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»Ist nicht jede Reise ein kleiner Selbstmord? Egal wohin wir gehen, wir kommen nie als dieselbe Person zurück.« (Titans Kinder) Verbunden in Space-Symbiose bilden Marlon, Rain und Sunita das perfekte Team - im All und auf fremden Planeten. Was als gewöhnliche Marsmission beginnt, wird für die drei zur Reise ins Ungewisse. Eine geheime Forschungsstation sendete vor Jahren ein Notsignal. Niemand weiß, was passiert ist. Nur eins ist sicher: Der betroffene Planet gilt als No-Go-Area. Eine Forschungsstation hätte es dort nie geben dürfen. Statt zum Mars reist das perfekte Team in die No-Go-Area. Dort wartet das größte Abenteuer ihres Lebens, etwas, das nicht nur sie selbst, sondern die gesamte Menschheit verändern wird.
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Seitenzahl: 247
Aiki Mira
AndroSF 156
Aiki Mira
TITANS KINDER
Eine Space-Utopie
AndroSF 156
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2022
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Martin Str (Pixabay)
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Kai Beisswenger
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 294 2
USBN dieses E-Books: 978 3 95765 810 4
Für Kiril und Fritz
»Was soll das heißen, wir landen nicht?«
Das hatte Marlon Khoury noch nicht erlebt, obwohl er seit zwanzig Jahren bei der ESA war. Ihr Ziel war der Mars, warum also weiterfliegen?
Zusammengepfercht in der ESP3 waren sie monatelang unterwegs gewesen. In dem Mittelklasseraumschiff zu reisen, hatte sich angefühlt, als würden sie sich zu dritt in ein Computerterminal quetschen. Überall hingen Rohre, Kabel, Hebel, Knöpfe. Praktisch jede freie Fläche wurde für irgendetwas genutzt. Wie in jedem Raumschiff, auf dem hart gearbeitet wurde, hatte es auch auf der ESP3 nach wenigen Tagen angefangen zu stinken. Schweißgeruch mischte sich mit dem scharfen Duft von Desinfektionsmittel und Müll. Der Berliner konnte es gar nicht erwarten, hier rauszukommen. Seit Wochen hatte er darauf gedrängt, die Landungssequenzen zu besprechen. Er putzte sich gerade die Zähne, da tauchte der Mars auf. Doch was sagte seine Kollegin Sunita Dhar? »Wir landen nicht. Unser wahres Ziel ist Titan, einer von Saturns Monden.«
»Titan?!«, presste er hervor. »Machst du Witze?«
Marlon wusste nicht viel über Titan, außer dass der Mond verdammt weit weg war. Durften sie überhaupt dorthin fliegen? Hatten ESA, NASA und CNSA den Saturnmond nicht wegen irgendwelcher Mikroben zur No-Go-Area erklärt? Er starrte Sunita an. Die große und muskulöse Ingenieurin starrte zurück. Sie hatte etwas von einer Weltraumpiratin.
»Wusstest du davon?«, fragte er die zweite Astronautin an Bord, Rain Seung, die er anfangs für einen jungen Mann gehalten hatte, bis sie ihm mitteilte, dass sie das Pronomen sie bevorzugte.
Auf seine Frage hin zuckte Rain mit den Schultern, mied seinen forschenden Blick, als hätte sie ein schlechtes Gewissen.
»Scheiße, wieso habe ich als Einziger nichts gewusst?«
»Marlon, dir fehlt die notwendige Sicherheitsstufe.«
Sunita hatte recht, er war bloß ein stinknormaler ESA-Astronaut.
»Aber für Titan habe ich mich nicht verpflichtet, verdammt!«
»Klar, Marlon, das hast du. Auf die Frage, ob du weiter als zum Mars fliegen würdest, wenn es die Mission verlangt, hast du ja angekreuzt.«
»Die Flugzeit beträgt fünf Jahre!«
»Keine Sorge, dein Gehalt und deine Boni werden angepasst.« Marlon schüttelte den Kopf. »Ich werde mehr als zehn Jahre unterwegs sein! Danach bin ich für die ESA zu alt. Dass das mein letzter Ausflug wird, hätte ich verdammt noch mal gerne vorher gewusst!«
»Das wird deine längste und weiteste Mission sein«, entgegnete Sunita gelassen.
»Dann war alles gelogen? Wir liefern keine Vorräte an eine Marsstation – sondern was? Warum Titan?«
Zu seiner Überraschung warf Sunita der viel jüngeren Kollegin Rain einen fragenden Blick zu, als wäre sie unsicher, was sie sagen durfte. Rain presste die Lippen aufeinander und starrte vor sich hin.
Sunita räusperte sich. »Also, was in dem Mars-Ordner steht, stimmt zum Teil. Wir fliegen zu einer Forschungsstation, bloß liegt die eben auf Titan.«
Marlon kratzte sich am Hinterkopf. Sie werden nicht einmal die ersten Menschen auf Titan sein. Mist. Eine Mission mit Erstkontakt wäre wenigstens ein schöner Abschluss seiner Astronautenkarriere gewesen – auch finanziell. Der Weg zum Saturnmond war lang und beschwerlich, die ESA notorisch pleite.
