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Natürlich weiß der 32-jährige Illustrator Alwin, dass der Jahrmarkt in der Stadt ist. Doch er versteht einfach nicht, warum niemandem außer ihm die bezaubernde junge Frau in dem bodenlangen Kleid aufzufallen scheint, die bereits seit Wochen sein Lieblingscafé besucht. Dabei sieht sie doch aus, als wäre sie aus der Zeit gefallen. Sie bestellt nie etwas, sitzt nur da und liest stumm in ihren Büchern. Als Alwin seine Neugierde nicht mehr aushalten kann, fasst er sich ein Herz und spricht sie an. Die junge Frau ist zutiefst geschockt und zu Tränen gerührt, dass er sie überhaupt bemerkt hat. Sie verrät ihm ihren Namen und erzählt ihre Geschichte - eine unglaubliche Geschichte von einem Spiegelkabinett, das sie 1932 besucht hat und in dem sie verloren gegangen ist. Während Alwin ihr zuhört kommen ihm immer mehr Fragen ... Warum ist Nell immer noch hier? Warum ist sie immer noch so jung? Und warum ist er seit beinahe 100 Jahren der erste Mensch, der sie sehen kann?
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Seitenzahl: 170
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Tobias Heuer
Nell
Roman
© 2024 Tobias Heuer
Umschlag, Illustration: Semnitz™
Lektorat, Korrektorat: Tobias Heuer
Druck und Distribution im Auftrag von Tobias Heuer:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-384-37450-9
Hardcover
978-3-384-37451-6
e-Book
978-3-384-37452-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Tobias Heuer verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Tobias Heuer, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Für meine Frau Melanie, danke für alles.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Erstes Jahr
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Zweites Jahr
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Epilog
Nachwort
Danksagung
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Titelblatt
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Prolog
Danksagung
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Prolog
Nell verlor sich. In sich selbst.
Sie war überall zugleich, es gab so viele von ihr.
Wo der Ausgang war, der Weg aus diesem funkelnden Kabinett, interessierte sie nicht mehr - heute nicht. Sie war bewusst allein gekommen und so spät am Abend wie möglich. Damit sie ungestört sein würde.
Ihre Freundinnen schliefen sicherlich schon lange in ihren Betten, nur sie war ausgegangen und hatte sich ein letztes Ticket gekauft.
Gemeinsam hatten sie diese unwirkliche Welt bereits oft genug bestaunt. Vorgestern hatten sie sogar Nells 20. Geburtstag hier gefeiert.
Doch heute wollte sie mit sich allein sein.
Schon morgen würden die Schausteller ihre Attraktionen abbauen, alles zusammenpacken und der Jahrmarkt würde weiterziehen. In die nächste Stadt.
Am liebsten würde Nell ihm nachreisen. Doch das ging nicht.
Schon ihre Eltern würden es nie erlauben.
Verträumt stolzierte sie durch die Gänge und fuhr mit den Fingern über die glatten Oberflächen, die nur sie selbst zeigten. Aus allen Winkeln, von allen Seiten.
Abwechselnd bog sie rechts und wieder links ab. Das eine Mal lächelte sie sich verführerisch an, nach einer anderen Abzweigung tat sie überrascht, sich hier zu treffen. Du? Hier? Sie nahm aufreizende Posen ein und begann irgendwann durch die engen Flure zu tanzen, die doch unendlich waren. Ihr langer Rock wirbelte und sie lachte voller Glück.
Noch nie hatte sie sich so wunderschön gefunden.
Sie war überall, jeder Blick war von ihrem Abbild erfüllt. So ging sie um die nächste Ecke, die auch eine Wand hätte sein können und verlor sich immer weiter. Immer tiefer.
Den Rückweg würde sie nicht mehr rechtzeitig finden können - dafür war es bereits zu spät.
Noch bemerkte sie es nicht.
Als die Uhr Mitternacht schlug und die letzten Gäste das Festgelände verließen, in ihren eleganten Kleidern und robusten Anzügen, erloschen immer mehr der bunten Glühbirnen und Dunkelheit breitete sich aus.
