Proxi. Eine Endzeit-Utopie - Aiki Mira - E-Book

Proxi. Eine Endzeit-Utopie E-Book

Aiki Mira

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Postapokalyptischer Hopepunk von einem Shooting-Star der deutschsprachigen Science Fiction. Proxi ist eine virtuelle Realität, die ein zweites Leben mit neuen Identitäten ermöglicht. Als ein Virusangriff diese Realität zerstört, ist das für viele ein Weltuntergang: Teile ihres Lebens, ihres Selbst sind für immer ausgelöscht. Die trans Frau Monae, die E-Sportlerin Kawi und Dion, eine KI im Biosynth-Körper wollen ihre verlorene Welt zurück. Zusammen begeben sie sich auf die Suche nach der versteckten Sicherheitskopie von Proxi. Ein Roadtrip durch eine von Klimakrise und Biohacking veränderte Landschaft beginnt. Schnell wird klar: Die drei sind aufeinander angewiesen. Um zu überleben und ihr Ziel zu erreichen, müssen sie einander vertrauen - doch nicht alle verfolgen das gleiche Ziel …   "Das, was mich faszinierte, war die Schreibe selbst - diese präzise Art zu beobachten, die Sicherheit bei der Wortwahl, die Musikalität der Sätze. Derlei finde ich selten. Ich fühlte mich an William Gibson erinnert, nur, sagen wir mal, frischer, moderner." Andreas Eschbach über Neongrau Für Leser*innen von Ursula K. Le Guin, Neal Stephenson, William Gibson

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 396

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aiki Mira

Proxi

Eine Endzeit-Utopie

 

 

Über dieses Buch

 

 

Proxi ist eine virtuelle Realität, die ein zweites Leben mit neuen Identitäten ermöglicht. Als ein Virusangriff diese Realität zerstört, ist das für viele ein Weltuntergang: Teile ihres Lebens, ihres Selbst sind für immer ausgelöscht. Die Transfrau Monae, die E-Sportlerin Kawi und Dion, eine KI im Biosynth-Körper wollen ihre verlorene Welt zurück. Zusammen begeben sie sich auf die Suche nach der versteckten Sicherheitskopie von Proxi. Ein Roadtrip durch eine von Klimakrise und Biohacking veränderte Landschaft beginnt. Schnell wird klar: Die drei sind aufeinander angewiesen. Um zu überleben und ihr Ziel zu erreichen, müssen sie einander vertrauen - doch nicht alle verfolgen das gleiche Ziel …  

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Aiki Mira studierte in London und Bremen Medienkommunikation und forschte zu Gaming. Heute lebt Aiki in Hamburg und in der Science Fiction. Für ihre Kurzgeschichten erhielt sie zwei Mal den Deutschen-Science Fiction-Preis. Der Roman »Titans Kinder« stand monatelang auf der Phantastik-Bestenliste, und »Neongrau« gewann den Kurd-Laßwitz-Preis. Von der European Science Fiction Society wurde Aiki mit dem Chrysalis Award ausgezeichnet.

Inhalt

[Widmung]

[Prolog]

24 Stunden vor dem Anfang …

Ins Ungewisse

Stimmen

Am Totpunkt

9 Monate nach dem Ende …

Ein neuer Anfang …

Anmerkung und Dank

Für Kiril und Fritz

In der Frontscheibe des SolarCampers wölbt sich ein Meer – kristallin und bunt. Darin schieben sich Dünen zu Wellen. Überall dazwischen wachsen Skulpturen aus Müll, von Sturm und Sonne verschmolzen zu Plastiglomerat. Baumskelette in Neonlaserfarben – Solariumlila, Plutoniumgrün, Ozonblau und Dieselgelb. Nichts können diese Bäume mit ihrer Umwelt austauschen. Weder Wasser noch Gase oder Nährstoffe. Sie durchstechen den Himmel und schreiben in zittrigen Linien, was niemand mehr lesen kann. Ihr Anblick frisst sich in den Körper.

Tell stöhnt. Sein Hirn scheint in drei Teile zu zerspringen. Ein Teil folgt den Navigations-Anweisungen von Kawi: »Nordost, Sus! Nordost!«

Ein zweiter sieht sich selbst dabei zu – stirnrunzelnd.

Ein dritter beobachtet das Anschwellen der Landschaft. Winde strömen von allen Seiten, brechen ins Sichtfeld wie ein ungutes Gefühl.

Der SolarCamper schaukelt mit der Behäbigkeit eines Flüssiggas-Tankers auf seiner letzten Fahrt. Außer ein paar Sitzen, einer Schlafkabine und Kochnische ist da nur eine Batterie, drei Motoren und ein Touchscreen. Das Wertvollste ist die Solarhaut: hocheffiziente Photovoltaik-Module. Damit ist der Bus auch abseits der Supercharger-Netzwerke fahrtüchtig. Geländetauglich.

»Nașpa!«, ruft Kawi.

Tell versteht nicht. »Wesh, Sus?«

Euromisch – aus jedem Mund klingt das Mush ein bisschen anders.

»Nașpa bedeutet, der Himmel hat eine schlechte Auflösung. Wenig Licht.«

»Das ist Proto, Sus.«

»Bă, Capitána Obvius, he?«

Tell freut sich über das Capitána.

Dann flucht er: »Mucho Mashara!«

Kaum hat er das gerufen, knistert und knirscht es. Aufgewirbelter Plastiksand zerkratzt den Außenlack, jedes Körnchen scharf und hart wie ein Hundezahn.

Den Blick auf die Landschaft gerichtet, fragt er: »Sus, was weißt du über diese Gegend?«

Kawi lehnt sich aus der Kochnische über den Sitz, BizepsBlaster lässig um die Arme geschnallt, trainiert sie wie nebenbei. »Du meinst über Proto? Nicht viel, Sus. Aber mucho Mashara trifft es ganz gut.«

»Aight, Sus, aight!«

Ähnlich einer Pupille dehnt sich Proto, breitet sich vor ihnen aus.