»Verdammt, ich glaub das einfach nicht.«
Sunita legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Marlon, wir brauchen dich, es ist eine wirklich wichtige Geheimmission.«
Wie immer gelang es ihr, die richtigen Worte zu finden. Er hatte das schon oft erlebt und jedes Mal erstaunte es ihn von Neuem. Mit Ende dreißig war er nicht mehr der Jüngste und seine Spezialkenntnisse in Fitness und Ernährung nicht besonders gefragt. Wenn er ehrlich war, hatte er nie damit gerechnet, jemals auf einer wichtigen Mission zu landen. Seine Wut ebbte ab. Versöhnlich stimmte ihn auch sein nächster Gedanke: »Ah, jetzt verstehe ich. Offiziell gibt es die Station auf Titan nicht?«
Sunita nickte. Sie war erleichtert. Die Algorithmen hatten recht behalten: Lüge und anschließende Beichte schweißten die Crew enger zusammen. Für die Mission waren die drei Astronauten eine Space-Symbiose eingegangen. Ein Computerprogramm hatte ihre Charaktereigenschaften aufeinander abgestimmt. Es fühlte sich fast so an, als hätten sie ihre erste Krise gemeistert.
An Bord gingen sie wieder zur Tagesordnung über. Sie züchteten Salat, reparierten Maschinen, desinfizierten, trainierten und meditierten. Doch egal, wie viele Aufgaben Marlon erledigte, der Gedanke, auf dem Weg ins Ungewisse zu sein, blieb immer in seinem Hinterkopf, traf ihn jedes Mal unvorbereitet und warf ihn dann fast um. Doch an Umkehr war nicht zu denken. Mit jeder Sekunde näherten sie sich einer neuen, unbekannten Welt.
Marlon nahm sich vor, die restliche Zeit an Bord – mehr als vier Jahre! – zu nutzen, um alles über Titan herauszufinden. Er durchforstete Datenbanken nach Bildern und Artikeln. Titan war nicht nur der größte Mond des Saturn und der zweitgrößte natürliche Satellit im ganzen Sonnensystem, sondern auch der einzige Mond, der eine dichte Atmosphäre besaß, und der einzige bekannte Körper im Weltraum außer der Erde, bei dem eindeutige Hinweise auf Oberflächenflüssigkeit gefunden worden waren. Vorwiegend Methan. Für die Entwicklung von Leben sollte flüssiges Methan sogar besser geeignet sein als H2O. Eine dicke, orange-gelbe Hülle umschloss den Mond, weshalb es kaum Bilder von Titans Oberfläche gab.
Marlon warf einen langen Blick auf die Kugel, die nun nicht mehr am Bildschirm, sondern im Bordfenster erschien. Seit er von Titan wusste, hatte er auf diesen Tag hingearbeitet, über Jahre seinen Körper trainiert und alles Wissen über den fremden Mond aufgesogen. Als es endlich so weit war, fühlte er sich trotzdem nicht bereit. Er hatte keine Ahnung, was ihn dort unten erwarten würde. Selbst den besten bildgebenden Instrumenten ihres Raumfahrzeugs gelang es nicht, die Atmosphäre von Titan zu durchdringen. Für Marlon sah der Mond aus wie senffarbener Marmor, so glatt und ohne Merkmale, dass er fast schon trotzig wirkte. Als wollte der Mond dem Betrachter sein Geheimnis nicht preisgeben. Marlon spürte ein Ziehen im Bauch. Er wandte sich Sunita zu. Die Athenerin stand neben ihm und schaute stumm zum Fenster hinaus. Mittlerweile wusste er, dass sie und Rain für die europäische Unternehmensgruppe BionX arbeiteten, die neben Laborfleisch auch Biowaffen herstellte. Als ESA-Astronaut eine Nebentätigkeit für die Privatwirtschaft auszuüben war nicht ungewöhnlich, bei der miesen Bezahlung geradezu eine Notwendigkeit.
»Auch wenn es offiziell eine ESA-Mission ist, zieht BionX im Hintergrund die Fäden, stimmt’s?« Sunita reagierte nicht. Marlon ließ nicht locker: »Testet BionX auf Titan neue Waffensysteme? Waffen, die internationalen Abkommen entsprechend nicht entwickelt werden dürfen?«
Warum sonst flogen zwei BionX-Mitarbeiterinnen unter dem Banner der ESA? Die Geschichte stank doch zum Himmel. Auf was hatte er sich nur eingelassen?
Sunita blickte unverwandt hinaus. Ein riesiges Konstrukt aus scheinbar zusammengewürfelten Modulen schob sich jetzt am Bordfenster vorbei.
»Da sollen wir andocken?«, fragte er.
Unmerklich nickte sie.
