Neongrau - Aiki Mira - E-Book

Neongrau E-Book

Aiki Mira

0,0

Beschreibung

Wer beherrscht das Spiel, das sich Leben nennt, und wer ist nur Spielfigur?

  • Near-Future-SciFi trifft Entwicklungsroman
  • LGBTQIA+
  • über VR-Gaming im ganz großen Stil, KIs, Freundschaft und die Suche nach sich selbst

Hamburg im Jahr 2112: Die Stadt wird immer wieder von Starkregen geflutet, im Binnendelta hat sich ein Slum aus schwimmenden Containern gebildet und über allem thront das gigantische Stadion. Zum "Turnier der Legenden" reisen Fans aus der ganzen Welt an, um die berühmten Glam-Gamer spielen zu sehen. Auch Go [Stuntboi] Kazumi begeistert sich für das VR-Gaming, fährt jedoch noch lieber Stunts auf dem Retro-Skateboard.
Ein Sturz scheint das Aus für Gos Karriere zu bedeuten, doch dann wird Go ein Job im Stadion angeboten – bei den Rahmani-Geschwistern, den berühmtesten Gamern Deutschlands! Von da an überschlagen sich die Ereignisse und Gos Welt wird komplett auf den Kopf gestellt: ein Bombenanschlag, illegale Flasharenen, Tech-Aktivisten, Cyberdrogen, künstliche Intelligenzen – und dann ist da auch noch dieses Mädchen ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 593

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



AIKI MIRA

NEONGRAU

GAME OVER IM NEUROSUBSTRAT

© 2023 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2023

Autorx: Aiki Mira

Lektorat: Sandra Bollenbacher

Copy-Editing: Irina Sehling, www.textodrom.de

Satz: inpunkt[w]o, Haiger, www.inpunktwo.de

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

ISBN:

Print978-3-949345-28-9

PDF978-3-949345-29-6

ePub978-3-949345-30-2

mobi978-3-949345-31-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Für Kiril und Fritz,und für die große, bunte Familie

INHALT

Sturz

Floxi

SUKU

Zusage

Mantra

Namen

Boss-Endgegner

Stadion

EPOS

D. A. R.

Flasharena

Notruf

Geheimmeeting

Nachbar

Im Griff

Sexbot-Menschen

Game over

Ausnahme

Überdosis

Tech-Patriarchen

Terror

Q

Wut

Netz

Ehrenwort

Flugkurve

gg

Darknet

Bunker

Code-Betrug

Auftritt

Realtreffen

Standbild

Alter Ego

Satelliten

Verschwunden

Hinter dem Spiegel

Kampfbereit

Geschenk

Rückholung

Spur

Elixier

Ratte

Spion

Lüge

Instinkt

Kein Unfall

Ruderboot

Normal

Malware

Magistix

Mutter

Meteor

Metamorphose

Kisten

Ereignis

Abschiebung

Supratoxin

Stimmen

Hinterhalt

Etwas Lebendiges

Glitch

Freund

Feuerbestattung

Fehler

Brettspiel

Spezialmischung

Störsignale

Vorhersage

Vater

Verbindung

Hand in Hand

Ohne Ticket

Haarklammer

Geolink

Helden

Familie

FTW

Finale

FFA

Ewigkeit

Zukunft

Hallo

Glossar

Content Notes und Tags

Danksagung

Über Aiki Mira

STURZ

Knochen knacken, verdrehen sich, biegen sich. Straßenbelag frisst sich durch halb geöffnete Lippen, schiebt sich zwischen die Zähne, will weiter in den Kopf. Mit der Wucht des Aufpralls scheint sich die gesamte Welt gegen Stuntboi zu drücken.

ELLL, ein muskulöses Mädchen mit Raubtierzähnen und halbseitig rasierten Locken, hat alles mitangesehen, steht nur wenige Meter entfernt und wartet auf die nächste Regieanweisung. Hätte sie …? Was, wenn …? Nervös dreht sie den Kopf, hält Ausschau nach dem weggeschleuderten Brett. Das liegt auf dem Asphalt, scheinbar intakt, alle vier Rollen zeigen nach oben. Wie nannte Stuntboi das Ding? Sie hat es vergessen. Egal. Es gehört sowieso ins Museum und nicht auf die Straße. Niemand fährt mehr damit – außer Stuntboi, und der macht das ziemlich gut.

Eine Drohne schwirrt herbei, fokussiert den am Boden liegenden Stuntboi, filmt seine seltsam gebogenen Gliedmaßen – oder betrachtet sie bloß die endgültige Schönheit des Stunts?

»Wir haben die Aufnahmen. Wir brauchen den Jungen nicht mehr.«

Die körperlose Stimme des Regisseurs klingt zugleich blechern und fröhlich. Das ist meine Chance, denkt ELLL. Sie macht einen Schritt nach vorne, schaut hoch zur Drohne. Beim Sprechen zeigt sie schiefgewachsene Vorderzähne. »Ich kann ihn zum nächsten Medimat bringen.«

»Dann brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen. Und vom Lohn bekommst du nur die Hälfte.«

ELLL zuckt mit den Schultern. Wegen des jämmerlichen Lohns ist sie nicht hier. Ihre Auftraggeberin soll zufrieden sein, das ist alles, was zählt.

Erleichtert stellt sie fest: Stuntboi atmet noch. Sein Körper ist schwerer, als er aussieht. Sie braucht mehrere Anläufe, um ihn vom Bauch auf den Rücken zu drehen. Nase, Wangen und Mund sind beklebt mit Schottersteinchen und Blut. In den Schürfwunden glänzt es wie Wachs. Aus den Nasenlöchern schlängelt es sich in grellroten Fäden, gräbt Tunnel ins Make-up. Die darunterliegende Haut ist an manchen Stellen dunkler als an anderen. Ihr Glanz erinnert ELLL an die Panzer ausgestorbener Käfer, die sie als Exponate im Museum bewundert hat. »Stellt euch bloß vor«, hatte die KI die Ausstellung eröffnet, »vor dem großen Insektensterben lebten Menschen in einer Welt mit umherfliegenden Edelsteinen!« Nach dem Museumsbesuch litt ELLL tagelang an Magenschmerzen, weil sie chronische Angst vor dem Untergang des Planeten hat, was seit 2017 eine anerkannte psychische Störung ist.

Sie zerrt an Stuntbois Perücke, muss fest zupacken, denn die falschen Haare sind mit Klebstoff am Schädel fixiert. Darunter ist die Haut rasiert. Nur oben in der Mitte thront ein kunstvolles Gebilde aus eng am Kopf geflochtenen Zöpfen.

Endlich öffnet er die Augen. »Wo ist mein Board?«

ELLL versteht nicht, bis er zur anderen Seite zeigt. Ach, das Stück Plastik, auf dem er seine Tricks macht. Sie steht auf und holt es. Er kann es kaum erwarten, das Brett in die Hand zu bekommen. Als wäre es zerbrechlich oder gar wertvoll, wiegt er es in den Armen, schaut es sich genau an – inspiziert es! –, entdeckt die Steinchen im Gummi …

ELLL zieht den Atem ein.

Mit spitzen Fingern zupft er Steinchen für Steinchen aus der Rolle, wirft sie zur Seite. Dann schaut er lächelnd zu ihr hoch. »No Wahala – alles gut.«

ELLL atmet hörbar aus. Offenbar schöpft er keinen Verdacht, scheint einfach nur froh zu sein, dass mit dem Brett alles in Ordnung ist. Sie zieht ihr VR-Kostüm über den Kopf. Ein altes Shirt und weite Cargo-Hosen kommen zum Vorschein. Als Nächstes öffnet sie die komplizierten Schnallen der zwanzig Zentimeter hohen Tanzschuhe, wirft sie beiseite und schlüpft in ihre ausgetretenen Stiefel. Echte Bundeswehrstiefel, vintage, aus den 2070ern mit eingebautem Hitzeschutz.

Dann packt sie seine Hand, hilft ihm auf die Beine. Er zieht seine Hand zurück. Sie greift wieder danach, zerrt sie bis hoch auf ihre Schulter, legt seinen Arm um ihren Hals, um ihn besser stützen zu können.

Er hinkt, als sie loslaufen. Über ihnen ragt das Viadukt in den Himmel. Auf der Stahlkonstruktion rattert im Minutentakt die Hochgeschwindigkeitsbahn und bringt den alten Stahl zum Singen. Im Kopf komponiert ELLL daraus ein Lied, das nur sie allein hören kann. Die interaktiven Poster, die an den Brückenpfeilern des Viadukts kleben, scheinen passend dazu im Takt zu blinken.

Sie zeigt darauf. »Das Turnier der Legenden. Seit Wochen steht die Stadt deswegen Kopf.«

Er reagiert nicht, schaut nicht mal hoch. ELLL weiß, nicht jeder kommt mit ihrem Gesicht zurecht. Also redet sie weiter. »Überall Gamer. Überall Fans. Aus der ganzen Welt reisen sie an, schlagen ihr Lager vor dem Stadion auf, wollen einen Blick auf die Besten der Besten werfen.«

Endlich hebt er den Kopf, runzelt die Stirn. »Jemand hat die Signatur von SUKU übers Plakat gesprayt.« Er meint das Gesicht mit dem doppelten Lächeln – das Zeichen der Tech-Aktivisten. ELLL zuckt mit den Schultern, ist einfach nur froh, dass er etwas sagt. »Ist doch ein ziemlich guter Ort für ein Graffiti. Die Brückenpfeiler tauchen in jedem Stuntvideo oder Touristenfoto auf.«

Daneben, darüber und darunter leuchten die letzten Hochwassermarkierungen der Stadt. ELLLs Schritte werden unmerklich schneller. Sie fürchtet sich vor der Flut.