Auch der Besitzer des Irrgartens schloss seine Kasse. Und die Türen.
Die junge Frau, die das letzte Ticket gekauft hatte, war zu abgelenkt, um es zu bemerken. Zu abgelenkt von ihrer Schönheit. Von ihrer Jugendlichkeit.
Sie sah nur sich selbst.
Am nächsten Morgen wurden die Stände abgebaut, im blassen Nebel eines kühlen Herbststages. Und damit war die Saison des Jahres 1932 vorbei.
Rauchende Arbeiter bauten die beiden Karussells, die Geisterbahn, sowie die hölzernen Stände, das Riesenrad und auch das Spiegellabyrinth ab.
Und die Lastwagen fuhren weiter. Pflichtbewusst. In die nächste Stadt.
Und Nell fuhr mit. Ohne es zu bemerken.
So tief hatte sie sich in sich verirrt, dass sie eins mit ihrem Spiegelbild geworden war.
Und so ging sie verloren. Wurde vergessen.
Im Raum.
Und in der Zeit …
Erstes Jahr
1
»Kommt, los!«, rief Zoe, während sie den anderen voran zur Kasse des in die Jahre gekommenen Spiegelkabinetts lief. »Hier können wir Content für Insta machen. Hab' schon ne' Idee, wird voll sick!«
Leonie und Hannah folgten ihr begeistert und zückten ihre Smartphones, die sie Revolvern gleich immer griffbereit hatten.
Weil Zoe nicht auf ihre Umgebung achtete, rempelte sie einen jungen Familienvater an, der gerade seinen Sohn auf den Arm genommen hatte.
»Hey, pass doch auf«, beschwerte er sich empört.
»War nicht mit Absicht, tut ihr voll leid«, entschuldigten die beiden Nachzügler das ungestüme Verhalten ihrer Freundin.
»Ja sorry, hab' euch nicht gesehen«, pflichtete ihnen Zoe nach hinten gewandt bei, während sie nach Kleingeld für das Ticket suchte.
Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf und ging mit seiner Frau weiter.
Heute war ein wirklich herrlicher Spätsommertag. Das Thermometer hatte sich noch einmal dazu überreden lassen, die 30-Grad-Marke zu überschreiten und nur wenige hauchzarte Schleierwolken dekorierten den Himmel, als wäre er eine festliche Tafel.
Als Zoe bereits zum Eingang hüpfte, kauften sich Leonie und Hannah ebenfalls eine Eintrittskarte und fluchten, weil keine Kartenzahlung möglich war.
»So n' Saftladen«, schimpfte Leonie.
Der Kassierer zog seine buschigen, grauen Augenbrauen hoch, die sogar noch älter zu sein schienen als er selbst.
»Echt mal«, pflichtete Hannah ihr bei.
»Hier is' halt alles Oldschool, hab' ich doch gesagt. Jetzt beeilt euch!«, rief Zoe und winkte sie so hastig herbei, dass ihr bunt gemustertes, kurzes Kleidchen nahezu vibrierte.
Mürrisch bezahlten die beiden den Eintritt.
Mit Bargeld.
»Wir kommen ja schon«, antwortete Hannah gehetzt, packte ihr Portemonnaie ein und lief zu ihrer Freundin. »Willst du dein Make-up nochmal auffrischen, bevor wir anfangen? Spiegel gibt es hier ja genug.«
»Nein, passt schon«, wiegelte Zoe ab, fuhr mit den Händen durch ihre blonden Haare und legte sich die wichtigsten Strähnen zurecht. »Bereit?«
Leonie kam ebenfalls an ihre Seite und wischte wie wild auf ihrem iPhone umher. Derweil klickte Hannah ihr Samsung auf einen Selfiestick, den sie wie ein Maschinengewehr auf dem Rücken getragen hatte, und zog ihn in die Länge.
»Filter dramatisch?«, fragte Hannah.