Marlon stöhnte. »Die Raumstation sieht genauso abgewrackt aus wie die Station vom Mars.«
Er drehte sich vom Fenster weg, suchte das Gesicht seiner Kollegin: »Auf dem Mars tummeln sich kaum noch Forschungsteams. Die wenigen, die es noch gibt, werden von der transnationalen Waffenindustrie bezahlt – sieht es auf Titan auch so aus?«
Sunitas Unterkiefer spannte sich. Durfte sie nichts sagen oder – was noch viel schlimmer wäre – wusste sie so wenig wie er? Bei dem Gedanken wurde Marlon ganz kalt.
Die Bord-KI nahm Kontakt mit Titans Raumstation auf. Programme kommunizierten untereinander. Kurze Zeit später klappten die Halteklammern der Station aus und streckten sich der ESP3 wie zwei Arme entgegen. Die Bord-KI manövrierte das Schiff in die steife Umarmung der Station. Die KI-Systeme tauschten weitere Daten miteinander aus, und die Crew der ESP3 erfuhr, dass seit zehn Jahren kein Raumschiff mehr hier angedockt hatte.
Sobald die Luftbrücke stand, schlüpften alle in ihre Anzüge. Neugierig musterten sie sich in ihren neuen Outfits. An den Füßen trugen sie jetzt elastische Stiefel mit tiefem Profil und eingebauter Dämpfung, um hohe Sprünge abzufedern. Auffällige, biolumineszierende Streifen prangten in allen Farben an Armen, Beinen und Rücken. Damit würden sie sich in Titans smogartiger Atmosphäre gegenseitig erkennen können. Marlon war froh, dass sie die sperrigen, unter Druck stehenden Anzüge, die sie bei Außenbordeinsätzen nutzten, auf Titan nicht mehr brauchten. Dann überkam ihn ein mulmiges Gefühl: »In so leichter Bekleidung sollen wir eine lebensgefährliche, außerirdische Welt betreten?«
Sunita lachte. »Keine Sorge. Titan ist nicht so unwirtlich wie die anderen Welten unseres Sonnensystems, wie Luna oder Mars. Die Titanatmosphäre besteht zu fünfundneunzig Prozent aus Stickstoff. Unsere Körperflüssigkeiten werden nicht zu kochen anfangen. Ohne Sauerstoffmasken werden wir allerdings nicht herumlaufen können.«
Im nächsten Moment stülpten sie sich eine transparente Membran über. Wie eine zweite Haut schmiegte sie sich über Gesicht und Hinterkopf. Angeschlossen an einen Sauerstofftank, den sie am Rücken trugen, sorgte die Maske für Wärme- und Luftzufuhr.
»Da unten erwarten uns Temperaturen um die minus hundertachtzig Grad Celsius. Der dünne Stoff sieht nicht so aus, als ob er uns warmhalten kann.«
Bei Marlons Worten zog Rain eine Augenbraue nach oben.
Gemeinsam hatten sie die Ausrüstung ausgiebig getestet, in voller Montur sogar Kampfmanöver eingeübt. Obendrein hatte Marlon sie darin regelmäßig über das Laufband gejagt.
»Verlier jetzt bloß nicht die Nerven«, knurrte Sunita und hielt ihm zwei Roboterhandschuhe hin. »Reiß dich zusammen und zieh das über.«
Widerwillig legte Marlon das mechanische Exoskelett um Hand und Unterarm. Dann folgte er Sunita in den Frachtraum. Die Ingenieurin deutete auf die tonnenschweren Container: »Die müssen alle in den Lift.«
Rain begab sich zur Kommunikationsanlage der Raumstation, um Kontakt mit Titans Forschungsstation aufzunehmen.
Sunita und Marlon hatten gerade den letzten Container verladen, da tauchte Rain auf.
»Keine Antwort«, berichtete sie.
»Liegt das an der Technik oder meldet sich auf Titan niemand?«
Die Bioinformatikerin zuckte mit den Schultern. Auch das machte Marlon nervös.
Schweigend betraten sie den Fahrstuhl, der sie mit samt der Fracht runter auf Titan bringen sollte. Eine Mischung aus Euphorie und Untergangsstimmung durchströmte ihre Körper. Mit einem Dröhnen löste sich der Fahrstuhl aus der Halterung und stürzte nach unten. Der Abstieg dauerte fast zwei Stunden.
Ihre Gesichter klebten an den Gucklöchern. Doch erst in sechzig Kilometer Höhe lichtete sich der Dunst. Unter orangefarbenen Himmel hoben sich schroffe, erdähnliche Berge aus Eis, dazwischen streckten sich Seen. Nach so vielen Jahren waren sie endlich angekommen! Bloß eine dünne Scheibe trennte sie noch von der außerirdischen Welt. Marlon konnte nicht anders, trotz des unguten Gefühls, musste er grinsen.
