Natürlich heilen mit Bakterien - eBook - Anne Katharina Zschocke - E-Book

Natürlich heilen mit Bakterien - eBook E-Book

Anne Katharina Zschocke

5,0

Beschreibung

Bakterien werden meistens mit Krankheiten in Verbindung gebracht. In Wahrheit gibt es ohne sie keine Gesundheit. Bakterien haben als lebensnotwendiges "Mikrobiom" Anteil an Stoffwechsel, Hormonzyklen, Immunaktivität, Verdauung und Aufnahme der Nahrung. Viele Krankheiten sind auf Störungen im Mikrobiom zurückzuführen: Unverträglichkeiten, Magenübersäuerung, Reizdarm, Hautkrankheiten, Entzündungen, ADHS, Diabetes, Übergewicht und viele mehr. Bakterien gelten heute als Medizin der Zukunft. In diesem Buch werden erstmalig Geschichte, Hintergründe und Entwicklung der bakteriellen und antimikrobiellen Heilverfahren erläutert. Das Mikrobiom des menschlichen Körpers und seine Aufgaben, Erkrankungen und Heilungsmöglichkeiten werden erklärt. Alte Heilweisen mit Bakterien und alle gängigen mikrobiologischen Therapien werden vorgestellt, Probiotika und Ballaststoffe beschrieben. Mit praktischen Anleitungen, Tipps und Fallberichten zur Heilung körperlicher und seelischer Krankheiten, für mehr Lebensqualität oder zur Vorsorge.

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Natürlichheilen

mit Bakterien

Dr. Anne Katharina Zschocke

Natürlichheilen

mit Bakterien

Gesund mit Leib und Seele

AT Verlag

Dieses Buch wurde nach bestem Wissen sorgfältig recherchiert. Es ersetzt jedoch weder medizinische Diagnostik noch Behandlung. Autorin und Verlag übernehmen keine Verantwortung für die Anwendung der in diesem Buch erwähnten Heilweisen oder Präparate noch für etwaige daraus entstehende gesundheitliche Folgen. Bei Erkrankungen ist ärztliche Hilfe angeraten.

Für Inhalte von Websites, auf die in diesem Buch verwiesen wird, sind ausschließlich die jeweiligen Anbieter und/oder Betreiber verantwortlich; Verlag und Autorin haben darauf keinen Einfluss.

In diesem Buch erwähnte Produkte, die als Marken eingetragen sind und dem Markenrecht unterliegen, sind als solche nicht gesondert gekennzeichnet. Aus dem Fehlen dieser Kennzeichnung ist nicht abzuleiten, dass es sich bei den genannten Produkten nicht um eingetragene Marken handelt.

© 2016

AT Verlag, Aarau und MünchenLektorat: Ralf Lay, MönchengladbachBildbearbeitung: Vogt-Schild Druck, Derendingen

ISBN E-Book 978-3-03800-090-7

www.at-verlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

 Vorwort

 Bakterien, Mensch und Medizin

 Einleitung: Eine Revolution mit den Bakterien

 Welt der Widersprüche

 Krankheiten nehmen weltweit zu · Auf jedes Antibiotikum folgt Resistenzbildung · Kampf als Kulturentwicklung des 19.Jahrhunderts · Die Entfremdung der Forschung vom Leben · Militärisches Vokabular als Hindernis in der Bakteriologie · Die Erfindung bakterieller Reinkultur · Der Irrtum, Bakterien seien »Krankheitserreger« · Laborforschung führt zur Fehleinschätzung · Der Mensch versteht sich selbst nicht

 Antibiotische Mittel: Ein Missverständnis

 Die Suche nach bakterientötenden Mitteln · Die Entwicklung des Penicillins · Krieg in den Köpfen führt zum Krieg gegen Bakterien · Mikrobenjagd macht Menschen blind · Wie antibiotische Mittel wirken · Was Bakterienbeseitigung für den Menschen bedeutet · Bakterielle Resistenzen · »Krankenhauskeime«

 Probiotika

 Von Darmdesinfektion zu bulgarischen Bazillen · Escherichia coli · Milchsäurebakterien · Bakterien wirken immer probiotisch · Die Wirkung von Probiotika · Dick- und Sauermilch · Kefir · Joghurt

 Biofilme, Bakterienkommunikation und die Entwicklung von Leben

 Bakteriengemeinschaft im Biofilm · Die Kommunikation der Bakterien · Ernährung als »Gespräch« mit den Bakterien · Der Mensch als Zellengemeinschaft im Kreislauf des Lebendigen · Bakterien in der Atemluft · Bakterien im Trinkwasser

 Bakterien und Immunsystem

 Das Immunsystem als Dialogorgan · Krankheit entsteht aus einem Ungleichgewicht · Ohne Bakterien gibt es kein Immunsystem · Darmbakterien vermitteln die Außenwelt nach innen

 Bakterienarmut und Krankheit

 Ein neues Bild von Krankheit · Wir sind lebendiger, als wir denken · Bakterienmangel macht krank · Eine »Bläschensprache« der Zellen · Bakterien und Krebs

 Das Mikrobiom des Menschen

 Der mikrobielle Start ins Leben

 Ohne Bakterien kann kein Mensch leben · Bakterien beim Vater · Bakterien bei der Mutter · Bakterien beim Kind · Bakterien bei der Geburt · Das Wachstum des Mikrobioms · Das Mikrobiom im Alter

 Bakteriengesellschaften im Körper

 Die persönliche Bakteriengemeinschaft · Bakterien der verschiedenen Körperbereiche

 Bakterien und Ernährung

 Babynahrung · Artgerechte Ernährung für den Homo sapiens · Bakterien und Körpergewicht · Bakterien und Zusatzstoffe · Gesunde Ernährung · Was sind gesunde Lebensmittel? · Gluten

 Bakterienernährung und Präbiotika

 Was sind Ballaststoffe? · Stärke · Die Ballaststoffmenge · Der Einfluss der Ballaststoffe · Fettsäuren · Präbiotikapräparate

 Diät, Bakterien und Gesundheit

 Diät heißt Verteilung · Warum Diäten scheitern · Der gesunde Appetit · Befreiung von Fremdbestimmung · Auf der Suche nach sich selbst · Der Weg zur Heilung · Ernährungsweise und Mikrobiom · Hunger, Fasten und Mikrobiom · Mikrobiom und Stress

 Mikrobiom, Hygiene und Lebensrhythmen

 Die ursprüngliche Bedeutung von Hygiene · Sonnenrhythmus als Lebensgrundlage · Tages-, Lebens und Bakterienrhythmus · Rhythmusverschiebungen stören das Mikrobiom · Elektromagnetische Felder · Reinlichkeit · Colon-Hydro-Spülungen

 Traditionelle Medizin mit Bakterien

 Mikroorganismen als Heilmittel in der Geschichte

 Bakterienmischungen aus Natur und Kultur · Wein · Kumys, Kefir und Molke · Bier · Brot und Brottrunk · Schimmel · Heilerde · Tiere · Exkremente · Heutrunk

 Mikrobiologische Therapien

 Autovaccine-Therapie · Symbioflor · Mutaflor · Coli-Biogen · Rephalysin · Spenglersan-Kolloide · Darmnosoden nach Dr. Bach · Tuberkulosemittel aus der Schildkröte · Bacille Calmette-Guérin (BCG) · Fiebertherapie · Isopathische Therapie mit Sanum-Präparaten · Toxinal von Brehmer aus Siphonospora polymorpha · Stuhltransplantation

 Natürlich heilen mit Bakterien

 Eine neue Therapie

 Heilung des ganzen Mikrobioms · Anregung der Selbstregulation · Einklang innerhalb des Menschen · Hilfe einer Bakteriengemeinschaft

 Die Mikrobiom-Diagnostik

 Abweichungen in der Befindlichkeit · Mikrobiologische Diagnostik

 Mikrobiomtherapie

 Einführung · Zugabe lebender Bakterien · Ernährung und Unterstützung der Bakterien · Mikrobiomfreundliche Lebensweise · Innerliche Reinigung des Körpers · Heilung seelischer Wunden

 Praktische Bakterienanwendung

 Allgemeine Grundsätze · Produkte mit Bakterienmischungen · Der Anwendungsrahmen · Grundeigenschaften der Effektiven Mikroorganismen

 Bakterien beim Menschen äußerlich anwenden

 Anwendungsarten: Kompresse, Wickel und mehr · Anwendungsindikationen

 Bakterien einnehmen und innerlich anwenden Allgemeines

 · Die Anwendungsbereiche

 Die Umgebung mit Bakterien behandeln

 Räume · Gegenstände, Tiere und Pflanzen

 Anhang

 Dank

 Die Autorin

 Bezugsquellen

 Anmerkungen

 Register

Bakterien der verschiedenen Körperbereiche in der Übersicht

Haut, Seite 103

Atemwege, Seite 104

Blase, Seite 104

Verdauungssystem, Seite 105

Mund und Zähne, Seite 105

Speichel, Seite 106

Rachen, Seite 107

Speiseröhre, Seite 107

Magen (Magensäure, Magensäureblocker), Seite 107

Darm (Verdauung, Stoffwechsel, Darmschleim, Innerer Austausch, Leaky Gut, Reizdarm), Seite 112

Leber, Seite 121

Galle, Seite 123

Gehirn (Mikroglia, Bauch-Hirn-Achse, Hormone, Nervensystem), Seite 124

Dickdarm 128

Die Anwendung von Bakterien in der Übersicht

Bakterien beim Menschen äußerlich anwenden

Anwendungsarten:

Aufträgen, Seite 251

Kompresse, Seite 251

Wickel, Umschlag, Seite 251

Waschung, Seite 251

Spülung, Seite 252

Gurgeln, Seite 252

Vollbad, Seite 252

Sitzbad, Seite 252

Anwendungsindikationen:

Bakterienanwendung bei geschlossener Haut (Bluterguss, Prellung, Zerrung, Gelenkbeschwerden, Verstauchung, Hautflecken, Juckreiz oder prophylaktisch), Seite 253

Bakterienanwendung bei gereizter Haut (Insektenstich, leichte Verbrühung, geschlossener Abszess, Sonnenbrand, Druckstelle, geschlossene Fußblase, Akne, Nagelbettentzündung, Windeldermatitis, Kopfhautschuppen), Seite 253