»Auf jeden«, bestätigte Zoe, »und spielt mit den Perspektiven. Wir schneiden das Video nachher so, dass es auch wie ein Spiegellabyrinth aussieht - voll verwirrend. Was ich nicht draufhaben will, kann die KI nachher rausschneiden. Euch beide zum Beispiel.«
»Nice, dann los. Du zuerst«, überging Hannah die Taktlosigkeit ihrer Anführerin und nickte Leonie zu.
»Ja, gerade sind wir voll allein«, stimmte sie zu. Leichtsinnigerweise ging sie rückwärts in den ersten Gang - ohne wissen zu können, wo er endete. Ihr Handy hielt sie dabei auf Zoe gerichtet, die ihr mit geschürzten Lippen folgte, als liefe sie auf einem Laufsteg. Hannah folgte ihnen mit etwas Abstand und filmte mit der ausziehbaren Teleskopstange von oben.
Untermalt wurde der Catwalk von einer Musik, die von einem psychedelischen, orientalisch anmutenden Zupfinstrument gespielt wurde.
»Fuck«, rief Leonie, als sie bereits nach wenigen Metern mit dem Rücken gegen eine der Glasflächen stieß.
Zoe lachte nur schrill und bog nach rechts ab.
Hannah wollte ihr folgen, doch weil sie eine Abzweigung zu früh nahm, verlor sie ihr Motiv aus den Augen und filmte stattdessen auf einmal sich selbst. Irritiert berührte sie die Reflektion der Fingerspitzen ihrer eigenen linken Hand.
Die Spiegel, die Fenster und die kunstvoll geschnitzten Stützen, zwischen denen sie standen, waren in Dreiecken positioniert. So führten die täuschenden Flächen das auf die wenigen, dazwischenliegenden Wände gemalte Heckenlabyrinth in die Ewigkeit fort. Blickwinkel überlappten und Entfernungen betrogen sich gegenseitig. Mittlerweile war das Labyrinth zwar beinahe so groß wie eine kleine, mehrstöckige Villa, doch durch diese Effekte wirkte es nochmal ungleich größer.
Während die Mädchen durch die Gänge irrten und dabei viel weniger Spaß zu haben schienen, als sie sich vorgenommen hatten, wurde jede ihrer Bewegungen fasziniert beobachtet.
Was trieben die drei da nur?
Auch wenn Nell sich mithilfe von Büchern bereits oft über die moderne Technik informiert hatte, verstand sie kein Stück, was sie taten.
Es war ihr ein Rätsel.
»Zoe, wo bist du?«, rief Leonie schallend, während sie sich vorsichtig vorantastete.
»Hier drüben, Maus«, rief die Hauptdarstellerin aus dem Off. »Warte, ich seh' dich!«
»Toll, aber ich dich nicht«, antwortete ihre Freundin im selben Moment, als sie beinahe mit Hannah zusammenstieß.
Überraschenderweise war sie dort aufgetaucht, wo vor einer Sekunde noch ihr eigenes Spiegelbild gewesen war.
Kurz filmten sich die beiden gegenseitig, die eine die andere von vorn und die andere die eine von oben. Dann gingen sie weiter und verloren sich wieder aus den Augen.
»Zoe, das funktioniert so nicht. Bisher habe ich dich kaum drauf - aua!«, mit einem dumpfen Knall lief Hannah gegen eine Glasscheibe, die vorgegeben hatte, keine zu sein.
»Ich auch nicht«, rief Leonie von links.
Genervt nahm Hannah ihr Telefon aus dem Selfiestick und benutzte ihn fortan als Blindenstock. Leise klappernd tastete sie sich voran.
Die einsame Zoe blieb stehen und erspähte eine Leonie, die augenscheinlich in ihre Richtung sah. Doch war sie viel weiter von ihr entfernt, als es die beengte Räumlichkeit überhaupt hergeben dürfte. Also streckte Zoe die Hand aus und berührte eine schräge Fläche, die den Raum multipliziert und ihrer Wahrnehmung einen Streich gespielt hatte.
Fast im selben Moment tippte ihr die echte Leonie auf die Schulter und Zoe zuckte zusammen.