»So wie es da draußen aussieht, scheint die Atmosphäre einen viel höheren Smoganteil als die Luft über Berlin zu haben.«
»Nicht schlimmer als in Athen«, entgegnete Sunita mit einem Zwinkern. Dass seine Kollegin zu Scherzen aufgelegt war, beruhigte ihn ungemein. Mit ernsterer Stimme fügte Sunita hinzu: »Im Unterschied zu Athen sammelt sich der Smog hier allerdings in so hoher Konzentration, dass es regelmäßig benzinähnliche Flüssigkeiten regnet.«
»Benzinartiger Regen? Scheiße, wir landen auf einer einzigen großen Bombe, die nur darauf wartet, von uns angezündet zu werden!«
Es klang jedenfalls nicht nach einem guten Ort zum Leben.
»Keine Sorge, Marlon. Jede Verbrennung erfordert Sauerstoff. Solange wir mit unseren Sauerstofftanks supervorsichtig sind, droht uns keine Gefahr.«
Sunita grinste.
Marlon fluchte.
Mit einem Krachen setzte der Fahrstuhl in der nördlichen Hemisphäre auf, dort, wo sich die meisten Seen befanden. Die Injektionen wirkten. Niemand kotzte. Rain war erleichtert. Sie konnte Körperflüssigkeiten nicht ausstehen. Die Bioinformatikerin schnallte sich als erste ab und verließ sogleich den Fahrstuhl. Während der Winter rührte sich die kalte, schwere Luft kaum. Aber jetzt änderten sich gerade die Jahreszeiten. Die Sonne überquerte den Äquator in Richtung Norden. Der Sommer kam und würde sieben Jahre lang Licht, Wärme und Wind in Titans Seenland bringen. Rain setzte einen Fuß nach vorne und hob sogleich vom Boden ab. Durch die schwache Anziehungskraft war Titan ein großartiger Ort zum Springen. Die schmale Astronautin kontrollierte die Anzeige in ihrem Anzug. Die Luft war viel dichter, der atmosphärische Druck etwa sechzig Prozent höher als auf der Erde. Sie schaute sich um. Eine Welt wie gehüllt in gelbes Flackern. Instinktiv zog sie den Kopf ein. Das Licht erinnerte sie an das gelbliche Sturmlicht von London. Als könnte es jeden Moment anfangen zu donnern und zu blitzen. Rain fühlte sich wackelig, fast schon zittrig auf den Beinen. Keinen einzigen Außenbordeinsatz hatte sie mitgemacht. Jedes Mal war sie lieber drinnen in Sicherheit geblieben, als im Weltraum zu spazieren. Das schützende Raumschiff nach so vielen Jahren zu verlassen, fiel ihr besonders schwer. Aber das wollte sie um keinen Preis ihre Crew merken lassen. Fuck, mit meinen sechsundzwanzig Jahren halten sie mich sowieso für ein Baby. Sie schwankte. Ihr Gehirn hatte Probleme, den festen Boden und den darüber hängenden Horizont zu akzeptieren.
»Alles in Ordnung?«, fragte Marlon über das Interkomm.
Sie knirschte mit den Zähnen, aber antwortete nicht.
Hinter ihr gab Sunita ein grunzendes Geräusch von sich, was über das Interkomm direkt in Rains Schädel drang. Vor Schreck verlor sie erneut das Gleichgewicht. Bei der kleinsten Bewegung schwebte sie über dem Boden. Fuck, das ist wie das Gehen auf dem Boden eines Schwimmbeckens! Aber das sagte sie nicht laut. Sie fürchtete, sobald sie den Mund aufmachte, in die Gesichtsmembran reihern zu müssen. Zumindest würden die Container in der geringen Schwerkraft leicht zu verladen sein. Sunita machte sich gleich an die Arbeit. Rain hüpfte weiter in Richtung Swifter, einer eckigen Flugmaschine, die in der Nähe des Fahrstuhls wartete. Vor dem gelblichen Himmel vibrierte die Maschine, als würde der Motor bereits laufen. Rain hielt Ausschau nach dem Rest der Crew. Sunita schob den ersten Container. Marlon stand noch immer am Fahrstuhl. Der Astronaut sah besorgt aus. Hat er Angst, dass ich fortgeblasen werde? Bevor Rain das zu Ende denken konnte, riss eine Böe an ihr, als wollte sie mit ihr spielen.
Sobald die Container im Bauch der Flugmaschine verstaut waren, nahmen alle ihre Plätze ein. Marlon quetschte seinen kompakten Körper direkt vor das Steuerungsmodul. Der Swifter würde sich zwar selbst steuern, im Notfall wollte der Berliner jedoch übernehmen können – dass er dazu fähig war, wusste Rain. Marlon konnte es sich nicht verkneifen, sie alle erneut daran zu erinnern: »Hey, Leute, wenn was schiefläuft, kümmere ich mich!«
Sunita lächelte vage. Rain biss die Zähne aufeinander. Für sie klang es wie eine Drohung. Mühelos hob die Maschine ab und flog in Richtung eines riesigen Sees. Das flüssige Methan glänzte darin wie geschmolzenes Quecksilber. Selbst jetzt im Sommer, wenn der Wind auch hier oben im Norden blies, entstand in der Flüssigkeit kein welliges Muster, wie sie es von terrestrischen Seen gewöhnt waren. In der übrigen Landschaft zeigten sich die Spuren des Windes überdeutlich. Die gelblichen Staubdünen schienen angeschoben vom Wind durch die Landschaft zu fahren. Eisbrocken kullerten umher. Einzig der See unter ihnen blieb gespenstisch glatt. Rain spürte das Grauen in sich aufsteigen.