Bakterienanwendung bei kranker Haut (Hautpilz, Fußpilz, Neurodermitis, Ekzem, juckender Ausschlag, Gürtelrose, Akne, Schuppenflechte, Herpesbläschen, Warzen, Pickel), Seite 254

Bakterienanwendung bei Verletzungen (frische offene Wunde und Schürfwunde, verschmutzte Wunde, Zahnwunde, stumpfe Verletzung, Prellung, Verstauchung, Verrenkung, Muskelzerrung, Bluterguss, Verbrennung, Verbrühung, Sonnenbrand, chronisch offene Wunde, eiternde Wunde, Druckgeschwür, offene Beine, geöffneter Abszess, Operation, MRSA-Prophylaxe), Seite 255

Weitere Bakterienanwendungen (bei resistenten Bakterien, Sepsis, Augen-, Bindehautentzündung, Heuschnupfen, Hämorrhoiden, Genitalerkrankung, Blasenentzündung, Geschlechtskrankheit, Vaginalpilz, Zytomegalie-Virus, der Geburt, im Wochenbett und bei Brustentzündung), Seite 257

Bakterien einnehmen und innerlich anwenden

Anwendungsbereiche:

Nase (Schnupfen, Nasennebenhöhlenentzündung, Heuschnupfen, Asthma, Atemwegserkrankungen), Seite 261

Mund (Mundgeruch, Zahnfleischentzündung, Zahnfleischbluten, Mundpilz, Speicheldrüsenentzündung, Aphthen, Mundverletzung, vor und nach Zahnbehandlung, Amalgamausleitung), Seite 261

Hals (Halsschmerzen, Erkältung, Mandelentzündung, Heiserkeit, Kehlkopfentzündung), Seite 262

Atemwege (Bronchitis, Husten, Asthma, Heuschnupfen, Lungenentzündung), Seite 262

Magen (Magenschmerzen, Erbrechen, Übelkeit, Sodbrennen, Magengeschwür, Reizmagen, Magenschleimhautentzündung, Helicobacter-Überbesiedelung, Völlegefühl), Seite 263

Bauchspeicheldrüse (Bauchspeicheldrüsenentzündung, Diabetes), Seite 264

Gallenblase (Gallenblasenentzündung, Gallensteine, nach Gallenkolik), Seite 264

Leber (Lebererkrankung, Leberüberlastung, Fettleber), Seite 264

Darm (allgemeine Dosierung, akuter Durchfall, Erbrechen, Magen-Darm-Verstimmung, Vergiftung, chronischer Durchfall, Clostridium-difficile-Überbesiedelung, Verstopfung, Übergewicht, chronischentzündliche Darmerkrankung, Leaky Gut, Reizdarm, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Lebensmittelunverträglichkeit, Allergie, Divertikulitis, Darmpilzüberbesiedelung, Darmspülung), Seite 264

Fasten, Seite 268

Blase und Niere (Hämaturie, Blasenentzündung, Harnröhrenentzündung), Seite 269

Gehirn und Nervensystem (neurologische und psychische Erkrankungen, multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Alzheimer, ADHS, Autismus, Depression, Angststörung, Appetitlosigkeit, Burn-out, Borderline), Seite 270

Die Umgebung mit Bakterien behandeln

Räume

Raumluft besiedeln, Raumklima verbessern, Gerüche neutralisieren (Krankenzimmer, Arbeitsräume, Lüftungsschächte, Klimaanlagen, Sick-Building-Syndrom, Allergie, Schimmelneutralisierung und Schimmelprophylaxe), Seite 271

Boden wischen, Seite 271

Gegenstände, Tiere und Pflanzen

Oberflächen abwischen (Küchenarbeitsplatten, Schneidebretter, Esstisch, besonders in Krankenzimmern: Bett und Nachtkasten, Ablageflächen, Serviertablett, Haltegriffe, Türklinken, Lichtschalter, Fernbedienung, Bad und Toilette), Seite 272

Textilien (in Krankenzimmern, bei Staubmilbenallergie, Befall mit Lästlingen, Chemikalienunver träglichkeit, Vorhänge, Felle, Teppiche, Polster, Matratzen, Bettzeug, Kissen, Schuhe), Seite 272

Lebensmittel (waschen und lagern), Seite 272

Zahnersatz, Seite 272

Geschirr, Seite 272

Haustiere, Seite 273

Zimmerpflanzen, Seite 273

Vorwort

Selten stehen wir inmitten einer solchen Wandlung, wie wir sie gerade in Hinblick auf die Bakterien erleben. Während die allgemein verbreitete Antwort auf die Frage, was jemandem beim Wort »Bakterien« spontan einfällt, bisher »Krankheit« lautete, ist die Wahrheit, dass Bakterien im Gegenteil für die Gesundheit notwendig sind, und zwar sowohl für den Körper als sogar für die Seele.

Seit mein Buch »Darmbakterien als Schlüssel zur Gesundheit« im Herbst 2014 erschienen ist, erhalte ich nahezu täglich positive Rückmeldungen. Von Menschen, denen die darin beschriebenen Zusammenhänge, Tipps und Hilfen nicht nur wieder Hoffnung, sondern vor allem auch Gesundheit geben, von anderen, die sich dadurch ermutigt fühlen, ihrerseits Bücher zum Thema zu schreiben, und von Ärzten und Heilpraktikern, die sich für die Erweiterung ihrer therapeutischen Perspektive bedanken.

Die meisten Fragen, die mir darüber hinaus gestellt werden, handeln davon, wie man die neuen Erkenntnisse am besten im eigenen Leben für die Gesundheit umsetzt. Um all diese Fragen zu beantworten und die Hintergründe zu beleuchten, habe ich dieses Buch geschrieben. Ich hoffe, dass es denen, die krank sind, neue Hilfe und Heilung bringt und dass alle anderen ebenfalls die Befreiung erleben, die sich mit der Wahrheit über die Bakterien verbindet.

Mit Bakterien natürlich zu heilen, bewirkt oft Erstaunliches und weckt bei vielen Begeisterung. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen herzlich Begeisterung beim Lesen des Buches und viel Freude mit den Bakterien.

Anne Katharina Zschocke

Nettersheim, im April 2016

Bakterien, Mensch und Medizin

Einleitung: Eine Revolution mit den Bakterien

Es mag für die meisten Menschen befremdlich anmuten, dass Kleinstlebewesen, nämlich Bakterien, auf einmal heilsam sein sollen. Dass mit ihnen Krankheiten kuriert werden können, mit denen zahllose Menschen sich bislang plagen, dass sie Probleme lösen können, die noch bis vor Kurzem als unüberwindbar galten – und dies einfach, preiswert und universell. Haben wir nicht von klein auf gelernt, dass Bakterien Krankheitserreger sind, vor denen man sich und seine Gesundheit schützen muss? Dass sie eine Gefahr für den Körper darstellen und es ein Immunsystem gibt, das wir stärken müssen, um uns gegen Bakterien und Infektionen zu »verteidigen«?

Ja, das haben wir gelernt, und es ist immer noch die übliche Meinung der allermeisten. Doch wir stehen mitten in einer Revolution in der Medizin. In einer Umwälzung, die Diagnostik, Menschenbild und Therapiekonzepte so verwandeln wird wie schon lange nichts mehr. Die nicht aus einfachen Neuerungen besteht, nicht der gängigen Medizin eine weitere Methode beschert, sondern die unseren Blick ändert und uns mächtig herausfordert, unser Bild vom Menschen in Gesundheit und Krankheit grundlegend umzukrempeln: Heraus kommt große Hoffnung für viele Kranke, Erleichterung für Therapeuten und sogar mehr Frieden in der Welt.

Seit wenigen Jahren gibt es neue Entdeckungen zur Bedeutung der Bakterien für den Menschen, die zahlreiche sicher geglaubte Leitsätze in der Medizin völlig über den Haufen werfen und Grundgerüste therapeutischen Handelns erschüttern: Bakterien sind die Partner unserer Gewebezellen im Körper, und wenn diese Partner fehlen, wenn sie verändert sind oder gestört, werden wir krank. Sobald dieses Miteinander wiederhergestellt wird, kann sich auch Gesundheit wieder einstellen.

Bereits 1949 sagte einer der Pioniere der Medizin mit Bakterien: »Bakterien heilen kranke Menschen besser, natürlicher und nachhaltiger als alle Methoden, die gegen die Bakterien gerichtet sind. Bakterien heilen Krankheiten, die durch Bakterien verursacht werden.«1

Auch wenn diese Erkenntnis also nicht gänzlich neu ist, bedurfte es doch der neuen Entwicklung mikrobiologischer[1] Techniken, um nachzuweisen, dass sie der Wahrheit über die Beziehung von Mensch und Bakterien entspricht. Allmählich entdecken selbst anfängliche Zweifler die wahrhaft lebens-not-wendige Bedeutung der Bakterienbesiedelung, und mit großem Schwung widmet sich jetzt die internationale Forschungsgemeinschaft der Neuentdeckung ihrer selbst.

Es ist, als würde ein Schleier beiseitegezogen, und hervor tritt die erstaunliche – und auch erschütternde – Erkenntnis: Wir haben die Bakterien nicht nur durch Mikroskope gesehen, sondern auch durch eine psychische Brille, die uns den wahren Blick auf ihr Wirken gänzlich verstellte. Sobald wir diese Brille abnehmen und ihre wahre Bedeutung sehen, kann es uns wie Schuppen von den Augen fallen: Wir erkennen, warum wir krank sind, und wir finden Wege, wieder gesund zu werden. Und zwar auf einfache, natürliche und jedermann zugängliche Weise.

Über 120 Jahre lang galten Bakterien als Feinde des Menschen, die bekämpft werden sollten. Dazu wurden die raffiniertesten Mittel und Technologien entwickelt. Mit den daraus entstandenen Strategien haben wir das Miteinander von Bakterien und Mensch auf der Erde gründlich zerstört. Dass wir zugleich unseren Körper seiner gesunden Grundlage beraubten, war uns nicht klar. Inzwischen wissen wir es, und jetzt brauchen wir bloß noch die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dieses Buch möchte Sie hineinnehmen in die neuen Erkenntnisse, möchte Ihnen zeigen, wofür Bakterien eigentlich da sind und was sie für uns Großes bedeuten. Sie werden lesen, warum man ohne sie krank wird und wie man mit ihnen sowohl mit Leib und Seele als auch an Leib und Seele wieder gesund werden kann.