»Das kann einem fast Angst machen, oder?«, fragte sie ihre Freundin. »Ist gar nicht so funny, wie ich dachte.«
»Finde ich auch nicht«, erwiderte Zoe leicht besorgt. »Hast du Hannah gesehen?«
»Schon ziemlich oft, ja«, witzelte Leonie und schmunzelte. »Lass sie gemeinsam suchen. Ich gehe vor und du hältst dich an mir fest, ok? Gemeinsam schaffen wir es hier raus, scheiß auf das Video.«
Sie reichte Zoe ihre Hand und gemeinsam gingen sie weiter.
Als Nell das sah, wurde sie neidisch. Und traurig.
Wie dumm es damals von ihr gewesen war, allein zu gehen.
Warum war sie nur so egoistisch gewesen?
»Hannah!?«, rief Leonie, die ihre Hand jetzt wie einen Schild vor sich hielt, während sie Zoe hinter sich herzog. »Komm, da lang.«
»Hier!«, rief Hannah, ihre Stimme weit entfernt.
»Bleibt stehen, ich komme zu euch.«
Urplötzlich kam sie von rechts und verschwand hinter einer Säule, nur um sich nahtlos wieder nach rechts aus ihrem Sichtfeld herauszubewegen - so, als wäre sie umgekehrt, ohne dafür umdrehen zu müssen. Die beiden Freundinnen blieben stehen und sahen sich ratlos an.
Nur eine Sekunde später erschien Hannah gleich an zwei Stellen, aus zwei verschiedenen Perspektiven. Der Blindenstock baumelte mutlos an ihrer Seite, während sie ihren Blick wandern lies.
»Da ist sie«, rief Leonie triumphierend, die nur eine der beiden Versionen ihrer Freundin sah.
»Nein, hier«, korrigierte Zoe und begann Leonie in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen, als Hannah einen Schritt nach vorne machte. Und gleich zweimal verschwand.
»Hier lang«, jetzt übernahm Zoe die Führung.
»Wir suchen einfach den Ausgang, das wird Hannah auch machen.«
Von diesem Punkt an suchten die Verbündeten systematisch. Zwar irrten sie immer wieder und fingen von vorne an, doch irgendwann fanden sie eine Spur und folgten ihr.
Sie stolperten auf im Boden eingelassenen Drehtellern, traten mit ihren Beinen in Fallgruben und balancierten auf Wippen, die wehleidig quietschten. Als sie weiterkamen, wurden sie von manchen Spiegeln kleiner gezeigt, von anderen größer. Mal waren sie fülliger, das andere Mal nur ein Strich. Ihre Reflektionen waren verwirrt und amüsiert, manchmal wütend. Sie lachten und halfen sich, bewahrten sich davor, den gleichen Weg mehrmals einzuschlagen und hatten den Grund schon lange vergessen, warum sie hier waren. Sie warnten und neckten sich, kicherten und hielten zusammen. Und waren plötzlich draußen.
Genauso unerwartet, wie sie von ihm verschluckt worden waren, wurden sie von dem Irrgarten ausgespuckt und trafen Hannah, die vor der verrückten Anlage stand und ihr Handy nach brauchbarem Material durchsuchte.
Nur kurz schaute sie auf.
»Ihr habt aber lange gebraucht«, sagte sie gedankenverloren, »ich stehe bestimmt schon zehn Minuten hier.«
»Jetzt übertreibst du aber, niemals«, widersprach ihr Leonie.
»Vielleicht auch nicht … man verliert ein bisschen das Zeitgefühl da drin.«
»Voll, oder?«, reagierte Zoe empört.
»Also, mein Video is' lame. Hast du was?«, fragte Hannah an Leonie gerichtet.
Die tauchte in ihren elektronischen Taschenspiegel ein, schüttelte nach einer Weile jedoch den Kopf.
»Nich' wirklich«, offenbarte sie enttäuscht, »das meiste ist verwackelt.«
»Bei mir auch«, bestätigte die andere Kamerafrau. Die drei sahen sich frustriert an.
»Wollen wir einfach ne' Currywurst essen gehen? Ich hab' Hunger«, klagte Zoe. »Wir überlegen uns was anderes für den Kanal.«
»Bin dabei«, willigte Hannah ein.