Bei Hochwasser organisiert die Stadt geführte Tauchgänge für Neugierige und Abenteuerlustige. Einmal entlang der Jugendstilfassaden und dabei einen Blick in die Beletagen des vorletzten Jahrhunderts werfen. Selbst wenn ELLL das Geld dafür hätte, würde sie bei so etwas nicht mitmachen. Im kargen Blank – dem überfluteten Elbvorort, in dem sie aufgewachsen ist und lebt – wimmelt es im Wasser von beißwütigen Ratten. Da steigt niemand freiwillig rein. Sie will so schnell wie möglich dort weg. Dafür muss sie den Auftrag erfüllen. Erst danach kann sie fort – weit fort: in die BlaZe.

Von der andauernden Nässe wächst auf dem Asphalt eine fünf Zentimeter dicke Schicht aus schwarzem, blasenschlagendem Schleim. Weil Stuntbois verletztes Bein regelmäßig darauf einknickt, sieht es aus, als ob er torkeln würde. Selbst für ELLLs Bundeswehrstiefel ist das zu glatt. An der Bahnstation warnen verrostete Schilder vor der nächsten Sturmflut. Wäre nicht der Auftrag, wäre ELLL nie freiwillig hierhergekommen. Durch die flutsicheren Türen betreten sie die Station und steuern den Medimat an, einen zwei Meter hohen Kasten mit NYGMA-Logo, an dessen Wand jemand die Höhe der letzten Flut gezeichnet hat. Das macht ELLL nervös, und immer, wenn sie nervös wird, bestellt sie über das Headset überteuerte Floxi. Bereits der Gedanke an Floxi verursacht in ihrem Bauch ein euphorisches Kribbeln.

Stuntboi hält sein Gesicht vor den Scanner, und der Medimat öffnet sich. ELLL drängelt sich mit hinein. Sie muss sicherstellen, dass alles so funktioniert, wie es sich ihre Auftraggeberin wünscht.

»Lass mich helfen!« Mit spitzen Fingern sucht sie Stuntbois Körper ab, sucht einen Reißverschluss, um ihn aus dem Folienanzug zu befreien. »Dann können die Kameras die Wunden besser beurteilen.« ELLLs zappelige Finger sind froh über jede Aufgabe. Unter der langärmligen Unterwäsche wölbt sich Stunt-Polsterung. Bevor der Junge sich wehren kann, zerrt sie das Unterhemd über seinen Kopf. Statt verschiedene Arten von Polsterungen entdeckt sie gut definierte Muskelpartien und aufgeschürfte Haut. Und etwas, das wie ein Kompressionsverband aussieht. Der elastische Gurt verdeckt Stuntbois gesamten Brustkorb. Bevor sie sich das näher anschauen kann, legt er schützend seine Arme darum und stiert sie an, als würde sein Herz außerhalb seines Körpers baumeln und als würde sie mit Händen danach schnappen, um es in Stücke zu zerreißen.

Einen Moment starren sie sich an. Er öffnet den Mund, sagt aber kein Wort.

ELLL weiß, es ist falsch, noch länger in der Kabine des Medimats zu bleiben. Aber sie kann nicht anders. Die Anweisung ihrer Auftraggeberin war eindeutig, und nur daran darf sie jetzt denken.

»Ich hab dem Regisseur versprochen, auf dich aufzupassen.«

Eine Lüge.

Ohne Protest kehrt er ihr den Rücken zu und streckt abwechselnd einen Arm oder ein Bein unter den Scanner. Das anhaltende Summen der Bildaufnahme beruhigt ELLL. Der Auftrag ist bald erledigt. Gleich erhält er die Diagnose, und ELLL darf fort – weit fort.

Statt eines Ergebnisses erscheint ein gutmütiges Gesicht auf einem der Bildschirme. Weder ELLL noch Stuntboi erwidern das Lächeln. Der Medimat ortet ihre Implantate und Headsets. Das Gesicht adressiert daher beide mit ihrem Online-Namen: »Hallo Stuntboi. Hallo ELLL.«

Der Mund auf dem Bildschirm bewegt sich zeitversetzt zur körperlosen Stimme. Nebenwirkungen des verschriebenen Schmerzmedikaments werden aufgelistet, dann ein Klimpern im Ausgabefach. Stuntboi greift nach der Pille und steckt sie, ohne zu zögern, in den Mund.

Die Tür öffnet sich für ELLL. Bevor sie hinaustritt, wirft sie einen Blick auf den Bildschirm, auf dem gerade Stuntbois Patientendatei erscheint. ELLL zuckt zusammen, blinzelt, schaut schnell noch einmal hin – ja, sie hat sich nicht verlesen –, dann tritt sie aus dem Medimat und die Tür schließt sich. Verdammt, verdammt, verdammt, denkt sie, diese verdammte Azzla! Warum hat sie mir das nicht gesagt? ELLL knirscht mit den Zähnen, starrt auf den verschlossenen Medimat, auf die darauf geschmierte Hochwasserlinie, spuckt aus. Dann hebt sie ihren Fuß, zückt das Multituul, das stets seitlich in ihrem Stiefel klemmt, ritzt das Gesicht mit dem doppelten Lächeln über das NYGMA-Logo des Medimats, grinst, fühlt sich schon besser und denkt: Wir sind überall.

Sie beschließt, auf Stuntboi zu warten. Als er endlich herauskommt, sieht er älter aus als zuvor, wie Anfang zwanzig. Oder bildet sie sich das bloß ein? Weil er jetzt aussieht, als stünde er unter Schock? Offenbar hat er eine Diagnose bekommen und realisiert gerade, was das bedeutet. Sie erkennt das an der Art, wie er geht: vornübergebeugt wie ein alter Mann. Wegen der Prellungen und Schürfwunden wird er eine Zeit lang nicht mehr als Stuntboi arbeiten dürfen. Damit hat ELLL das Ziel erreicht. Den Auftrag erfüllt. Sie zeigt ihre Raubtierzähne. Ein angedeutetes Lächeln. Stuntboi scheint es zu registrieren, seine Mundwinkel heben sich.

»Und?«, fragt sie.

»No Wahala – alles gut.«

Er lügt. Sie sieht das – sie weiß das.

Stumm gehen sie zur Rolltreppe. Neben Stuntboi zu stehen, fühlt sich an, als wäre die gesamte Welt gealtert. ELLL schwankt leicht. Einen Moment fürchtet sie, die mechanischen Stufen könnten sie beide verschlingen. Während sie nach oben fahren, hört sie das Rattern der Hochbahn. Gleichzeitig stürmen sie los, nehmen mehrere Stufen auf einmal. Eigentlich hatte ELLL vor, sich in der Bahn zu verabschieden. Warum tut sie das dann nicht? Warum schlägt sie vor, was sie vorschlägt? Er scheint darüber so überrascht wie sie selbst zu sein.

FLOXI

Die Hochbahn katapultiert Stuntboi und ELLL mitten ins Herz von Hamburg. Ins Stadtzentrum, das, permanent geflutet, seit Jahren eine einzige riesige Baustelle ist. Kurz bevor sich die automatischen Türen öffnen, kramen beide ihre Atemschutzmasken hervor. Gesichter verschwinden hinter Filtrationstechnologie in Militärqualität. Jede Filterschicht besteht aus reinem Aktivkohletuch und soll Partikelverschmutzung, Gase sowie Bakterien und Viren fernhalten. Beim Verlassen der Bahn schlägt ihnen ein schwerer, fast süßlicher Geruch entgegen. Mechanisch drücken sich die selbstklebenden Masken fester gegen die Haut, so lange, bis der Geruch schwächer wird. Ihre Augen fangen an zu tränen, ihnen wird übel. Einen Moment lang fühlen sie sich benebelt, klammern sich an die Reling, spüren einen Schub im Rücken. Mehr und mehr Menschen kommen an und wollen genau wie sie über die Landungsbrücken. Auch auf dem Wasser ist der Verkehr dicht. Hybridfahrzeuge überholen kleinere Fähren und Dampfer. Die meisten fahren mit Schweröl und Dieselöl, Treibstoffe, die außerhalb von Deutschland längst verboten sind.

Ohne zu sprechen, laufen sie auf dem schwankenden Pfad, vorbei an schwimmenden Häuserschluchten und Wasserfahrzeugen. Trotz des Dieselmotorenlärms befinden sie sich nebeneinander wie in einer warmen, weichen Stille. Jeder für sich, irgendwie auch zusammen. Ab und zu blicken sie auf, wundern sich über die Anwesenheit des anderen. Darüber, dass der andere Zeit mit ihnen verbringen will. Bald wird der andere zur angenehmen Überraschung, auf die sie bereits spekulieren.

Zwischen den Fußgängerbrücken strömen Kolonnen aus Hybridbussen kreuz und quer übers Wasser – in den 2000ern noch ein Touristen-Fang, sind sie mittlerweile eine Notwendigkeit. Viele tragen das Logo von ZONE. Kein Wunder, dem Portal für Gaming gehört in Hamburg ein ganzer Stadtteil. Parallel zu ihrer Brücke verläuft der Pfad für schwebende Fortbewegungsmittel: Swifter, Hopper und sogar NYGMA-Sneakers sind darauf zugelassen. Mit dem Skateboard darf Stuntboi dort nicht fahren. Obwohl seine Knochen vom Sturz noch nachhallen, stellt er sich auf das 18 Zentimeter breite und 81 Zentimeter lange Brett. Die Form ist schmal und symmetrisch. Eine Form, die, wie sein Vater ihm mal erklärte, auf die Freestyle-Boards der 1980er zurückgeht. Seit der 3-D-Drucker das erste Board ausspuckte, ist Stuntboi nicht mehr ohne zu sehen. Mit sechs Jahren beherrscht er Ollie und Kickflip und übt Grinds am Treppengeländer. Die Radgröße verkleinert er im Laufe der Jahre immer weiter, um das Board leichter zu machen und die Trägheit der Räder schneller zu überwinden, wodurch Stunts besser zu handhaben sind.

