Naturwissenschaftlich-Technisches Handeln (E-Book) - Christoph Gut - E-Book

Naturwissenschaftlich-Technisches Handeln (E-Book) E-Book

Christoph Gut

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Wie erwerben Schüler*innen Kompetenzen im naturwissenschaftlich-technischen Handeln? Dazu braucht es sinnvolle praktische Lernaufgaben, deren Lernwirksamkeit allerdings von der passenden Strukturierung des praktischen Problemlöse-und des kognitiven Lernprozesses abhängt. In diesem Buch werden ausgehend von einem Modell für das naturwissenschaftlich-technische Handeln Prinzipien für die Strukturierung von Lernaufgaben vorgestellt und mit praxiserprobten Beispielen aus der Biologie, Chemie und Physik illustriert.

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Christoph Gut, Josiane Tardent (Hrsg.)

Naturwissenschaftlich-Technisches Handeln

Kompetenzmodell und praktische Lernaufgaben für die Sekundarstufe I

ISBN Print: 978-3-0355-2176-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-2177-1

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Inhalt

Einleitung

TEIL 1 – THEORIE UND MODELLE

1 Fachdidaktisches Rahmenmodell der Erkenntnisgewinnung für das Naturwissenschaftlich-Technische Handeln (NTH)

Josiane Tardent, Christoph Gut, Markus Wilhelm

1.1 Was ist Naturwissenschaft und was gehört zum naturwissenschaftlichen Handeln?

1.2 Was ist Technikwissenschaft und was gehört zum technischen Handeln?

1.3 Desiderata aus Sicht der Wissenschaftstheorie

1.4 Ziele und Zwecke praktischer Handlungen in der Naturwissenschafts- und Technikdidaktik aus Sicht der Erkenntnisgewinnung

1.4.1 Naturwissenschaftlich-Technisches Handeln als handelnde Auseinandersetzung mit der Natur

1.4.2 Modi der Erkenntnisgewinnung und Problemorientierung beim Naturwissenschaftlich-Technischen Handeln

1.4.3 Prozessorientierung beim Naturwissenschaftlich-Technischen Handeln

1.4.4 Wissensorientierung beim Naturwissenschaftlich-Technischen Handeln

1.5 Problemtypen des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns

1.5.1 Problemtyp «kategoriengeleitetes Beobachten»

1.5.2 Problemtyp «kriteriengeleitetes Klassifizieren»

1.5.3 Problemtyp «funktionsgeleitetes Dekonstruieren»

1.5.4 Problemtyp «zusammenhangsgeleitetes Untersuchen»

1.5.5 Problemtyp «modellgeleitetes Überprüfen»

1.5.6 Problemtyp «zusammenhangsgeleitetes Überprüfen»

1.5.7 Problemtyp «skalenbasiertes Messen»

1.5.8 Problemtyp «effektbasiertes Vergleichen»

1.5.9 Problemtyp «effektbasiertes Identifizieren»

1.5.10 Problemtyp «funktionsgeleitetes Konstruieren und Herstellen»

1.5.11 Problemtyp «funktionsgeleitetes Testen»

1.5.12 Problemtyp «effektgeleitetes Optimieren»

2 Zur Lernwirksamkeit des praktischen Arbeitens im Naturwissenschaftsunterricht

Christoph Gut, Josiane Tardent, Markus Wilhelm

2.1 Das praktische Arbeiten im Naturwissenschaftsunterricht

2.1.1 Die Zwecke des praktischen Arbeitens im Naturwissenschaftsunterricht

2.1.2 Praktisches Arbeiten als Medium: Rahmenmodell zur Analyse fachdidaktischer Forschungsergebnisse

2.1.3 Differenzierung von Lernzielen und Funktionen im Lernprozess

2.2 Praktisches Arbeiten als Medium: Stand der Forschung zur Unterrichtspraxis

2.2.1 Unterrichtspraxis zu Inhalten, Gestaltung und Steuerung des praktischen Arbeitens

2.2.2 Unterrichtspraxis zur Einbettung des praktischen Arbeitens in kognitive Lernprozesse

2.3 Praktisches Arbeiten als Medium: Stand der Forschung zur Wirksamkeit

2.3.1 Mit praktischem Arbeiten Fachinhalte lernen

2.3.2 Mit praktischem Arbeiten Kompetenzen des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns erwerben

2.3.3 Mit praktischem Arbeiten über die «Natur der Naturwissenschaften» lernen

2.4 Praktisches Arbeiten als Medium: Ursachenanalyse zur Praxis und Wirksamkeit

2.4.1 Ursachen der mangelhaften Wirksamkeit des praktischen Arbeitens

2.4.2 Induktivistische Lernauffassung von Lehrpersonen als Ursprung mangelhafter Gestaltung praktischer Lernaufgaben

2.5 Fazit und Desiderata für die Unterrichtspraxis

3 Planung und Gestaltung praktischer Lernaufgaben

Christoph Gut, Josiane Tardent, Markus Wilhelm

3.1 Planung praktischer Lernaufgaben

3.2 Strukturierung zweier Prozesse – ein Aufgabenbeispiel

3.3 Problemlöseziel versus Lernziel – kompetenzorientierte Lernziele

3.4 Teilprozesse strukturieren – Wissensanforderungen und Zielkonzeptbezug im Fokus

3.4.1 Stellenwert der Teilprozesse – idealisierter Experimentierzyklus versus pragmatischer Problemlöseprozess

3.4.2 Prinzipien der Teilprozessstrukturierung

3.5 Lernprozess: Einbettung in den Unterricht, Motivation und Reflexion

3.6 Lernaufgabe methodisch gestalten – letzter Schritt

4 Lernprozesse zum Naturwissenschaftlich-Technischen Handeln unterstützen

Pitt Hild, Hanspeter Pfirter

4.1 Hard Scaffolds – statische Unterstützungsmöglichkeiten

4.2 Soft Scaffolds – dynamische Unterstützungsangebote

4.3 Beispiele adaptiver Scaffolds

4.3.1 Strukturierungshilfen

4.3.2 Gestufte Lernhilfen

4.3.3 Lösungsbeispiele

4.3.4 Feedback

4.4 Wirksame Scaffolding-Ansätze

4.5 Zusammenfassung

TEIL 2 – PRAXISBEISPIELE

5 Kompetenzorientierte praktische Lernaufgaben im Naturwissenschaftsunterricht

Christoph Gut, Josiane Tardent

6 Kompetenzorientierte praktische Lernaufgaben – Praxisbeispiele aus der Biologie

Josiane Tardent, Markus Wilhelm

6.1 Praktische Lernaufgabe «Ordnung in der Vielfalt»

6.2 Praktische Lernaufgabe «Wo sind die Flohkrebse?»

6.3 Praktische Lernaufgabe «Alles Saft?»

6.4 Praktische Lernaufgabe «Selfmade-Joghurt »

6.5 Kurzbeispiele

7 Kompetenzorientierte praktische Lernaufgaben – Praxisbeispiele aus der Chemie

Pitt Hild, Hanspeter Pfirter

7.1 Praktische Lernaufgabe «Tinte killen»

7.2 Praktische Lernaufgabe «Saurer Aufguss»

7.3 Praktische Lernaufgabe «Farbiges Feuerwerk»

7.4 Praktische Lernaufgabe «Gut gekaut ist halb verdaut»

7.5 Kurzbeispiele

8 Kompetenzorientierte praktische Lernaufgaben – Praxisbeispiele aus der Physik

Christoph Gut, Maja Brückmann

8.1 Praktische Lernaufgabe «Gerechter Becher»

8.2 Praktische Lernaufgabe «Stromkreise stehen Modell»

8.3 Praktische Lernaufgabe «Weitwurf mit Gummi»

8.4 Praktische Lernaufgabe «Schaltungen von Schaltern schalten»

8.5 Praktische Lernaufgabe «Das Problem der Höhlenforscherin»

8.6 Kurzbeispiele

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Einleitung

Die naturwissenschaftlich-technische Bildung hat sich in den letzten Jahren aufgrund der Kompetenzorientierung grundlegend verändert. Diese Veränderung wurde durch den internationalen Schulleistungsvergleich PISA Anfang des Jahrhunderts angestoßen und geht einher mit der im Allgemeinen auf Output ausgerichteten Steuerung der Bildungswesen. In der naturwissenschaftlich-technischen Bildung zeigte sich dies durch die Formulierung von «kompetenzorientierten» Bildungsstandards und Lehrplanzielen. Kaum ein Schulbuch, kaum eine digital verfügbare Unterrichtseinheit verzichtet auf Materialien zum praktischen Arbeiten mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler mit Erkenntnisgewinnungsprozessen vertraut zu machen und ihnen entsprechende Methoden und Arbeitsweisen zu vermitteln.

Diese Entwicklung ist einerseits Ausdruck des Stellenwerts, den die Gesellschaft einer naturwissenschaftlichen Grund- beziehungsweise Allgemeinbildung (Scientific Literacy) im Sinne von Science for All beimisst. Hintergrund des Anspruchs an eine auf Kompetenzen ausgerichtete Schule bildet die zunehmende Bedeutung naturwissenschaftlicher Bildung als Grundlage für eine effektive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Denn große Veränderungen in unserer natürlichen Umwelt und die hohe Technisierung unseres Alltags setzen naturwissenschaftlich-technische Grundkompetenzen voraus. Zudem haben politische und wirtschaftliche Interessen, wie beispielsweise der Fachkräftemangel in den Bereichen Naturwissenschaften und Technik sowie das mittelmäßige Abschneiden der Schülerinnen und Schüler deutschsprachiger Länder in internationalen Vergleichsstudien, die naturwissenschaftliche Bildung in den vergangenen Jahren noch stärker in den Fokus gerückt. Den Fachdidaktiken kommt hier die Aufgabe zu, für die Schulen praktikable, inhaltliche Modelle für die zu vermittelnden Kompetenzen zu entwickeln und zu erproben. Im Bereich der Erkenntnisgewinnung (Scientific Inquiry) liegt international eine Vielzahl an didaktisierten Ansätzen vor, dieses Thema als Lernziel konzeptionell zu fassen und in die Schule zu bringen. Viele Modelle sind aus einer Fachdisziplin heraus gedacht und beschreiben eine spezialisierte Sicht auf den praktischen Erkenntnisgewinnungsprozess. Andere Modelle sind zwar in Bezug auf die Fachdisziplinen integrativ angelegt, es fehlt jedoch die Berücksichtigung der Technik und deren Beitrag im Rahmen von naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozessen.

