst, alle anderen Menschen und mein eigener Körper, unter dem Begriff NATUR zusammengefasst werden. Wenn ich im Folgenden die Werte der Natur durchgehe und ihre Summe ziehe, werde ich das Wort »Natur« im doppelten Sinne verwenden: in seiner gewöhnlichen und in seiner philosophischen Bedeutung. In Untersuchungen, die so allgemein gehalten sind wie die unsrige, fällt diese Ungenauigkeit nicht ins Gewicht, und es wird keine Begriffsverwirrung eintreten.

Natur im gewöhnlichen Sinne bezeichnet Wesenheiten, die der Mensch nicht verändert hat: der Raum, die Luft, der Fluss, das Blatt. Der Begriff Kunst hingegen bezieht sich auf solches, das aus einer Vermischung des menschlichen Willens mit eben denselben Dingen hervorgegangen ist, wie z. B. bei einem Haus, einem Kanal, einer Statue, einem Gemälde. Aber alle menschlichen Anstrengungen zusammengenommen sind so unbedeutend – ein bisschen Meißeln, Zusammenpappen, Flicken und Reinigen –, dass sie auf den gewaltigen Eindruck, den die Welt im menschlichen Geist hinterlässt, so gut wie keinen Einfluss haben.

Natur

Wer sich in die Einsamkeit begeben will, muss sich aus seiner Kammer ebenso wie aus der Gesellschaft zurückziehen. Ich bin nicht allein, solange ich lese und schreibe, obwohl niemand um mich ist. Wenn jemand die Einsamkeit sucht, soll er die Sterne anschauen. Die Lichtstrahlen, die von diesen himmlischen Welten kommen, werden ihn loslösen von allem, womit er in Berührung steht. Man möchte denken, die Atmosphäre sei deshalb durchsichtig geschaffen worden, um dem Menschen in den Himmelskörpern den immerwährenden Anblick des Erhabenen zu gewähren. Wie großartig sind die Sterne, wenn man von den Straßen der Städte zu ihnen aufblickt! Würden die Sterne nur einmal in 1000 Jahren erscheinen, wie wären die Menschen zu Glaube und Bewunderung hingerissen, wie würden sie über Generationen hinweg die Erinnerung bewahren an jene Stadt Gottes, die ihnen erschienen ist! Doch Nacht für Nacht erscheinen diese Gesandten der Schönheit und erleuchten das Universum mit ihrem mahnenden Lächeln.

Die Sterne erwecken eine gewisse Ehrfurcht, da sie – obwohl immer gegenwärtig – doch unerreichbar sind. Aber alle natürlichen Dinge vermitteln einen ähnlichen Eindruck, wenn der Geist dafür offen ist. Niemals erscheint die Natur auf gemeine Art und Weise. Und niemals ringt ihr selbst der Weiseste ihr Geheimnis ab und verliert seine Neugierde, weil er ihre ganze Vollendung entdeckt. Natur wurde noch nie zum Spielzeug für den Weisen. Die Blumen, die Tiere, die Berge spiegelten nur die Weisheit seiner besten Stunde wider, so wie sie die Einfalt seiner Kindheit erfreuten.

Wenn wir so von der Natur reden, tun wir es in einem klar definierten, doch höchst poetischen Sinn. Wir meinen die Geschlossenheit des Eindrucks, den vielerlei Gegenstände der Natur hinterlassen. Genau dies unterscheidet das Stück Holz des Holzfällers vom Baum des Dichters. Die reizvolle Landschaft, die ich heute Morgen sah, setzt sich zweifellos aus einigen 20 oder 30 Farmen zusammen. Miller gehört dieses Feld, Locke jenes und Manning der Wald da drüben. Aber keinem von ihnen gehört die Landschaft. Der Horizont umfasst ein Eigentum, das keiner besitzen kann außer dem, dessen Auge alle Einzelheiten zu vereinigen vermag, mit anderen Worten: dem Dichter. Dies ist der beste Teil von den Farmen jener Männer, doch gerade darauf gibt ihnen ihr Besitzbrief kein Anrecht.