Dieses Buch ist für Laien wie Fachleute aus heilenden Berufen gleicherweise geschrieben. Es ist in vier Teile gegliedert, die zwar auch jeder für sich gelesen werden können; doch empfiehlt sich die vollständige Lektüre, um tatsächlich über das notwendige Wissen für die praktische Anwendung (ab Seite 209) zu verfügen.

Der erste Teil dient dem Verständnis dafür, wie das bisherige Denken über Bakterien entstand und welches Menschenbild davon abgeleitet wurde. Es wird gezeigt, wieso es zur Fehldeutung der Mikroorganismen kam (Seite 18ff.), welche Folgen die Bekämpfung der Bakterien hatte und warum es das heutige gewaltige Problem resistenter Krankheitskeime gibt (Seite 32ff.). Als Reaktion auf die Antibiotika wurde das Konzept der Prä- und Probiotika entwickelt, die auf Seite 49ff. und 143ff. vorgestellt werden.

Aus den elementaren Entdeckungen über die Lebensweise von Bakterien und ihren Austausch untereinander und mit der Umgebung(Seite 63ff.) leitet sich die Erkenntnis ab, dass alle Bakterien im Menschen eine Gemeinschaft sind, die mit den Gewebezellen in Beziehung steht. Man nennt dieses kürzlich neu entdeckte Organ das »Mikrobiom«[2]. Diese Gemeinschaft der Bakterien ist im Menschen lebensnotwendig. Sie ist die eigentliche Grundlage für die Gesundheit. Gesundes Leben erwächst aus dem geordneten und natürlichen Verhältnis von Bakterien und Körperzellen im Menschen, das zugleich in einem Miteinander mit dem Immunsystem ist. All dies und wie es den Menschen gesunderweise in seinem Gleichgewicht erhält, erfahren Sie ab Seite 76.

Fehlen Bakterien oder ist ihr Miteinander gestört, können Krankheiten entstehen. Daraus ergibt sich ein neues Bild von Krankheit und Gesundheit, und es ergeben sich große Behandlungschancen für eine neue Medizin, die viele bisher schwer zu behandelnde Krankheiten heilen kann (Seite 84ff.).

Gemeinsam spannen diese Kapitel einen Bogen über den Wandel im Bakterien- und Menschenbild, der Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ermöglicht, die Revolution in der derzeitigen Medizin mitzuvollziehen.

Die Entwicklung des Mikrobioms beim Menschen vom Embryo bis ins Alter wird ab Seite 96 und die Bakterienzusammensetzung des Menschen in all seinen Körperregionen ab Seite 103 beschrieben. Die Kenntnisse über das Wirken der Bakterien in den unterschiedlichen Organen und ihre gängige Störungen eröffnen Möglichkeiten der Pflege, Heilung und zur Gestaltung eines gesunden Lebens. Sie sind Voraussetzung zur praktischen Anwendung bakterieller Heilmittel.

Die Bakterienzusammensetzung im Menschen bildet sich besonders durch die Ernährung (Seite 131ff.) und durch deren Ballaststoffgehalt (Seite 143ff.). Diäten, Stress, ein Leben in psychischen Abhängigkeiten und Ähnliches verändern immer das Mikrobiom (Seite 149ff.), und auch Lebensrhythmen sind bei der Bakterienbesiedelung wichtig (Seite 164ff.). Es wird beschrieben, wie man dies am besten zugunsten der bakteriellen Gesundheit gestaltet und was Hygiene wirklich ist.

Das folgende Kapitel stellt bisherige Therapien mit Bakterien vor. Schon immer haben Menschen mit Mikroorganismen geheilt (Seite 172ff.). Auch während der Phase überwiegend antibiotischen Denkens seit dem 20. Jahrhundert wurden mikrobiologische Therapien entwickelt,von denen einige alte sowie die heute noch üblichen ab Seite 185 beschrieben sind.

Der letzte große Abschnitt schließlich stellt die erste ganzheitliche Mikrobiomtherapie vor. Welches neue Therapiekonzept sich aus den Erkenntnissen zum Mikrobiom ableiten lässt und warum, erfahren Sie ab Seite 210. Welche Grundsätze gibt es und wann ist sie sinnvoll? Und wie sieht die nötige oder mögliche Mikrobiom-Diagnostik aus (Seite 215ff.)? Um ein gestörtes Mikrobiom wieder in ein Gleichgewicht zu bringen und die damit verbundenen Krankheiten zu heilen, benötigt man unter anderem eine Zufuhr von Bakterien sowie deren Ernährung und eine bewusste Gestaltung bakterienförderlicher Lebensumstände. Alle zugehörigen Elemente und wie man sie am besten praktisch umsetzt, werden mit Tipps und Anleitungen ab Seite 219 beschrieben.

Seite 242–273 sind der praktischen Anwendung einer Bakterienmischung bei äußerlichen und innerlichen Erkrankungen mit genauen Dosierungen und mit Fallbeispielen gewidmet. Zu einer gründlichen Heilung gehört auch die bakterielle Sanierung der Umgebung (Seite 271).

Viren, Pilze, Parasiten und andere Mikroorganismen werden hier nicht gesondert behandelt, obwohl auch sie überall im menschlichen Körper vorkommen. Genau genommen müssten auch die Archaea separat besprochen werden, die zweite große Domäne der Prokaryo-ten[3] im Menschen, was jedoch über den Rahmen dieses Buches hinausginge. Der leichteren Verständlichkeit halber wird stattdessen allgemein von »Bakterien« gesprochen, auch wenn dies wissenschaftlich nicht ganz korrekt ist. Heilt man die Gemeinschaft der Bakterien, also das Mikrobiom als Ganzes, reguliert sich erfahrungsgemäß damit die Gemeinschaft einschließlich aller anderen Mikroorganismen.

In diesem Buch geht es also um eine besondere Weise der Heilung. Bakterien sind Lebewesen. Ihre heilende Wirkung entfaltet sich dann, wenn wir sie, anders als bisher, als diejenigen respektieren, die sie sind: Mitgeschöpfe, die als Wegbereiter des Lebens in Milliarden von Jahren die Erde zu dem Planeten entwickelt haben, der uns überhaupt erst eine Existenz ermöglicht, und die seither mit uns und in uns in friedlicher Gemeinschaft unermüdlich im Dienste höherer Ordnungen leben.

[1] Der Begriff »Mikrobiologie« ist abgeleitet von den griechischen Wörtern mikrós für »klein«, bios für »Leben« und lógos für »Wort, Vernunft«: Er bezeichnet die Wissenschaft von den Lebewesen, die dem bloßen menschlichen Auge unsichtbar sind.

[2] Ursprünglich waren nur die Gene damit gemeint, und die Mikrobenvielfalt wurde als »Mikrobiota« bezeichnet; rasch hat sich aber umgangssprachlich die Verwendung des Begriffs für die Mikrobengesamtheit eingebürgert.

[3] Einzeller, zelluläre Lebewesen ohne Zellkern. Vom griechischen pro für »vor, vorher« und káryon für »Nuss« oder »Kern«.

Welt der Widersprüche

Krankheiten nehmen weltweit zu

Kaum ein Konzept in der derzeitigen Medizin ist derart mit krassen Widersprüchen gespickt wie die therapeutische Bekämpfung von Bakterien. Das fängt mit der Bezeichnung an. Wie kann etwas Heilmittel sein, was »gegen (anti) das Leben (bíos)« gerichtet ist?

Antibiotika wurden entwickelt, um Infektionskrankheiten bestenfalls auszurotten. Im Jahr 1962 schrieb der damalige Nobelpreisträger für Medizin, Frank Macfarlane Burnet (1899–1985), noch: »Die Beherrschung der Infektionskrankheiten stellt den überhaupt größten Erfolg dar, den der Mensch über seine Umwelt zu seinem Nutzen errungen hat. Dieser Erfolg ist (…) ein prinzipiell vollständiger.«2 In Wirklichkeit nahmen Infektionskrankheiten seither weltweit zu, und dieser Versuch brachte für Mensch und Umwelt größere Probleme als je zuvor. Auch die Vorhersage, dass die Tuberkulose im Jahr 2000 ausgerottet sein würde3, trat nicht ein. 2013 erkrankten mehr als sieben Millionen Menschen weltweit neu daran, und auch ihre Zahl nimmt zu.4 Dennoch wird das antibiotische Konzept keineswegs grundsätzlich infrage gestellt.

Selbst wo Antibiotika nichts nützen, verwendet man sie. Beispielsweise bei Viruserkrankungen wie der Grippe. Bei 30 bis 50 Prozent der Antibiotikatherapien, ambulant wie in Krankenhäusern, ist ihre Anwendung überflüssig oder unangemessen.5

Trotz der Nebenwirkungen, die eine lange Liste zum Teil langwieriger Erkrankungen umfassen, gelten Antibiotika als gute Medizin: Üblich sind Durchfälle, Verdauungsstörungen und Gewichtsverlust, aber auch Hautausschläge und Allergien bis hin zum plötzlichen schweren Schock. Manche Antibiotika führen zu Blutbildungsstörungen oder psychischen Erkrankungen, können die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und zu Sehstörungen, Psychosen, Halluzinationen und Verwirrtheitszuständen führen[1]. Das Reaktionsvermögen kann so verändert sein, dass man nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen oder Maschinen bedienen kann, und es kann bis hin zu einer erhöhten Selbstmordrate kommen[2].6 Trotzdem führte all dies nicht etwa zur intensiven Suche oder Wahl gesünderer Alternativen. Als wärendie Symptome von »Nebenwirkungen« gar keine Erkrankung, sondern gewissermaßen bloß nebensächlich, lässt man sie oft genug unbehandelt in der Hoffnung, dass sich nach dem Absetzen des Auslösers der Mensch einfach wieder von selbst reguliert.