Der Innovationsschub bei den kompetenzorientierten Unterrichtsmaterialien ist andererseits auch Ausdruck eines didaktischen Paradigmas, das eine lange Tradition im Naturwissenschaftsunterricht hat: Die Vorstellung nämlich, dass die Methoden der Erkenntnisgewinnung am besten vermittelt werden, wenn die Schülerinnen und Schüler Erkenntnisgewinnungsprozesse selbst praktisch durchlaufen. Dieses Paradigma wurde schon in den 1980er-Jahren in den Naturwissenschaftsdidaktiken hinterfragt und wird heute aufgrund der Ergebnisse der empirischen Wirksamkeitsforschung stark angezweifelt. Selbsttätige Hands-on-Aktivitäten erweisen sich in der Unterrichtspraxis nicht per se als lernwirksam. Trotzdem wird das praktische Arbeiten als Unterrichtsmethode für die Vermittlung verschiedenster kompetenzorientierter und fachinhaltlicher Lernziele in den Schulen weiterhin als Goldstandard gehandelt und genießt einen hohen Stellenwert. Es obliegt daher den Fachdidaktiken, didaktische Planungsmodelle für praktische Lernaufgaben zu entwickeln und zu evaluieren, die für die lernwirksame Gestaltung des Unterrichts förderlich sind.

Das vorliegende Studienbuch liefert für den Naturwissenschaftsunterricht auf der Sekundarstufe I für beide Aufgaben – die Entwicklung eines integrativen fachdidaktischen Kompetenzmodells für Arbeitsweisen im Rahmen praktischer Erkenntnisgewinnungsprozesse sowie die Entwicklung eines didaktischen Planungsmodells für lernwirksames (kompetenzorientiertes) praktisches Arbeiten – einen unterrichtstauglichen Lösungsvorschlag. Dies gelingt, indem dem Buch ein didaktisches Rahmenmodell für die Erkenntnisgewinnung zugrunde gelegt wird, das den Begriff der Erkenntnisgewinnung breit interpretiert und entsprechend vier Modi der Erkenntnisgewinnung unterscheidet: «Erkenntnisse entdecken», «Erkenntnisse rechtfertigen», «Faktenwissen generieren» und «Handlungsoptionen entwickeln». Den vier Modi werden insgesamt zwölf Problemtypen des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns zugeordnet. Die Problemtypen beschreiben prototypisch naturwissenschaftliche und technische Probleme, die es im Rahmen von Erkenntnisgewinnungsprozessen praktisch zu bewältigen geben kann. Mit der Differenzierung von Problemtypen wird somit einerseits die Vielfalt von Erkenntnisgewinnungsprozessen optimal erfasst, andererseits können problemtypenspezifisch fachmethodische Wissensanforderungen formuliert werden, die es als Lernziele im kompetenzorientierten Unterricht zu thematisieren gilt. Die Unterscheidung von Problemtypen des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns wird im Weiteren als NTH-Modell bezeichnet. Für die zweite Aufgabe wird im Studienbuch ein Planungs- und Strukturierungsmodell für praktische Lernaufgaben vorgestellt, das auf der Grundidee aufbaut, den Erkenntnisgewinnungsprozess als praktischen Problemlöseprozess zu interpretieren und vom intendierten kognitiven Lernprozess, der mit der Lernaufgabe ebenfalls initiiert werden soll, zu unterscheiden. Diese Differenzierung ist wichtig, weil der praktische Problemlöseprozess – sprich die angestrebte Erkenntnisgewinnung – oft andere Ziele hat als der Lernprozess selbst. Das gilt vor allem dann, wenn kompetenzorientierte Lernziele erreicht werden sollen. Für das vorgestellte Planungsmodell praktischer Lernaufgabe ist es daher wesentlich, den praktischen Problemlöseprozess und den kognitiven Lernprozess als separate Prozesse zu betrachten und sie als solche bewusst zu strukturieren und adaptiv zu unterstützen.

Das Studienbuch ist in einen konzeptuell-theoretischen und einen unterrichtspraktischen Teil gegliedert. Der konzeptuell-theoretische Teil enthält vier Kapitel. In Kapitel 1 wird das fachdidaktische Rahmenmodell der Erkenntnisgewinnung für das Naturwissenschaftlich-Technische Handeln (NTH-Modell) vorgestellt und theoretisch begründet. Empirische Befunde zum praktischen Arbeiten im Praxisfeld und dessen Lernwirksamkeit werden in Kapitel 2 dargelegt. Darauf aufbauend wird in Kapitel 3 ein didaktisches Modell zur Planung und Gestaltung praktischer lernwirksamer Lernaufgaben präsentiert. Ergänzt wird dieses Modell mit einer Übersicht über Scaffolds als Lernunterstützung bei praktischen Lernaufgaben in Kapitel 4. Der unterrichtspraktische Teil zeigt an konkreten Unterrichtsbeispielen auf, wie Naturwissenschaftlich-Technisches Handeln auf der Grundlage der zwölf Problemtypen kompetenzfördernd umgesetzt werden kann. Dazu findet sich je ein ausführliches Beispiel zu jedem Problemtyp, paritätisch aufgeteilt nach den drei Disziplinen Biologie, Chemie und Physik. Ergänzt werden diese durch 24 Kurzbeispiele, acht pro Disziplin. Damit steht den Lesenden für jede Disziplin ein vollständiges Set an Unterrichtsbeispielen zu jedem Problemtyp des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns zur Verfügung. Das Studienbuch

•kann somit in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen der Sekundarstufe I verwendet werden,

•wendet sich im Sinne eines Handbuchs auch an interessierte Lehrpersonen der Zielstufe,

•baut auf einer forschungsbasierten Rahmentheorie zur Lernwirksamkeit praktischer Lernaufgaben und kompetenzorientiertem praktischen Arbeiten auf,

•bietet Lehrpersonen mit evaluierten und kommentierten Unterrichtsbeispielen sowie Planungsanregungen für den eigenen Unterricht konkrete Anleitungen zur Förderung von Kompetenzen im Sinne des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns.

Schließlich, und das ist ein mindestens so wichtiges Anliegen des vorliegenden Studienbuchs, sollen das ihm zugrundeliegende Rahmenmodell zur Erkenntnisgewinnung für das Naturwissenschaftlich-Technische Handeln sowie das Strukturierungsmodell für praktische Lernaufgaben Diskussionsbeiträge leisten, die über den naturwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe I hinausreichen. Die Modelle sollen also fach- und stufenübergreifend genutzt, ergänzt und kritisiert werden.

Zürich, Februar 2023

Christoph Gut und Josiane Tardent

Teil 1

     

Theorie und Modelle

  

1Fachdidaktisches Rahmenmodell der Erkenntnisgewinnung für das Naturwissenschaftlich-Technische Handeln (NTH)

Josiane Tardent, Christoph Gut, Markus Wilhelm

Kaum ein Gelehrter hat unsere Vorstellung über die Entwicklung des Lebens auf der Erde derart beeinflusst wie Charles Darwin (1809–1882). Dank seiner Liebe zur Wissenschaft, seiner endlosen Geduld beim Beobachten, seiner Leidenschaft und seinem Fleiß, Fakten zu sammeln, hat er auf seiner fünfjährigen Reise mit der «Beagle» die geografische Verbreitung von Tier- und Pflanzenarten akribisch untersucht. Dabei stellte er fest, dass die Anpassung ein Schlüssel für höhere Überlebens- und auch Fortpflanzungschancen von Arten in einem bestimmten Lebensraum zu sein scheint. Insbesondere bei den «Darwinfinken» auf Galapagos erkannte er, dass die unterschiedlichen Schnabelformen und Verhaltensweisen als Anpassung an verschiedene Nahrungsquellen gedeutet werden können, die auf diesen Inseln vorzufinden sind. Darwin hat damit die Mechanismen der Evolution erkannt und beschrieb Variation und Selektion als grundlegende Prinzipien des Lebens. Dabei nahm er an, dass im Kampf um Nahrung und Lebensraum nur diejenigen überleben, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind und sich daher fortpflanzen können. Seine aus der Beobachtung generierte Hypothese wurde danach weiter geprüft und mithilfe neuerer Technologien mehrfach bestätigt.

Ein weiteres Lehrstück wissenschaftlicher Forschung ist die Entdeckung des Luftdrucks. Schon Galileo Galilei (1564–1641) kritisierte Aristoteles’ Hypothese (um 384–322 v. Chr.), wonach es kein Vakuum gäbe (Theorie «horror vacui»), heftig. Seinem Schüler Evangelista Torricelli (1608–1647) gelang es 1643 mit einem Experiment zu zeigen, dass Luft ein Gewicht hat. Er füllte eine Glasröhre mit Quecksilber, tauchte die Unterseite in ein Quecksilbergefäß und stellte fest, dass das Quecksilber in der Röhre nur bis auf circa 76 Zentimeter stieg. Oberhalb dieser Quecksilbersäule war der Raum leer. Allerdings erbrachte er damit noch keinen Nachweis für die Wirkung des Luftdrucks. Es war schließlich Blaise Pascal (1623–1662), der seinen Schwager Florin Périer (1605–1672) beauftragte, mit einem mit Quecksilber gefüllten Rohr, wie es Torricelli für seine Experimente verwendet hatte, von Clermont-Ferrand auf den Puy de Dôme zu steigen und dabei den Pegel der Quecksilbersäule genau zu vergleichen. Das sorgfältig ausgeführte Experiment zeigte eine gut messbare Differenz der Quecksilbersäulenlänge von etwa acht Zentimetern zwischen dem Ort und dem Berggipfel. Périer konnte mit diesem Experiment zeigen, dass das Gewicht der Luft die tatsächliche Ursache für die Leere ist, und die Existenz des Vakuums nachweisen. Die Hypothese horror vacui von Aristoteles wurde folglich mithilfe von Experimenten widerlegt und die neuen Erkenntnisse mündeten in einer neuen Theorie, die bis heute Bestand hat.