»Ich auch«, sagte Leonie.
Sie nickten sich zu und verstauten sorgsam ihr Equipment, während sich die anderen Gäste des Jahrmarkts an ihnen vorbeischoben.
Zoe sah noch einmal zum Labyrinth zurück, das jetzt deutlich bedrohlicher wirkte als vor ihrem Besuch. Sie wirkte nachdenklich. Es hatte nicht viel gefehlt und sie hätte sich eben in den Gängen hingehockt und um Hilfe gerufen.
Es war beängstigend gewesen. Beklemmend.
Als hätte dieses verwirrende Haus ein Eigenleben. Als wären sie von den Spiegeln hineingezogen worden.
Irritiert schüttelte sie den Kopf und vertrieb die Gedanken.
»Wollen wir?«, fragte sie die anderen.
»Ja, los«, antwortete Hannah.
Zusammen brachen die drei Freundinnen auf und zogen weiter zu den Ständen.
So wie Unzählige vor ihnen.
Dass ihnen jemand wehmütig hinterhersah, bemerkten sie nicht.
Wieso auch?
Das war vorhersehbar gewesen. Wieso sollte es bei ihnen anders sein?
Als sie von der Menge verschluckt wurden und außer Sichtweite waren, wandte sich Nell enttäuscht ab.
Es hatte ohnehin keinen Zweck, das hatte sie vor langer Zeit akzeptieren müssen.
Mit gesenktem Kopf ging sie einen Schritt nach rechts.
Und verschwand.
*
Alwin kehrte mit der nächsten Tasse Kaffee an seinen Platz zurück und ging näher an ihrem Stuhl vorbei, als er musste.
Was sie las, konnte er in der kurzen Zeit nicht erkennen, doch ihr Parfum war angenehm blumig und reizvoll. Verlockend.
Seit zwei Wochen kam sie jetzt hierher. In sein Lieblingscafé. Und niemand schien Notiz von ihr zu nehmen.
Jeden Tag betrat sie die Bühne auf dieselbe Weise: Sie kam eine halbe Stunde, nachdem der Laden geöffnet hatte, als Alwin bereits in seiner Arbeit vertieft war - nur mit einem Buch in der Hand. Sie bestellte nichts und setzte sich an den runden Tisch am Fenster, ihm und dem Raum zu-, der Stadt abgewandt. Würdevoll schlug sie die Beine übereinander, sodass der Saum ihres beinahe bodenlangen grünen Kleides ihre zierlichen Fesseln freilegte. An den Füßen trug sie elegante braune Schnürschuhe mit kleinem Absatz. Sie sah sich um, als gehörte sie nicht hierher, straffte ihre Schultern, lehnte sich zurück und begann zu lesen. Nur hin und wieder strich sie sich eine Strähne ihrer rehbraunen Haare hinters Ohr. Den restlichen Tag bestellte sie ebenfalls nichts. Und suchte nicht einmal die Toilette auf.
Niemand schien sich daran zu stören, niemandem schien sie aufzufallen.
Niemandem außer ihm. So saß sie da, Tag für Tag.
Außer es regnete. Dann blieb sie fort.
Sie schien immer dieselbe zu sein. Als wäre sie eine alte Fotografie, ein verblichener Abzug. Als säße sie schon immer hier. Ihr Anblick war alles andere als gewöhnlich, dabei jedoch erstaunlich schlüssig. Geradezu unwiderlegbar.
Alwin fand sie hinreißend.
Nachdem er sich erneut ermahnt hatte, sie nicht anzustarren, nippte er an dem kochend heißen Filterkaffee und widmete sich wieder seinem Tablet.
Zumindest augenscheinlich.
Eigentlich hätten vorbeigehende böse Zungen ihre Kleidung längst unmodern nennen müssen, altmodisch. Weird. Eigentlich hätte man irgendwann mit dem Finger auf sie zeigen und sie auslachen, das Smartphone auf sie richten oder sie zumindest darauf ansprechen müssen, warum sie jeden Tag so aussah, als wäre sie auf dem Weg zu einer Kostümparty.