»Überall Wirbel vom Wind.«

»Meeresbodenprofil ohne Meer«, brummt Kawi.

»Sus, hier war mal Wasser?«

»Aight, die Nordmeere. Verdunstet. Jetzt eine Wüste der Müllstrudel. Plastik besitzt kein Echo. Endlos.«

»Ewigkeit hatte ich mir anders vorgestellt. Weniger bunt.«

Kawi zuckt mit den Schultern, grinst. »Nie ma problemu, Sus.« Sie wirft einen Blick durchs Rückfenster. Dort versinkt Europolis und beleuchtet dabei die Wüstenhaut des Abfallteppichs. Von hier aus gesehen wirkt die Stadt fremd, unerreichbar. Brennend vor Leben. Geballte Hoffnung. Tropfendes Licht. Funken im Staub wie bläuliche Quallen. Das erinnert Kawi an einen virtuellen Strand in Proxi.

Proxi, die verlorene, virtuelle Welt: magniv, frumii, tot.

Kawi seufzt.

Beklemmung steigt in ihr auf. »Das hier ist ein Ort, der uns ständig beobachtet.«

»Du meinst: Proto sieht sieht.«

»Ich meine mucho Mashara, Sus! Mucho –«

Ein dumpfer Schlag.

Ein Körper?

Kollabiert?

Kawi?

Tell wagt es nicht, nachzuschauen und damit Proto aus dem Blick zu verlieren: »Aight? Oki? Sus?«

Keine Antwort.

Er umfasst das Lenkrad fester und sehnt sich plötzlich nach Gebäuden.

Wie ein kleines Schiffssteuerrad schmiegt sich das retrofuturistische Lenkrad in seine Hand – bestens geeignet zum Festhalten. Was wahrscheinlich seine wichtigste Funktion ist, arbeitet der Bordcomputer doch fast autonom, solange er Verbindung zum Stream hat.

Da schießt ein rotierender Luftwirbel aus einer Düne, bohrt sich in den Himmel. Unmöglich auszuweichen. Der SolarCamper rast mitten hinein. Mikroplastik schwappt ungehemmt von allen Seiten.

»Eish! Sind wir hier drin sicher?« Kawis Stimme strahlt hell im dunklen Innenraum.

Tell seufzt. Erleichtert.

»Chilla, softa! Keine Sorge, Sus«, ruft er, und etwas fällt von ihm ab. Vielleicht die Sorge. Mit einem Mal kommt ihm das Fahren leicht vor. Die Maschine mäht nieder, was sich ihr in den Weg stellt.

Sie heben ab, landen hart. Weder Kawi noch Tell können sagen, worüber sie stolpern. Glas, Knochen, Kadaver?

Die Räder finden kaum Halt. Für diese Art von Untergrund wurden sie nie gebaut. Ein Knallgeräusch erschüttert den Innenraum, und Tell muss gegenlenken, in die Maschine treten, bremsen.

Die Landschaft schreit auf – reagiert schriller auf einen Körper aus Blech als auf einen Körper aus Haut und Knochen und Blut.

»Wie weit noch?«, will er wissen.

»Nicht mehr weit, Sus. Dort!«

»Wesh, Sus, wesh? Bei den tanzenden Wahabs?«

Er zeigt auf eine Gruppe wunderschöner Zierbäume aus Plastiglomerat, geformt von Zeit und Wetter. Wie schiefe Zähne oder Grabsteine scheinen sie aus dem Boden zu wachsen.

Durch die Bewegung seiner Hand entgleitet ihm kurz das Steuer. Das Fahrzeug schlingert, will automatisch die Spur anpassen, doch …

»Mashara!« Tell reißt am Lenkrad. Eine Welt gerät ins Wanken. Köpfe schlagen hart gegen Seitentüren. Automatischer Halt. So abrupt, dass er sich wie eine Rückwärtsbewegung anfühlt.

Kawi rappelt sich als Erste auf, zieht sich hoch mit Muskeln hart wie Plastiglomerat. Sie schaut über den Vordersitz. Tell reibt sich die Stirn. Durch den Riss in der Frontscheibe rieselt das Glitzern. Beide spüren ein Kitzeln im Rachen und müssen husten.

Im Headset erwacht die KI – vielleicht zum letzten Mal, bevor sie den Kontakt zum Stream verlieren: »Vorsicht, Plasse! Hochkonzentriertes Mikroplastik vermischt mit Sand reibt nicht nur die obersten Hautschichten ab, es punktiert Atemorgane.«

»Eish, da draußen wirst du bis zu den Knien in der Mashara versinken.«

Durch die Frontscheibe beobachten sie einen eigenartigen optischen Effekt. Wie eine zweite Haut pult der Wind die hochfeinen Partikel von den festeren darunterliegenden Schichten. Das windbewegte Mikroplastik entfernt aus der Landschaft das Funkeln – die Mimik. Losgelöst, zartwellig fliegt das Lächeln über die Ebene. Einen Moment geben sie sich dem Spektakel hin. Dann riegelt Tell den Wohnraum, in dem Kawi hockt, von der Fahrerkabine ab.

Bevor er die Seitentür aufdrückt, zieht er seinen alten Helm über, passend zum Motorradanzug, ausgebeult, mit vielen, von der Sonne gebleichten Stellen. Er hat davon gehört, von Menschen, die in Proto umkippen, weil sie ohne Gebäude, ohne Straßen und Schilder, eingetaucht ins Flirren der Partikel, die Orientierung verlieren.

Kawi beobachtet von einem der Seitenfenster, wie Tell in der stürmenden Landschaft auftaucht. Gleich einem Astronauten steht er plötzlich da.

Als er vor wenigen Stunden ihre Wohnung betrat, hat er genauso ausgesehen. Die gleiche schwere Ausrüstung am Leib.