Während die bis heute anerkannte Entdeckung der Evolutionstheorie durch Darwin und die empirische Bestätigung des Luftdrucks durch Pascal in der Geschichte der Naturwissenschaften viel zu früh erfolgten, um die entsprechende Anerkennung zu erhalten, wurden 2019 die Schweizer Astrophysiker Michel Mayor und Didier Queloz von der Universität Genf für die bahnbrechende Entdeckung des ersten Exoplaneten mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Den beiden Forschern ist es bei der Erforschung der Milchstraße 1995 mit einem Trick gelungen, den ersten Exoplaneten 51 Pegasi b nachzuweisen. Exoplaneten wie dieser kreisen in weiter Ferne um einen sonnenähnlichen Stern, dessen Licht sie überstrahlt. Da sie nicht selbst leuchten und sehr weit von der Erde entfernt sind, sind sie schwer zu beobachten. Die beiden Wissenschaftler machten sich den Effekt zunutze, dass sich die Helligkeit des Sterns aufgrund des Exoplaneten, der den Stern umkreist und stellenweise einen Teil seiner Oberfläche verdeckt, ändert (Transitmethode). Mithilfe des Teleskops entwickelten sie ein photometrisches Messverfahren, um diese Helligkeitsschwankungen zu erfassen und damit Fakten zu generieren. Auf der Basis dieser Fakten haben sie die Existenz dieses Exoplaneten abgeleitet.

Die Erfindung eines technischen Verfahrens zur Herstellung eines Stoffs, der natürliche Produkte ersetzen kann, war demgegenüber lange Zeit Traum verschiedener Tüftler. Den Grundstein für die Entwicklung von sogenannten Kunststoffen legte Alexander Parkes (1813–1890). Er entdeckte 1856, dass sich Zellulose – ein organisches Material – durch Erhitzen formen lässt und seine Form nach dem Abkühlen beibehält. In den kommenden Jahren wurde mit Kautschuk, Kohle, Cellulosenitrat, Kampfer und anderen Stoffen weiter experimentiert. Dabei entstanden unter anderem in der Textilindustrie Kunststoffe wie Kunstseide (Viskose) oder Nylon; Kunststoffe eroberten aber auch die Film- und Fotoindustrie. Die Erfindung des ersten Kunststoffs, der keine in der Natur bekannten Moleküle mehr enthielt, gelang 1907 Hendrik Baekeland (1863–1944). Er verbesserte die Phenol-Formaldehyd-Reaktionstechniken und entwickelte Bakelit, einen langlebigen und hitzebeständigen Kunststoff, der unter anderem als Isolator in Einsatz kam. Alle bis dahin entwickelten Kunststoffe waren aber lediglich Nischenprodukte. Das änderte sich jedoch schlagartig, als in der chemischen Industrie entdeckt wurde, dass sich Chlor, ein Abfallprodukt bei der Herstellung von Natronlauge, als günstiger Ausgangsstoff für die Kunststoffproduktion erwies und PVC (Polyvinylchlorid) in großen Mengen sehr viel billiger hergestellt werden konnte. PVC, gefolgt von Polyethylen (PET) und Polypropylen entwickelten sich so zu den wichtigsten Kunststoffen, die in unseren Haushalten, in der Medizin, in der Industrie und Landwirtschaft heute nicht mehr wegzudenken sind, uns gleichzeitig aber aufgrund der Einwegverwendung und dem damit anfallenden Abfall vor gewaltige Probleme stellen. Die ursprüngliche Idee, einen künstlichen Stoff zu erfinden, wurde aufgrund der Entdeckungen und ständig verbesserter Herstellungsverfahren und Handlungsmöglichkeiten aber Realität.

Die hier beschriebenen Beispiele illustrieren stellvertretend für viele weitere, genauso prägende Errungenschaften wie zum Beispiel die Entschlüsselung der DNA-Struktur durch James Watson und Francis Crick (1953) oder die Erfindung der Dampfmaschine durch Thomas Newcomen (1710), dass die Natur- und die Technikwissenschaften unseren Alltag, unsere gesellschaftliche Situation und somit auch unser Welt- und Menschenbild in vielen Bereichen prägen und beeinflussen. Insbesondere die Wechselwirkungen zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und technischer Anwendung bewirken Fortschritte auf vielen Gebieten, zum Beispiel in der Informations- und Kommunikationstechnik, der Energietechnik oder der Medizintechnik. Die erwähnten Beispiele zeigen interessanterweise aber auch, dass die Wege und Methoden der empirischen Naturwissenschaften und der Technikwissenschaften schon seit jeher vom Entdecker- und Erfinderinnengeist geprägt waren und es auch heute noch sind, dass aber auch Zufall, Intuition, Improvisation und Kreativität eine Rolle gespielt haben und nach wie vor spielen. In den Naturwissenschaften gibt es also nicht «die eine Methode» der Erkenntnisgewinnung. Die Art und Weise, wie in experimentellen Wissenschaften wie beispielsweise der Chemie oder der nichttheoretischen Physik neues Wissen erzeugt wird, unterscheidet sich grundlegend von eher beobachtenden, schlussfolgernden Wissenschaften wie etwa der Umweltbiologie (Furtak & Penuel, 2019). Die Erkenntniswege sind daher vielfältig (Lederman, Lederman & Antink, 2013). Entsprechend ist es kein leichtes Unterfangen, die Grenze zu den Pseudowissenschaften zu definieren (Gebhard, Höttecke & Rehm, 2017). Das Demarkations- oder Abgrenzungsproblem zwischen Naturwissenschaften und Pseudo-Naturwissenschaften bleibt daher bestehen, insbesondere auch auf didaktischer Ebene. Schließlich sollten naturwissenschaftlich und technisch gebildete Menschen die Vertrauenswürdigkeit von Aussagen prüfen können, deren Wissenschaftlichkeit infrage steht (Kötter & Hammann, 2017).

Die neuen Bildungsstandards (Schweiz: EDK, 2011; Deutschland: KMK, 2005; USA: NGSS, 2013) tragen dieser Forderung stärker Rechnung und unterstreichen damit die schon seit vielen Jahren hervorgehobene Bedeutung naturwissenschaftlicher Bildung (Scientific Literacy) als Grundlage für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Millar, 1996; Bybee, 1997; Lederman et al., 2013). Sie rücken die Untersuchung naturwissenschaftlicher Phänomene und die damit verbundenen prozessbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Auseinandersetzung mit technischen Problemlösungen und Designs ins Zentrum unterrichtlichen Geschehens (Furtak & Penuel, 2019). Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler mithilfe naturwissenschaftlicher und technischer Arbeitsweisen lernen, (a) wie das Wissen über die Welt auf der Basis von naturwissenschaftlichen Untersuchungen gewonnen werden kann, (b) wie mit technischen Problemlöseverfahren Prozesse in der Welt beeinflusst und (c) wie vor dem Hintergrund aller gewählten Verfahren, Instrumente und Rahmenbedingungen die Plausibilität der gewonnenen Erkenntnisse eingeschätzt werden kann. Das längerfristige Ziel ist dabei, dass die Schülerinnen und Schüler ein Wissen zu und Verständnis für wissenschaftliche Ideen entwickeln, aber auch ein Verständnis aufbauen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die natürliche Welt untersuchen. Dabei sollen sie sich der Chancen und Risiken der Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik bewusst werden und Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernehmen (EDK, 2011).

Das naturwissenschaftliche Handeln im Unterricht wurde und wird jedoch sehr unterschiedlich ausgelegt. Auch Schulbücher tragen zu diesem unscharfen Bild bei (Kosso, 2009). Darüber hinaus scheint die Einbindung des technischen Handelns in die Lehrpläne formal zwar vorhanden zu sein (Koch, Kruse & Labudde, 2019), im integrierenden naturwissenschaftlichen Unterricht aber nach wie vor ein stiefmütterliches Dasein zu fristen. Gerade für einen integrierenden Naturwissenschaftsunterricht sind fachdidaktische Modelle und daraus abgeleitete praktische Lernaufgaben gefragt, mit denen die stärker auf die Erkenntnisprozesse ausgerichteten Bildungsziele mit den Schülerinnen und Schülern an konkreten Phänomenen erarbeitet werden können. Bevor in Abschnitt 1.4.1 ein fachdidaktisches Modell vorgestellt wird, das als Grundlage für einen solchen Unterricht eingesetzt werden kann, widmen sich die nächsten beiden Abschnitte zunächst den Fragen, was im Kern die Naturwissenschaften beziehungsweise die Technikwissenschaften tatsächlich ausmacht, letztere hier reduziert auf die Anwendung in den Naturwissenschaften (szientifisches Paradigma, vgl. Ropohl, 1997), und wie sich das naturwissenschaftliche vom technischen Handeln im Unterricht unterscheidet.