Der größte Widerspruch jedoch ergibt sich aus den Erfahrungen mit den Bakterien selbst, nämlich als die Entstehung von Resistenzen. Dieses Unempfindlichwerden gegenüber der gewünschten Wirkung ist nichts anderes als eine natürliche Reaktion von Lebewesen, die sich dadurch vor existenzieller Bedrohung schützen wollen. Es ist ein Gesetz des Lebens, das sich erhalten will. Bakterien sind lebensnotwendig. Paradox mutet allerdings unser Umgang damit an. Wir verhalten uns nämlich den Resistenzen der Mikroorganismen gegenüber so, als sei der Homo sapiens nicht lernfähig.

Auf jedes Antibiotikum folgt Resistenzbildung

Als erstes Antibiotikum, damals noch »Chemotherapeuticum« genannt, wurde im Jahr 1910 das Salvarsan produziert. Man wusste bereits während dessen Erforschung über die Ausbildung von Resistenzen.7 Nach wenigen Anwendungsjahren waren dagegen zahllose Bakterien resistent geworden. 1935 wurden Sulfonamide eingeführt, im Jahr darauf gab es Resistenzen. Als 1942 Penicillin erstmals als Arzneimittel offiziell eingesetzt wurde, war bereits zwei Jahre zuvor die Penicillinase als Resistenzfaktor entdeckt worden. Streptomycin wurde entwickelt, kurz darauf gab es Resistenzen dagegen. Es kam 1947 das erste Breitbandantibiotikum, Chloramphenicol, das nicht gegen nur eine Bakterienart, sondern gegen eine Vielzahl gerichtet ist. Wenig später gab es darauf eben eine Vielzahl bakterieller Resistenzen. Im Jahr 1952 kam der als neu gepriesene Wirkstoff Erythromyzin auf den Markt, bald gefolgt von Resistenzen. 1953 wurde mit Tetracyclin wieder ein neuer Wirkstoff patentiert, kurz darauf gab es Resistenzen von 50 Prozent der wichtigsten Bakterien bis 1984. Schon längst sprach man vom Wettlauf der Antibiotika-Neuentwicklungen gegen die Resistenzbildung der Bakterien. Man ahnt, wie es weitergeht.

Vancomycin, in den fünfziger Jahren entwickelt, wurde ab 1980 als sogenanntes Reserveantibiotikum zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Bakterien eingesetzt, wenige Jahre darauf gab es auch dagegen Resistenzen.

Dann kam Methicillin auf den Markt, das den resistent gewordenen Bakterien mit einem prägnanten Namen zur Berühmtheit verhalf:MRSA, Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus, ist seither der menschengemachte Schrecken, der durch Krankenhäuser, Altenheime und Pflegeeinrichtungen geistert. 1976 waren 1,4 Prozent der in deutschen Krankenhäusern untersuchten Bakterien resistent, 1995 waren es 8,7 Prozent, im Jahr 2007 waren es schon 20,3 Prozent.8 Und während dieser Prozentsatz nun nicht mehr steigt, kommen weitere Antibiotika nach, und notgedrungen gesellen sich beständig neue resistent gewordene Bakterienstämme hinzu, die nicht nur Krankenhaushygieniker in Angst und Schrecken versetzen, sondern auch die inzwischen international alarmierte Politik.

Als sich im Jahr 2015 im beschaulichen bayrischen Städtchen Elmau die Staatslenker der sieben sich als führend verstehenden Länder der Welt trafen, um über die dringlichsten Fragen der gegenwärtigen Zeit zu konferieren, war das Thema »Kampf gegen die resistenten Bakterien« auch dabei. Wohlgemerkt der »Kampf gegen«, nicht etwa die Frage nach Alternativen.9

Derweil wurde nicht der Umgang mit Krankheiten, sondern der Umgang mit resistent gewordenen Bakterienstämmen zum größten Problem in den Krankenhäusern. Laut offiziellen Zahlen10 werden 400 000 bis 600 000 Menschen jährlich in deutschen Krankenhäusern und Ambulanzen mit ihnen besiedelt, geschätzte 10 000 bis 30 000 sterben daran. Schon die Schwankungsbreite der Zahlen zeigt, dass man gar nicht weiß, wie viele es wirklich sind. Zu viele in jedem Fall.

Es ist gewöhnlich eine Grundfähigkeit des Menschen, aus Erfahrung zu lernen. Wer auf eine heiße Herdplatte fasst und sich dabei schmerzlich die Finger verbrennt, hat dazugelernt und wird in Zukunft überprüfen, ob die Platte heiß ist, bevor er darauflangt. Mit der Bakterienbekämpfung scheint dies offensichtlich und aus unverständlichen Gründen nicht der Fall zu sein. Das Konzept ist von grundlegender Erfolglosigkeit begleitet und wird dennoch ständig weiterverfolgt. Im Januar 2016 hieß es, man wolle »den Vorsprung gegenüber resistenten Bakterien wahren«.11 Dabei stolpern wir den Bakterien in Wirklichkeit einige Milliarden Jahre hinterher (siehe Seite 63ff.).

Medikamentenentwicklung und Wirksamkeitsverlust aufgrund bakterieller Resistenzen folgen in schöner Regelmäßigkeit aufeinander, und was geschieht? Es wird immer lauter nach neuen Mitteln derselben Art gerufen und nach »intelligenterem« Umgang in der Anwendung der bisherigen.12 Mit der Frage, warum dies so ist, könnte man Psychologen beschäftigen. Mit der Erfahrung, dass es so ist, können wir eigentlich nur eins, nämlich damit aufhören. Und das Erfreuliche ist: Es gibt tatsächlich Alternativen.

Diese beginnen billig, gefahrlos, leicht und für jeden machbar: mit einem einfachen Umdenken. Bakterien sind keine Feinde. Wir haben ihnen das Leben auf der Erde zu verdanken, jeden Tag neu, auch das ganz persönliche. Wir brauchen sie nicht zu bekämpfen. Sobald man das Leben der Einzeller in und um sich versteht und die Erfahrung nutzt, die die Menschheit schon seit Anbeginn der Zeit mit ihnen macht, kann einem gesünderen Weg in der Medizin, auch für Infektionskrankheiten, nichts mehr entgegenstehen.

Wenn dies so einfach ist, wieso konnte es dann überhaupt erst so weit kommen? Wieso erscheint die Menschheit seit über einhundert Jahren wie mit Blindheit geschlagen? Wieso praktiziert man eine Methode, die so viele Probleme nach sich zieht, dass es die Allgemeinheit ein Vermögen und Menschen das Leben kostet und dass wir als Gesellschaft seither kränker anstatt gesünder geworden sind? Die durchschnittlich höhere Lebenserwartung, die überwiegend der besseren Säuglingshygiene und geringeren Kindersterblichkeit zu verdanken ist, bedeutet ja nicht etwa, dass wir gleichzeitig weniger krank geworden wären. Das Gegenteil ist der Fall.

Kampf als Kulturentwicklung des 19. Jahrhunderts

Um dies besser zu verstehen, hilft ein Blick in die Zeit, aus der die Idee der Bakterienbekämpfung stammt: ins 19. Jahrhundert. Damals traf einiges zusammen: Europa wurde immer wieder von Kriegen überzogen, an denen zwangsläufig auch Ärzte beteiligt waren. Die damaligen Militärkrankenhäuser waren exzellente Ausbildungsstätten für Ärzte, auch solche, die wissenschaftlich forschten. So unterstand das königliche Charité-Krankenhaus in Berlin, an dem viele Ärzte arbeiteten und forschten, dem Kultur- und dem Kriegsministerium. Kriegsdenken und kämpferische Strategien waren folglich in ihnen verinnerlichte Lebensprinzipien, und viele von ihnen dienten in den Kriegen als Soldaten an der Front. Auch die führenden Mikrobiologen von damals hatten diese Erfahrungen entweder selbst gemacht oder bei den Vätern miterlebt. Es war Teil des gesellschaftlichen Daseins. Wie tief sich dies in die Seele einschreibt, ist aus Sicht eines Menschen, der Krieg nicht erlebt hat, kaum einfühlbar.

Nicht einmal das Verhältnis der Forscher untereinander und ihrer Arbeit blieb dabei von Kampfgedanken frei. Es gab um die Entdeckung von Krankheitserregern und Heilmethoden geradezu einen Wettbewerb, weil davon Ehre und gutbezahlte Stellungen abhingen. Ironisch wurde diese Stimmung skrupellosen Strebens um Berühmtheit im Jahr 1905 vom spanischen Arzt und Nobelpreisträger Ramón y Cajal (1852–1934) mit der Erzählung Die Rache des Professors Max von Forschung literarisch aufgearbeitet.13

Obendrein sah man sich als Vertreter der Nation im Kampf um Entdeckungen. Noch bis zur Ernüchterung nach den beiden Weltkriegen las man Sätze wie: »Die beiden Männer haben einen ehrlichen Forscherkampf miteinander ausgefochten, aus dem Koch als Sieger hervorging. Dieser Kampf war im Grunde nichts anderes als der dramatische Ausbruch einer neuen Epoche unseres biologischen und ärztlichen Denkens.«14 Rückblickend sehen wir die so gepriesene Epoche allerdings als eine Sackgasse.