Am oberen Zipfel des Sees erhob sich der mehrstöckige Bau der Forschungsstation. Bei dessen Anblick stieß Marlon einen Laut aus. Lange hat sein Schweigen nicht gehalten, dachte Rain.
»Gebt es zu«, sagte Marlon, »das hier ist keine normale Versorgungsmission. Wir sind nicht hier, um bloß Container abzuliefern.«
Gerade wollte er weitersprechen, da tauchte hinter der Station ein kleinerer See auf, der vollkommen anders aussah als alles, was sie bisher gesehen hatten. Eine grüne Masse, die mit der Landschaft über Rinnsale verbunden zu sein schien, an einigen Stellen sogar ins Eis wucherte. Sunita schnappte hörbar nach Luft.
»Fucking fantastisch!«, entfuhr es Rain.
Die anderen drehten die Köpfe zu ihr. Aber niemand war so überrascht wie Rain über sich selbst. Die junge Bioinformatikerin sprach so selten, dass ihr die eigene Stimme fremd vorkam.
Sie kniff die Augen zusammen. Doch wie sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht erkennen, ob sich die grüne Masse bewegte. Die gesamte Landschaft schien jetzt zu pulsieren. Dadurch sah alles ein bisschen verschwommen aus. Aber das konnte auch am Landeanflug liegen. Die KI leitete bereits die dafür notwendige Sequenz ein.
Marlon drückte die große Nase an der Scheibe platt. »Scheiße, dieser See gehört nicht zu Titan!«
Genau, dachte Rain, und ist das nicht das Fantastische daran? Wie Marlon hatte auch Rain alle Bilder studiert, die von Saturns größtem Mond existierten. Grün war nicht Teil der lokalen Farbpalette. Was war hier passiert? Bilder eines furchtbaren Industrieunfalls stiegen in ihr auf.
Marlon drehte sich zu ihr, als besäße sie Antworten: »Was für eine abgedrehte Scheiße ist das denn? Eine neue Biowaffe? Der fehlgeschlagene Versuch von Terraforming?«
Sunita räusperte sich. »Du hast recht, Marlon, das hier ist keine normale Versorgungsmission. Wir sind hier, weil ein unspezifischer Notruf die Erde erreichte. Danach Funkstille.«
»Und das sagst du erst jetzt?!«
Noch während er das rief, schien ihm bewusst zu werden, dass Rain auf Sunitas Worte vollkommen gelassen reagierte. »Weißt du im Gegensatz zu mir längst Bescheid?«
Rain fühlte sich ertappt. Was sollte sie ihm sagen?
»Wir sind von BionX zum Schweigen verpflichtet worden«, erklärte Sunita und streckte ungelenk ihren Roboterarm nach Marlon aus. Der riss an seinem Gurt, als wollte er aufspringen. »Soll das ein Witz sein? Trotz des Notrufs hat BionX nicht einmal einen Photonenantrieb spendiert? Seit dem abgesetzten Notsignal sind Jahre vergangen! Wahrscheinlich sind die Bewohner der Station längst tot! Und uns wird das Gleiche passieren!«
Sein Gesicht verfärbte sich, wurde immer dunkler. Offenbar schoss ihm gerade das gesamte Blut in den Kopf. Das sah aus, als wollte sich der Kopf vom Körper lösen. Rain fürchtete, dass er vor Zorn keine Luft mehr bekam. Zu ihrem Entsetzen griff er nach der Steuerung, beschleunigte den Abgang. Die zierliche Bioinformatikerin klammerte sich an den Sitz, wurde aber derart durchgeschüttelt, dass sie nicht mehr klarsehen konnte. Sie fluchte. Einmal angefangen konnte sie nicht mehr aufhören: »Fuck, der fucking Idiot bringt uns alle fucking um!«
Mit jedem Wort rutschte sie vom internationalen Englisch, das sie untereinander sprachen, mehr und mehr ins Britische. Marlon hämmerte auf das Steuerungsmodul ein. Die manuelle Landung war offenbar schwieriger als gedacht und das schien ihm mehr zuzusetzen als die abgefuckten Namen, die Rain ihm an den Kopf warf. Mit Donnern landeten sie auf einer vereisten Düne. Wie wollte er die Riesenmaschine darauf sicher zum Stehen bringen? Rain fluchte weiter.