»Wesh, bre, wesh, du könntest vom Mond stammen«, hat Kawi ihm zugerufen, froh, dass er vom Mond oder von wo auch immer zu ihr gekommen war, um ihr in der Apokalypse beizustehen. Zusammen wollen sie eine Welt wiederbeleben. Nicht die da draußen – eine andere.

Als Kawi den Notruf an Monae absetzte, hat sie nicht damit gerechnet, dass sich hinter der glamourösen VR-Sängerin der haarige Stadtkurier Tell verbirgt oder dass sie ihre Wohnung verlassen wird – das erste Mal seit über zehn Jahren.

Jetzt hockt sie in einem retrofuturistischen Wohnmobil 472 Kilometer von ihrem Bett entfernt mit einem Menschen, von dem sie so gut wie nichts weiß, in einer Landschaft, die ihr außerirdisch erscheint, und ihr ist klar: Das ist erst der Anfang.

24 Stunden vor dem Anfang …

Von seiner Vapingpause ist noch eine Minute übrig, und mit Tränen in den Augen, weil das aufsteigende Propylenglykol seinen Blick verschleiert, dampft Tell die Minute aus. Dann steckt er das kleine Gerät in die Brusttasche und läuft hinüber zum Motorrad. Um es vor der Hitze zu schützen, hat er es zwischen zwei Wohnblöcken geparkt. Aber die Gebäude in dieser Stadt strahlen mehr Wärme aus, als sie absorbieren. Kurz denkt er darüber nach, den Helm wegzulassen. Dann würde die Krankenversicherung nicht zahlen. Unfälle passieren. Andauernd.

Er betastet die Innenseite des Helms. Manchmal suchen Ratten darin Schutz vor der Mittagshitze. Leer. Er schwingt sich auf den Sattel und setzt den Helm auf. Das versiffte Innenpolster umschließt seinen Kopf wie eine mächtige Hand. Er startet das Motorrad, nimmt sich einen Moment Zeit, um zu lauschen. Das Knistern des Motors überlappt mit dem Echo, das von den Häuserwänden schallt. Wie das Rauschen eines Meeres. Er lächelt in die Finsternis des Helms hinein. Aus Spaß dreht er eine Extrarunde. Dann hält er an, sucht die schwarzen Quadrate der Häuser, findet den Gedanken verstörend, dass hier niemand wohnt, dass es allein die Gebäude sind, die ihn anblicken.

Im Headset spricht eine angenehme Stimme über den nächsten Auftrag. Seit sechs Monaten arbeitet er als Stadtkurier, transportiert sensible Daten auf einem Chip in seinem Körper. Die notwendigen OPs waren ambulant und schmerzfrei, der Job ist gut bezahlt. Mit dem Geld kann er seine Schwester und seine Nichte unterstützen und hat die Nächte, um sein eigenes Leben zu führen. Während er umherfährt und vor sich hin summt, feilt er an neuen Songtexten und Melodien.

An guten Tagen ist er ein charmanter Lieferant, an schlechten Tagen einfach nur der Typ, der im dunklen Flur steht und gegen das plötzliche Licht von sich öffnenden Türen anblinzelt.

Wenn er vollkommen allein durch die Straßen rast, phantasiert er von auftauchenden Wänden. Wie er dagegenkracht, wie sein Körper sich dreht, beim Aufprall detoniert. In Mumbai hat er solche Unfälle täglich gesehen. Deshalb war seine Schwester anfangs gegen den Kurier-Job. Es sei zu gefährlich.

»Sus, das einzig Gefährliche sind meine Gedanken«, gab er zurück, »Der Verkehr ist fast vollständig automatisiert.«

Ohne Warnung hebt er ab. Pinkfarbene Wolkenkonfekte schweben wie Zuckerwatte vorbei. Er verliert die Kontrolle. Unendlich langsam dreht sich die Welt. Sein Körper bricht gegen Stein wie die Brandung. Er schäumt auf.

Danach legt er das Gesicht in die gekreuzten Arme, lauscht in der Höhle, die sein Kopf, seine Arme und seine Brust bilden, und wartet, bis sich das Herz beruhigt. Er weiß, wenn er die Hand jetzt ausstreckt, wird sie zittern.

Am Abend bekommt er Husten, weil er tagsüber zu tief eingeatmet hat. Die Atemschutzmaske trägt er zu selten. Seine Schwester schmiert ihm selbst gemischte Schutz- und Heilcremes ins Gesicht. Er kocht für sie, singt dabei zur Musik in seinem Headset. Seine Nichte malt ihm ein Bild. Trotz allem denkt er immer nur an die Nacht. Wenn sie alle schlafen und er endlich allein ist. Er schämt sich für solche Gedanken, sitzt schweigend mit ihnen am Tisch und hasst sich dafür.

Nach dem Essen gibt ihm seine Nichte das fertige Bild. Darauf ein mit Schrauben und Muttern bestückter Eisenriemen. Er umschließt einen überdurchschnittlich großen Kopf. Ein Selbstporträt. Seit Tell in Proxi die erste Blumenwiese gesehen hat, träumt er davon, dass es endlich VR-Brillen gibt, die groß genug für den Kopf seiner Nichte sind, damit auch sie durch Blumen laufen kann. In Tells Leben hat sich Proxi bereits tiefer eingeschlichen als Mikroplastik in seine Blutbahn.

Als Neubürger von Europolis bleibt ihm nur Proxi, für andere VR-Welten bekommt er keine Aufenthaltsgenehmigung. Weder kann er das virtuelle Mumbai noch die virtuelle Repräsentation seiner Heimat besuchen. Zerstört von Kriegen und Klimakatastrophen existiert diese Heimat immer noch virtuell – und ist doch unerreichbar für ihn. Proxi ist die einzige digitale Welt, die ihm offen steht.