Um die Wahrheit zu sagen: Nur wenige erwachsene Menschen sind imstande, die Natur zu sehen. Die meisten sehen die Sonne nicht. Zumindest haben sie nur eine sehr oberflächliche Sicht von dieser. Die Sonne erhellt nur das Auge des Erwachsenen, doch sie scheint zugleich ins Auge und ins Herz des Kindes. Wer die Natur liebt, dessen innere und äußere Sinne stehen noch wahrhaft im Einklang miteinander; er hat sich den Geist der Kindheit bis ins Erwachsenenalter erhalten. Sein Umgang mit Himmel und Erde wird Teil seiner täglichen Nahrung. Im Angesicht der Natur erfüllt den Menschen trotz realen Leids eine wilde Freude. Dies ist mein Geschöpf, sagt die Natur, und ungeachtet seiner zudringlichen Sorgen soll er glücklich mit mir sein. Nicht allein die Sonne oder der Sommer zollen ihren Freudentribut, sondern jede Stunde und Jahreszeit; denn jede Stunde und jeder Wechsel entspricht einer anderen Geistesverfassung und bestätigt sie, vom windstillen Mittag bis zur furchtbarsten Mitternacht. Natur ist ein Rahmen, der gleich gut für eine Komödie wie für ein Trauerspiel passt. Bei guter Gesundheit ist die Luft eine Stärkung von wunderbarer Kraft. Wenn ich im Zwielicht über ein kahles Stück Gemeindewiese gehe, durch Schneepfützen, unter einem bewölkten Himmel, ohne einen Gedanken an irgendein besonderes Glück, verspüre ich vollendete Heiterkeit. Meine Freude grenzt fast schon an Furcht. Auch in den Wäldern wirft der Mensch seine Jahre von sich wie eine Schlange ihre Haut und ist, in welchem Alter auch immer, stets ein Kind. In den Wäldern ist immerwährende Jugend. In diesen Plantagen Gottes herrschen Anstand und Heiligkeit, vollzieht sich ein ständiges Fest, und der Gast vermag sich nicht vorzustellen, wie er selbst in 1000 Jahren all dessen müde werden könnte. In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück. Dort spüre ich, dass mir im Leben nichts zustoßen kann – keine Schande, kein Unglück (solange ich mein Augenlicht behalte), die die Natur nicht wiedergutmachen könnte. Ich stehe auf der nackten Erde, mein Haupt gebadet von sanften Winden und erhoben in die Unendlichkeit des Raums, und alle niedrige Selbstsucht fällt von mir ab. Ich werde ganz zum durchscheinenden Auge; ich selbst bin nichts und sehe doch alles; Ströme des allumfassenden Seins durchfluten mich; ich bin Teil oder Bestandteil Gottes. Der Name des engsten Freundes klingt dann fremd und unwichtig: mit jemandem verwandt oder bekannt zu sein, Herr oder Diener, alles wird zur Nebensächlichkeit, ja zur Last. Ich bin nur noch Anbeter einer grenzenlosen und unsterblichen Schönheit. In der Wildnis finde ich etwas, das mir teurer und verwandter ist als die Dinge in den Straßen und Dörfern. In der stillen Landschaft und besonders in der fernen Linie des Horizonts erblickt der Mensch etwas, das der Schönheit seiner eigenen Natur vergleichbar ist.

Die größte Freude, die Feld und Wald uns bereiten, ist die Andeutung einer dunklen Beziehung3 zwischen Mensch und Pflanzenwelt. Ich bin nicht allein und unerkannt. Die Pflanzen nicken mir zu und ich nicke zurück. Das Schwanken der Zweige im Sturm ist mir vertraut und unvertraut zugleich. Es überrascht mich und ist mir doch nicht unbekannt. Seine Wirkung ist wie die eines höheren Gedankens oder einer besseren Empfindung, die mich überkommt, wenn ich glaube, Angemessenes zu denken oder das Richtige zu tun.