1.1 Was ist Naturwissenschaft und was gehört zum naturwissenschaftlichen Handeln?

Spätestens seit der Renaissance ist das Kernanliegen der modernen Naturwissenschaften, Phänomene der natürlichen Welt, das heißt das «Gegebene», zu untersuchen (Graube & Mammes, 2013). Dabei strebt man in den Naturwissenschaften danach, diese Phänomene auf der Basis von Kausalbeziehungen aus Ursachen und deren Wirkungen zu erklären, wobei sie auf erklärende Theorien (z. B. Evolutionstheorie), bedeutende Konzepte (z. B. Atombindung), das Erkennen von Regelmäßigkeiten (Gesetze, Regeln) und die empirische Herangehensweise (Beobachtung, Experiment, Evidenz) zurückgreifen (Gebhard et al., 2017, 7 f.). Den Ausgangspunkt bilden dabei stets Fragen an die Natur, wobei die Natur gemäß Michael Polany (1958) nur so antworten kann, wie die Fragen gestellt werden. Daher gibt es nicht, wie vorangehend an Beispielen illustriert, «die eine Methode» der Erkenntnisgewinnung, sondern die Erkenntniswege sind vielfältig, kontextabhängig und idiosynkratisch (Lederman et al., 2013; Hodson, 2014). Eine grundlegende Verpflichtung besteht aber immer darin, dass Behauptungen und Erklärungen durch Daten aus Beobachtungen gestützt werden (Millar, 2010). Die Evidenz stellt daher den Kern aller naturwissenschaftlichen Herangehensweisen dar (Ruhrig & Höttecke, 2015). Diese beruht vor dem Hintergrund theoretischer Annahmen, verwendeter Instrumente und sozio-kultureller Prozesse auf der Aushandlung und Anerkennung der Bedeutung von erhobenen Daten und ist deshalb auch keine Repräsentation einer absolut objektiven Realität (Höttecke & Rieß, 2015), was die Abgrenzung von den Pseudowissenschaften erschwert. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass:

(1) naturwissenschaftliche Aussagen im Prinzip testbar sind,

(2) Beobachtungen sich unabhängig wiederholen lassen,

(3) naturwissenschaftliches Wissen vorläufig ist und jederzeit verändert oder verworfen werden kann,

(4) Kritik und Skepsis wichtige Mechanismen der Naturwissenschaften sind und es daher einer Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (Community) bedarf, und

(5) einfache Theorien mit möglichst großer Erklärungsmacht favorisiert werden und logisches Schließen, Vernunft und Unvoreingenommenheit trotz bekannter Einschränkungen einen hohen Stellenwert einnehmen (Gebhard et al., 2017; vgl. auch Wilcox et al., 2015).

Die hier beschriebenen Prozesse des Wissenschaftstreibens lassen sich aber nur schwer eins zu eins im Naturwissenschaftsunterricht abbilden und können daher lediglich als Interpretationen der wissenschaftlichen Untersuchungen der Naturwissenschaften selbst aufgefasst werden (Emden, 2021). Die Auffassungen, was naturwissenschaftliches Handeln im Unterricht ausmacht, sind darüber hinaus unterschiedlich. Dabei wird das naturwissenschaftliche Handeln oft auf das praktische Arbeiten oder das Experimentieren reduziert. Auch wird im Schulfeld vielfach angenommen, dass es sich dabei um eine universelle Lehr-Lern-Methode handelt, die sich per se für die Erreichung vielfältiger naturwissenschaftlicher Lern- und Bildungsziele eignet. Derek Hodson (2014) weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass es zwingend einer Unterscheidung und Explikation der intendierten Lernziele bedarf. Er differenziert unter anderem Ziele wie Learning Science, Learning about Science und Doing Science. Die letzteren beiden Ziele beinhalten die Auseinandersetzung mit den Prozessen der Erkenntnisgewinnung und dem damit verbundenen Kompetenzaufbau. Die neuen Bildungsstandards, Lehrpläne und auch die fachdidaktischen Theorien und Kompetenzmodelle werden vor diesem Hintergrund im nächsten Abschnitt beleuchtet.

Bildungsstandards, Lehrpläne

Die Natur der Naturwissenschaften und damit verbunden die Prozesshaftigkeit und Materialität von Forschungsprozessen ist Referenzpunkt in den neuen Bildungsstandards im englisch- und deutschsprachigen Raum (Schweiz: EDK, 2011; Deutschland: KMK, 2005; USA: NGSS, 2013). Das naturwissenschaftliche Handeln im Sinne kausalorientierter Prozesse ist somit expliziter Bildungsauftrag und stellt neben dem Fachwissen einen bedeutenden Teil naturwissenschaftlicher Bildung (Scientific Literacy) dar. Darüber hinaus bieten die neuen Bildungsstandards die Gelegenheit für Evaluationen der Curricula sowie für Schulleistungsvergleiche. Trotz dieser gemeinsamen Ausrichtung lassen sich diesbezüglich Unterschiede zwischen den Bildungsstandards im englisch- und deutschsprachigen Raum feststellen. In den USA beispielsweise sind die Bildungsstandards (Next Generation Science Standards, NGSS, 2013) in Form von Performanz-Erwartungen beschrieben. Diese beinhalten die Dimensionen «disziplinäre Kernideen» (Fachinhalt), «wissenschaftliche und technische Praktiken» sowie «übergreifende Konzepte», mit denen im Sinne einer Integration versucht wird, die Praxis in der realen Welt näher abzubilden. Dabei ist es den Staaten, Bezirken, Schulen und Lehrpersonen selbst überlassen, die zu erreichenden Kompetenzen ausgehend von den NGSS zu präzisieren.

Dieser integrative Ansatz ist im deutschsprachigen Raum in den Standards weniger konsequent umgesetzt. Die Bildungsstandards in Deutschland sind als Regelstandards (sollen durchschnittlich erreicht werden) für den mittleren Schulabschluss in Biologie, Chemie und Physik mit vier Kompetenzbereichen beschrieben (KMK, 2005). Die Erkenntnisgewinnung (Scientific Inquiry) ist als Handlungsdimension in einem eigenen Kompetenzbereich verortet und mit den entsprechenden Kompetenzen ausdifferenziert. Es geht dabei um die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen, um den Umgang mit naturwissenschaftlichen Modellen sowie um die wissenschafts- und erkenntnistheoretische Reflexion (Gebhard et al., 2017). Aufgrund des föderalistischen Bildungssystems fehlt in Deutschland aber ein allgemeingültiger Lehrplan, weshalb die einzelnen Bundesländer individuell über die Curricula entscheiden.

Die Bildungsstandards in der Schweiz sind im Vergleich dazu auf der Grundlage des HarmoS-Kompetenzmodells für einen integrierten stufenübergreifenden Naturwissenschaftsunterricht als Mindeststandards (sollen von allen erreicht werden) normativ festgelegt worden (EDK, 2011). Darin sind für die Sekundarstufe I Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Erkenntnisgewinnung in den Handlungsaspekten «Fragen und untersuchen» sowie «Ordnen, strukturieren, modellieren» festgehalten. Die Kernanliegen beider Handlungsaspekte sind im Deutschschweizer Lehrplan (D-EDK, 2016) in einem einzigen Kompetenzbereich zusammengefasst. Darin ist festgelegt, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit den Wegen der Erkenntnisgewinnung auseinandersetzen sollen, um diese vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Bedeutung, aber auch in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit zu diskutieren.

Der Blick auf die ausgewählten Bildungsstandards und Lehrpläne unterstreicht den expliziten Bildungsauftrag naturwissenschaftlichen Handelns als Werkzeug der Erkenntnisgewinnung (Börlin, 2012; Capps & Crawford, 2013; Hasse, Joachim, Bögeholz & Hammann, 2014). Das naturwissenschaftliche Handeln wird damit selbst zum Fachinhalt. Entsprechend wird es – und insbesondere das Experimentieren – schon seit den 1980er-Jahren vonseiten der naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken, der Kognitions- und Entwicklungs- sowie der pädagogischen Psychologie erforscht. Allerdings existieren hierzu unterschiedliche (fachdidaktische) Theorien, mit denen sich der nächste Abschnitt beschäftigt.

Fachdidaktische Theorien

Auf die Frage, was das naturwissenschaftliche Handeln und insbesondere die experimentelle Kompetenz tatsächlich ausmacht, finden sich vor dem Hintergrund der jeweiligen fachdidaktischen Forschungstraditionen unterschiedliche Theorien und Interpretationen. Im englischsprachigen Raum ist häufig von Scientific Reasoning, Skills oder Conceptual Understanding, aber auch von Scientific Inquiry die Rede (Klahr & Dunbar, 1988; Hodson, 2014). Dies sind Begriffe und lernpsychologische Konzeptionen, die sich unterscheiden. Die theoretischen Ansätze der ersten Trias fokussieren primär Fähigkeiten und Fertigkeiten in Bezug auf den Prozess der Erkenntnisgewinnung, also Doing Science. Demgegenüber geht Scientific Inquiry über die bloße Entwicklung von Prozessfähigkeiten wie dem Beobachten, Folgern, Klassifizieren, Vorhersagen, Messen, Hinterfragen, Interpretieren und Analysieren von Daten hinaus. Scientific Inquiry wird derart interpretiert, dass es auch die Kombination dieser Prozesse mit wissenschaftlichem Wissen, der wissenschaftlichen Argumentation sowie dem kritischen Denken zur Entwicklung wissenschaftlicher Ideen Rechnung trägt (Lederman, Lederman & Antink, 2013). Dabei stehen prozessbezogene und fachmethodische Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Doing Science, aber auch Knowing about Science (Hodson, 2014) im Fokus. Erin Marie Furtak, Tina Seidel, Heidi Iverson und Derek C. Briggs (2012) grenzen ausgehend von Richard Duschl (2003; 2008) das Konzept Scientific Inquiry klar von der weitverbreiteten Auffassung der reinen Hands-on-Aktivität mit vier kognitiven Dimensionen (conceptual, epistemic, social, procedural) ab. Das entdeckend-forschende Lernen oder Inquiry-based Learning, das auf die philosophische Theorie zur Wissensgenese von John Dewey (1916) zurückgeht, wird in diesem Zusammenhang in der Literatur häufig als mögliches Konzept diskutiert.