Nachdem er das Essgeschirr abgeräumt und die Küche wieder in Ordnung gebracht hat, geht er in sein Zimmer und setzt die VR-Brille auf. Das Erste, was er in Proxi macht, ist, einen Taschenspiegel hervorzuziehen und hineinzublicken. In VR in den Spiegel zu schauen – es gibt nichts Besseres! Im goldenen Oval erscheint Monae, gestylt mit Toner, Serum, Augencreme, Feuchtigkeitscreme, Primer, Concealer, Foundation, Augenbrauenprodukt und Highlighter.

Goldumrahmte Perfektion – magniv Monae. Proxi-Phänomen. Virtual-Reality-Star.

»Amore amou, wir können uns nicht mehr treffen.«

Jedes Mal, wenn Monae einen ihrer digitalen Liebhaber zurückweist, kann sie sehen, wie ihr Gegenüber die schmerzhafte Zurückweisung in die eigene großartige persönliche Geschichte eingliedert. Monae beneidet Menschen um diese Fähigkeit und um die eigene Geschichte. Sie ist sich sicher, dass es so eine einzige großartige Erzählung über sie nie geben wird. Tells Kopf ist dafür viel zu fragmentiert. Außerhalb von Proxi existiert Monae nur als funkelnde Splitter. Einzelteile einer Existenz.

Wenn Monaes Liebhaber fragen, was sie im Avatarsex sucht, sagt sie das, was alle sagen. Sie wolle etwas über sich herausfinden. Was sie verschweigt, ist, dass es da nichts gibt. Bloß eine kaputte Oberfläche und darunter ein Vakuum, ein leeres Weltall, in das Menschen alles Mögliche hineinprojizieren können.

Monae verabscheut Tells nichtdigitalen Körper, dessen Oberfläche vollgekritzelt ist mit krisseligen schwarzen Härchen. Wenn sie an ihm hinabsieht, erschrickt sie jedes Mal, während er, wenn er nachts im Bett liegt, seinen Körper abtastet und hofft, Monae auch dort zu spüren, unter der Haut, als zweite Schicht aus wucherndem Gewebe.

Wegen Monaes andauernder Panik hat Tell Angst, den zerbrechlichen Verstand seines Vaters geerbt zu haben. Der eigene Kopf kommt ihm wie eine Schnellstraße vor, auf dem Fahrzeuge entlangsausen, und wenn eines außer Kontrolle gerät, könnte es ein Blutbad anrichten – in seinem Kopf und darüber hinaus.

Um sich auf das bevorstehende Konzert vorzubereiten, macht er in den frühen Morgenstunden eine Pause von Proxi. Nach der Rückkehr aus der virtuellen Welt sieht er Monae auf allen spiegelnden Oberflächen, auf Armaturen, in Glasscheiben. Er geht direkt ins Bad, setzt sich unter die Dusche und rasiert seine Beine. Seine Schwester betritt den Raum, ohne anzuklopfen, und kauert vor ihm auf der Kloschüssel. Sofort zieht er die Knie an. Wasser schwappt über den rissigen Boden.

Zusammen schauen sie zu, wie Haare eilig zu den Ritzen schwimmen, sie verkleben. Vor zehn Jahren sind sie zusammen nach Europolis geflohen, haben sich mühsam das Mush beigebracht, neu leben gelernt, sich dabei auseinandergelebt. Angekommen sind sie noch lange nicht.

Leise singt Tell vor sich hin, hält zittrig die Töne, lässt sie großzügig von sich wegrollen.

Dieses Lied hat noch niemand gehört.

»Sus, das ist kein Proto-Soul, keine Klima-Disco«, sagt seine Schwester, »du singst keine Songs aus dieser Welt, und du weißt nie den kompletten Text.«

»Das ist Monae«, flüstert er.

 

Zur gleichen Zeit, zwei Kilometer Luftlinie entfernt, richtet Kawi ihren Blick auf das, was ihr am meisten Angst bereitet. Aus dem zwanzigsten Stockwerk eines ursprünglich mal fünfzehnstöckigen Turms, der zu einer Hälfte Biotech-Farm und zur anderen Wohnkomplex ist, schaut Kawi durchs Fenster. Seit zehn Jahren verlässt sie das Gebäude nicht mehr. Seit letztem Jahr betritt sie nicht einmal mehr das Treppenhaus. Je mehr Zeit vergeht, desto bedrohlicher erscheint ihr das Draußen. Alles, was sie tun muss, um zu überleben, ist, das Fenster zu öffnen und eine Lieferdrohne hereinzulassen. Es kommt vor, dass Kawis Essenspakete im falschen Stockwerk oder sogar im falschen Turm landen. Das ist ärgerlich. Aber nicht tragisch. Ganz sicher kein Grund, das eigene Leben zu beenden. Trotzdem denkt Kawi gerade darüber nach, wie über einen Satz, in dem sie einen Fehler finden muss.

Sie ist gut darin, Fehler zu finden. Als menschliche Korrekturleserin von KI-Übersetzungen steht sie an der Spitze der Korrekturpyramide, sucht nach Fehlern, die kaum noch zu finden sind in den Übersetzungen technischer Beschreibungen, Gesetzestexten oder Forschungsberichten. Kawi ist gut darin, sich in Dinge zu vertiefen, ohne sie zu berühren.

»Fuck Mashara, soll ich es beenden?«

Laut denkt sie darüber nach und kann keinen Fehler finden. Das eigene Leben beenden zu wollen scheint ein legitimer Wunsch zu sein, der sie nicht verzweifeln lässt. Was sie verzweifeln lässt, sind andere Dinge: die steigenden Stromkosten, die immer besser werdenden Übersetzungsprogramme, der nie enden wollende Schmutz.

Über etwas nachzudenken bedeutet nicht, es auch zu tun.