Die vorbeigehenden Menschen senken die Köpfe, um nachzuschauen, worauf er balanciert. Er ist das gewohnt. Trotz seiner Schmerzen fühlt er sich auf dem wackeligen Stück Plastik sicherer als auf festem Untergrund. Langsam rollt er neben ELLL her und steigt nur ab, wenn die Pfützen zu tief werden. Über die Brücken nähern sie sich einer Insel, gehen bis zur Absperrung, ducken sich, quetschen sich möglichst unauffällig durch den Spalt zweier übereinandergenagelter Bretter. Auf der anderen Seite verbirgt sich ein geheimer Landeplatz für Lieferdrohnen. ELLL nimmt dort ihre Bestellung entgegen: einen Klarsichtbeutel, gefüllt mit einer durchscheinenden Flüssigkeit, die, sobald sich das Licht darin bricht, anfängt zu irisieren. Floxi – offiziell Floxizepam – ist eigentlich ein für die Raumfahrt entwickeltes Reinigungsmittel. Es verleiht Oberflächen jedoch einen Glanz, der auf Träger digitaler Kontaktlinsen stark emotionalisierend wirkt. Stuntboi hat das Zeug zuvor nur in VR gesehen.

Mit dem Beutel in der Hand verlassen sie den Landeplatz und nähern sich einem halbverfallenen Gebäude. Stuntboi ist nervös, er war noch nie in der BlaZe. Als die Tänzerin vorschlug, zusammen hinzugehen, hat er, ohne nachzudenken, ja gesagt. Er hat davon gehört. Von Kellerräumen in verlassenen Häusern. Vollgestopft mit heulenden Menschen. Einige sind in solchen Kellern schon gestorben. Zumindest hat er das gelesen und seitdem gedacht, es gäbe solche Orte nicht mehr.

Sobald sie die Wendeltreppe hinabsteigen, sieht er schon keinen Weg zurück. Im Dunkeln nimmt sie seine Hand, bietet an, auf Txt umzusteigen. Er ist überrascht, sie kennen sich doch kaum. Dann fällt ihm ein, sie sind auf dem Weg in den wortwörtlichen Untergrund. Auf eine ortsunabhängige und verschlüsselte Sprache umzusteigen, ist also eher eine Notwendigkeit als ein Vertrauensangebot. Mühelos klinkt er sich in ihren Stream ein. Da beide statt auf »anonym« auf »klar« gehen, sind das Erste, was sie voneinander erfahren, ihre Offline-Namen: Go Kazumi und Elba Lovric. Stuntbois Körper spannt sich an. Vielen sagt der Name Kazumi etwas. Die meisten rufen dann: »Kazumi? Wie die Große Ren Kazumi?« Andere verbergen ihr Staunen, nur um dann heimlich von der Seite zu starren. ELLL verhält sich so, als wäre Kazumi ein ganz normaler Familienname.

Durch schmale Gänge gelangen sie wieder nach oben, in einen Raum, der in allen Farben leuchtet, weil die Löcher in der Decke und in den Fenstern mit zerschnittenen Plastikflaschen zugeklebt sind. Durch das zerbeulte Plastik fließt das Licht milchig und bunt. An Wänden und Fußboden flackern davon Dreiecke in Türkis, Pink, Gelb und Grau. Wie ein Schwarm bunter Fische in VR, denkt Stuntboi. Die Luft riecht nach schockgefrostetem Staub. Sie drücken ihren Atemschutz fest, haben nicht vor, die Masken abzunehmen, wollen lieber anonym bleiben. Denn gleich werden sie etwas Illegales tun.

Überall bewegen sich Körper in Zeitlupe. Das bunte Licht macht es unmöglich, die Abstände präzise einzuschätzen. Gehüllt in orangefarbene Schwimmwesten stehen manche wie eigenwillige Monumente. Stuntboi fragt sich, ob sie nicht auch so eine Weste bräuchten. Was, wenn Starkregen fällt? Was, wenn das Gebäude geflutet wird?

Auf dem Boden entdeckt er Flecken. Wie eine dunkle Fußspur führen sie quer durch den Raum. Er geht in die Hocke, um sich das näher anzuschauen. Unter dem Druck seiner Finger gibt die gelartige Masse nach.

[Neurosubstrat – ein paar Räume weiter unten gibt es eine Flasharena.]

Er liest ELLLs Txt-Gedanken und nickt erleichtert, weil die Flecken auf illegales Gaming und nicht auf Starkregen hinweisen.

Zusammen gehen sie weiter. Manchmal verhaken sich ihre Blicke mit den Blicken der Menschen um sie herum. Ein kurzer Kontakt, der von Licht und Langsamkeit wieder aufgelöst wird. Alle bewegen sich zugleich allein und als Teil eines amorphen menschlichen Ganzen. Erst wenn zwei Personen direkt aneinander vorbeigehen, können sie sich in die In-Augen schauen und das Röcheln hinter der Atemmaske hören. Alles andere bleibt stets von buntem Lichternebel umhüllt. Ein Arm. Ein Teil eines Fußes. Das könnte zu spektakulären In-Augen-Fotos führen. Stuntboi entscheidet sich dagegen. Er will die BlaZe als Mensch erleben und nicht als digitaler Avatar. Wenn ich keine Bilder mache, dann erinnere ich mich vielleicht später noch daran, wie ich mich dabei gefühlt habe. Er weiß nicht, ob er das in Txt gedacht hat. Vor seinen In-Augen erscheinen ELLLs Worte:

[Hier parke ich, wenn meine Alupax-Mutter zum Bugbär mutiert oder einer ihrer Alupax-Endgegner zur Party kommt. Wenn sie sich Hem in die Hälse schütten, bis sich die Flut dreht und ihnen alles aus dem Gesicht schießt. Wenn sie Styxx kauen und miteinander kämpfen. Dann bin ich hier – hier bin ich groß – hier bin ich großgeworden.]

Sie öffnet den Beutel und lässt den Inhalt über den Steinboden laufen. Die durchsichtige Masse zieht sich zu einem Oval zusammen, wird vor ihren Augen zu einem irisierenden Spiegel. Beide knien sich davor. Doch Stuntboi traut sich nicht hineinzuschauen. Schon gesellen sich andere Menschen zu ihnen, ziehen ihre Atemmasken herunter. Statt in die Floxi schaut Stuntboi lieber in die vielen neuen Gesichter. Manche lächeln, manche blicken verträumt. Vom Heulen tragen sie Augen wie nasse Glasscherben. Stuntboi nimmt all seinen Mut zusammen und richtet den Blick Stück für Stück nach unten, ins Leuchten. Eine ungeheure Kraft steigt in ihm auf. Als hätte jemand einen geheimen Schalter umgelegt, fangen seine Tränen an zu fließen. Er ist sich nicht sicher, wie viel Kontrolle er darüber hat.

[Floxi – das ist Augenblicksmusik zum Einsinken, zum Wegdriften.]

ELLL sendet, ohne nachzudenken. Sie fragt sich, was Stuntboi wohl in der Floxi sieht. Sie selbst hört und sieht meist das Gleiche: den Gesang der Wale. Das hochfrequente Klicken und Pfeifen wird von der Floxi mithilfe immersiver rhythmischer Formen dargestellt. Das erinnert ELLL an einen hypnotischen Audiovisualisierer. Sie nimmt sich vor, Stuntboi später davon zu erzählen, und vergisst, dass er längst in ihrem Stream sitzt und sie bloß in Txt denken muss, damit er ihre Gedanken lesen kann.

Normalerweise nagt eine unspezifische Sehnsucht wie eine dicke, unersättliche Ratte an ELLLs Eingeweiden. Jetzt ist die Ratte still, und die Welt strahlt plötzlich so viel bunter und lebensfroher. Sie weiß, das liegt an der Stream-Verbindung und an der Floxi, die sich beide gegenseitig verstärken. Sie weiß auch, dass sie öfter in der BlaZe ist als zuhause bei ihrer Mutter. Und trotzdem würde sie gern mehr schauen, mehr spüren. Jedes Mal scheint es zu wenig. Gerade so zu wenig, als würde sie das Genug nur um ein winziges Stück verpassen. Das macht ihre Haut kribbelig, ihre Finger zappelig. Das treibt sie immer wieder zurück in die BlaZe. Sie ahnt, für Stuntboi ist es das erste Mal. Was sie nicht ahnt: Er ist hin und weg.

Das Erste, was Stuntboi in der Floxi sieht, sind Augen, die so hell sind, dass sich ihre Farbe nicht eindeutig bestimmen lässt. An jeder Stelle ist das Gegenüber hell und durchscheinend. Die Haut ähnelt einer wässrigen Iris. Sommersprossen und geplatzte Äderchen heben sich deutlich darin ab. Selbst das unter der Haut strömende Blut glaubt Stuntboi zu sehen. Dessen Rot sammelt sich in den Wangen und in den Lippen. Lippen, die fließen, beinahe grell erscheinen, aus denen hier und da spitze Zähne hervorblitzen. Eine Haartolle türmt sich wolkig über der Stirn. Eine Sturmwelle aus chemisch geformten Locken. Das ist kein einfaches Gesicht, stellt Stuntboi fest. Es ist beeindruckend und deshalb wahrscheinlich hässlich. Er lächelt. Das Gesicht gehört ELLL. Sie hat ihre Atemmaske abgenommen.

Allein schon ihre Frisur ist das Phreshste, was er je gesehen hat. Eine Frisur wie eine optische Täuschung. Die kurzen Locken auf einer Seite komplett rasiert. Dann schnippt sie mit dem Kopf und plötzlich hat sie wieder volles Haupthaar. Jetzt dreht sie den Kopf, und im Nacken leuchten fluoreszierende Schwarzlicht-Tattoos, am Hals blinken VR-Sensoren. Die Sensoren sehen aus wie unter die Haut gepflanztes Licht. Stuntboi ist sich nicht sicher, ob solche Sensoren auch funktionieren, aber er findet, sie sehen utopisch aus.

Während sich ELLL durch ihre Locken streicht, den Rücken geradezieht und vorsichtig an der perfekten Stelle gegen die Kurven und Linien ihrer Umgebung stößt, schwebt Stuntboi ungeschickt dazwischen. Vergeblich versucht er sich aus den In-Augen-Fotografien anderer Menschen herauszuhalten. Viele wollen das, was sie in der Floxi sehen, fotografieren. Das funktioniert nicht. Das Bild existiert nur im Gehirn. Ein neuronaler Glitch, ausgelöst durch den besonderen Spiegeleffekt.