Doch ist sicher, dass das Vermögen, solche Freude hervorzubringen, nicht in der Natur beschlossen liegt, sondern im Menschen oder in der Harmonie beider. Wir sollten diese Freude nur sehr maßvoll genießen. Denn die Natur erscheint nicht immer im Festkleid; dieselbe Szene, die gestern noch Wohlgeruch atmete und glitzerte wie zum Spiel der Nymphen4, ist heute in Schwermut getaucht. Die Natur trägt immer die Farben des Geistes. Für den, der unter Not und Elend leidet, hat selbst die Wärme des eigenen Kaminfeuers etwas Trauriges an sich. Und es gibt eine Art Verachtung für die Landschaft, die jener fühlt, der gerade einen guten Freund durch Tod verloren hat. Der Himmel ist weniger großartig, wo er sich über das weniger Wertvolle in den Menschen wölbt.

Gebrauchsnutzen

Wer über den Endzweck der Welt nachdenkt, wird eine ganze Reihe von Nutzen unterscheiden, die sich als Teile in das Ergebnis einfügen. Sie alle können einer der folgenden Klassen zugeordnet werden: Gebrauchsnutzen, Schönheit, Sprache und Erziehung.

Unter den allgemeinen Begriff des Gebrauchsnutzens fällt all jenes, das unsere Sinne der Natur verdanken. Dies ist selbstverständlich ein Nutzen, der in sich vergänglich und mittelbar und nicht absolut wie sein Gewinn für die Seele ist. Obwohl jedoch ein geringer Nutzen, ist er doch auf seine Art vollendet und der einzige Gebrauch der Natur, den alle Menschen kennen. Das Unglück der Menschen erscheint wie kindisches Schmollen, wenn wir den ständigen Überfluss an Gütern betrachten, die für den Unterhalt und die Freude des Menschen auf diesem grünen Erdball, der ihn durch den Raum trägt, zur Verfügung gestellt worden sind. Welche Engel erfanden diesen herrlichen Schmuck, diesen Reichtum von Annehmlichkeiten, dieses Luftmeer über uns, diesen Ozean darunter und dieses Erdengewölbe zwischen beiden? Wer erfand diesen Kreis von Lichtern, dieses Zelt von wasserspendenden Wolken, dieses gestreifte Kleid der Klimazonen, diese vier Jahreszeiten? Tiere, Feuer, Wasser, Steine und Getreide dienen ihm. Das Feld ist ihm zugleich Grund und Boden, Arbeitsstätte, Spielplatz, Garten und Bett.

Mehr Diener hat der Mensch,

Als er je um sich weiß. –5

Die Natur steht dem Menschen nicht nur als Stoff zu Diensten, sondern sie ist auch Prozess und Ergebnis. Alle ihre Teile wirken unablässig ineinander zum Nutzen des Menschen. Der Wind sät die Saat; die Sonne bringt das Meer zum Verdunsten; der Wind weht den Dunst auf die Felder; das Eis auf der anderen Seite des Planeten kondensiert den Regen; der Regen nährt die Pflanzen; die Pflanzen nähren die Tiere; und schließlich kommt auf diese Weise der endlose Kreislauf göttlicher Wohltaten dem Menschen zugute.

Die praktischen Künste sind vom menschlichen Geist erfundene Reproduktionen oder neue Kombinationen derselben natürlichen Wohltäter. Der Mensch wartet nicht länger auf günstige Winde, sondern er lässt mit Hilfe des Dampfes die Fabel vom Windgott Aeolus6 Wirklichkeit werden und trägt die zweiunddreißig Winde im Dampfkessel seiner Schiffe mit sich. Um die Reibung zu vermindern, pflastert er die Straße mit Eisenschienen,7 besteigt einen Wagen und bewegt sich pfeilschnell mit einer Schiffsladung von Menschen, Tieren und Waren hinter sich durch die Lande, von Stadt zu Stadt, so wie der Adler oder die Schwalbe durch die Luft. Wie hat sich das Antlitz der Erde verändert von Noah8 bis Napoleon9