Doch nichts dergleichen war geschehen. Stattdessen wurde sie einfach ignoriert. Mehr als das, für andere schien sie schlicht nicht zu existieren. Als wäre sie Luft - ein nostalgisches Gespenst, dass mit der Zeit verstecken spielte.
Niemand sah sie an. Niemand entschuldigte sich bei ihr, wenn er sie aus Versehen anrempelte oder fragte sie gar, ob sie den zweiten Stuhl an ihrem Tisch brauchte, ob sie auf jemanden wartete, sondern nahm ihn einfach.
Dabei sah sie doch aus, als würde sie schon Ewigkeiten auf etwas warten. Auf etwas, das nie eingetreten war. Oder auf jemanden, der sie versetzt hatte.
Ging ihre sonderbare Erscheinung nur deshalb unter, weil alle Gäste permanent auf ihre Smartphones starrten und nicht wirklich hinsahen? Oder hatte Alwin etwas verpasst?
Warum schien sie eine Ausgestoßene zu sein?
Er blickte wieder auf, nahm den nächsten Schluck und lehnte sich zurück.
Obwohl er nur wenige Meter von ihr entfernt saß und sie bereits mehrere Male die einzigen Gäste im Café gewesen waren, hatte sie noch nie zu ihm herüber-, geschweige denn ihn angesehen.
Dafür schien sie viel zu sehr in die Bücher vertieft. Gebannt verfolgten ihre Augen die Zeilen. Ihr Mienenspiel war dabei so wach und lebendig, als wäre sie Teil der Geschichte, als würde sie jede Wendung am eigenen Leib erfahren. Sie staunte, konnte es nicht glauben und schien zutiefst verletzt. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, weil sie so lachen musste, presste mal gefesselt die Lippen, mal skeptisch die Augen zusammen, sie schien den Tränen nahe, schüttelte verzweifelt den Kopf und weinte, bis sie sich eine Serviette holen musste.
Noch nie hatte Alwin etwas derart Spannendes und Berührendes gesehen. Es war ein Schauspiel ohne Publikum, eine Vorstellung bei geschlossenem Vorhang.
Oft hatte er sich in den vergangenen Tagen gefragt, ob er sie ansprechen sollte. Auch, weil sie ihn ablenkte. Seit ihr Antlitz seinen Arbeitsalltag versüßte, war er zwar kreativer, schaffte jedoch lange nicht mehr so viele Projekte wie zuvor.
Doch auch wenn er nicht gerade schüchtern war, hielt ihn etwas an ihr davon ab. Etwas, für das er nur Worte fand, die auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Charaktereigenschaften standen. Diese Frau mit dem seltsamen Stilempfinden wirkte verwundbar und weich, dabei jedoch nicht schwach - ihre Berührbarkeit schüchterte ihn ein.
Trotzdem musste er etwas tun, so konnte das nicht weitergehen. Das Philosophieren darüber, wer sie war und warum sie sich so kleidete, fraß bei Weitem zu viel seiner Kapazität.
Doch wie würde er es angehen?
Er sah sich um.
Zurzeit war es nicht sehr voll im Laden, die Angestellten unterhielten sich angeregt hinter dem Tresen.
Sie würden ihm bestimmt helfen können. Kurzerhand stand er auf und ging zur Kasse. Damit niemand seine Entwürfe sehen konnte, schaltete er das iPad vorher aus. Vor drei Wochen hatte er den erneuten Auftrag bekommen, das Konzept eines Brettspiels zu entwerfen - Spielfläche, Anleitung und Figuren. Seit März war es schon das dritte Projekt dieser Art.
»Na, Mittagspause?«, fragte die blonde Bedienung und sah ihn erwartungsvoll an. »Was darf's heute sein? Wieder eine Bowl?«
»Nein, noch nicht«, winkte Alwin ab und flüsterte, »aber könntest du mir einen Gefallen tun? Kannst du der jungen Frau dort am Fenster, einen Latte-Macchiato bringen? Auf meine Rechnung? Mit … normaler Milch?«