Vom Weinen schwellen Stuntbois Nase und Augen an. Er sieht ELLL durch die gebogene Linse eines Tropfens. Mehr und mehr Tropfen schlagen in seinem Gesicht ein. Sie kommen von allen Seiten.

Regen?

Er schaut nach oben. Wasser klatscht gegen die bunte Plastikverkleidung. Tatsächlich: Es regnet. Verdutzt dreht er den Kopf und sucht nach ELLL. Sie sitzt neben ihm. Er schaut ihr direkt ins Gesicht.

ELLL weiß, mit ihrem Gesicht fordert sie Menschen heraus. Stuntboi sieht trotzdem hin. Etwas in ELLL wird ganz still.

In die Stille platzt der Regen. Jeder einzelne Tropfen schreit sie an: ELLL, dein Auftrag ist erledigt – Game over!

SUKU

Ctrl spielt das Video in Schleife. Immer und immer wieder. Manchmal spult er zurück, manchmal vor und manchmal hält er das Bild einfach an.

[Keine Stunts mehr.]

Ctrl schreibt immer, was er denkt.

Er schickt das Video an Go. Täglich schicken sie sich Txt und Pxx hin und her. Daten, die nur kurze Zeit überleben. Wie schillernde Seifenblasen, die – kaum losgeflogen – schon wieder zerplatzen. An dem Tag, als sie damit anfingen, erschien eine Zahl neben ihren Usernamen. Jetzt steht die Zahl auf Hundert.

[Shiiish! Wir haben unseren ersten Striek!]

Go reißt die Arme nach oben. Mit gekrümmtem Oberkörper sitzt sie in der Ecke ihres Zimmers und malt mit den Fingern abstrakte Zeichen in die Luft. Sie trägt Handschuhe mit Elektronervtechnologie. ZONE hat die Sensorchips erfunden, die Fingerzeige in Befehle übersetzen. Damit kann Go Nachrichten durch Gesten erstellen und an ihren Freund senden. Ihr erster Striek. Ctrl reagiert mit einem Feuerwerk aus animierten Emofakes, die durch Gos In-Augen rauschen.

[Ctrl, ich will nie mehr damit aufhören! Ich will wissen, was passiert, wenn wir immer weitermachen!]

[Zusammen können wir erreichen, was noch niemand vor uns geschafft hat.]

[Yeah! Einen zweiten, dritten, vierten, fünften Striek!]

[Es ist wie ein Spiel, bei dem niemand weiß, was das Spiel bereithält.]

Weil sie die Hundert überschritten haben, wird ihnen ein Code zugeschickt. Weder Ctrl noch Go wissen, was der Code bedeutet.

[Ctrl, ich habe von den verrücktesten Sachen gehört! Manche konnten mit einem Striek-Code eine Reise auf die andere Seite der Welt buchen. Anderen gelang es damit, in gesicherte Häuser einzudringen. Zeit und Ort spielen offenbar eine Rolle und jede Kombination kann zu verschiedenen Ereignissen führen.]

[Maßgeblich ist also nur, wo und wann wir den Schlüssel benutzen.]

Go stimmt zu. Sie kommunizieren wie immer über Freundio.

Trotz der Freude schmerzt Gos Körper und jeder einzelne Knochen brummt. Sie fühlt sich wie ein Instrument, das jemand zu lange und zu hart bespielt hat. Das liegt wohl an den unzähligen Prellungen. Und natürlich kennt sie die Nachwirkungen von Floxi nicht. Sie hat keine Ahnung, was da noch auf sie zukommt, doch sie vermisst die BlaZe bereits. Sie denkt an ELLL, wie warm sich deren Hände angefühlt haben. Obwohl sie kalkweiß waren und die Adern darin eisblau, haben sie geglüht, als sie Go das Unterhemd vom Rücken zogen. Und als Go von Floxi benebelt im Platzregen stand und ins Loch der Decke starrte, haben ELLLs Hände ihr fast das Gesicht verbrannt.

Go kann sehen, was ihr Freund sonst noch macht, er teilt über Freundio fast alles mit ihr. Sie kann sehen, wie er ihren Stunt immer wieder ansieht. Klar, sie soll das auch sehen. Ctrl findet den Stunt gut, Go weiß das. Aber er schaut sich das Video nicht nur deshalb immer und immer wieder an.

Es geht ihnen nicht darum, etwas zueinander zu sagen, sondern miteinander zu existieren. Nebenbei arbeiten beide an ihrem nächsten Striek. Ctrl schickt dafür Vergrößerungen von Überwachungsaufnahmen. Er hat eine Schwäche für das, was das menschliche Auge für gewöhnlich übersieht. Risse in den Wänden. Zeichen, die darauf hinweisen, hier ist Zeit geflossen.

Go hat eine Vorliebe für Schnappschüsse von Skateboardern aus den 1990ern und treibt sich auf den entsprechenden Tauschbörsen herum. Ihre Fundstücke speichert sie in speziellen Ordnern, um daraus später Bilderstrecken zu erstellen. Die dynamische Abfolge von statischen Motiven hat für Go etwas unsagbar Entspannendes. Für eine Bilderstrecke begrenzt sie sich meist auf drei bis zehn Fotos, passt sie aneinander an, achtet dabei besonders auf Farbkorrekturen, Hell-Dunkel-Abgleich und Schnitt. Manchmal tüftelt sie wochenlang daran herum. Die Betrachtungszeit pro Motiv zu finden, ist die schwierigste Aufgabe. Wie lange darf ein Bild in den In-Augen bleiben? Als unterste Grenze nimmt Go 3,3 Sekunden. Das empfinden manche schon als zu hektisch. Einige Bilder sollen zudem länger als andere zu sehen sein. Für jede Bilderstrecke muss Go den richtigen Rhythmus finden.

Momentan arbeitet sie an einer Serie über ihre eigene Familie. Diese Bilder lässt sie ihren Freund aber nicht sehen. Es sind die Bilder ihrer Großeltern. Sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits starben sie noch vor Gos Geburt. Von den japanischen Großeltern Kylo und Monami besitzt Go nur wenige Aufnahmen. Fast nur Standbilder aus offiziellen Kunstvideos. Weltweit traten Kylo und Monami als eine Kollektividentität namens Monoko auf. Für ihre berüchtigte Performancekunst nähten sie ihre Körper an den Schultern zusammen. Addiert man ihr Alter, waren sie bei der Geburt von Gos Mutter schon mehr als hundert Jahre alt. Ihre weißgeschminkten Gesichter wirken jedoch wie jenseits von Zeit und Wirklichkeit. In jeder Pose bilden sie eine perfekte Symbiose. Auftritte der beiden mischten über Jahre die internationale Kunstszene auf. Mitte der 2070er zogen Kylo und Monami mit ihrer Tochter Ren, Gos Mutter, nach Hamburg und beendeten dort ihr Werk mit einem Selbstmordpakt. Gos Mutter war da gerade 18 Jahre alt, so alt wie Go heute. Go weiß nicht viel von ihrer Mutter. Auch Kylo und Monami bleiben für sie Fremde. Sie findet, dass sie ihren japanischen Großeltern kein bisschen ähnlich sieht. Für die wäre Go sowieso nur eine Hafu gewesen. Trotzdem scannt Go ihre Bilder oft stundenlang mit den In-Augen. Als verstecke sich in dem zweiköpfigen Wesen, das sich Monoko nannte, ein Hinweis, eine Erklärung für das Unerklärliche. Für das, was Gos Mutter später getan hat.

Den stilisierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Monoko stellt Go die bunten Privatfotos der Babatundes gegenüber. Die Großeltern väterlicherseits sind auf Bildern stets umringt von ihren drei Kindern. Wobei Gos Vater Tayo als Jüngster meist auf dem Schoß der Eltern turnt. Auf allen Familienaufnahmen tragen die Babatundes zusammenpassende handgefärbte Gewänder, die Tayo und seine Schwestern auch heute noch selbst anfertigen. Die Farben sind laut, die Stoffe übersät mit politischen Slogans. Der Stil erinnert an die großen nigerianischen Modehäuser. Durch ihre Kleidung strahlen die Babatundes einen ungeheuren Zusammenhalt aus. Wie Monoko sind auch sie ein Kollektiv, allerdings ein chaotisches, ein lebendiges. Auf keinem der Bilder schauen sie in die Kamera. Stattdessen sehen sie sich gegenseitig an. Die Münder geöffnet, als redeten sie miteinander, die Augen blitzen schelmisch, und so manches Gesicht reißt vor Lachen, denn irgendjemand sagt immer etwas Komisches. Bereits beim Anschauen spürt Go das Kribbeln im eigenen Bauch. Tayo und seine Schwestern besitzen ein Lachen, das Leiber zum Beben bringt. Go kennt die Großeltern Wondibel und Banjoko nur aus Erzählungen, hat aber das Gefühl, sie liebt und vermisst sie, wie Tayo und seine Schwestern die beiden lieben und vermissen. Für die drei Geschwister müssen die Eltern wie eine wärmende Schicht gewesen sein, die ihnen eines Tages mit Gewalt fortgerissen wurde, was die drei nach dem Tod der Eltern nur noch enger zusammenrücken ließ.