Im deutschsprachigen Raum wird im Vergleich dazu mehrheitlich der Begriff des Experimentierens favorisiert, einerseits als Oberbegriff im Sinn von Practical Work (Kircher, 2007), andererseits als eng definierter Begriff für die explorative oder konfirmative Untersuchung kausaler Zusammenhänge (Schulz, Wirtz & Starauschek, 2012). Ersterer subsumiert unter dem Experimentieren eine Vielzahl an praktischen Aktivitäten, die in den Diensten der Erkenntnisgewinnung stehen, und kommt im Physik- oder auch im Chemieunterricht zur Anwendung. Letzterer hat seine Tradition in der Biologie und beschreibt eine unter kontrollierten Bedingungen durchgeführte Erkenntnismethode, mit der Ursachen für naturwissenschaftliche Phänomene und Probleme untersucht und erklärt werden (Wellnitz & Mayer, 2013). Das Experimentieren wird dabei oft auf eine vorstrukturierte konsekutive Herangehensweise reduziert, die der Realität im Forschungsalltag wenig entspricht (McComas, 1996; Ioannidou & Edouran, 2021). Auch wird das so beschriebene Experimentieren zu Ungunsten des Beobachtens und Erkundens (zentral in der Astrophysik oder in der Ökologie) beziehungsweise des Dekonstruierens, Konstruierens und Testens (die Vorgehensweisen in der Technik) überbetont. So gesehen sind die theoretischen Zugänge zum Konzept des naturwissenschaftlichen Handelns, insbesondere zur experimentellen Kompetenz vielfältig und auch geprägt durch den disziplinären Fokus. Entsprechend finden sich hierzu unterschiedliche Kompetenzmodellierungen.

Kompetenzmodellierung

Für die Beschreibung und Erfassung von Kompetenzen zum naturwissenschaftlichen Handeln im Unterricht liegt eine Vielzahl an fachdidaktischen Modellen und Messverfahren vor (Emden, 2011; Gut, 2012; Schreiber, 2012; Rönnebeck, Bernholt & Ropohl, 2016). Kern dieser Modelle bildet grundsätzlich die lerntheoretische Auffassung, dass die Prozesse der Erkenntnisgewinnung als komplexe Problemlöseprozesse zu verstehen sind, die sich durch eine Abfolge spezifischer Prozeduren charakterisieren lassen und von Situationsmerkmalen wie auch Personenvariablen beeinflusst werden (Roberts & Gott, 1999; Klahr, 2000; Mayer, 2007). Die verschiedenen Modellierungsansätze unterscheiden sich allerdings betreffend das dem naturwissenschaftlichen Handeln zugrunde gelegten Verständnis. Im deutschsprachigen Raum gibt es in Bezug auf den vorangehend beschriebenen favorisierten Fokus auf das Experimentieren zwei Ansätze. In einem ersten Ansatz wird der Begriff «Experiment» sehr eng definiert und als ein kontrollierter Eingriff in einen zu erforschenden naturwissenschaftlichen Ablauf zur explorativen oder konfirmatorischen Untersuchung kausaler Zusammenhänge verstanden (Schulz, Wirtz & Starauschek, 2012; Wellnitz, 2012; Wellnitz & Mayer, 2013). Demgegenüber wird das Experimentieren in einem zweiten Ansatz aus Gründen der Generalisierung und sprachlichen Vereinfachung breiter gefasst und den unterschiedlichsten Tätigkeiten bis hin zur Erreichung technischer Ziele zugeordnet. Johannes Börlin (2012) spricht in diesem Zusammenhang von experimentellem Handeln, um die prozessbezogene Dimension und damit die Aktivität im Sinne naturwissenschaftlichen Problemlösens besonders hervorzuheben. Das diesen beiden Ansätzen zugrunde liegende Verständnis wirkt sich in der Konsequenz auf die innere Abgrenzung der erforderlichen Teilkompetenzen aus, die sich entsprechend unterscheiden (Gut, Hild, Metzger & Tardent, 2014). Im Zusammenhang mit den Messverfahren lassen sich deshalb zum Prozess naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung im deutschsprachigen Raum im Wesentlichen zwei Modellierungsansätze zum naturwissenschaftlichen Handeln und zu den sich daraus erschließenden sogenannten experimentellen Kompetenzen finden (ebd.).

Im ersten Modellierungsansatz, auch Teilprozessansatz genannt, wird der Experimentierprozess gemäß eines idealisierten, hypothetisch-deduktiven Erkenntnis- und Denkprozesses in unterscheidbare Teilprozesse zerlegt und mit einer klaren Abfolge dieser beschrieben (Gut & Mayer, 2018). Die Qualität der Vorgehensweisen wird durch das vorhandene fachliche und strategische Wissen und die Qualität der Problemlösung bestimmt (Mayer, 2007). In der Literatur sind verschiedene Strukturierungen von Teilprozessen beziehungsweise Experimentierphasen beschrieben (vgl. Emden, 2011). Diese Teilprozesse lassen sich gemäß eines idealtypischen, forschungslogischen, aber auch rekursiven Ablaufs in drei Hauptphasen bündeln: (1) Fragestellung und Hypothesenformulierung, (2) Planung und Durchführung der Untersuchung, (3) Datenanalyse und Reflexion der Untersuchung (Emden, 2011; Nowak, Nehring, Tiemann & Upmeier zu Belzen, 2013; Wellnitz, Hecht, Heitmann et al., 2017). Zahlreiche Modelle dieser Art sind domänenspezifisch entwickelt worden und wurden oft auch angelehnt an das «Scientific Discovery as Dual Search»-Modell (SDDS-Modell) von David Klahr und Kevin Dunbar (1988) hinsichtlich möglicher zugrundeliegender Dimensionen geprüft (vgl. z. B. Hammann, Phan & Bayrhuber, 2008; Mayer, Grube & Möller, 2008; Nowak et al., 2013; Wellnitz & Mayer, 2013). Empirische Evidenz für die Ausdifferenzierung dieser prozessbezogenen Teilkompetenzen liegt bislang aber nach wie vor nicht zufriedenstellend vor (Vorholzer, von Aufschnaiter & Kirschner, 2016; Wellnitz et al., 2017). Außerdem fehlen empirische Belege dafür, dass die für das Experimentieren notwendigen Denkprozesse mit den Teilprozessen korrespondieren (Gut & Mayer, 2018).

Ein zweiter Modellierungsansatz, der Problemtypenansatz, fasst das Experimentieren als integralen Problemlöseprozess auf. Dabei werden neben der Untersuchung kausaler Zusammenhänge Teilfähigkeiten wie zum Beispiel das Vergleichen oder das Klassifizieren von Objekten, das Testen bestimmter Eigenschaften, das Klassifizieren von Objekten oder das Herstellen eines Produkts als Fähigkeiten verstanden, unterschiedliche experimentelle Problemstellungen lösen zu können (Gut, 2012). Die verschiedenen praktischen Aufgaben unterscheiden sich demgemäß je nach Typ des Problems, das durch eine praktische Aktivität gelöst werden soll (Ruiz-Primo & Shavelson, 1996). Das Verständnis darüber, wie valide und reliable Daten gewonnen werden, das heißt die sogenannten Concepts of Evidence, bildet die Grundlage dieses noch wenig erforschten Ansatzes (Ruiz-Primo & Shavelson, 1996; Roberts & Gott, 2003; Gut et al., 2014). Die Herangehensweisen bei der Problemlösung werden dabei entsprechend dem Problemtyp modelliert und in der Regel mithilfe von Hands-on-Aufgaben erfasst. Aufgrund des im Zentrum stehenden Verständnisses zum Erkenntnisprozess (Concepts of Evidence) lassen sich mehrere Problemtypen analysieren (Roberts & Gott, 2003). Das naturwissenschaftliche Handeln und die sich in diesem Zusammenhang ergebenden experimentellen Kompetenzen werden damit sehr viel breiter aufgefasst.

Die beiden hier beschriebenen Modellierungsansätze (Teilprozess- und Problemtypenansatz) bauen konzeptionell auf unterschiedlichen Ideen auf, lassen sich aber unter der Annahme, dass den Teilprozessen bei Aufgaben zu verschiedenen Problemtypen unterschiedlich viel Bedeutung zukommt (Nawrath, Maiseyenka & Schecker, 2011; Gut & Mayer, 2018), zusammenführen. Allerdings wird im Problemtypenansatz noch zu wenig bewusst und genau zwischen den kausalorientierten Prozessen beim naturwissenschaftlichen Handeln und den finalorientierten Prozessen beim technischen Handeln unterschieden. Für den integrativen Naturwissenschaftsunterricht spielen aber auch konstruierende Aufgaben eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund soll in einem nächsten Schritt beleuchtet werden, was Technikwissenschaft ist und was zum technischen Handeln gehört.

1.2 Was ist Technikwissenschaft und was gehört zum technischen Handeln?

Während die modernen Naturwissenschaften Phänomene der natürlichen Welt, das heißt das «Gegebene» untersuchen, befassen sich die Technikwissenschaften mit künstlichen und vom Menschen gemachten Sachsystemen und deren Entwicklung und Nutzung vor dem Hintergrund soziokultureller Einflüsse. Gegenstand der Technikwissenschaften ist also etwas «Gemachtes», «Hervorgebrachtes» oder «Erzeugtes» (Banse, 2013, 12), das heißt zweckgerichtete, materielle und immaterielle Elemente von Objekten und Prozessen. So gesehen schaffen die «Technikwissenschaften […] die kognitiven Voraussetzungen für die Innovation in der Technik und die Anwendung technischen Wissens und legen die Grundlagen für die Reflexion ihrer Implikationen und Folgen» (acatech, 2013, 18). Das bedeutet, dass in den Technikwissenschaften die Wissensproduktion als Verknüpfung von Erkenntnis und Innovation verstanden werden kann und dass das zweckgebundene, planende und produktbezogene Handeln dazu dient, die Welt zu erklären, aber auch Prozesse zu beeinflussen (Nordmann, 2010; Banse, 2013; Güdel & Heitzmann, 2016; Güdel, 2019). Entsprechend geht es nicht nur um die Menge nutzenorientierter, künstlicher und gegenständlicher Sachsysteme, sondern auch um die menschlichen Handlungen und Einrichtungen, in denen Sachsysteme entstehen und verwendet werden (VDMA; 2019). Daher spricht man im Zusammenhang mit Technikwissenschaften von finalen Wissenschaften oder Handlungswissenschaften, bei denen es nicht nur um Erkenntnisgewinnungs-, sondern auch um Gestaltungsprozesse mit finalem Charakter geht. Im Bereich der Naturwissenschaften reichen diese von der technischen Mechanik über chemische Verfahrenstechniken bis hin zu den Biotechnologien (Banse, 2013).