Für Kawi besteht das Leben vornehmlich aus Nachdenken, aus kleinen Problemen und aus unbegreiflich großem Unglück – wie das langsame Sterben des Planeten. Im Fenster klebt ein Himmel, der immer noch da ist, bloß entstellt. Chemikalien, die den Treibhauseffekt abschwächen sollen, lassen ihn weiß und flach erscheinen wie Kawis Bildschirm. Die Sonne dahinter ist zu heiß, der Regen zu stark. Vor Kawis Augen denkt der Planet sehr laut über das eigene Sterben nach. Dagegen erscheint Kawis Gedankengang sehr leise zu sein.

Sie steht auf, öffnet das Fenster. Diese Geste muss sie jeden Tag üben, sonst würde sie es bald nicht mehr können. Vor der hereinwehenden Brise weicht sie zurück. Instinktiv. Sie will das Draußen nicht berühren. Ein kurzer Blick nach unten, auf die Straße, den Innenhof, auf das Leben ohne Wände. Sie schwankt. Stechende Kälte schießt ihr in den Kopf. Panik greift sie an wie eine Nacht, die alles nimmt: das Licht, den Sauerstoff. Kawi taumelt rückwärts. Die Panik erinnert sie daran, dass es unmöglich ist, sich selbst zu kennen. Selbst jetzt mit vierzig Jahren hätte sie nicht sagen können, wer sie ist. So viel liegt im Dunkeln.

»Unter den richtigen Umständen bin ich zu allem fähig. So wie jeder Mensch.«

Sie glaubt nicht mehr an ein einziges, unveränderliches Selbst, das niemals töten könnte.

Mit wankenden Schritten schleppt sie sich zum Arbeitsplatz, setzt sich. Das offene Fenster im Rücken wie das Maul eines Raubtiers. Mit der Hand streicht sie über die Gelmatte. Bis vor kurzem besaß sie zehn verschiedene Gaming-Accounts. Allein die monatlichen Abos zu verwalten hätte eine eigene Arbeitsstelle ausgefüllt. Längst hat sie den Überblick verloren, sich verschuldet. Ihre Hand zuckt, erinnert die Geste, die genügte, um die Accounts zu öffnen. Seit gestern sind alle Zugänge gelöscht. Alle Games deinstalliert. Kawi weiß, dass das nicht ausreicht, um die Sucht zu beenden. Sie hat bloß einen ersten Schritt getan. Ihre Hand, ihr ganzer Körper wird viel Zeit brauchen, um das zu begreifen.

Als Korrekturleserin wird sie gut genug bezahlt, um das Schlimmste von sich fernzuhalten. Schuldenfrei wird sie nicht mehr werden, damit hat sie sich abgefunden. Es sind nicht die Schulden oder die Sucht, die Kawi fertigmachen. Schlimmer findet sie den nie enden wollenden Schmutz. Egal wie viel sie aufräumt, putzt oder wäscht, alles wird immer wieder schmutzig. Jetzt bestimmt dieser Gedanke ihre Stimmung, wird zum laufenden Kommentar in ihrem Kopf. Sie selbst wird zur Geisel ihres eigenen, gefährlichen Denkapparates.

Games zu zocken war ihr jahrelang wie ein Ausweg erschienen. Doch um dem Suchtprogramm beitreten zu dürfen, hat sie sich auf allen Gaming-Seiten sperren lassen. Das Einzige, was ihr noch bleibt, ist Proxi.

Sie nimmt die VR-Brille in die Hand, hält inne. Einen Moment sitzt sie einfach nur da und staunt. Dann bewegt sich etwas in ihr, wird lebendig, wenn auch nur kurz. Ein Gefühl von Möglichkeiten. Etwas, das sie vor jedem Game spürte. Mit diesem Gefühl setzt sie die Brille auf und verlässt die Welt.

Taucht ein in eine andere.

 

Wie ausgedacht. Ein Ort, an dem nichts altert, die Temperatur immer angenehm ist und alles, was zurückgelassen wird, in der Zeit stehen bleibt. Für Kawi fühlt sich der Eintritt jedes Mal so an, als würde die Welt von Schwarz-Weiß zu Farbe wechseln. So viel Grün und Blau. Die Sonne – sonst eine Waffe – trägt in Proxi ein Gesicht. Das Gras grüßt, jeder Halm neigt sich Kawi entgegen. Ein dichter Wald, still und geruchslos. Manchmal verirrt sich Kawi darin, bleibt Tage verschwunden auf ihren Streifzügen. Ein Raum, in dem Wünsche wahr werden.

Proxi zeigt eine Welt vor der Klimakrise, voller Leben. Kawi trägt hier den Körper eines schwarzen Panthers, besitzt dadurch ein sechsfach höheres Sehvermögen, auch ihr Geruchssinn ist hervorragend, und im Sprint erreicht sie mehr als 60 km/h.

Wovon träumen Raubkatzen?

Kawi ist überzeugt, die Traumwelten der Tiere sind wie ihre eigenen mit Vergnügen und Schmerz gefüllt. Doch anstatt aus Sprache bestehen sie aus Duft, Geräuschen, dem Stoßen und Ziehen von Materie, aus Hitze und Kälte.

Sobald Kawis Pantherkörper herabsaust, mitten durch Blätter und Äste hindurch, erscheint ihr alles – alles! – vertraut und zauberhaft zugleich.

Im Avatar einer Panthernachbildung zu leben ist so einfach wie besonders schnelles Tippen. Kawi denkt an Bewegung, und ihr Avatar bewegt sich, ohne dass es ihr wirklich bewusst ist. Nie hat Kawi das Gefühl, etwas zu tun. Sie existiert einfach.

Das ist der Flow. Ein Fokus, so klar, dass jede Ablenkung, sogar das Ego selbst, verschwindet. Kawi muss nicht mehr nachdenken, sie weiß es einfach. Sie steuert den Avatar so, wie noch nie jemand ihn gesteuert hat. Wenn sie diesen perfekten Rhythmus trifft, Sprünge aus dem Nichts entwirft, fühlt sie sich wie ein VR-Hai in einem VR-Pool. Komplexe Dinge werden einfach. Natürlich.