Gos Vater war 22 Jahre alt, als er die Eltern auf einen Schlag verlor. Die Schwestern hatten gerade die erste Zweigstelle von Babas 3-D-Druck & Service eröffnet. Tayo half im Geschäft der Eltern aus. Die beiden waren noch nicht bereit, sich aus dem Familienbetrieb zurückzuziehen – das kostete sie das Leben. Tayo ist davon überzeugt, dass ihn selbst die Liga gerettet hat. An jenem tragischen Tag verfolgte er von der späten Nacht bis in den frühen Morgen einen Wettkampf der Gaming-Liga und verpasste deshalb die Bahn. Als er mit einer späteren in den Bahnhof einfuhr, spürte er ein leichtes Beben. Kurz danach stoppte die Bahn. Tayo machte sich keine Sorgen. Er war zwar spät dran, seine Eltern waren das aber gewohnt. Außerdem lief gerade das Jahrhundertspiel zwischen seinem Kindheitshelden Kareem [WiZe] Olamilekan und der jungen Aufsteigerin Jumoke [TskTsk] Sofola, beide aus Lagos. Das ist die größte Stadt der Welt. Und, wie Tayo findet, die schönste gleich nach Hamburg.

In Lagos wohnen nicht nur Tayos und Gos Lieblingsgamer, sondern auch ein Teil ihrer Verwandtschaft. Vater und Tochter besuchen die Stadt daher regelmäßig in VR. Sie wissen, dass man einen Ort nicht unbedingt körperlich aufsuchen muss, um ihn lieben zu lernen. Mit über 88 Millionen Einwohnern besitzt Lagos mehr Einwohner als Deutschland, das seit einiger Zeit bei 70 Millionen stagniert. In Lagos stehen zudem die größten Gaming-Stadien der Welt. Überhaupt ist der Ort ein Experimentierkasten für ambitionierte Stadtentwicklung. Auch wenn sich die Verwandtschaft über hohe Kriminalität und schlechte Luftqualität beschwert, sind Tayo und Go überzeugt: Wer in Lagos lebt, lebt in der Zukunft.

Das Jahrhundertspiel endete, noch während Tayo in der Bahn festsaß. WiZe durfte ungeschlagen in den Ruhestand. Tayo jubelte. Kurz danach öffneten sich die Türen. Eine Durchsage bat alle Passagiere, die Station durch den Hinterausgang zu verlassen. Tayo hielt sich nicht daran. Er wollte wie immer vorne raus, weil sich direkt gegenüber der Station die Hauptstelle von Babas 3-D-Druck & Service befand. Mehrere Polizisten versperrten ihm den Weg. Tayo protestierte und wurde festgenommen. Auf der anderen Straßenseite herrschte Tumult. Krankenwagen fuhren ein. Menschen blieben stehen. Am Himmel kreiste ein Schwarm Polizeidrohnen, am Boden formierte sich eine Armee Roboter. Das Geschäft der Eltern war nirgends mehr zu sehen. Im Gebäude klaffte stattdessen ein hässliches Loch.

Heute, über zwanzig Jahre später, detoniert jeden Monat irgendwo in Hamburg eine Bombe. Go ist damit aufgewachsen. Bekennerschreiben gibt es zuhauf: von der S-Truppe, von der Neuen Front, von Goethes Söhnen.

Der Verlust der Eltern ist ein Schicksal, das Ren und Tayo miteinander teilen, das aber nicht genügte, um beide zusammenzuhalten. Ren verschwand, und Tayo hörte irgendwann auf, von ihr zu sprechen. In Go ist die eigene Mutter nur noch als Schatten präsent, als dumpfer Schmerz im Bauch. Manchmal träumt sie, dass ihre Mutter bei ihnen wohnt, aber starr ist wie ein Foto. Jedes Mal, wenn Go davon aufwacht und realisiert, dass sie bloß geträumt hat, ist sie erleichtert. Gleichzeitig fehlt ihr die Mutter. Vielleicht war die Große Ren Kazumi zu feige fürs Leben. Go hat Angst, im Kern genauso feige zu sein.

In der Bilderstrecke wird die zersprengte Familie wieder komplett. Nacheinander probiert Go verschiedene Reihenfolgen aus. Am Ende entsteht immer ein neuer Zusammenhang. Das ist dann so, als ob sie sich in die Bilder ihrer Großeltern hineingeschmuggelt hätte. Sie tragen jetzt ihre Handschrift. Kurz spielt sie mit dem Gedanken, die Bilder ihrem Freund zu schicken, spürt dann aber die eigenen Finger nicht mehr, schüttelt die Hand aus, ärgert sich über die steifen Gelenke und brummenden Knochen.

Erst da wird sie sich wieder ihres Vaters bewusst, der den ganzen Abend lang in regelmäßigen Abständen gegen die Zimmertür klopft. Go nimmt an, dass er den Unfallbericht gelesen hat und sich deswegen Sorgen macht. Ratlos streicht er im Flur umher und hört nicht auf, ihr Nachrichten ins Headset zu schicken. Sie reagiert auf die Txt nicht, ignoriert auch das Hämmern und die Rufe. Statt zu antworten, schnippt sie mit den Fingern und schickt Ctrl eine Audioaufnahme ihrer Umgebung. Darauf sind das Klopfen und die gedämpfte Stimme ihres Vaters gut zu hören. Ihr Freund wirft ein lachendes Emofake zurück.

Sie schaut zu, wie Ctrl das Stuntvideo von Neuem abspielt und mit dem Zeiger immer wieder über den Kopf der Hintergrundtänzerin gleitet. Es macht Go nervös, beobachten zu müssen, wie jedes Mal ELLLs Name erscheint und wieder verblasst. Go hat ihrem Freund von der BlaZe erzählt, und jetzt will er wissen, ob sie das Mädchen wiedersehen wird. Die Floxi war gut, denkt sie. Ctrls Frage beantwortet sie nicht. Er lässt sie dabei zusehen, wie er Portale und Streams nach der Tänzerin absucht, bis er sie findet. ELLL ist bei der Stream-Fabrik gelistet. Ihre Bio lautet:

[Mit meinem Stream vereitele ich den Anschlag der Gesellschaft auf mich und meinen Körper.]

Ctrl hackt den kostenpflichtigen Stream. Und da liegt sie, in einem abgedunkelten Zimmer auf einem grauen Bett, und schläft. Aus den Lautsprechern in Gos Headset ertönt ELLLs regelmäßiger Atem. Ctrl bewegt sich im Stream vor und zurück. ELLL, wie sie isst, singt, tanzt, weint. Wenn sie weint, hat sie vorher in die Floxi geschaut, da ist sich Go sicher. Und dann passiert es. Fast hätte Go es übersehen. Es passiert so schnell. Ihr Freund stoppt den Stream und fertigt Standbilder an. Warum tut er das und warum lässt er Go dabei zusehen?

Plötzlich hat Go keine Lust mehr auf einen weiteren Striek. Gerade will sie sich ausloggen, da schreibt Ctrl, er habe ELLL noch an einem anderen Ort gefunden – im offiziellen Stream von SUKU. Go kennt SUKU aus den Nachrichten. Der lose Zusammenschluss von Hacktivisten fordert sichere Kommunikation für alle. Mit performativen Protestaktionen wie dem Hacken von Polizeiscannern oder dem kurzzeitigen Herunterfahren von Streams und Portalen erregt SUKU regelmäßig Aufmerksamkeit. Ist ELLL eine SUKU-Anhängerin? Sie taucht in keinem Nachrichtenarchiv auf.

[Wahrscheinlich ein Fan], vermutet Ctrl, [denn Videos im offiziellen Stream posten – das kann jeder.] Er öffnet das Video. Sie sehen, wie ELLL sich im Kreis dreht und singt, während KI-Beats aus einem kleinen Kasten donnern. Gesang und Beats passen nicht immer zusammen. Plötzlich überstreckt sich ELLLs Kopf, das Kamerabild fängt wegen der Klangvibrationen an zu zittern, ELLL scheint jetzt darin zu schwimmen. Ihr Mund dehnt sich weit, und ihre Kehle zuckt mit der Dringlichkeit eines Wolfkindes. Go wird von ELLLs Gesang angezogen, abgestoßen, unterhalten, bekehrt, irritiert und aufs Zärtlichste berührt.

Menschen schreiben darunter, dass sie das Gefühl wiedererkennen, dass der Song ihr Leben verändert hat. Ctrl bricht das Musikvideo ab und schlägt vor, stattdessen ein Match zu schauen. Da nächste Woche das Turnier der Legenden stattfindet, überträgt der ZONE-Stream täglich Schaukämpfe zwischen namenhaften Gamern. Gos Vater ist wegen des Turniers ziemlich aufgeregt. Sein Kindheitsheld WiZe soll angeblich anreisen, um – selbst schon zu alt zum Spielen – dem Turnier als Zuschauer beizuwohnen.

Go zögert, Ctrls Angebot anzunehmen. Das Schauen von Liga-Wettkämpfen ist schließlich das Einzige, das sie und ihr Vater noch miteinander teilen, ohne dabei zu streiten. Schon ist sie in Gedanken wieder bei ihm und dem Gespräch, das sie beide noch führen müssen. Bloß nicht heute, denkt sie.

Früher kam sie mit ihrem Vater gut aus. Irgendwann veränderte er sich jedoch. Go glaubt, dass das mit seiner Arbeit zu tun hat. Eine Arbeit, über die er nie spricht. Wehmütig denkt sie daran zurück, wie sie früher zusammen auf dem Sofa saßen und Wettkämpfe der ZONE-Liga verfolgten. In besonders spannenden Momenten fassten sie sich an den Händen. Die Hände ihres Vaters sind durchzogen von tiefen Furchen. Die Haut fühlt sich jedoch nie so rau an, wie sie aussieht. Eher glatt und ölig. Das Öl stammt von Maschinen. Gos Vater hilft ab und zu bei seinen Schwestern in der letzten Druckerfiliale aus. Wenn Go und Tayo zusammen ein Match schauten, dann schwitzten und schrien sie, dann warfen sie ihre Arme in die Luft oder sprangen auf. Nach einem Wettkampf saßen sie noch lange da, unterhielten sich über das Gesehene und spekulierten über Aufstieg oder Abstieg ihrer Teams. Je mehr sie miteinander sprachen, desto wärmer und köstlicher wurden ihre Gespräche – wie eine Mahlzeit, die sie zusammen zubereiteten.