Endlich kamen sie zum Halt. Einen Moment blieben alle still. Dann schimpfte Rain wieder los. Sie konnte nicht anders. Ihrem Gegenüber brach der Schweiß aus. Sunita hob endlich die Stimme: »Ruhe verdammt!«, und an Marlon gewandt: »Bist du irre?«
Irre hätte sie nicht sagen dürfen. Schließlich wusste sie, wie empfindlich der Berliner darauf reagierte. Sunita biss sich auf die Unterlippe. In Sichtweite hob sich die Kuppel der Station hell und freundlich in den gelblich braunen Himmel. Den seltsamen Minisee, der dahinter lauerte, konnten sie von hier unten nicht sehen. Marlon zeigte aufgebracht in Richtung Station: »Versteht ihr denn nicht? Das grüne Zeug – das hat alle umgebracht! Deshalb konnten wir niemanden erreichen!«
Rain tauschte einen Blick mit ihrer Kollegin. Sunita legte ihre Roboterhand auf Marlons Unterarm. Das neue Gewicht hinderte Marlon daran, vor Ärger abzuheben. Gerade rang sich Sunita zu einer Erklärung durch, da fing das Interkomm des Swifters an, zu rauschen. Eine Stimme mit französischem Akzent rief: »Haut ab!«
Alle drei sahen sich an.
Seht ihr, schien Marlons Gesichtsausdruck zu sagen, nichts wie weg hier! Bevor er das zu Ende denken konnte, erstarrte seine Mimik. Auf Sunitas Gesicht machte sich ein Lächeln breit: »Na, was sagst du dazu, es gibt Überlebende!«
Überlebende? Wieso beruhigte ihn der Gedanke nicht? Marlon sah zu, wie Rain am Interkomm hantierte. Ruhig, beinahe freundlich sprach sie ins Mikrofon: »Hallo, hier ist die Crew der ESP3, bitte identifizieren Sie sich.«
Wieder rauschte es, aber wer auch immer vor dem Interkomm der Forschungsstation saß, konnte sich nicht dazu durchringen, zu antworten. Ungeduldig beugte sich Sunita über das Mikrofon: »Wir arbeiten für BionX, wir sind gekommen, um zu helfen, wir haben Nahrung und Ausrüstung dabei.«
Wieder nichts.
Und dann: »Ich habe euch gewarnt.«
Ein Knacken in der Leitung und schließlich: »Bringt den Swifter ins Vorzelt, dort könnt ihr entladen.«
Danach war nur ein lang gezogenes Piepen zu hören.
»Ganz offensichtlich sind wir hier nicht erwünscht … «, sagte Marlon.
Sunita schien das nicht zu stören. Sie reaktivierte das KI-System und der Swifter hob ab. Im eleganten Bogen flog die Maschine zur Station. Dort rollte sie, wie angewiesen, in den überdachten Eingangsbereich. Marlon entriegelte seine Elektroimpulspistole. Alle stiegen aus. Sunita kam in Anzug und Atmosphäre bereits bestens voran, bewegte sich kraftvoll wie eine professionelle Turnerin. Marlon folgte in wackeligen, zaghaften Schritten. Erleichtert stellte er fest, dass Rain mindestens genauso große Schwierigkeiten hatte wie er. Ihr schmales Gesicht war unnatürlich grün, und sie presste die Lippen aufeinander. Marlon fühlte sich so, wie Rain jetzt aussah. Ohne ein Wort sprang seine Kollegin zum Eingang. Warum wartete sie nicht? So ein leichtsinniges Verhalten verstörte den erfahrenen Astronauten. Gerade von der stillen Bioinformatikerin hatte er ein Vorpreschen nicht erwartet. Offenbar konnte sie die schützende Hülle der Station nicht schnell genug erreichen. Auch sein Körper sehnte sich nach einem Dach und nach Wänden. Mehrmals drehte sich ihm der Magen um. Er hatte das Gefühl, jeden Moment umzukippen.
Über das Interkomm rief er nach Rain. Er wollte nicht, dass sie sich trennten. »Wer weiß, was uns in der Station erwartet. Du solltest auf gar keinen Fall allein reingehen«, und an Sunita gewandt: »Wollen wir wirklich unsere gesamten Vorräte entladen? Wir wissen nicht, ob die Station sicher ist.«
Niemand nahm seine Einwände ernst. Als BionX-Mitarbeiterinnen besaßen Rain und Sunita entweder mehr Informationen oder mehr Vertrauen. Marlon starrte Sunita an, die bereits den ersten Container entlud. Dann raffte er sich endlich auf und half mit.
Als sie fertig waren und den Eingang suchten, war Rain längst außer Sichtweite. Nervös spielte er am Abzug der Schusswaffe. Auch wenn Sunita versicherte, alles sei in Ordnung, fürchtete er einen Hinterhalt. Von wem konnte er nicht sagen. Mit gezückter Waffe schob er sich vor Sunita durch den Eingang. Sobald sie drin waren, schloss sich die Tür. Die Luftschleuse wurde freigegeben. Nach einer kurzen Dekontaminationsdusche betraten sie einen Umkleideraum. Dort fanden sie Rains Anzug. Rain selbst war nirgends zu sehen. Sie war offenbar in die Freizeitkleidung geschlüpft, die für alle bereitlag. Sunita nahm die Sauerstoffmaske ab und tat es ihr nach. Marlon weigerte sich, aus Angst, die Luftzufuhr der Station funktioniere nicht richtig.