Mit der stark zunehmenden Technisierung unseres Alltags, aber auch mit dem Fachkräftemangel in den Bereichen Naturwissenschaften und Technik wird deshalb von der Schule erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden, die Herausforderungen eines in vieler Hinsicht von Technik geprägten Lebens zu bewältigen (Wiesmüller, 2021). Entsprechend kommt der technischen Bildung (Technical Literacy) eine wichtige Bedeutung zu (Moore, 2011). Diese geht weit über das Wissen und die Nutzung von Technologien hinaus und auch das technische Handeln spielt dabei eine wesentliche Rolle. Unter anderem werden hierzu die folgenden Zielsetzungen genannt:

a)Sachorientierung in einer durch Technik immer komplexer gestalteten Welt und damit Beschäftigung mit Strukturen und Funktionen technischer Systeme sowie deren Folgen,

b)Entwicklung von Interesse an Technik und Förderung von Kreativität bei technischen Problemlösungsprozessen,

c)Auseinandersetzung mit typischen Methoden und Handlungsformen der Technik in den Bereichen Planen, Konstruieren, Herstellen, Bewerten, Verwenden oder auch Entsorgen,

d)Vorbereitung auf die Anforderungen heutiger Technik im privaten, beruflichen und öffentlichen Bereich (VDMA, 2019).

Trotz der hier dargestellten Relevanz technischer Bildung wird die Technik im Unterricht häufig marginalisiert oder ganz weggelassen (Graube, 2013). Im Naturwissenschaftsunterricht auf der Sekundarstufe I in der Schweiz ist Technik Teil des Integrationsfachs (Labudde, 2012). Allerdings besteht dabei das Risiko, dass die Technik auf einen fachpraktischen Appendix der Naturwissenschaften reduziert wird (Koch et al., 2019). Ob dies zutrifft, soll ein Blick in die Bildungsstandards und Lehrpläne im englisch- und deutschsprachigen Raum klären.

Bildungsstandards, Lehrpläne

Die Einbindung technischen Handelns im Sinne finalorientierter Prozesse scheint heute formal in den neuen Bildungsstandards im englisch- wie auch im deutschsprachigen Raum erfolgt zu sein (Schweiz: EDK, 2011; Deutschland: KMK, 2005; USA: NGSS, 2013; vgl. Koch et al., 2019). In den USA ist die technische Bildung integraler Bestandteil der STEM- (Science, Technology, Engineering and Mathematics) oder sogar STEAM-Bildung (Science, Technology, Engineering, Arts and Mathematics) (DeVries, 2019). Dabei werden in den Bildungsstandards (NGSS, 2013) die technische Bildung und das technische Handeln in den naturwissenschaftlichen Unterricht integriert, indem das ingenieurwissenschaftliche Design auf die gleiche Ebene wie wissenschaftliche Untersuchungen im Naturwissenschaftsunterricht gestellt und die Kernideen des technischen Entwurfs und der technologischen Anwendungen betont werden. Das technische Handeln ist dabei im Sinne analytischen und strategischen Denkens in der Dimension «wissenschaftliche und technische Praktiken» in Form von Performanz-Erwartungen ausgewiesen, wobei diese immer in Bezug zu den anderen beiden Dimensionen, «disziplinäre Kernideen und «übergreifende Konzepte», gesetzt werden (siehe auch Abschnitt 1.2).

Im deutschsprachigen Raum hingegen fehlt mehrheitlich eine solche explizite Integration des technischen Handelns in die Bildungsstandards und Lehrpläne. In Deutschland ist das technische Handeln in den Bildungsstandards im Kompetenzbereich «Erkenntnisgewinnung» nur implizit hinsichtlich der Erkenntnisprozesse, die beim technischen Handeln auch eine Rolle spielen, aufgenommen. Als Reaktion auf die Ergebnisse aus den PISA-Studien formulierte der Verband Deutscher Ingenieure (VDI) daher Bildungsstandards zur Technik für den mittleren Schulabschluss (VDI, 2007) mit fünf Kompetenzbereichen: (1) Technik verstehen, (2) Technik konstruieren und herstellen, (3) Technik nutzen, (4) Technik bewerten und (5) Technik kommunizieren. Ausgehend davon wird die technische Bildung bundeslandspezifisch organisiert, einerseits als eigenständiges Schulfach beziehungsweise in verschiedenen Fächern mit verschiedener inhaltlicher Ausgestaltung, andererseits stufenspezifisch (Keller, Koch, Umbricht et al., 2018).

Demgegenüber ist in den Bildungsstandards der Schweiz das technische Handeln im Handlungsaspekt «Entwickeln und umsetzen» explizit erwähnt. Dabei geht es um die Entwicklung von Ideen und deren praktische Umsetzung (EDK, 2011). Im Lehrplan 21 der Sekundarstufe I sind die damit verbundenen Technikkompetenzen für den Naturwissenschaftsunterricht im Kompetenzbereich «Wesen und Bedeutung der Naturwissenschaften und Technik verstehen» enthalten (D-EDK, 2016). Allerdings zeigt sich, dass hier sehr ungenau zwischen den naturwissenschaftlichen und technischen Vorgehensweisen, das heißt zwischen kausalorientierten und finalorientierten Prozessen, unterschieden wird. Im Lehrplan 21 sind die Technikkompetenzen aber auch in anderen Fachbereichen wie «Technisches und Textiles Gestalten», «Wirtschaft, Arbeit und Haushalt», «Räume, Zeiten, Gesellschaften» und «Informatik und Medien» mit unterschiedlichen Schwerpunkten ausgeschildert (Hägni & Güdel, 2021). Der Blick auf die Bildungsstandards und die vorhandenen Lehrpläne offenbart sehr diverse Vorgaben in Bezug auf die technische Bildung und das technische Handeln als Fachinhalt, auch im Naturwissenschaftsunterricht. Diese beruhen auf einem unterschiedlichen Verständnis, entsprechend gibt es verschiedene (fachdidaktische) Theorien.

Fachdidaktische Theorien

Will man die technische Bildung und damit auch das technische Handeln näher erfassen, so findet man drei Ansätze und damit verbundene Theorien (Keller et al., 2018, 6): (1) einen eher allgemeinbildenden Ansatz, bei dem es um eine umfassende technische Bildung geht, (2) einen spezialbildenden Ansatz mit Bezug zur Arbeits- und Wirtschaftswelt und (3) eine Mischform beider Stoßrichtungen. Günter Ropohl (1997) hingegen unterscheidet nur zwischen einem technologischen und einem szientifischen Paradigma. Das technologische Paradigma versteht die technische Bildung als eigenständige, fächerübergreifende Wissenschaft im Kontext von Arbeit und Technik mit Bezug zur Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft. Hierbei geht es um eine multidisziplinäre und multiperspektivische Sicht auf die Technik, wobei sozio-kulturelle und sozio-ökonomische Zusammenhänge mitberücksichtigt werden (Ropohl, 1997; Banse, 2013; Güdel & Heitzmann, 2016). Dies entspricht in etwa dem allgemeinbildenden Ansatz von Jürg Peter Keller et al. (2018). Demgegenüber reduziert das szientifische Paradigma die Technik und die Technikwissenschaften auf die Anwendungen in den Naturwissenschaften, wobei die Naturwissenschaften in der Rolle der allgemeinen Disziplin als verbindende Grundlage angesehen und Beziehungen zu anderen Wissenschaften ausgeblendet werden. Dieses Paradigma kann in Anlehnung an Keller et al. (2018) als spezialbildend eingestuft werden. Oft wird beklagt, dass es als degenerierte Naturwissenschaften aufgefasst werden kann (Banse, 2013). Um dem entgegenzuwirken, bedarf es daher entsprechender Kompetenzmodelle, denn beide Paradigmen erfordern empirisches wie auch theoretisches technikwissenschaftliches Wissen, das von der Fragestellung und dem konkreten Problem abhängt (acatech, 2013).

Kompetenzmodellierung

Technisches Handeln ist, wie vorangehend erwähnt, mit dem Lösen von Problemen und Aufgaben verbunden, wobei sich diese durch den Grad der Bestimmtheit beziehungsweise Unbestimmtheit unterscheiden (Graube & Mammes, 2013). Gemäß Gerhard Banse (2013) lassen sich die Probleme in Entscheidungsprobleme (z. B. bzgl. Zielsetzung und Wegfestlegung), Bestimmungsprobleme (z. B. bzgl. Beschreibung, Erklärung und Beweis) und Entwurfsprobleme (v. a. bzgl. funktionserfüllender Strukturen) unterscheiden. Die ersten beiden Probleme beziehen sich vorrangig auf das Erkennen, das letzte in der Hauptsache auf das Gestalten. In der Literatur sind hierzu verschiedene Kompetenzmodelle zu finden (ITEEA, 2007; Sachs, 2001; Schmayl, 2013; VDI, 2007; 2015). Gabriele Graube (2013) weist diesbezüglich auch auf die von der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik stammenden didaktischen Grundfiguren der Erfinderinnen und Erfinder, der Entdeckerinnen und Entdecker sowie der Enttarnerinnen und Enttarner hin. Bei den Erfinderinnen und Erfindern geht es um die Konstruktion, das heißt um die Entwicklung neuer Ideen und deren Umsetzung. Konstruktionen materieller Art beruhen dabei auf Konstruktionen ideeller Art, für die Kreativität benötigt wird (Graube, 2013). Demgegenüber setzen sich Entdeckerinnen und Entdecker mit fremden Konstruktionen ideeller und materieller Art auseinander, um zu Erkenntnissen zu gelangen (ebd.) und entdecken damit vorhandene Erfindungen nach. Die Enttarnerinnen und Enttarner schließlich stellen das Erfundene (eigene Konstruktionen) oder das Entdeckte (fremde Konstruktionen) auf der kritisch-reflexiven Metaebene infrage, um damit die beiden Pole des Erfindens und des Entdeckens zusammenzubringen, was typisch für Technikentwicklungen ist (ebd.).