Go fürchtet, dass es solche Gespräche nie wieder zwischen ihnen geben wird. Sie seufzt. Vor ihren In-Augen erscheint ein Link. Ctrl hat den kostenpflichtigen Stream gehackt, der Spiele live aus dem Hamburger Stadion überträgt. Go hat das ungute Gefühl, ihr Freund weiß, was sie tun wird, noch bevor sie es selbst weiß.

ZUSAGE

Go öffnet den Link. Die Partie hat noch nicht angefangen. Beide Teams wärmen sich gerade auf. Es werden Bilder des anwesenden Publikums gezeigt. Ein Meer aus Lichtern. Dafür nutzen Fans die LEDs ihrer In-Augen, die eigentlich dafür gedacht sind, Dokumente zu scannen oder Fotos zu machen. Nachträglich verstärkt, können damit eindrückliche Lichterspiele vorgeführt werden. Leuchtende Hymnen, die das favorisierte Team anfeuern.

Jede Fangruppe entwickelt eigene Choreografien. Go kennt nicht alle, aber die meisten. Weder sie noch ihr Vater haben das Hamburger Stadion je betreten. Tickets sind Jahre im Voraus ausverkauft. Die Aufnahmen des Publikums wechseln sich mit Aufnahmen der Sponsoren ab. Feierlich laufen gut gekleidete Frauen und Männer ein, suchen sich ihre Plätze weit vorne an der Bühne. Go mustert sie. Sie stellen das Preisgeld zur Verfügung und verändern damit Schicksale. Wie die meisten ihrer Generation ist Go mit dem Spiel Quanta II aufgewachsen. Von den Besten wird es im Stadion gespielt, denn nur von Angesicht zu Angesicht, eingetaucht in Neurosubstrat, steht wirklich etwas auf dem Spiel. ZONE hat Quanta II im Stadion erst groß gemacht. Live dabei zu sein, wenn Kontrahenten ins Becken steigen, muss ein Nervenkitzel sein, den Go gern einmal erleben würde. Im Becken zählen Schnelligkeit, Taktik und Training. Wer es dort hineinschafft, hat vorher im Bunker gespielt. Gab es da je eine Ausnahme? Da ertönen die Sirenen. Wie auf Kommando zoomen die Kameras weg von den luft- und schalldichten Kabinen der Teams und schwenken zur Bühne. Eine zierliche Frau in einem bodenlangen weißen Kleid und mit wehendem schwarzem Haar schreitet zur Mitte. Paloma Candela Pilvorosa-Vasquez, 55 Jahre, Kommunikationsexpertin von ZONE, eröffnet alle Spiele, die im Hamburger Stadion ausgetragen werden. Sie ist bekannt dafür, ihren Auftritt hinauszuzögern, hinter der Bühne zu warten, bis die Spannung unerträglich wird und die Stimmung im Stadion ihren Siedepunkt erreicht hat. Die fliegenden Kameras konzentrieren sich auf ihr Gesicht. Paloma Candela Pilvorosa-Vasquez ist utopisch schön. Zu schön, um wahr zu sein. Ihr Lächeln funkelt, ist genauso fixiert wie ihre lackierten Brauen. Schon bald nimmt es Gos gesamtes Blickfeld ein. Gerüchten zufolge zieht Vasquez bei jedem Spiel im Hintergrund die Fäden.

Go kann nicht hören, was Vasquez sagt, denn Ctrl hat den Ton auf stumm geschaltet. Sie sieht nur, wie die Frau die Lippen bewegt, nach oben blickt, die Arme hebt. Die Kameras zoomen heraus. Die 55-Jährige sieht aus wie eine Priesterin. Ohne Warnung erlischt direkt über ihr ein Scheinwerfer. Vasquez verschwindet wie bei einem Zaubertrick.

Die Kameras fliegen in die ersten Publikumsreihen. Die dort sitzenden Sponsoren springen auf und werfen Markenartikel in die Menge. Echte NYGMA-Sneakers! Go bleibt fast die Luft weg. Die Kameras schweben weiter übers Stadion. Von allen Seiten fliegen Lieferdrohnen herbei und werfen Päckchen ins johlende Publikum. Auf den unscheinbaren Kartons leuchten das NYGMA- und das ZONE-Logo. Fangeschenke sind ein wichtiges Ritual und ein weiterer Grund, warum die begrenzten Plätze im Stadion so begehrt sind. Die Kameras fliegen einmal über die sich nach oben streckenden Hände. Danach fangen sie noch ein paar Lichtchoreografien der Fans ein.

Schließlich schaltet die Sicht auf den In-Augen-Stream der Teams um. Go sieht zu, wie Ctrl zwischen den verschiedenen Teamansichten hin- und herspringt. Die berühmten Rahmani-Geschwister spielen gegen zwei unbekannte Aufsteiger. Go weiß genau, auf welcher Seite ihr Freund steht. Auf welcher Seite heute Nacht ganz Hamburg steht.

Jazmin [Phoenix] Rahmani, goldener VR-Anzug und eine Kaskade glänzender Locken, schreitet voran. Einen Schritt hinter ihr geht Darien [Ash] Rahmani, Ganzkörperanzug in Neongrau und schulterlanges, nassschwarzes Haar. In den Händen halten beide je eine Atemmaske und eine VR-Brille. Auf dem Rücken tragen sie einen Kanister Luft. Die Kameras zoomen in ihre angespannten Gesichter. Phoenix sieht aus, als ob sie schmolle, Ash wie versteinert. Go muss bei den beiden immer an das schillernde Farbspiel denken, das auf jedem Ölteppich liegt: schön und schrecklich zugleich.

Die Geschwister sind Lokalhelden von Weltrang. Beide Profis, beide miteinander im Dauerclinch, was aus jedem Match, in dem sie als Team antreten, einen nervenaufreibenden Mehrfrontenkrieg macht. Das glamouröse Liga-Gaming lebt von solchen Dramen. Allein die Tatsache, dass die beiden nicht neben-, sondern hintereinander zum Becken laufen, bringt die Txt-Streams der Zuschauer zum Überkochen. Darin brodeln Spekulationen über einen neuen Streit und Gerüchte über eine endgültige Trennung. Go kann sich weder auf die Bilder noch auf die Txt konzentrieren. Gegen die Zimmertür hämmert der Vater, begierig, mit ihr zu reden.

[Wie es wohl ist, im Stadion zu sitzen, Ash und Phoenix live zu sehen, die fast gleiche Luft wie sie zu atmen?]

Ohne dass Go etwas davon mitbekommt, liest Ctrl ihren privaten Txt-Gedanken und verschafft sich Zugang zu ihren In-Augen. Als Go das nächste Mal zum Fenster schaut und sich ihr Gesicht dabei in der Glasscheibe spiegelt, kann Ctrl durch die In-Augen seiner Freundin in den Starkregen blicken, der gerade die Nacht auflöst. Die Reflexion von Gos Gesicht schwebt wie ein Hologramm über die vom Wasser dunkellackierten Dächer. In der Ferne bilden sich kugelige Sturmwolken. Ctrl beobachtet, wie das gespiegelte Gesicht seiner Freundin stehen bleibt, obwohl niemand auf Pause gedrückt hat. Es bleibt nur eine Sekunde stehen, dann blinzelt Go und eine Träne rollt so lange über ihre Wange, bis Gos Finger sie davonfegt. Vielleicht eine Nachwirkung der Floxi. Ctrl fertigt eine Aufnahme davon an und archiviert sie.

Seit sie sich vor hundert Tagen kennengelernt haben, bricht Ctrl regelmäßig unbemerkt in Gos private Txt-Gedanken ein. Mittlerweile kennt er ihre geheimsten Wünsche. Er weiß, dass der Besuch des Hamburger Stadions ein langersehnter Traum von Go und ihrem Vater ist. Er weiß, dass Go durch den Sturz vom Skateboard ihre Arbeit als Stuntboi verloren hat. Plötzlich weiß Ctrl noch etwas anderes: Er weiß, was er tun kann – was er tun muss! Ctrl klinkt sich ein. Programme kommunizieren untereinander. Gos Lebenslauf wird unter Hunderten ausgewählt und heruntergeladen. Stunden später werden die gleichen Programme eine Zusage verschicken. Ctrl ist zufrieden mit sich.

MANTRA

Tayo Babatunde, 46 Jahre alt, breitschultrig und hochgewachsen, betrachtet im Badezimmerspiegel seine neue Frisur. Über den Ohren sind seine Haare frisch rasiert, oben auf dem Kopf sitzt ein sorgfältig zusammengesteckter Quiff aus geflochtenen Zöpfen. Am Körper trägt Tayo ein langes, enges Kleid aus einer wiederaufbereiteten Polystruktur, darunter feste Cargo-Hosen, an die er zusätzliche Taschen genäht hat. Das Kleid besitzt er in verschiedenen Ausführungen. Er hat es selbst entworfen und den Stoff per Hand eingefärbt. Frisur und Gewand sind zugleich nützlich und schön.

Er versucht zu lächeln. Aus seinem Headset tönt die kraftvolle Stimme von Jo Wu. Zwischen Tayos großen, blitzweißen Zähnen hängt etwas, das wie Exkremente aussieht. Er beugt den Kopf vor und spuckt braune Brocken ins Waschbecken.

Als Leiharbeiter einer mittelklassigen Zeitarbeitsfirma ist er froh, Arbeit zu haben. Denn das bedingungslose Grundeinkommen allein reicht nicht, um für seine Tochter zusätzliche Lernmodule und ärztliche Versorgungspakete zu kaufen. Das KI-basierte Bildungssystem und ein Minimum an Gesundheitsversorgung sind zwar kostenlos, aber wenn er will, dass Go später nicht wie er in der Zeitarbeit landet, sondern einen der begehrten Beraterjobs bei einer der großen Agrikulturfarmen ergattert, die Biomasse für künstliches Fleisch heranzüchten und gleichzeitig CO2 absorbieren, dann muss seine Tochter die von den Firmen angebotenen Lernmodule belegen, deren Preise täglich steigen. Seine Schwestern können ihnen nicht ewig finanziell unter die Arme greifen, dafür wirft Babas 3-D-Druck & Service zu wenig Gewinn ab.