Charles Darwin (1809–1882) hatte darüber hinaus mit seinem »Kampf ums Dasein«15 etwas veröffentlicht, was allgemein so aufgefasst wurde, als ob Bekämpfung von Lebendigem eine Grundlage natürlicher Lebensentwicklung sei. Damit wurde das Töten quasi legitimiert. Dass das Gegenteil zutrifft, wurde übersehen und erst mithilfe der Gehirnforschung ab Ende des 20. Jahrhunderts gründlich und eindeutig widerlegt.16

Die Entfremdung der Forschung vom Leben

Überhaupt brachte das 19. Jahrhundert eine Weichenstellung in der Betrachtung des Lebens mit sich – mit zunehmender Entfremdung von ihm. Die Naturwissenschaften erhoben den Anspruch, eine »objektive« Wissenschaft zu sein, in der subjektive Erfahrungen, Intuition oder Sinneseindrücke beim forschenden Menschen keine Rolle spielen sollten. Deren Bedeutung ging verloren, und messbare Werte aus rational wiederholbaren Versuchen traten in den Vordergrund. Von Empfindungen beim Forschen wie Staunen, Ehrfurcht und Liebe, wie sie frühere Gelehrte ganz natürlich äußerten, darf seither in den Naturwissenschaften nicht mehr geredet werden, so als müsste sich selbst der Forscher auf seine Stofflichkeit reduzieren. Nicht mehr die Betrachtung, sondern die Analyse wurde zur wissenschaftlichen Methode der Wahl. Zur üblichen Forschungstechnik wurde es, Dinge in immer kleinere Teile zu zerlegen und mit diesen Teilstücken zu experimentieren. Man verstand die Welt fortan als die Summe dieser Teile: Lebensmittel als Summe von Kohlenhydraten, Fetten, Eiweißen, Mineralien et cetera, Bodenfruchtbarkeit als die Summe von Mineralsalzen wie Phosphor, Stickstoff und Kalium, den Menschen als Summeseiner Organe. Und diese Teile ließen sich beliebig trennen und unabhängig voneinander nicht nur beschreiben, sondern scheinbar auch wie Bausteine benutzen. Lebensvorgänge in Zellen betrachtete man als die Summe chemischer Gesetzmäßigkeiten, die man bloß kennenlernen musste und dann beeinflussen konnte. Essen wurde auf Stoff- und Kalorienaufnahme reduziert. Vereinzelung galt als Methode zum Erkenntnisgewinn. Der Widerspruch, dass sich Teilstücke aus etwas Lebendigem nie wieder in dessen Ursprung zusammensetzen lassen, aus Nährstoffen beispielsweise weder wieder Birne noch Brötchen werden, gesundes Leben folglich aus mehr bestehen muss als bloß der Summe seiner Teile, wurde geflissentlich übersehen.

In der Forschung ebenso wie im Alltagsleben begann eine Technisierung. Mit aller Ernsthaftigkeit folgten daraus später Texte wie beispielsweise in einem Buch über Landwirtschaft: Die Kuh – eine chemische Fabrik.17 Oder folgender: »An dem Tage, an welchem man die entsprechend billige Kraft bekomme, werde man mit Kohlenstoff aus der Kohlensäure, mit Wasserstoff und Sauerstoff aus dem Wasser und mit Stickstoff aus der Atmosphäre Lebensmittel aller Art erzeugen. Was die Pflanzen bisher taten, werde die Industrie tun, und zwar vollkommener als die Natur. Es werde die Zeit kommen, wo jedermann eine Dose mit Chemikalien in der Tasche trage, aus der er sein Nahrungsbedürfnis an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten befriedige, unbekümmert um Tages- und Jahreszeit, um Regen und Trockenheit, um Fröste, Hagel und verheerende Insekten. Dann werde eine Umwälzung eintreten, von der man sich jetzt noch keinen Begriff machen könne: Fruchtfelder, Weinberge und Viehweiden werden verschwinden; der Mensch werde an Milde und Moral gewinnen, weil er nicht mehr von Mord und der Zerstörung lebender Wesen lebe. Die Erde werde ein Garten, in dem man nach Belieben Gras und Blumen, Busch und Wald wachsen lassen könne, und das Menschengeschlecht werde im Überflusse und der sagenhaften Freude des goldenen Zeitalters leben.«18

Man muss diesen Zeitgeist kennen, um die Irrwege in der Geschichte der Mikrobiologie zu verstehen. Heute wissen wir, dass diese Entwicklung uns weltweit Not und Krankheiten einbrachte, Mangel und Armut und statt eines »Gartens« eine geplünderte, missachtete und verschmutzte Erde. Auf Gewinn an Milde und Moral warten wir noch.

Diese Zeit der Technisierung brachte Fortschritte in der Mikroskopie mit sich. Einzeller konnten nun bequem einzeln vergrößert dem menschlichen Auge sichtbar gemacht werden, und durch chemische Färbung ließen sie sich unterscheiden, sodass man fasziniert begann, diese neue Welt im Kleinsten vermehrt zu erforschen.

Auch politisch wurde Neuland erobert: Mit Schiffsflotten und Exkursionen machten Delegationen der europäischen Länder sich auf, um in anderen Kontinenten Land zu besetzen und dies zu Kolonien zu erklären. Prompt erklärte man Bakterien, die auf einer Nährlösung wachsen, ebenfalls zu einer Bakterien»kolonie«.

In dieser Zeitenstimmung wurde mikrobiologische Forschung betrieben und Neues beobachtet. Und die Forscher dachten dazu, so gut sie konnten, doch offensichtlich konnten sie – jedenfalls die führenden, deren Meinungen beherrschend wurden – dabei nicht aus ihrer Haut. Vielleicht setzten sie sich gerade deshalb gegenüber anderen durch, weil ihre Ansichten sich bequem mit der allgemeinen Zeitenströmung deckten. Mikrobiologische Forschung wurde durch diese Geistesbrille hindurch gedeutet, und diese Brille war nicht paradiesisch rosa, sondern militärisch und vereinzelnd imprägniert.

Militärisches Vokabular als Hindernis in der Bakteriologie

Bis zum heutigen Tage kann man dies allein bereits am Sprachgebrauch ablesen, der sich in Zusammenhang mit Einzellern eingebürgert hat. Da ist von »angreifenden« Bakterien und der »Verteidigung« durch ein wachsames Immunsystem die Rede. »Eindringlinge« müssen durch »Antikörper« in Schach gehalten werden, und wenn diese »Verteidigungslinie« zu schwach ist, kommt es zur »Invasion«. »Heerscharen« irgendwelcher »Killer« »lauern« in der Umgebung und »bedrohen« den Menschen. Stoffwechselprodukte von Bakterien wurden als »Kampfstoffe« bezeichnet,19 und Mikroskopieren galt als Betrachten der Bakterien mit »bewaffnetem Auge«.

Typischerweise klingt es dann so: »Der Eroberungsfeldzug unserer Körpergenossen beginnt in der ersten Lebensminute.«20 Oder: »Die bakterielle Landnahme geht schrittweise voran.« Beides ist im Übrigen falsch. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, strotzen selbst Texte von renommierten Instituten, in Fachbüchern und akademischen Forschungsberichten, sobald es um Einzeller geht, von verbalem Kriegsgeklapper.21

So wurde das aus dem 19. Jahrhundert stammende, heute jedoch nicht mehr gültige Denken der Zeit im Vokabular über Bakterien langfristig festgeschrieben und erschwert bis heute ihre unvoreingenommene Betrachtung. Wir hängen verbal noch im vorletzten Jahrhundert fest. Vieles wäre schon einmal gewonnen, wenn man Aussagen über Bakterien von jeglichen kämpferisch-militärischen Begriffen gründlich befreite. Sie drücken nicht die Wahrheit aus. Die Forscher damals projizierten ihre Politik, Psyche und Stimmung blindlings auf die Kleinstlebewesen, und wir dürfen diese jetzt wieder vollständig daraus entlassen.

Wenn man unbedingt Bakterien in Zusammenhang mit Krieg betrachten wollte, würde nämlich auffallen, dass Bakterien zu allen Zeiten viel eher daran beteiligt waren, Feldzüge, Belagerungen und Schlachten zu beenden. Rickettsia mit Fleckfieber, Salmonella mit Typhus, Corynebacterium mit Diphtherie oder Vibrio mit der Cholera zwangen mehr Heere zum Frieden, als es Menschen jemals vermochten.

Mikroben können sich nicht wie Menschen verhalten. Uns Menschen unterscheidet von Einzellern, Steinen, Pflanzen und Tieren unser individuelles Ich-Bewusstsein. Wir haben die Freiheit, in unserem Denken und Handeln zu wählen. Mit dieser Freiheit geht Verantwortung einher und bilden sich moralische Werte wie »gut« und »schlecht« aus. Bakterien als »gut« oder womöglich gar als »böse« oder »gewalttätig«22 zu bezeichnen, ist zwar ein Kompliment für sie, weil man ihnen vieles zutraut, es geht jedoch völlig an ihrer Wirklichkeit vorbei. Und wenn daraus Handlungen abgeleitet werden wie »die ›guten‹ Bakterien schützen, die ›schlechten‹ bekämpfen«, so kann das nur gründlich schiefgehen.

Die Erfindung bakterieller Reinkultur

Entscheidend für die Meinungsbildung über Bakterien waren Forschungen mithilfe einer Technologie, die der in Paris wirkenden Chemiker (!) Louis Pasteur (1822–1895) bereits 1857 für seine Versuche mit Bakterien nutzte: der »Reinkultur«. Der Berliner Arzt und Mikrobiologe Robert Koch (1843–1910) erweiterte diese Technik auf das Prinzip fester Nährstoffplatten, auf denen Bakterienwachstum besser sichtbar wurde als in flüssiger Lösung zuvor.

Die Reinkultur besteht darin, Einzeller »von allen fremden, toten oder lebendigen Materialien, die sie begleiten«, abzulösen.23 Dass das gar nicht möglich ist, weil auch jede künstliche Nährlösung im Labor noch »tote oder lebende Materialien« hat, die sie begleiten und beeinflussen, wurde satte 150 Jahre lang geflissentlich übersehen. Selbst die Eigenschaften unterschiedlicher Gläser beim Experimentieren und Mikroskopieren beeinflussen das Bakterienwachstum. Schon Spuren von Kupfer, Zink, Bor, Alkali und anderem führen zur Abtötung oderVermehrung, das heißt zur Auswahl bestimmter Stämme.24 Man lebte also generationenlang in Forschungsillusionen.

Louis Pasteur hatte beobachtet, dass Gärungen von bestimmten Einzellern vollzogen werden, die man auch prompt nach diesen Gärungen benannte. Man dachte sich eine einfach Ursache-Folge-Kette. Milchsäurebakterien bewirken die Milchsäuregärung, Essigsäurebakterien die Essigsäuregärung und so fort. Es lag nahe, daraus zu schließen, dass auch »Krankheitsbakterien« die jeweils passende Krankheit »machen«. Man müsste, so glaubte man, dazu nur die jeweils zugehörige Mikrobe identifizieren.