Technische Entwicklungen und das dafür notwendige technischen Handeln werden sehr oft als ein Weg idealisiert, der mit abgesicherten Erkenntnissen beginnt, dann über die Vorhersage, die experimentell geprüft wird, zu einem Prototyp führt, der wiederum einem Test unterzogen wird, damit letztlich Vorhersagen zur Machbarkeit, Realisierung und Bewährung gemacht werden können. Für die Gestaltungsprozesse werden deskriptive (beschreibende) Modelle beigezogen, aber auch präskriptive (vorschreibende) Modelle, die ohne weiteres als Bauanleitungen verwendet werden können. Allerdings werden auch beim technischen Handeln viele dieser Schritte nicht iterativ und vollständig durchlaufen, sondern rekursiv und unterschiedlich, manchmal werden gar Schritte übersprungen (acatech, 2013).

Im Sinne des szientifischen Paradigmas weist das technische Handeln wichtige Kompetenzen auf, die in einem integrierenden Naturwissenschaftsunterricht aufgenommen werden sollten, um zu verhindern, dass die Technik zum Appendix der Naturwissenschaften mutiert (Koch et al., 2019). Die Wissensproduktion wird, wie in Abbildung 1.2 beschrieben, als Verknüpfung von Erkenntnis und Innovation mit einem zweckgebundenen, planenden und produktbezogenen Handeln verstanden. Erkenntnisprozesse spielen daher genauso wie im naturwissenschaftlichen Handeln, bei dem die Erkenntniswege vielfältig sind, eine zentrale Rolle. Daher sollen im nächsten Abschnitt die drei Grundformen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns kurz vorgestellt werden.

1.3 Desiderata aus Sicht der Wissenschaftstheorie

Die Epistemologie (Lehre von der Erkenntnis) befasst sich mit den Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und mit der Frage, wie gültige wissenschaftliche Aussagen von ungültigen Aussagen unterschieden werden können (Döring & Bortz, 2016). Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse, die zu einer Theorie führen, bestehen aus einzelnen Schritten, die der Logik entlehnt sind (Stiller, Allmers, Habigsberg et al., 2020). Dabei werden theoretische Aussagen (Regeln), Beobachtungen (Fälle) und empirische Aussagen (Ergebnisse) verknüpft. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Grundformen wissenschaftlichen Schließens unterscheiden: die Deduktion, die Induktion und die Abduktion(siehe Abbildung 1.1). Sie gehen alle auf die in der antiken griechischen Philosophie entwickelte Logik zurück und stellen zusammen mit der Beobachtung das Fundament jeder Forschung mit unterschiedlicher Ausprägung dar (Reichertz, 2016). Bei allen Verfahren geht es auf der einen Seite um Rechtfertigungs-, auf der anderen Seite um Entdeckungsprozesse.

Bei der Deduktion (lat. deducere – herabführen, ableiten) oder dem deduktiven Schließen wird ausgehend von einer allgemeinen Regel zu einem kausalen Zusammenhang und einem unbekannten Einzelfall (Ursache) ein Ergebnis (Wirkung) postuliert (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021), das heißt, eine vertraute und bewährte Regel wird auf einen neuen Fall angewendet (Reichertz, 2016). Diese Form logischen Schließens ist wahrheitserhaltend (tautologisch) und erkenntnisrechtfertigend, jedoch nicht erkenntniserweiternd (Meyer, 2009). Das bedeutet, es geht im Sinne von Karl Popper (1934) lediglich um die konfirmatorische Überprüfung, das heißt um die Falsifizierung oder Bestätigung einer Theorie (kausaler Zusammenhang), die aus Regeln und Einzelfällen besteht (Sturm, 2006; Schulz et al., 2012).

Die Induktion (lat. inducere – herbeiführen, veranlassen) entspricht demgegenüber einer Umkehrung der Deduktion. Aus kausal interpretierten Einzelbeobachtungen eines Falles und eines Ergebnisses wird eine verallgemeinerte Regel entwickelt (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021). Die Induktion ist damit ebenfalls tautologisch, jedoch nicht wahrheitsübertragend (Philipp, 2013). Die explorativ gewonnenen Erkenntnisse sind lediglich wahrscheinlich (Schulz et al., 2012; Reichertz, 2016). Dabei wird das induktiv Geschlossene selbst zur Hypothese, dessen Wahrscheinlichkeit mit jedem bestätigten Fall größer wird (Stiller et al., 2020). Im Induktionsschluss geht es aber stets um die Entwicklung von theoretischen Aussagen auf der Grundlage von beobachtbaren Ereignissen (Sturm, 2006), das heißt, es wird vom Einzelfall auf das Allgemeine geschlossen.

Im Vergleich zur Deduktion und zur Induktion wird bei der Abduktion (lat. abducere – wegführen) ausgehend von einem erkannten und gegebenenfalls auch überraschenden Phänomen (Ergebnis) und möglicherweise auf der Basis bestehender Regeln im Sinne einer Hypothese eine Ursache als beste Erklärung in Form eines Educated Guess generiert (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021). Das Ergebnis könnte aber auch aus einem anderen Grund entstanden sein (Meyer, 2009). Diese Hypothese ist daher vage, kann aber durchaus plausibel sein (Philipp, 2013). So gesehen geht es im Abduktionsschluss um die Dechiffrierung von Zusammenhängen auf der Grundlage von erkennbaren Ergebnissen und möglichen Regeln, die deren Auftreten bewirkt haben oder bewirken könnten sowie um fallspezifische (Zu-)Ordnungen der Erklärungen (Sturm, 2006). Jürgen Habermas unterscheidet zwischen explanatorischer und innovativer Abduktion (Habermas, 1968). Bei beiden Formen wird aufgrund von Indizien spekuliert, allerdings bringt nur die innovatorische Abduktion neue Ideen in die wissenschaftliche Diskussion ein.

Abbildung 1.1

Drei Grundformen logischen Schließens an Beispielen illustriert (in Anlehnung an Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021)

 

Deduktion

Logischer Schluss

Induktion

Wahrscheinlicher Schluss

Abduktion

Spekulativer Schluss

 

… vom Allgemeinen zum Einzelfall

… vom Einzelfall zum Allgemeinen

… Spekulieren mithilfe von Indizien

Schritt 1

Regel

(Theoretische Aussage)

Finken von verschiedenen Nahrungsnischen weisen unterschiedliche Schnabelformen auf.

Fall

(Beobachtung)

Finken konnten in verschiedenen Nahrungsnischen beobachtet werden.

Ergebnis

(Empirische Aussage)

Finken mit unterschiedlichen Schnabelformen fressen verschiedene Nahrung.

Schritt 2

Fall

(Beobachtung)

Finken konnten in verschiedenen Nahrungsnischen beobachtet werden.

Ergebnis

(Empirische Aussage)

Finken mit unterschiedlichen Schnabelformen fressen verschiedene Nahrung.

Regel

(Theoretische Aussage)

Finken von verschiedenen Nahrungsnischen weisen unterschiedliche Schnabelformen auf.

Folgerung

Ergebnis

(Empirische Aussage)

Finken mit unterschiedlichen Schnabelformen fressen verschiedene Nahrung.

Regel

(Theoretische Aussage)

Finken von verschiedenen Nahrungsnischen weisen unterschiedliche Schnabelformen auf.

Fall

(Beobachtung)

Finken können vermutlich in verschiedenen Nahrungsnischen beobachtet werden.

Die drei in der Abbildung 1.1 beschriebenen Grundformen logischen Schließens sind eng miteinander verwoben. Sie zeigen, dass Erkenntnis nicht, wie vielfach aufgezeigt, im Sinne eines oszillierenden Prozesses zwischen Deduktion und Induktion entsteht, sondern dass es der Abduktion zur Einspeisung von Unbekanntem oder Nichtbegriffenem bedarf (Sturm, 2006). Dies gilt für das naturwissenschaftliche Handeln im Sinne von kausalorientierten Prozessen genauso wie für finalorientierte Prozesse im Rahmen des technischen Handelns. Allerdings reichen in den Technikwissenschaften für die Begründung technischer Praxis rein deskriptive Aussagen unter anderem in Form von Mathematisierungen funktionaler Zusammenhänge (vgl. Banse, 2013) sowie Erfahrungen technischer Machbarkeiten nicht mehr aus. Die Gewinnung neuer Erkenntnisse geschieht explorativ mittels technischer Messverfahren, aber auch experimenteller Methoden wie zum Beispiel der Materialbearbeitung oder der Prozessregulierung (Banse, 2013), etwa mithilfe von Simulation, Experiment und Test. Die Schlussweise ist in diesen Bereichen daher nicht mehr rein deduktiv, sondern abduktiv, das heißt, von Teileigenschaften wird auf das Zutreffen von Gesamteigenschaften geschlossen. Damit werden Funktionsvermutungen generiert, die dann geprüft werden müssen, denn die Vermutung ist nicht deduktiv sicher. Da es sich beim Wissen in diesem Bereich nicht um Kausalrelationen, sondern um konkrete Ziel-Mittel-Relationen handelt, ist dieses Wissen letztlich bedingt präskriptiv (vorschreibend) – also nicht mehr rein deskriptiv, sondern normativ, weil mit dem Ziel immer eine Wertung einhergeht.