Anfangs kam ihm die neue Arbeit auch gar nicht so furchtbar vor. Seine Aufgabe besteht darin, die privaten Freundio-Inhalte anderer Menschen zu kontrollieren. Offiziell gilt der verschlüsselte Chat als sicher. Tayo wird daher zur absoluten Geheimhaltung verpflichtet. Das Erste, was ihm negativ auffällt: Die Pausen sind kurz, was vor den winzigen Badezimmern regelmäßig zu langen Schlangen führt. Außerdem muss er aus Sicherheitsgründen während der gesamten Arbeitszeit das eigene Headset abgeben und die In-Augen deaktivieren. Auch die mit Sensoren ausgerüsteten Handschuhe sind am Arbeitsplatz verboten.

Anstößige Txt oder Pxx darf er nicht einfach entfernen, sondern muss stets den richtigen Grund für das Entfernen von Inhalten auswählen. Um das aber tun zu können, ist er gezwungen, über mehrere Stunden hinweg gewalttätiges, pornografisches und verschwörungstheoretisches Material zu betrachten. Das geht ihm trotz seines Trainings nahe. Die Menschen, die mit ihm arbeiten, gehen auf sehr unterschiedliche Weise damit um. Manche erzählen in den Pausen düstere Witze über Robos, andere haben Sex in den winzigen Badezimmern, kauen Styxx oder trinken heimlich Hem. Auch Tayo versucht, einen Weg zu finden, mit der Belastung umzugehen: Minutiös hält er sich an die Atemübungen, die ihm in dem mehrtägigen Training beigebracht wurden.

Dass er über die Arbeit weder mit seinen Schwestern noch mit seinem Kind sprechen darf, macht ihm besonders zu schaffen. Zwischen ihm und seiner Familie entsteht eine neue Kluft der Schweigsamkeit. Den Menschen bei der Arbeit fühlt er sich dagegen von Tag zu Tag näher. Anfangs glaubt er sogar, sie alle hätten eine besondere, emotionale Verbindung. In Wirklichkeit teilen sie nur das gemeinsam erlebte Trauma ihres täglichen Tuns.

Tayo wird in Echtzeit überwacht. Die elektronische Kontrolle beschränkt sich zunächst auf das Messen seiner Fehlerrate. Vor zwei Monaten führte das Management dann neue Maßnahmen zur Produktionssteigerung ein. Seitdem wird die Fehlerquote der Moderatoren auf Anzeigetafeln projiziert, auf die alle von ihren Arbeitsplätzen aus eine gute Sicht haben. Tayo fängt an, seine Fehlerrate mit den Fehlerraten der anderen zu vergleichen. Außerdem wird jeder Name wie ein Verkehrszeichen farbcodiert. Wenn die Fehlerquote überdurchschnittlich niedrig ist, ist der Name grün. Wenn eine Person Fehler macht, wird ihr Name gelb. Verschlechtert sie sich weiter, wird ihr Name irgendwann rot. Das Management kann die Monitore von ihren Büros aus sehen und die Ziele direkt anpassen. Die Anzeigetafel überwacht auch die Geschwindigkeit der Eingaben. Werden Tayos Eingaben langsamer, blinkt sein Arbeitstisch rot und gelb. Ihm fällt es schwer, die Anzeigetafel zu ignorieren. Wenn dann auch noch seine Tischplatte anfängt zu flimmern, bricht ihm jedes Mal der Schweiß aus. Das treibt ihn an, weiterzuarbeiten. Ohne Verschnaufpause.

Während einer Nachtschicht vor drei Wochen ereignete sich ein Vorfall, der ihn bis heute verfolgt. Immer wenn er in dieser Nacht langsamer wurde und sein Tisch aufleuchtete, schien zugleich die Anzeigetafel auf ihn zuzuschießen. Er bekam das Gefühl, nie mehr aufhören zu können. Die anderen kennen das Phänomen. Sie nennen es »die elektronische Peitsche«. Das Farbleuchten und der begleitende Alarm fühlen sich tatsächlich wie körperliche Hiebe an. Der andauernde Kopfschmerz, der Schwindel und die Appetitlosigkeit – ihm war bis zu dieser Nacht nicht klar, dass das ebenfalls Symptome der Peitsche sind.

Trotz des furchtbaren Materials, das er täglich ansehen muss, stumpft Tayo nicht ab, nimmt die Bilder, Beschimpfungen und Drohungen mit nach Hause – mit ins Bett. Er macht die Atemübungen noch genau so, wie sie ihm im Training beigebracht wurden, nimmt keine Drogen, trinkt keinen Alkohol, geht früh schlafen. Aber er kommt nicht zur Ruhe.

Durch die elektronische Peitsche und die öffentlichen Anzeigetafeln stehen jetzt alle in Konkurrenz zueinander. Das ehemals kollegiale Umfeld wandelt sich zu einem erbitterten Wettstreit. Als Tayo sieht, dass eine schwangere Moderatorin in der Rangliste weit nach unten rutscht, beschließt er, die Badezimmerpausen ganz auszulassen. »Dein Körper – deine Waffe«, lautet ein Mantra von Jo Wu. Dessen Videos muss Tayo als Freundio-Moderator regelmäßig ansehen, weil auch Amokläufer Jo Wu ansehen und die Videos daher im Verdacht stehen, bestimmte Bevölkerungsgruppen negativ zu beeinflussen. Tayo gefällt auch ein anderes Mantra von Jo Wu: »In jedem Game gewinnst du ein Leben.«

Mithilfe der Mantras bringt Tayo seinen Körper dazu, während der Arbeitszeit Wasser weder aufzunehmen noch abzulassen. Und es funktioniert! Einen ganzen Tag lang bleibt er oben, rutscht nicht mehr ab, bleibt im grünen Bereich. An diesem einen Abend geht er mit weichen Schritten der Euphorie. Im Bett ist er hellwach und loggt sich zum ersten Mal auch privat in Jo Wus Erlebniskanal ein. Von da an wird sein Leben besser. Denn von da an beginnt er den Tag auf dieselbe Weise, wie auch Jo Wu seinen Tag beginnt: mit Pilzkaffee. Das braune Puder aus Löwenmähne und Chaga-Pilz wird von NYGMA hergestellt, der Firma, die auch die Medimats erfunden hat, die in China, Afrika und Europa das Gesundheitssystem unterstützen. NYGMA war ihm davor nur als Tech-Bekleidungshersteller bekannt – wer träumt nicht von echten NYGMA-Sneakers?

Genau wie ZONE gehört auch NYGMA zu den 35 Unternehmen, die zwei Drittel der Weltwirtschaft und neunzig Prozent der weltweiten Innovation ausmachen. Mithilfe von Staatsfonds und privaten Militärunternehmen haben sie sich zu agilen geopolitischen Einheiten entwickelt. Pandemien, Terrorismus, Piraterie, Wirbelstürme und steigender Meeresspiegel – für Unternehmen ist nicht immer klar, wie in die Zukunft investiert werden soll oder in welche Zukunft investiert werden soll. ZONE und NYGMA zählen zu den Menschenfreunden. Beide Unternehmen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Pandemien zu heilen, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung einzuführen, autoritäre Regime zu untergraben und klimaschonende Forschung zu fördern.

Nach der ersten Pilzkaffeebestellung erhält Tayo einen Gutschein-Code für ausgewählte NYGMA-Podcasts. Er kauft sich einen der Podcasts schon bald als Abo, um regelmäßig über Rabattaktionen für alle NYGMA-Produkte benachrichtigt zu werden. Auch Jo Wu empfiehlt das, denn: »NYGMA-Produkte sind Star-Produkte – aber nicht billig.«

Tayo ist Kaffeeliebhaber und muss sich daher erst daran gewöhnen, dass das köstlichste Ding dieser Welt jetzt aus dem am wenigsten köstlichen Ding zubereitet wird. Das Pilzpulver lässt sich am besten nach einer großen Tasse echtem Kaffee ertragen. Jeden Morgen schluckt er zudem Vitaminpräparate von einer Firma namens ONON, deren Kernphilosophie die »ganzheitliche Optimierung« ist und deren Stream coole Fitnessgeräte bewirbt. Tayo verguckt sich in eine Kugelhantel, die den Kopf von INK hat, einem Spielcharakter aus Quanta II, signiert von dem Starspieler Ash, für 299 Euro. Zu teuer. Lieber hält er sich an die Nahrungsergänzungsmittel. Außerdem kennt er sich und weiß, dass, wenn er sich eine Hantel kauft, bald die gesamte Wohnung mit Fitnessgeräten vollgestellt sein wird.

Direkt beim Aufwachen klinkt er sich in Jo Wus Stream ein und lauscht dessen Mantras. Noch vor dem Pilzkaffee kippt er sich eine Packung Darmpulver in den Hals, schluckt dazu ein riesiges Paar Alphagehirnpillen, die mit Nootropika gefüllt sind, um Gedächtnis und Konzentration zu verbessern, und träumt insgeheim von der signierten Hantel. Sein Frühstück zum Mitnehmen ist meistens ein knuspriger Proteinriegel, wobei »knusprig« weniger eine Beschreibung als vielmehr eine Warnung ist. Vor dem Verlassen der Wohnung putzt Tayo seine Zähne mit der einzigen Zahnpasta, die Jo Wu in die Nähe seiner Zähne lässt: eine Öl-Zahnpasta, die aus Bentonit-Lehm und einem Hauch Theobromin hergestellt wird. Sie schmeckt nach nassem Sand und sieht aus wie lose Exkremente. Es fällt Tayo schwer, sich etwas Schlimmeres vorzustellen, das er absichtlich um sieben Uhr morgens in den Mund nehmen würde. Trotzdem: Nach langer Zeit hat er endlich wieder das Gefühl, sein Leben im Griff zu haben.