Kurz darauf betraten sie die Eingangshalle. Durch das in der Dekontaminationsdusche versprühte Desinfektionsmittel hing jetzt ein Schleier auf Marlons Gesichtsmembran, wodurch er nicht richtig sehen konnte. Der Raum wirkte wie vernebelt. Schemenhaft entdeckte er zwei Gestalten. Mit ausgestreckter Waffe ging er auf sie zu. Ohne Warnung traf ihn ein Schlag zugleich gegen Kopf, Arm und Brust. Seine Waffe flog davon. Sunita zischte hinter ihm: »Nimm endlich die Maske ab!«
Marlon blinzelte, ohne Membran schien alles viel heller zu sein. Direkt vor ihm stand Rain, neben ihr stand eine weitere Person. Nicht viel größer als Rain. Er sollte keine Angst vor der Fremden haben und doch –
Rotes abstehendes Haar, robuster Körperbau: Die Fremde besaß die Ausstrahlung einer Kampfmaschine. Die Waffe lag zwischen ihnen auf dem Boden. Der Lauf zeigte auf Marlon. Einen Moment starrten beide darauf. Fast gleichzeitig hoben sie die Gesichter und sahen sich an. Er schätzte, sie war wie er um die vierzig Jahre alt. Eckiges Gesicht mit unnatürlich grünen Augen und schmalem Mund. Ihre Laserblicke gingen ihm bis ins Knochenmark. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, hob sie die Waffe auf und gab sie ihm zurück.
Wer war sie bloß?
»Verve Delacroix«, sagte Sunita, als könnte ein Name alles erklären. Da fiel ihm ein, warum der Name ihm so bekannt vorkam. Verve Delacroix hatte es mehrmals in die internationalen Nachrichtenstreams geschafft. Zwei Mal hatte die Astrobiologin den Nobelpreis abgelehnt und irgendwann ihr Forschungsinstitut in die Luft gejagt. Das Letzte, was Marlon über sie gelesen hatte, war, dass sie beabsichtigte, in die Wirtschaft zu wechseln. Das war Jahre her. Seitdem tauchte Verve Delacroix nicht mehr in den Nachrichten auf. Offenbar arbeitete sie jetzt für BionX auf Titan.
Als könnte sie jeden seiner Gedanken lesen, verzog Verve die Lippen. Nach außen trug sie einen Ausdruck von spöttischer Langweile, in ihr brannte jedoch eine nicht genau bestimmbare Leidenschaft, die Marlon furchtbar anziehend fand. Er spürte, wie er unter ihrem Blick rot wurde. Sunita half ihm auf die Beine. »Ich bin Sunita Dhar und das ist Marlon Khoury.«
Verve nickte.
Dank der Stations-KI wusste sie über die Neuankömmlinge Bescheid. Die KI hatte dafür gesorgt, dass am Fahrstuhl der Swifter bereitstand. Wenn es nach Verve gegangen wäre, hätte sie den Besuchern bereits das Andocken an der Raumstation verwehrt. Aber die KI hatte wie immer recht: Verve brauchte nicht nur neue Vorräte und Ausrüstung. Sie brauchte neue Menschen! Ohne Menschen würde sie ihre Arbeit nicht weiterführen können. Sie musterte ihr Gegenüber. Marlon Khoury war nicht besonders groß, dafür genauso breit gebaut wie sie selbst. Sie registrierte seine große Nase, die gefährlich aussehende Narbe über der Stirn und die Haarsträhne, die ihm lässig vors Auge baumelte. Und sie dachte: Männlichkeit in Großbuchstaben. Sie hoffte, er war nicht so naiv, wie er tat.
Marlon wich den Blicken aus, indem er sich neugierig umschaute. Obwohl die Kuppel hoch wie ein Wolkenkratzer war, schien die Decke der Empfangshalle vergleichsweise niedrig zu sein. Er vermutete, dass die Station in mehrere Etagen eingeteilt worden war, um die Räumlichkeiten kleiner zu machen und sie dadurch leichter beheizen zu können. Die Anzeige seines Anzugs meldete eine Zimmertemperatur von angenehmen fünfzehn Grad Celsius.
»Geheime Stationen wie diese hier gibt es auch auf dem Mars.« Sie sollte nur nicht glauben, er kenne sich nicht aus.
»Offiziell heißen sie Geschlossene Stationen«, verbesserte ihn Verve.
»Ich weiß«, versicherte Marlon, »der Zutritt ist eingeschränkt, und ihre genaue Lage wird auf keiner offiziellen Karte vermerkt.« Auf der Erde galten sie als Experimentierkästen der Rüstungsindustrie, dienten oft als Militärstützpunkte. War das hier auch der Fall?