1.4 Ziele und Zwecke praktischer Handlungen in der Naturwissenschafts- und Technikdidaktik aus Sicht der Erkenntnisgewinnung

Die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt 1.3 zeigen, dass das von Karl Popper (1934) prominent vertretene Widerlegbarkeits- oder Falsifizierbarkeitsprinzip nicht zu neuen Theorien führen kann, also keine Paradigmenwechsel zulässt, sondern nur bestehende Theorien modifiziert. Doch immer wieder werden und wurden, wie die eingangs beschriebenen Beispiele aufzeigen, neue naturwissenschaftliche Theorien entwickelt, die die bisherigen praktisch vollständig über Bord werfen ließen. Das naturwissenschaftliche Handeln besteht also nicht nur aus dem hypothesengeleiteten und prüfenden Erkenntnisprozess (Deduktion). Auch hypothesengenerierende Erkenntnisprozesse wie das induktive Verallgemeinern und das abduktive Explorieren gehören dazu. Hierbei bedarf es Intuition, Improvisation und Kreativität. Dies gilt auch für das technische Handeln, bei dem es neben der Erkenntnis um die Gestaltung und damit um Innovation geht (siehe Abschnitt 1.2).

Um den Bildungsauftrag für einen integrierenden Naturwissenschaftsunterricht einlösen zu können und die Kluft zwischen Forschung auf der einen Seite und Unterricht auf der anderen Seite zu überbrücken (vgl. Höttecke & Rieß, 2015), sollten die Schülerinnen und Schüler mit authentischen natur- und technikwissenschaftlichen Problemstellungen konfrontiert werden, um die entsprechenden Kompetenzen zur Einschätzung und Lösung solcher Probleme aufzubauen. Aus Sicht der Technikbildung definiert Gabriele Graube (2013) hierzu verschiedene didaktische Ansätze im Umgang mit der Komplexität solcher Problemstellungen und unterscheidet zwischen dem disziplinären, multidisziplinären und dem interdisziplinären Ansatz. Auch weist sie auf die didaktischen Grundfiguren der Erfinderinnen und Erfinder, der Entdeckerinnen und Entdecker sowie der Enttarnerinnen und Enttarner hin, so gesehen auf drei verschiedene Kompetenzbereiche (siehe Abschnitt 1.2). In Bezug auf die naturwissenschaftliche Bildung sind im Vergleich dazu in der deutschsprachigen Literatur zwei Modellierungsansätze zu finden, wobei der Problemtypenansatz das Experimentieren als integralen Problemlöseprozess im Sinne naturwissenschaftlichen Handelns auffasst. Diese zusammenfassenden Ausführungen verdeutlichen, dass für die technische wie auch für die naturwissenschaftliche Bildung Kompetenzmodelle existieren, dass bislang aber für die Sekundarstufe I ein fachdidaktisches Rahmenmodell für einen integrierenden Naturwissenschaftsunterricht, der das naturwissenschaftliche und technische Handeln gleichermaßen berücksichtigt, fehlt. Ein solches Modell zum Naturwissenschaftlich-Technischen Handeln (NTH-Modell) soll im nächsten Abschnitt 1.4.1 vorgestellt werden. Es ist im Sinne von Graube (2013) multidisziplinär angelegt, mit dem Ziel, eine Grundlage für die Konzeption praktischer Lernaufgaben zu bilden, mit denen die entsprechenden Kompetenzen im Bereich des naturwissenschaftlichen und technischen Handelns aufgebaut werden können.

1.4.1 Naturwissenschaftlich-Technisches Handeln als handelnde Auseinandersetzung mit der Natur

Das fachdidaktische Rahmenmodell zum Naturwissenschaftlichen-Technischen Handeln (NTH-Modell) stellt eine Synthese der Kompetenzmodellierungen des naturwissenschaftlichen und des technischen Handelns vor dem Hintergrund der verschiedenen Erkenntnisgewinnungsprozesse dar (siehe Abschnitt 1.3). Kern dieses Modells bilden praktische Frage- und Problemstellungen, die sich aus der beobachtbaren und manipulierbaren Natur erschließen und für deren Lösung es der handelnden Auseinandersetzung mit der Natur bedarf. Das sind zwei Aspekte, die sowohl für das naturwissenschaftliche wie auch für das technische Handeln von Bedeutung sind (siehe Abschnitte 1.1–1.2). Das NTH-Modell baut demgemäß auf einem breitgefassten Verständnis naturwissenschaftlichen Handelns im Sinne experimenteller Kompetenzen auf und bindet dabei das technische Handeln mit ein (siehe Abbildung 1.2).

Im Modell werden insgesamt vier verschiedene Modi der Erkenntnisgewinnung unterschieden, die für einen integrativen Naturwissenschaftsunterricht von Bedeutung sind. Um die vielfältigen praktischen Aktivitäten über die Disziplinen (Fächer) hinweg vergleichen zu können, sind pro Erkenntnismodus jeweils entsprechende praktische Problemtypen Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns differenziert, die die Möglichkeit eines Transfers auf unterschiedliche biologische, chemische oder physikalische Kontexte erlauben. Diese Problemtypen bilden die Grundlage für die Ausgestaltung praktischer Lernaufgaben, zu deren Lösung der Problemlöseprozess weiter strukturiert werden muss (vgl. Gut et al., 2014). Dies geschieht in Analogie zu den für das Experimentieren bekannten Teilprozessen wie der Hypothesenformulierung und -begründung, der Planung und Durchführung der Untersuchung sowie der Auswertung der Daten und Reflexion der Ergebnisse und Prozesse. Je nach Erkenntnismodus weichen die Teilprozesse jedoch voneinander ab. Das Naturwissenschaftlich-Technische Handeln im Sinne experimenteller Kompetenz wird dadurch im NTH-Rahmenmodell auf doppelte Weise modelliert: Einerseits als Problemorientierung auf der Basis der Modi der Erkenntnisgewinnung und andererseits als Prozessorientierung auf der Basis der Teilprozesse.

Abbildung 1.2

NTH-Rahmenmodell für das Naturwissenschaftlich-Technische Handeln (vier Modi der Erkenntnisgewinnung)

1.4.2 Modi der Erkenntnisgewinnung und Problemorientierung beim Naturwissenschaftlich-Technischen Handeln

Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse sind vielfältig, kontextabhängig und idiosynkratisch (Lederman et al., 2013; Hodson, 2014; siehe Abschnitt 1.3). Sie unterscheiden sich zum Teil erheblich und sind mit diversen Herausforderungen verbunden. Die praktische Durchführung eines kontrollierten Experiments zur Genese einer Theorie oder zur Überprüfung einer Hypothese konfrontiert Forschende üblicherweise mit einer Vielzahl von Problemstellungen, denn es muss nicht nur festgelegt werden, welche Beobachtungen und Messungen unter welchen Bedingungen durchgeführt werden, es müssen auch die Skalenniveaus der zu messenden Größen geklärt werden. Letztlich gilt es bereits während der Untersuchung Beobachtungen und Daten zu interpretieren, dabei Deutungs- und Messunsicherheiten zu erkennen und diese vor dem Hintergrund des Versuchsdesigns und der Messanordnung zu bewerten und auszuwerten (Gut & Mayer, 2018). So gesehen ergeben sich bei der Umsetzung, losgelöst von solch übergeordneten Fragestellungen, auch isolierte wiederkehrende Problemstellungen, die bewältigt werden müssen, wie beispielsweise das Entwickeln und Optimieren von Test- und Vergleichsprozeduren, das Beobachten und Beschreiben von Objekten und Situationen nach Kategorien, das nominale Vergleichen und Klassifizieren von Situationen und Prozessen nach Kriterien, das qualitative und quantitative Vergleichen von Objekteigenschaften oder das präzise Messen quantitativer Größen mit metrischen Skalen (ebd.). Zur Bewältigung dieser Problemstellungen helfen standardisierte naturwissenschaftliche Methoden im Sinne von Concepts of Evidence (Gott & Duggan, 1996; Ruiz-Primo & Shavelson, 1996; Roberts & Gott, 2003) wie die Messwiederholung oder die Extrapolation von Messergebnissen. Zwar werden die Probleme mit der Anwendung solcher Methoden nicht gelöst, da die Anwendbarkeit dieser Methoden stets nicht verifizierte oder nicht verifizierbare Annahmen über den zu untersuchenden Naturausschnitt voraussetzt. Diese Methoden erfüllen jedoch den erkenntnistheoretischen Zweck, Erkenntnisse über die Natur zu ermöglichen und gegenüber der Scientific Community zu rechtfertigen.

Für die handelnde Auseinandersetzung mit der Natur im Unterricht werden daher Methoden benötigt, die über das «Experimentieren» im Sinne des Arbeitens mit kontrollierten Versuchsanordnungen zur Rechtfertigung von Erkenntnissen hinausgehen. In der Biologie sind dies beispielsweise das gezielte Beobachten und Vergleichen (Wellnitz & Mayer, 2016), zwei Methoden, mit denen Erkenntnisse entdeckt beziehungsweise Fakten generiert werden. Für die Chemie sind demgegenüber auch verfahrensbasierten Tests wesentlich, also identifizierende Verfahren zur Gewinnung von Fakten (Emden & Sumfleth, 2012). In der Physik spielt unter anderem das technisch-konstruktive Herstellen einer Messvorrichtung eine Rolle, wodurch Handlungsoptionen geschaffen werden (Schreiber, Theyßen & Schecker, 2014). Je nach Methode stehen somit unterschiedliche Probleme im Fokus, deren Lösung zu unterschiedlichen Modi der Erkenntnisgewinnung führt. Im NTH-Modell wird demnach die Problemorientierung auf der Basis der Erkenntnisgewinnung mit insgesamt vier Modi modelliert: «Erkenntnisse rechtfertigen», «Erkenntnisse entdecken», «Faktenwissen generieren» und «Handlungsoptionen entwickeln». Bei den ersten drei Modi handelt es sich mehrheitlich um kausalorientierte Prozesse, während der vierte Modus «Handlungsoptionen entwickeln» in Anlehnung an das technische Handeln finalorientierte Prozesse berücksichtigt. Zu jedem dieser Modi sind jeweils verschiedene Problemtypen beschrieben, auf deren Basis entsprechende Lernaufgaben entwickelt werden können (siehe Kapitel 3).

Erkenntnisse entdecken – induktive, abduktive Erkenntnismethode

Der Fokus dieses Modus der Erkenntnisgewinnung ist das Entdecken von Erkenntnissen mithilfe der Induktion und/oder Abduktion (siehe Abbildung 1.3