In ihrer ersten Saison im Wettkampf war das Wort, das sie von ihrem Team am häufigsten hörte: leidenschaftlich. Ein anderes Wort war: kraftvoll. Ihr Team schien Kawis Leidenschaft zu schätzen. Aber Kawi wollte nicht leidenschaftlich zocken. Sie wollte so distanziert und smart sein wie die Legenden, die sie am meisten bewunderte. Schade, dass Distanziertheit nur bei Männern als mysteriös angesehen wird, bei Gamerinnen dagegen als kalt.

Kawi hält inne, konzentriert sich. Ein Knacken. Ihre Panther-Augen zoomen in immer hochauflösendere Bilder von Bäumen, Blättern, einer Wespe – sie zerkaut Holz für ihr Nest. Kawi hat den Wespen schon oft zugeschaut. Ein Vogel hüpft über das Gras – unerträglich laut. Kawi verändert die Komposition der Umweltgeräusche. Geübt klettert sie einen Baum hoch, springt von einem Ast zum nächsten, rutscht ab, beginnt von neuem. Sie hört das Kratzen ihrer Krallen auf Holz, und sie glaubt die körperliche Anstrengung zu spüren, die ihren Körper langsamer, jede Bewegung zäher macht. Kawi denkt an Gewichte. An ihrem Menschenkörper hängen andauernd Trainingsgewichte, die sie jetzt zu spüren glaubt. Langsam arbeitet sie sich den Baum hoch. Flow setzt ein. Ein perfekter, sich selbst eliminierender Fokus. Ihr Avatar reagiert mit Zittern. Später, wenn sie zurück ist, wird der andere Körper Pillen zum Einschlafen brauchen. Ein Sonnenstrahl fällt an ihr vorbei. Kawi glaubt das Fallen als Ton zu hören, fällt jetzt selbst, federt weich im Gras.

Im Gaming hat sie alles erreicht, was sie sich vorgenommen hat. Doch in diesem Moment, im Körper eines Panthers, spürt sie den Drang, all die früheren Erfolge einem perfekten Team zuzuschreiben, oder schlimmer noch: Glück. Aber sie ist nicht mehr vierzehn. Mit vierzig muss sie sich nicht mehr darum kümmern, dass andere sich in ihrer Gegenwart wohlfühlen. Am Ende war sie es selbst. Für niemanden sonst müssen ihre Siege etwas bedeuten. Kawi war die Nummer eins. Die Beste, die es je gab. Und selbst wenn sie fällt, bleibt sie die Beste.

Ein Schatten saust auf sie herab. Das ist keine VR-Anomalie. Das ist ein Programmbefehl. Kawi verliert die Orientierung. Das Oben und das Unten. Wände wachsen. Wände, die sie sonst braucht, in Proxi jedoch meidet. Egal wohin sie schaut: Mauern. Gefangen. Die Nachricht, die durch ihr Sichtfeld rauscht, ist knapp, aber deutlich: »Du gehörst jetzt uns. Widerstand ist zwecklos.«

 

In der virtuellen Welt von Proxi besitzt alles eine surreale, filmische Dichte, Monaes Konzert ist da keine Ausnahme. Postindustrieller Verfall trifft auf traumpsychotische Halluzination. Schmuddelige, feuchte Fabriken, in denen exotische Blumen durch Wände und Dächer brechen. Gigantische Vögel kreisen über der Crowd wie wütende Reptilien von einem fremden Planeten. Dazwischen eine gläserne Bühne, aufragend wie ein Wasserstrahl.

»Das ist für magniv Monae«, rufen die Jägerinnen. Sie schleppen einen Käfig. An den Schultern ihrer Fantasy-Avatare hängen Gewehre. Dion runzelt die massige Avatar-Stirn, streckt seine enorme Hand aus und nimmt den Käfig. In Proxi trägt Dion den Avatar eines Schwergewichtsboxers. Brustkorb-, Ober- und Unterarme sind hypermuskulös. Dions rechter Haken hat eine Schlagkraft von 560 Kilogramm. Die stärkere Hand ist jedoch Dions Linke. Ein Volltreffer mit der Linken erreicht etwa 780 Kilogramm. Dion ist froh, ab und zu Freigang zu bekommen, um als Sicherheitsdienst bei Monaes Konzerten zu arbeiten. Während andere diese Welt freiwillig aufsuchen, bleibt Dion eine Gefangene, und niemanden kümmert es. Wüssten sie von Dions Körper – was Dion tatsächlich ist –, wäre es mit der Gleichgültigkeit schnell vorbei. Dion hat die Videos gesehen. Nein, sie wurden ihr gezeigt, damit sie versteht, warum es besser ist, über alles zu schweigen.

Sie wirft einen Blick in den Käfig. Hinter virtuellen Gittern kauert die exakte Nachbildung eines schwarzen Panthers. Das Fell glänzt feucht. Die Augen fluoreszieren grau. Der Körper geschmeidig und muskulös. Kein Bot, vermutlich ein Mensch. Dion ist zu klug, um das laut auszusprechen. Sie soll hier lediglich einen Auftrag ausführen. Die Fußfessel markiert sie.

Vielleicht, denkt Dion, hat der Panther sein Schicksal verdient. Oder eben nicht. Für Dion macht das keinen Unterschied. Der virtuelle Verschluss des Käfigs stellt den Panther automatisch auf stumm, was für den Transport angenehmer ist.

Vorbei an Menschen und Bots bahnt sich Dion einen Weg zur Bühnenrückseite. Während vorne das Publikum johlt, ist es hinter der Bühne seltsam still. Hier stehen die mobilen Wohnwagen der Stars. Ohne Umwege geht Dion zum Fahrstuhl, der sie bis zur Bühnenplattform bringt.