»Ich habe immer gedacht, solche Orte werden durch Kontrollposten, bewaffnete Androiden oder Sicherheitszäune abgeschirmt.« Er schaute sich um. Das Mobiliar wirkte abgenutzt. An den Wänden gab es Markierungen und Pfeile. An einer Wand hing sogar einer dieser eckigen Computer, die vor allem auf außerirdischen Stationen im Gebrauch waren. Die grün schimmernden Bildschirme erinnerten Marlon immer an Unterwasserlandschaften. Auf dem Mars waren die meisten Stationen wegen der hohen Kosten aufgegeben worden. In einigen hausten noch Maschinen, die selbstständig Proben sammelten und Experimente durchführten. Aber wirklich aktiv waren sie nicht. Marlon ließ den Blick weiterwandern, auch in dieser Station war es unheimlich still – abgesehen vom Surren des Computers und dem Heulen des Titanwindes. Wo waren die Bewohner? Müssten hier nicht mehr Menschen sein? Er schwenkte den Blick zurück zu Verve, die mit seinen Kolleginnen bereits besprach, wo sie untergebracht werden könnten. Wie an Bord der ESP3 verständigten sich alle in einem Englisch, das sich außer bei Verve und Rain keinem bestimmten Land mehr zuordnen ließ. Die Neuankömmlinge hatten Fragen, waren aber zu erschöpft, um sich gegen die offizielle Prozedur zu wehren. Ohne Protest durchliefen sie die medizinischen Tests und gaben dem zentralen Computersystem bereitwillig Auskunft. Danach bezogen sie ihre Kabinen. Marlon wechselte endlich in die Freizeitkleidung, die aus einem beigen Hemd und einer beigen Hose bestand, was ihn irgendwie an Häftlingsuniformen erinnerte.
Er und Sunita teilten sich eine Kabine mit zwei schmalen Kojen. Rain bekam ebenfalls eine Doppelkabine, bei ihr war die zweite Koje leer. Die Zimmer waren durch verschließbare Luken voneinander abgetrennt. Leitern führten in die oberen Etagen. Marlon erinnerte das an ein U-Boot. Die Stationen auf dem Mars waren nicht so kompakt gebaut. Als rechneten sie hier mit einer Überflutung. Wenn er an Titans Seen und Regenwolken dachte, war das vielleicht gar nicht so abwegig. Sobald sie die wenigen persönlichen Sachen in einem Fach unter der Koje verstaut hatten, plumpsten Marlon und Sunita völlig erschöpft auf die schmalen Betten. Sie hätten sofort einschlafen können. Ihre Körper schmerzten, als wären sie seit Tagen wach. Nach fünf Jahren im All waren Gehirn und Körper von der Ankunft auf einem fremden Planeten vollkommen überfordert. Sie fühlten sich ausgebrannt, fast schon depressiv. An Marlon nagte zusätzlich eine schreckliche Vorahnung. »Verdammt, wo sind die anderen? Hast du jemanden gesehen?«
Sunita zuckte nicht einmal mit den Schultern, so fertig war sie. Ohne einen Laut von sich zu geben, ließ sie sich nach hinten kippen. Für Marlon war es seltsam, seine Kollegin ohne die nach oben strömenden Tentakelhaare zu sehen. Aufgrund der Schwerkraft hing ihr die Mähne über die Schultern. Dadurch sah sie fremd aus.
»Was soll das Ganze? Wir sind wegen eines Notrufs hier, warum sagt uns niemand, was passiert ist? Was es mit dem grünen Zeug da draußen auf sich hat.«
»Marlon, der Notruf wurde vor mehr als fünf Jahren abgesetzt. Glaubst du nicht, wir können da ein paar Stunden warten?«
Marlon warf ihr einen prüfenden Blick zu. Meinte sie das ernst? Ihr Gesicht sah besorgt aus. Offenbar besaß auch sie nicht mehr Informationen als er, was ihn wiederum nervös machte. Trotz oder gerade wegen der Erschöpfung waren beide wie aufgekratzt. Marlon schlug mit den Beinen gegen das Bett. Er konnte einfach nicht still liegen bleiben. Auch Sunita knetete ununterbrochen ihre Finger. Plötzlich sprang sie auf und inspizierte jede Ecke. Sie fand nur zwei in die Wand eingeklappte Schubladen. Beide leer. Als hätte hier drin nie jemand anderes gehaust.
»Irgendwo wird es schon Spuren der übrigen Stationsbewohner geben«, sagte sie so laut und bestimmt, als wollte sie damit vor allem sich selbst beruhigen.
Kurz darauf, auf dem Weg zur Kantine, hielten beide Ausschau. Nichts und niemand. Die Gänge und Räume, an denen sie vorbeikamen, waren bedrohlich leer und düster. Das Geisterheulen des Windes machte das nicht besser.