Da erscheint in seinen In-Augen eine Nachricht von WoZn:

[Du hast mich gestern gefragt, ob ich fürs Turnier der Legenden nach Hamburg reise: Ja, Kareem WiZe Olamilekan wird da sein! Meine Freundin Jumoke TskTsk Sofola übrigens nicht. Greets, W]

Tayo und WoZn verbindet seit Jahren eine Bezahlfreundschaft. Das heißt, Tayo bezahlt WoZn für seine Nachrichten. Tayos Tochter Go mag das nicht verstehen, aber ihn macht so eine Bezahlfreundschaft glücklich. Natürlich weiß Tayo, dass WoZn nicht der berühmte WiZe ist. Aber das macht nichts, solange beide das Spiel aufrechterhalten und so tun, als ob er es wäre.

Eine zweite Txt-Nachricht erscheint in seinen Augen. Dieses Mal von Ren Kazumi.

Ren Kazumi?

Er hört das Blut in seinen Ohren hämmern, spürt ein schneller werdendes Flattern im Brustkorb. Vorsichtig richtet er sich auf, kann vor Aufregung kaum sehen, krallt sich am kalten Porzellan des Beckens fest, möchte am liebsten den Kopf dagegenknallen. Er denkt jetzt in Zickzack-Bewegungen. R-e-n K-a-z-u-m-i. Seine inneren Organe fühlen sich an wie ein einziger schmerzhafter Knoten. Er beißt die Zähne zusammen, hört das eigene Knirschen. REN. KAZUMI.

Er öffnet die Nachricht:

[Wir müssen reden.]

An der Nachricht hängt eine Geoposition.

Jo Wu schreit immer noch Mantras in sein Ohr, aber Tayo hört sie nicht mehr. Er ist wieder ganz unten. Er ist wieder dort, wohin er nie zurückwollte …

Traue niemandem!

Traue nicht einmal deinen eigenen Gedanken!

Sie infiltrieren das Headset, sie manipulieren die In-Augen – sie korrumpieren dich!

Sicher, vieles davon ist abstrus. Aber selbst die Botschaften von X wurden anfangs belächelt, bis sich die Ansichten irgendwann verbreiteten. Mittlerweile bekennen sich auch deutsche Politiker und Politikerinnen offen zur Glaubensgemeinschaft von X. Freundio-Moderatoren wie Tayo haben die Aufgabe, Verschwörungstheorien im Auge zu behalten, was nicht leicht ist. Selbst Tayo kennt nur ansatzweise die Inhalte, die auf Freundio herumgeistern. Die Taktik ist oft die gleiche: Bots fluten Chats und Streams mit Verzerrungen der Wirklichkeit. Gesicherte Fakten werden zu einer Version von vielen.

Die einzige Ausnahme bilden die Botschaften von X. Sie stechen im Meer der Verschwörungstheorien heraus, weil sie personalisierte Rätsel darstellen, die in Kleinstarbeit, oft auch in Zusammenarbeit mit anderen, decodiert werden müssen.

Wie viele Moderatoren hat auch Tayo den Algorithmus von X selbst ausprobiert und ihn Verschwörungstheorien generieren lassen, die auf sein privates Leben zugeschnitten sind: Was, wenn der Bombenanschlag auf Babas 3-D-Druck & Service bloß inszeniert wurde? Was, wenn deine Eltern ihren Tod nur vorgetäuscht haben? Verstecken sie sich irgendwo – vielleicht in den stillgelegten U-Bahn-Tunneln? Tayo kann Fakten erinnern, aber Fakten fühlen sich nicht mehr richtig an.

Besonders die medizinische Diagnose, die dem aktuellen Unfallbericht seiner Tochter beiliegt, fühlt sich falsch an. Möchte Ren darüber mit ihm sprechen? Er blendet den Bericht ein, kommt aber nie weiter als bis zu Gos Namen. Danach werden die Buchstaben unscharf und die Sätze endlos. Tayo blinzelt das medizinische Dokument aus seinen In-Augen. Er weiß, er sollte froh sein, dass seine erwachsene Tochter noch nicht darauf gekommen ist, ihn aus ihrem medizinischen Ordner zu sperren. Jetzt, da sie achtzehn Jahre alt ist, könnte sie das jederzeit veranlassen. In seinen Augen ist Go allerdings noch lange keine Erwachsene.

Wieder schiebt sich die Txt-Nachricht von Ren Kazumi in sein Blickfeld. Und wieder fragt er sich: Warum gerade jetzt? Muss ich mir erst das Headset ausstöpseln, mir die In-Augen herausreißen, damit ihr mich alle in Ruhe lasst?

Er öffnet den Wasserhahn und schaut zu, wie sich die ausgespuckten Zahnpastabrocken in braunen Bächen den Abfluss hinabschlängeln. Danach geht er in die Küche, kritzelt für seine Tochter eine Botschaft auf die Holo-Oberfläche des Kühlschranks, nimmt einen Proteinriegel aus dem Vorratsschrank und kontrolliert beim Hinausgehen, ob die Pilzkaffee-Tasse ausgespült und umgedreht neben der Spüle steht.

Kurze Zeit später zieht er die flutsichere Haustür hinter sich zu, beißt zaghaft in den unglaublich knusprigen Riegel und läuft wie jeden Morgen zur nächstgelegenen Hochstation. Die wenigen Menschen, an denen er vorbeikommt, schenken ihm kaum Beachtung. Da ist nichts, was darauf hinweist, dass in seinem Kopf ein mehrstimmiger Chor summt. Dass etwas in ihm brodelt, wächst. Eine Kraft – irrational und furchtbar.

NAMEN

Wenn Go an ihre Kindheit denkt, hört sie das abgewandelte Yoruba, das ihr Vater und ihre Antis untereinander sprechen. Und sie sieht die Tränen, die in die Augen ihres Vaters schießen, während er in VR verfolgt, wie ein bereits grauhaariger WiZe seine letzte Medaille erhält. Eine Ehrenmedaille für ein herausragendes Lebenswerk. Wenn sie zurückblickt, erscheinen ihr die ersten zehn Jahre als die besten Jahre ihres Lebens. Sie blendet dann den Verlust ihrer Mutter aus, und an die vielen Nächte, in denen sie schlaflos zwischen leeren Zimmern umherwanderte, denkt sie schon nicht mehr. An was sie sich erinnert, sind ihre Wortkreationen in Deutsch-Yoruba, über die sich die gesamte Familie bis nach Lagos amüsierte, und natürlich das Lachen ihrer Antis. Ganz besonders einen Tag wird sie nie vergessen: den Tag, an dem der 3-D-Drucker die Nachbildung eines Skateboards ausspuckte.

Ihre Verwandten sagen aus Spaß Junge-Mädchen oder Mädchen-Junge zu ihr. Als hätte Go von einer wunderbaren Sache aus Versehen die doppelte Portion abbekommen. Im Gegensatz zu anderen Kindern, die mit drei Jahren anfangen, sich als Mädchen oder Junge zu bezeichnen, versteht Go sich als Mädchen und als Junge. Lange Zeit ging sie davon aus, dass alle Menschen so über sich selbst denken. Wer glaubt schon tief im Inneren, eindimensional zu sein?

Die Erkenntnis, dass andere Menschen ein eigenes lebendiges Innenleben haben und nicht bloß Gos Projektionen sind, schlug bei ihr ein, als sie sechs Jahre alt war und ihr Vater sie fragte, ob sie nicht lieber ihren Nachnamen von Kazumi in Babatunde ändern möchte. Das war der Moment, in dem Go verstand, was Auf-die-Welt-Kommen tatsächlich bedeutet: in einem vorprogrammierten Game aufzutauchen. Jeder Avatar erhält bei Spieleintritt bestimmte Eigenschaften und Namen. Mit sieben Jahren bekommen dann alle ein Headset und In-Augen. Die einst geheimen Innenwelten sind ab da nicht mehr sicher.

Go entschloss sich, den Namen ihrer Mutter zu behalten. Beim nächsten Besuch im Gefängnis erzählte sie ihrer Mutter davon, die sich darüber freute. Kurze Zeit später verschwand Gos Mutter. In den darauffolgenden Jahren wurde Ren Kazumi so berühmt, dass Go ihre Entscheidung, den Namen zu behalten, manchmal bereut. Aber was soll sie machen? Außer dem Namen ist ihr von ihrer Mutter nichts geblieben. Manchmal fragt sie sich allerdings: Wer oder was war ich davor? Wer war ich vor meinem Namen? Wer war ich, bevor ich in diesem wahnsinnigen Game namens Leben gelandet bin?

Heute ist Go achtzehn Jahre alt. Dinge passieren mit ihrem Körper, aber nicht genug Dinge. Auf dem Torso erheben sich seit einiger Zeit Brüste, die sie mithilfe eines Binders versteckt. Trotzdem fühlt sie sich unvollständig, halbfertig, leer. Endlich achtzehn, endlich volljährig. Das bedeutet Freiheit und Abenteuer. Eine aufregende Zeit sollte jetzt anfangen, stattdessen hängt Go in nur einem einzigen Körper, streitet sich dauernd mit ihrem Vater und hat zu wenig Lernmodule abgeschlossen, um etwas anderes zu machen als das, was auch jede dahergelaufene KI fertigbringt.

Go liegt im Bett und starrt an die Zimmerdecke. Erst als sie das Knallen der Haustür hört, springt sie auf, streift im Lauf das Schlafgewand ab und stellt sich nackt vor den bodentiefen Flurspiegel. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag setzt sie sich jeden Morgen dem prüfenden Blick ihrer In-Augen aus. Bin ich vielleicht die Essenz eines lebendigen Wesens? Ein fließender Übergang? Genau wie das Board der fließende Übergang zwischen meinem Körper und der Straße ist?

Auf dem Board geht es Go immer gut. Sie ist dann in Bewegung, kommt aber nirgendwo an. Und genauso ist ihr Körper ständig in Aufruhr, kommt aber nirgendwo an. Mit dem Skateboard unter den Füßen und Plänen im Kopf könnte das die Zeit ihres Lebens sein. Was aber, wenn der eigene Körper ihr den Start ins Erwachsensein vermasselt?