Bei einer Reinkultur werden im Labor Bakterien so angezüchtet, dass aus einer Mischkultur schließlich die einzelnen, darin vorkommenden Bakterien jeweils vereinzelt als Monokultur auf jeweiligen Platten als Kolonien wachsen. Diese lassen sich unter geeigneten Bedingungen beliebig lang weiter vermehren. Robert Koch beispielsweise experimentierte mit Reinkulturen von Tuberkelbakterien, die er bis zu neun Jahren im Labor fortgezüchtet hatte.25 Derart gewonnene bakterielle Reinkulturen dienten und dienen bis heute für anschließende Tierversuche.

Die Vorgehensweise war relativ simpel: Man spritzte eine gewisse Menge einer bakteriellen Reinkultur in gesunde Organe lebender Tiere. Wurden diese Tiere daraufhin krank, galt dies als wissenschaftlicher Nachweis dafür, dass diese Bakterie der Verursacher der Krankheit sei. Wenn das Bakterium am Wachstum gehindert würde, so schloss man daraus, wäre damit zugleich die Krankheit zum Verschwinden gebracht. Diese Vorstellung war bestechend. Man glaubte, endlich den Weg zur Heilung gefunden zu haben. Voller Euphorie jubelte man Robert Koch zu, als er seinen dazu wegweisenden Vortrag vor 5000 Ärzten in Berlin im Jahr 1890 mit den Worten beendete: »Und so lassen Sie mich denn diesen Vortrag schließen mit dem Wunsche, dass sich die Kräfte der Nationen auf diesem Arbeitsfelde und im Kriege gegen die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde des Menschengeschlechts messen mögen und dass in diesem Kampfe zum Wohle der gesamten Menschheit eine Nation die andere in ihren Erfolgen immer wieder überflügeln möge.«26

Dass Robert Koch es eigentlich für angemessen hielt, bloß das Wachstum der Bakterien im Körper zu stoppen, ohne sie dabei gänzlich zu töten, ging im späteren Schwung der Entwicklung von Antibiotika unter.

Unabhängig davon enthielt die damalige Idee verschiedene grundlegende Irrtümer. Zwar war die Zucht einer mikrobiellen Reinkultureine interessante Erfindung. Nur hatte sie mit den Gegebenheiten in der Natur – auch von Mensch und Tier – nichts mehr zu tun. Nirgendwo in der Natur gibt es eine solche Monokultur[3], vielmehr ist das Leben, wo immer es in Erscheinung tritt, auf große Vielfalt ausgelegt: eine Vielfalt aus untereinander in Beziehung lebenden Lebewesen, deren Miteinander im jeweiligen Lebensraum umso gesünder ist, je vielfältiger es eben ist. Aus der Vielfalt eines solchen Lebensraumes etwas zu entnehmen, es zu einer Monokultur umzuzüchten und diese Monokultur wieder in einen vielseitigen Lebensraum hineinzugeben, macht schon aufgrund der Methode krank, denn sie bewirkt dort in jedem Fall ein Ungleichgewicht. Das ist überall gültig. Gibt man also eine Monokultur in einen gesunden Lebensraum, wird dieser in Abhängigkeit des Verhältnisses zwischen Vielfalt und Monokultur krank. Einfacher ausgedrückt: Ein bisschen Monokultur in einem großen vielfältigen Lebensraum macht nicht viel aus, viel Monokultur in einer geringen Vielfalt macht krank. Es ist also eine Frage der Dosis.

Der Irrtum, Bakterien seien »Krankheitserreger«

Somit ist nicht dasjenige, was zur Monokultur herangezüchtet wurde, der Verursacher eines Ungleichgewichts. Vielmehr ist die Methode an sich die Ursache der daraus folgenden Probleme. Würde beispielsweise ein Mensch, dessen gesunde Ernährung bekanntlich in einer abwechslungsreichen Mischkost besteht, stattdessen nur noch Äpfel essen – morgens Äpfel, mittags Äpfel, abends Äpfel, täglich Äpfel, dauernd Äpfel –, würde er seinem Körper also eine Monokultur von Apfelernährung zufügen, so würde er kurz über lang krank werden, egal wie gesund Äpfel eigentlich sind. Und zwar einfach deswegen, weil ihm der Rest der Nahrung fehlt. Die Medizin kennt zahlreiche solcher Mangelerkrankungen. Man behebt sie, indem das Fehlende wieder zugeführt wird. Er würde auch krank, wenn er eine gewaltige Masse Äpfel auf einmal äße. Gemäß Kochscher Bakterienlogik wäre aber dann der Apfel der »Erreger« der Krankheit, der Schuldige, der nun am Wachsen gehindert werden müsse, um das Entstehen dieser Krankheit zu verhindern. Man müsste ein »Antiapfelbiotikum« erfinden und Äpfel bekämpfen, um diese Krankheit zu beheben. Dasselbe träfe zu, wenn jemand täglich nur noch ständig fortwährend dasselbe Lied trällerte. Oder seinen Blick unermüdlich auf nur eine einzige Buchseite richtete.

Der gesunde Menschenverstand weiß, dass all dies Unfug wäre, sooft man dies auch erfolgreich wiederholen würde.

Es sind folglich nicht die Einzeller an sich, die krank machen. Es ist schlichtweg ein Übermaß in ihrer Anzahl und Aktivität im Verhältnis zu dem Lebensraum, in den sie gerade gelangen. Gerät eine geringe Zahl an Mikroben, die an sich nicht in seinen Körper gehören, in einen gesunden Menschen, beispielsweise ein paar Salmonellen, geschieht nicht viel. Ist es aber eine große Menge, oder der Betroffene ist arm an Bakterien, können sie das Gleichgewicht aus dem Lot bringen, und der Mensch erkrankt. Das ist auch ein Grund dafür, dass nur jeweils ein Teil derjenigen, die in Kontakt mit den Mikroben kommen, krank wird, ein anderer Teil nicht. Wären gewisse Bakterien »per se Krankheitserreger« – fachsprachlich nennt man dies »obligat pathogen« –, wären wir längst alle krank oder tot. Das ist aber nicht der Fall. Eine Mikrobe macht noch keine Krankheit. Dazu gehört zwingend die Verfassung des Menschen. Selbst bei großen Epidemien – die in der Regel hygienischen Mängeln geschuldet sind – wurden nicht alle krank. Warum Menschen der Industrienationen anfälliger für mikrobielle Störungen geworden sind, wird auf Seite 84ff. noch weiter ausgeführt.

Dass alles in allem Widersprüche in der bakteriellen Forschung fahrlässig gedeutet wurden, bemerkte bereits Friedrich Sander, praktischer Arzt in Barmen, im Jahr 1875 (!) in einem Aufsatz in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift: »Die zweite Thatsache, welche mit der Bakterientheorie sich schwer vereinigen lässt, ist das Vorkommen massenhafter Vegetationen [Bakterien] im gesunden menschlichen Körper und bei nicht infectiösen Krankheiten … Man hat dieser zweiten Thatsache gegenüber sich mit der Ausrede zu helfen versucht, es gebe zwei Sorten von Bakterien: harmlose und gefährliche.«27

Weil er das damals ebenfalls erkannte, schluckte der Hygieneprofessor Max von Pettenkofer (1818–1901) demonstrativ am 7. Oktober 1892 eine Portion Cholera-Vibrionen, tatsächlich ohne dadurch an der Cholera zu erkranken. Er wollte damit beweisen, dass Bakterien alleine keine Krankheitserzeuger sind. Leider glaubte man auch seinen Ausführungen nicht.

Laborforschung führt zu Fehleinschätzung

Ein weiterer Irrtum ist, zu glauben, man könne Ergebnisse aus dem Labor dem Verhalten gleichsetzen, das ein Lebewesen in natürlicher Umgebung an den Tag legt. Man wird ihm damit nie gerecht. Laborergebnissemit Bakterien darf man nie verallgemeinern. Das Bakterium Escherichia coli[4] verdoppelt sich, auf einer Nährstoffplatte angezüchtet, alle zwanzig Minuten. In seiner natürlichen Umgebung hingegen ist die Verdoppelung abhängig von den begleitenden Mikroben und dem Milieu und dauert viel länger. Im Körper geschieht sie je nach Bedingungen beispielsweise zweimal am Tag. Man läge also ziemlich daneben, würde man die Laborverdoppelungszeit auf das Leben von E. coli im Darm übertragen.

Mikroskopiert man Bakterien, insbesondere solche, die im Labor herangezüchtet wurden, gelten die Ergebnisse ehrlicherweise nur für das Leben im Labor. Man sieht dort etwas anderes als im ursprünglichen Lebensraum. Genau dies wurde jedoch bisher nicht bedacht. Man würde ja auch Eichen nicht allgemein danach beurteilen, wie eine einzelne erscheint, wenn sie in einem Wohnzimmertopf wächst. Aus einer solchen einsamen Eiche, die sich weder entfalten könnte noch befruchtet würde oder Eicheln trüge, auf deren Äste keine Vögel sängen, die keine Wurzelkontakte zu anderen Bäumen pflegen könnte, würde man ja auch keine Rückschlüsse auf einen Eichenwald ziehen. Logischerweise kann eine Analyse von Lebendigem, das aus seinem Zusammenhang gerissen wurde, keine Aussage über das nicht mehr vorhandene Zusammenleben machen. Eine einzelne Kuh im Stall kann beobachtet werden, und man kann ihr Verhalten erkunden, während man sie beobachtet. Aber damit weiß man noch lange nicht, wie sie sich verhalten würde, sobald sie in einer Herde wäre. Man kann es sich höchstens in seiner Fantasie vorstellen. Und genau das hat man mit den Bakterien getan. Bei der Mikrobiologie im 19. Jahrhundert flossen Beobachtungen und menschliche Vorstellungen so unbemerkt ineinander, dass bis heute fraglos an den alten Irrtümern festgehalten wird.