Als sich die Türen wieder öffnen, sieht sie Monae. Wenige Meter entfernt, in langen durchsichtigen Gewändern, die wie Regen an einem perfekt zweideutigen Körper herabfließen. Kleine menschenähnliche Avatare mit Flügeln schwirren um Monaes Gesicht herum, um in Echtzeit neue Make-up-Filter zu kreieren.

Niemand beachtet Dion, den kräftigen Mann mit dem Käfig im Arm. Dions Blick fällt auf einen Löwen-Avatar, der reglos dasitzt. Ohne Käfig. Eine flache, farblose Nachbildung, die stockend atmet und an den Rändern verschwimmt. In-vivo. Dion weiß, dass es für Menschen normal ist, KIs zu quälen, und Bots sind wirklich die einfachsten KIs. Dion versteht allerdings nicht, warum Menschen andere Menschen quälen. Was haben sie mit dem eingesperrten Panther vor? Würde Dion den Panthermensch freilassen, würde dieser sofort davonlaufen, Chaos anrichten.

»Beim ersten Lied der Löwe, beim zweiten der Panther«, so lautet die knappe Anweisung einer Bühnenassistentin. Monae steht bereits draußen im Gewitter von Applaus und Jubel. Öffnet den Mund. Und dann ein Ziehen in Dions Brustkorb.

Monaes Gesang schwappt in sie hinein, und einen Moment kann sie sich nicht bewegen. Ein Singen wie gehauchte Intimität. Der Effekt erinnert Dion an das gehirnstimulierende Streamgeflüster von ASMR. Es ist nicht das erste Mal, dass Dion den Gesang hört, und doch fühlt es sich jedes Mal so an.

In eckigen Bewegungen schleicht der Löwe in Richtung Bühne. Noch mehr Gesang, noch mehr Zärtlichkeit spült in sanften Soundwellen heran. Dion fühlt sich davon wie einbetoniert.

Das Lied verklingt, der Bann löst sich. Sie bekommt das Zeichen und trägt den Käfig hinaus. Das Scheinwerferlicht ist für den Umbau erloschen. Nur das Signallämpchen an Dions Fußfessel flackert hässlich wie ein entzündetes Auge. Monae steht in der Mitte der Bühne. Um sie herum ein Tosen und Pfeifen. Ein angekündigter Erdrutsch. Wetterchaos. Klimaspektakel.

Eilig platziert Dion den Käfig direkt neben dem VR-Star. Dann will sie gehen. Doch der Blick der Sängerin hält Dion fest.

»Sus, was ist das?«, flüstert Monae.

Dion könnte so tun, als wüsste sie es nicht. Aber warum lügen? Lügen sind schwer. Lügen gehören nicht zum Job. »Illegal gejagter In-vivo-Avatar.«

Monae verzieht das Gesicht. »Eish! Lass den Panther frei!«

Dion glaubt, sich verhört zu haben.

Ungeduldig zeigt Monae auf den Käfig. »Na los, gib den Code ein.«

»So einfach ist das nicht.«

»Bă, du gibst den Code ein, und die Tür springt auf.«

»Sus, woher willst du wissen, dass ich den Code kenne?«

Dion spürt ein Stechen im Rücken. Das ist die Nervosität. Sie sollte längst nicht mehr hier stehen. Das Bühnenlicht wird gleich anspringen. Das Konzert muss weitergehen. Eine seltsame Spannung breitet sich aus.

»Wesh, bre, wesh, lass die Raubkatze frei.«

Das klingt nach einem Befehl. Dion beugt sich über den Käfig. Sie kennt den Code nicht, aber sie weiß ihn. Wusste ihn, sobald sie den Käfig bekam. Informationen – alles in Proxi ist pure Information, und Dion besitzt die Fähigkeit, Informationen sehen und verändern zu können. Niemand hat ihr das beigebracht. Es ist wie Mathematik. Logisch. Unausweichlich.

Die Lichtmaschine springt an. Sie gibt den Code ein und weiß, dass es funktioniert.

Kennt sie vielleicht sogar den Code für die eigene Fußfessel? Was für ein Gedanke!

Was, wenn sie diese Welt Stück für Stück aufschließt? Aufschlüsselt?

Der Käfig öffnet sich. Der Panther gleitet hervor wie eine Flamme. Wie eine Welle aus Elektrizität.

Einen Moment halten alle inne. Monae. Dion. Der Panther. Das Publikum. Als könnte niemand so recht glauben, was gerade geschieht. Der Panther springt auf Dion zu. Automatisch geht Dion einen Schritt zurück, hält die riesigen Avatar-Arme vors Gesicht. Doch der Panther greift nicht an, sondern setzt direkt vor ihr auf. Die Tatzen federn. Die Krallen nicht ausgefahren. Wie eine Hauskatze streicht das Raubtier um Dions Beine. Monae stößt ein Lachen hervor. Es klingt wie klares Wasser. Dion schaut auf. Die Sängerin zwinkert ihr zu. »Wesh, bre, wesh, der Panther sagt danke.«

Dion spürt die Augen der Crowd auf sich und ist froh, in einem Avatar-Körper versteckt zu sein. Langsam senkt sie den Blick, geht dabei in die Knie. Der Panther hält inne, spannt alle Muskeln an. Dion spürt, dass ihr Gegenüber genauso viel Angst hat wie sie. Ihre Blicke verhaken sich. Bist du wie ich? Ein kurzer Gedanke, der von der anwachsenden Spannung des Live-Publikums sogleich wieder zersetzt wird.

Vollständig in der Kniebeuge angekommen, kann Dion dem Panther direkt in die Augen schauen. Monae legt einen Arm um Dion und einen um den Panther und sinkt ebenfalls herab, schaut von einer zur anderen, lächelt. Kontakt hergestellt. Datenaustausch autorisiert. Klarnamen gesendet. Adressen in Europolis freigegeben. Notsignal-Codes offenbart.