Man ging obendrein damals davon aus, dass die Bakterien, die man durch Anzüchten auf einer Platte fand, alle Bakterien waren, die in dem betreffenden Lebensraum vorkamen. Es fehlte gänzlich die Bescheidenheit, zu denken, dass dies nur ein winziger Ausschnitt der Wirklichkeit sein könnte. So irrte man gewaltig. Mittlerweile geht man davon aus, dass vielleicht ein winzig kleiner, unter ein Prozent betragender Ausschnitt der Einzeller eines Lebensraums »kultivierbar« ist. Selbst die anderen, kürzlich mit neuen Methoden entdeckten Einzeller, die man »nicht kultivierbare« Mikroorganismen nennt, stellen mit großer Wahrscheinlichkeit noch immer nicht alles dar, was es gibt. Wer weiß, was wir in weiteren Jahrzehnten noch entdecken. Man hat also ausgehend von einer winzigen Zahl von Bakterien leichthin auf das ganze Leben geschlossen, ohne zu bemerken, welche Fehldeutungen damit einhergingen.

Der Mensch versteht sich selbst nicht

In jener Zeit der Industrialisierung und Technisierung wurde es üblich, mit einzelnen Teilen der Welt zu hantieren, als seien es Bausteine, aus denen sich das Leben beliebig kombinieren ließe. Man dachte sich den menschlichen Körper aus vielen Organen zusammengesetzt, die aus vielen Zellen bestehen. Diese teilte man später in ihre kleinen Elemente bis in abgeteilte Gene als Bausteine der Erbinformation, mit denen schließlich heute biotechnologische Genmanipulation betrieben wird. In der weiteren Entwicklung verlor man das Miteinander bei Einzeller und Mensch völlig aus dem Blick. Man dachte, der Mensch könne nur überleben, wenn er sich vor Bakterien schützt. Diese Vorstellung ging mit einer allgemeinen Entfremdung vom Zusammenleben mit der Natur einher, die der schleichende Verlust bäuerlicher Landwirtschaft und die fortschreitende Industrialisierung mit sich brachten. Gespeist wurde dies wie gesagt aus einem Geist der Trennung, untermalt von der Idee des Kampfs aller Teile um ein Überleben ihrer selbst.

Diese Mischung von Beobachtung, Fehldeutungen, Fantasie, Zeitgeist und Projektion ergab folgende Vorstellung: Es gibt einen abgegrenzten Menschen. Außerhalb des Menschen gibt es Krankheitserreger, die ihn ständig damit bedrohen, in den Körper einzudringen. Zur Abwehr dagegen hat der Körper ein Immunsystem. Bakterien geben angeblich obendrein Gifte ab, »Toxine«[5], die zerstörend wirken.28 Dagegen bildet der Organismus »Antikörper«. Schleim und Speichelfluss, so stellte man sich vor, dienten dazu, innere Oberflächen ständig von aus der Umwelt aufgenommenen Bakterien und deren Gifte »freizuspülen«.29

Gesundheit, so folgte daraus, bestehe darin, zu verhindern, dass krank machende Bakterien in den Körper gelangen können. Wird der Mensch krank und findet man Bakterien, handelt es sich um eine »Infektion«[6]. Krankheit wird also als ein von außen an den Mensch herantretendes Schicksal gedacht, und bei einer »Infektionskrankheit« gilt eine zugehörige Mikrobenart als Verursacher. Dies wird wiederum außerhalb des kranken Menschen diagnostiziert, nämlich durch Bakterienkultur im Labor. Ein von außen einwirkendes Mittel zur Bekämpfung dieser Bakterien in Menschen, das Antibiotikum, wiederum gilt dazu als Therapie. Heilung besteht in der möglichst »vollkommenen Desinfektion des infizierten Organismus«.30

Dieses Denkmodell und Menschenbild ist noch immer weit verbreitet, obwohl es längst überholt ist. Gute Hygiene, so folgte aus dieser Idee, besteht in weitgehender Befreiung des Lebens von Bakterien. Daraufhin setzte sich der Glaubenssatz »Steril ist gesund« in den Köpfen und Handlungen der allermeisten Menschen fest.

Wie widersprüchlich solch eine Vorstellung war, wird einmal mehr daran deutlich, dass man damals sehr wohl beobachtete, dass im gesunden Körper zahlreiche Bakterien leben. Man deutete sie jedoch als Schmarotzer, die sich von abgestorbenen Körperzellen ernährten, dadurch das Leben verkürzten und potenziell zu Krankheitserregern werden konnten. Folglich benannte man sie bei ihrer jeweiligen Entdeckung statt nach ihren typischen Eigenschaften gern nach der Krankheit, mit der man sie in Verbindung beobachtete, zum Beispiel Streptococcus pneumoniae[7].

Dieses im 19. Jahrhundert entstandene Lebensbild von Bakterien ist ein mit großer Tragweite für die Weltgesundheit entstandener Irrtum mit unerfassbaren Folgen für das Leben und die Zukunft der gesamten Erde.

[1] Zum Beispiel das Antimykotikum »Voriconazol«.

[2] Zum Beispiel bei »Ciprofloxacin«.

[3] Vom griechischen mónos für »einzig, allein« und lateinischen cultura zu colere »pflegen, bebauen«.

[4] Auch kurz E. coli. Benannt nach dem Kinderarzt und Bakteriologen Theodor Escherich (1857– 1911) und dem griechischen Wort kõlon für »Darm«.

[5] Als »Toxin« bezeichnet man in diesem Zusammenhang bakterielle Eiweiße, die von lebenden Bakterien an die Umgebung abgegeben (Exotoxin) oder aus zerfallenden Bakterien freigesetzt werden (Endotoxin). Heute weiß man, dass diese Toxine »mikrobielle Vitamine« sind, die als Botenstoffe das Gleichgewicht im Immunsystem aufrechterhalten.

[6] Vom lateinischen inficere, aus facere für »machen« und in für »in, hinein«.

[7] Pneumonie, die Lungenentzündung. Vom griechischen pneũma für »Wind, Atem, Luft«.

Antibiotische Mittel: Ein Missverständnis

Die Suche nach bakterientötenden Mitteln

Nachdem Bakterien zu Krankheits»erregern« von Infektionskrankheiten erklärt worden waren, die nicht nur Wundheilungsstörungen verursachten, wie man bereits länger glaubte, sondern auch Erkrankungen innerer Organe, suchte man nach Wegen, um sie im Körper zu beseitigen. 1877 hatte man die bakterientötende Wirkung von UV-Strahlen und 1892 die von elektrischem Licht entdeckt. Man unternahm mit Körperteilen Versuche zur Bakterienvernichtung durch Röntgenstrahlen und Uran, mit Radium und spezifischen Wellenspektren, mit α- und γ-radioaktiven Strahlen, mit Kurzwellen, Hochfrequenzströmen und mit elektrischem Gleichstrom.31 Sie alle scheiterten daran, dass der Mensch dabei zu große Schäden litt, bis die Bakterien wie gewünscht beseitigt waren.

Gleichzeitig suchte man nach bakterientötenden chemischen Stoffen. Der Erste, der ein chemisches Mittel gegen körperinnere Lebewesen entwickelte, war der Pathologe Albert Adamkiewicz (1850–1921). Er ging davon aus, dass Krebs von einem Parasiten namens Coccidium sarcolytus hervorgerufen werde, und entwickelte dagegen im Jahr 1890 aus Leichengift das »Cankroin«.32 Sein Werk wurde allerdings kaum gewürdigt.

In einem Arzneimittelbuch von 191633 werden noch vier Wege aufgezählt, Infektionskrankheiten zu behandeln: die vorsorgliche »Abhaltung der Organismen vom Körper«, die »Zustandsverbesserung der befallenen Organe«, eine »Bindung der produzierten Toxine« oder eine »unmittelbare Wirkung auf die Mikroben«. Vier Wege also, Heilung zu bewirken. Im Text behandelt wird jedoch nur der letzte. Dafür unterschied man »Antiseptika«, die bakterielles Leben hemmen, von den »Desinficientia«, die Bakterien töten. Zur Entfernung der »Fäulniserreger« aus dem Darm werden kräftige Abführmittel empfohlen.34 Die anderen drei Heilungsansätze werden nirgends weiter ausgeführt. Damit beschränkte sich die Arzneimittellehre auf die Beseitigung der Bakterien.

Die große Schwierigkeit dabei bereitete die generelle Wirkung der dazu eingesetzten Desinfektionsmittel, die nicht bloß die Einzeller, sondern zugleich auch Körperzellen schädigten. Man überlegte sogar, verschiedene Antiseptika gemischt anzuwenden, die alle zusammenauf Bakterien wirken, aber dabei verschiedene Körperorgane je nur ein bisschen schädigen. Darauf, eine Mischung verschiedener Einzeller als Heilmittel einzusetzen (siehe Seite 242ff.), wäre man im damaligen Denken im Traum nicht gekommen.

Stattdessen entstanden künstliche Stoffe. Paul Ehrlich (1854–1915) änderte im Jahr 1910 das altbekannte Arsen chemisch ab zum Arsphenamin, das den Wunsch nach Abtöten von Einzellern unter Erhalt von Körperzellen erfüllte. Es war gegen die Treponema pallidum wirksam, eine Spirochäte[1], die 1905 als Verursacher der Syphilis identifiziert wurde. Weil es durch eine chemische Strukturänderung einer natürlichen Substanz entstand, nannte man es ein »Chemotherapeutikum«. Mit diesem Mittel, dem »Salvarsan«, verdiente die herstellende Firma, die Farbwerke Höchst, im ersten Geschäftsjahr knapp drei Millionen Mark.35 Der Kampf gegen die Bakterien hatte die Farben- und chemische Industrie damit erstmals im großen Stile zum Partner der Medizin gemacht. Schon damals rief dies heftige Kritik bei den Zeitgenossen hervor. Es war eine Weichenstellung in der Medizin. Allein für die Entwicklung des Streptomycins, das 1947 auf den Markt kam, hatte die chemische Industrie Amerikas den beteiligten Forschungsstellen zuvor eine Million Dollar zur Verfügung gestellt.36

Der Erfolg dieser chemischen Therapie schien die Richtigkeit des eingeschlagenen Wegs zu bestätigen. Die »innere Desinfektion« bei bakteriellen Krankheiten erschien als die zukunftsweisende Medizin, folglich die Entwicklung chemisch-synthetischer Mittel dazu der geeignete Weg – bis heute. Diesem folgend, wurde im Jahr 1932 von Gerhard Domagk (1895–1964), einem medizinischen Forscher bei der I. G. Farbenindustrie in Wuppertal, die bakterienhemmende Wirkung der Sulfonamide entdeckt.[2] Dies galt als die lang ersehnte erste medizinische »Chemotherapie der bakteriellen Infektionen«.37

Der heute übliche Begriff »Antibiotikum« wurde erst ab 1942 benutzt und meinte damals »antimikrobiell wirkende Substanzen von Mikroorganismen«.38 Er entstand aus dem Missverständnis, Mikroben würden sich untereinander genauso verhalten wie die Menschen sich ihnen gegenüber, nämlich einander bekämpfen. Heute wissen wir, dass diese Substanzen Botenstoffe zur Kommunikation sind und Einzellern wie Mehrzellern ein gesundes Miteinander ermöglichen (siehe Seite 63ff.). Es war eine tragische Fehlbezeichnung. Damals unterschied man damit die natürlichen von den chemischen bakterientötenden Mitteln.

Heute wird die Bezeichnung »Antibiotikum« generalisiert für bakterienhemmende und -tötende Mittel natürlichen, halbsynthetischen oder chemischen Ursprungs verwendet. »Antibiose« meint die medikamentöse Therapie mit diesen Mitteln. Neuerdings wird vorgeschlagen, von »Antiinfektiva« zu sprechen. Wörtlich übersetzt heißt dies »gegen das Hineinmachen«. So ein Begriffswechsel ist jedoch kein Fortschritt, weil sowohl die Idee, gegen Bakterien zu behandeln als auch die, gegen eine Infektion, dem Irrtum unterliegt, Bakterien würden von draußen den Körper bedrohen und müssten beseitigt werden. Wie wir noch sehen werden, hilft erst ein anderes Verständnis von Gesundheit und Krankheit, die passenden Begriffe für wahre Wege in Bezug auf Bakterien und Heilung zu finden. Der Begriff »Chemotherapie« wird heutzutage für chemische Medikamente in der Krebsbehandlung verwendet.

Die Entwicklung des Penicillins

Dass der Londoner Bakteriologe Alexander Fleming (1881–1955) der »Entdecker des Penicillins« sei, wie landläufig behauptet wird, ist eines der Märchen, mit denen in der Bakteriologie zahlreiche angebliche »Helden« hervorgebracht wurden. Ein anderes rankt sich um »Streptomycin«, das erste bei Tuberkulose wirksame Antibiotikum. Es wurde durch Albert Schatz entdeckt, nicht durch Selman Waksman, der dafür 1952 den Nobelpreis erhielt39. Zum einen waren Schimmelpilze, aus denen man Penicillin zunächst zog, seit alters ein bewährtes Heilmittel (siehe Seite 177). Man hatte auch bereits lange beobachtet, wie arabische Stallknechte Pferdesättel in dunklen, feuchten Räumen lagerten, um das Leder zum Schimmeln zu bringen, weil dies die Wundheilung förderte, wenn die Beine der Reiter aufgescheuert waren.

Zum anderen war der »Antagonismus«[3] zwischen Schimmelpilz und Mikrobe längst wissenschaftlich bekannt und wurde bereits in den Lehrbüchern erwähnt.40 Er war bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts Thema zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen gewesen, und man wusste, dass auf einer Kulturplatte nach Pinselpilzen, wie Penicillium damals hieß, keine Bakterien mehr wachsen.41 In England, Deutschland, Italien, Russland sowie den USA hatten Ärzte mit den hemmenden Wirkungen verschiedener Schimmelpilzkulturen der Gattung Penicillium auf Bakterien experimentiert.

Der angehende französische Arzt Ernest Duchesne (1874–1912) schrieb schließlich im Jahr 1897 seine Doktorarbeit über die Wechselwirkungen bei Mikroben. In gemeinsamer Kultur mit Penicillium glaucum blieben je nach Nährstoffmilieu mal die Bakterien, mal die Pinselpilze am Leben. Spritzte er Penicillium jedoch im Tierversuch gleichzeitig mit »giftigen Kulturen pathogener Mikroben« wie Bacillus typhosus oder Bacterium coli in Meerschweinchen, wurde ihre gefährliche »Wirkung in so bemerkenswertem Maß verringert«, dass er vorschlug, diese Ergebnisse wegen ihres Nutzens für Hygiene und Therapie noch einmal zu wiederholen und zu kontrollieren.42 Dazu kam es jedoch nicht. Er starb mit 38 Jahren. Die Forschung interessierte sich derweil mehr für Impfungen mit Serumbestandteilen oder Bakterien in die Haut, um zu heilen (siehe Seite 185ff.).

Man isolierte auch andere Bakterien und Pilze, reicherte sie an und untersuchte, ob sie das Wachstum von »Krankheitserregern« änderten. Dabei stellte man immer wieder fest, dass Bodenpilze das Bakterienwachstum zu hemmen vermochten, allerdings waren die Pilze mit der stärksten Wirkung am seltensten.43 Man deutete dabei die feinen Signalbotenstoffe als Mittel »gegen das Leben« der jeweils anderen Art und übersah, dass sie in isoliert angereicherter Menge natürlich eine andere Wirkung zeigten als in ihrem natürlichen Miteinander. Darüber ging der Erste Weltkrieg ins Land.

Krieg in den Köpfen führt zum Krieg gegen Bakterien

Es ist interessant zu erkennen, dass die Entwicklung der Antibiotika schon früh mit politischem Gedankengut verflochten war. Bakterien wurden für staatliches menschliches Denken und Handeln vereinnahmt, sei es als Projektionsobjekte oder als unbewusste Rechtfertigung. Eine Zeitlang galt das Leben der Einzeller noch als verschieden deutbar. Die entscheidende Weichenstellung hin zur Antibiose fand interessanterweise genau in der Zeit statt, als auch die Kriege im 20. Jahrhundert durch die Köpfe von Wissenschaftlern, Entscheidungsträgern, Bevölkerung und Europa zogen. Das Prinzip der Ausrottung von Leben galt daraufhin allgemein als berechtigt. Womöglich half das Gefühl, die Bakterien besiegen zu können, über das Empfinden anderer Niederlagen hinweg?

Aus solch einer antibiotischen Perspektive wurden Forschungstexte sogar im Rückblick verfälscht. So legte im Jahr 1966 der leitende Professor für Mikrobiologie in Wien, und Mitentwickler des PenicillinsRichard Brunner (1900–1990), dem Arzt und Botanikprofessor Anton de Bary (1831–1888) in den Mund, er habe im Jahr 1879 den Begriff »Antibiose« geprägt.44 Tatsächlich beschreibt de Bary damals in Die Erscheinung der Symbiose[4] bloß seine Erkenntnisse zum »eigenthümlichen Genossenschaftsverhältnis« ungleicher Pflanzen. Er entdeckte, dass Flechten eine Gemeinschaftsbildung aus Pilzen und Algen sind.45 Da, wo auch er, dem Zeitgeist folgend, einen »Kampf« zwischen Parasiten und Wirt deutet, spricht er von »Antagonismus«, übersetzt: »Wechselwirkungen«. Die Frage, wie denn die Lebewesen zueinander stehen, wurde zu Barys Zeiten erst noch intensiv erforscht. Erst mit und nach den Weltkriegen wurde das Miteinander von Bakterie und Mensch tatsächlich ebenfalls zum Krieg.

Dass man damals die Wahl hatte, einen bakterienfreundlichen Weg zu gehen, kann man daran ablesen, dass de Bary selbst bereits im Jahr 1885 die Bakterien im menschlichen Körper als »unschädliche Gäste, Wohnparasiten«[5] und »selbst nützliche Beschützer gegen die Invasion störender Gährungserreger« beschrieb, also genau so, wie wir es heute neu als hilfreich erkennen.46

Die aus der Bakterie Pseudomonas pyocynea gewonnene und »Pyocyanase« genannte Substanz war die erste antimikrobielle Substanz aus natürlicher Herkunft, deren antibakterielle Wirkung sich therapeutisch bewährte. Sie wurde schließlich ab 1928 durch das sächsische Serumwerk Dresden als Medikament hergestellt. Im selben Jahr zeigte sich dem – später im Rückblick berühmt gemachten – Alexander Fleming beim Züchten von Bakterien im Labor die hemmende Wirkung des Pinselpilzes. Aus dem Filtrat der Pilzkultur gewann er die Substanz, die das Wachstum der Bakterien hemmte, und nannte sie »Penicillin«. Er fand diese Entdeckung bloß »an sich« interessant und verfolgte sie nicht weiter. Erst zehn Jahre später, mit einer seit Kriegsbeginn 1938 aufflammenden Kampfesstimmung einhergehend, griff man diese Forschungsergebnisse wieder auf.

Bis schließlich daraus dann das Medikament Penicillin wurde, vergingen noch Jahre. Zahlreiche Forscher in Europa und Amerika befassten sich mit der Isolierung, Reinigung und Anreicherung des Penicillins, um eine therapeutisch ausreichende Menge reiner Substanz zu erhalten. Diese Forschung geschah während des Zweiten Weltkriegs unter großer Geheimhaltung, da man hoffte, mit Antibiotika Wunden und Infektionen der Soldaten zu kurieren und sich somit militärischeVorteile zu verschaffen. In England und den USA überwachten regierungseigene Agenturen den Wissensaustausch über Produktionsweisen und Neuigkeiten.47 Erst im Jahr 1941 waren die erforderlichen Prozesse so weit entwickelt, dass versuchsweise Patienten mit einer ausreichenden Menge Penicillin behandelt werden konnten. Mit Erfolg. Kaum bewährt, begann die industrielle Produktion. Die Substanz war anfangs so kostbar, dass man den Urin der Behandelten sammelte und, da Antibiotika den Organismus zum größten Teil unverändert wieder verlassen, das darin ausgeschiedene Penicillin wieder daraus extrahierte.48 Im Jahr 1947 zahlte man auf dem Nachkriegsschwarzmarkt in Deutschland für eine einzige Ampulle 5000 Zigaretten, derweil ein Zentner Kohle nur vierzehn Zigaretten kostete und ein Stück Butter 250.49