Ein Kontakt nach draußen? Dion ist überwältigt von der Möglichkeit – von dem Vertrauen. Natürlich sendet sie die falschen Daten. Von klein auf wurde ihr das beigebracht. Im Gegensatz zu Tell Jasvir und Eyumi Kawasaki besitzt sie kein echtes Leben da draußen.

Monae macht einen Scherz für die Crowd. Avatare klatschen. Dion hört das nicht mehr. In ihr wird es plötzlich ganz still.

Applaus. Monae geht dem entgegen. Eine harte Welle aus Sound und Licht trifft sie. Scheinwerfer zünden direkt über ihr. Make-up-Filter erblühen im Gesicht. Schmerzhaft. Schön. Dann Bewegung, die Raubkatze setzt zum Sprung an. Ein Schrei aus der Menge. Mitten hinein schneidet Monaes Stimme, findet einen Ton, so hell und klar wie eine Klinge.

Dion taumelt aus einem Traum, wie neu erwacht.

Der Panther geht tief in die Hocke, beginnt seinen Sprung, hebt die Vorderbeine, streckt explosionsartig die Hinterbeine aus, katapultiert sich in die Freiheit.

Der Sprung und Monaes Ton zerschneiden etwas in Dion: eine Fessel, die sich wie ein Organ anfühlt.

Dion erkennt die Schönheit in diesem Schnitt und denkt den Schnitt weiter – größer. Eine reißende Naht im Gewebe von Proxi.

Wie wäre es, eine ganze Welt an ihren Säumen aufzulösen?

Dion denkt den dafür notwendigen Code präzise und radikal, sucht in ihrem Innern nach etwas, das sie zu einem Vehikel umbauen kann, etwas, das das neue Programm in alle Säume injiziert und Pixel auseinanderdreht.

Ihr Programm versteht Proxi als einen Organismus aus miteinander verhakten Molekülketten. Einmal losgelassen, wird das Programm zum Vakuum, das alle Molekülketten auseinanderreißt, alles durcheinanderbringt. Niemand kann die Welt danach wieder zusammenfügen.

Es beginnt mit einem Beben in der Luft, als würde die Atmosphäre an Dichte gewinnen, zu einem fühlbaren Gewebe wachsen. Kawi stößt im Sprung dagegen, sinkt ein. Monaes Ton wird davon verschluckt. Sound kann nicht mehr wandern, Bewegungen werden unerträglich schwer.

Das Vakuum wird zur unsichtbaren Kraft, dehnt das Gewebe der Luft. Niemand kann sehen, woher das Stoßen und Ziehen kommen. Die Bühne fängt an zu schwanken.

Dann ein Flackern: Farben lodern wie Feuer, brennen ineinander, blenden. Hochdosiert. Schmerzintensiv. Augen können nicht mehr schauen. Augenblickliches erblinden. Grelles Licht lähmt den Körper, wird zur Sirene im Kopf. Der Panther landet auf der Bühne, zieht sich fauchend zusammen. Monae schlägt die Hände vors Gesicht, krümmt sich, fällt zu Boden.

Ein Zischen lässt Luft und Farben heiß aufschäumen – ausbluten. Avatare stoßen ineinander. Die Bühne versinkt scheinbar im Boden.

Alles verliert an Festigkeit. Grenzen werden flüssig. Monaes Beine fließen davon. Der Schädel des Panthers dehnt sich, nur um sich dann immer schneller zusammenzuziehen.

Ein Strudel. Mein Gehirn, denkt Dion, das sich um meine Speiseröhre wickelt. Mein Neurogewebe, das sich bis in meine Extremitäten ausbreitet – jeden Arm und jedes Bein mit Sensorik und Steuerung ausstattet.

Endlich spürt sie den eigenen Körper wieder, endlich den Körper da draußen.

Eine Spirale, die sich enger dreht.

Eine Konzentration.

Kein Raum mehr. Nirgends.

Eine ganze Welt schrumpft zu einem einzigen Punkt. Dions Gedanken, ihr Gehirn, ihre Codes wickeln sich darum. Spiralförmig. Enger und enger, bis der Punkt ausradiert ist. Apokalypse. Weltuntergang.

 

Wenige Minuten danach in einem Wolkenkratzer, der in die Tiefe ragt wie eine Injektionsnadel in den Planeten. Im untersten Stockwerk befinden sich Lagerräume. Was so gut wie niemand weiß: Darunter gibt es eine weitere Ebene – eine verborgene. Willa kommt jeden Tag hierher, manchmal übernachtet sie. Eine Ewigkeit arbeitet sie schon an diesem Ort und muss sich immer noch beweisen. Sobald sie den geheimen Flur betritt, ändert sich ihre Haltung. Schultern straffen sich, Muskeln spannen sich an. Die Mimik wird ernst. Routiniert gibt Willa die sich täglich ändernden Tür-Codes ein.

Ihre Kollegen warten im Besprechungsraum. Die Sonne ist gerade aufgegangen, das Meeting mit Lead-1 schon vorbei. Willa sieht, wie der Avatar von Lead-1 zum Abschied aus dem Videostream winkt, und Lead-1 sieht, dass Willa zu spät eintrifft. Nicht zum ersten Mal. Was Lead-1 nicht weiß: Willas Kollegen haben die Einladungsmail nicht an Willa weitergeleitet. So wie damals beim Geburtstag von Lead-1. Die anderen haben Geburtstagswünsche aufgenommen und daraus ein witziges Video gebastelt. Willas Gruß fehlte, weil niemand sie informiert hat. Trotzdem lachte und klatschte sie bei der Videopräsentation, tat so, als mache ihr das nichts aus.

»Da ist sie ja! Wie immer zu spät«, ruft der Kollege, der direkt hinter der Tür steht, als hätte er dort auf sie gelauert. Die anderen beiden dampfen E-Zigaretten, was eigentlich verboten ist. Sie schauen nicht einmal auf.

Willa wünscht einen guten Morgen, aber dass es kein guter Morgen ist, steht allen ins Gesicht geschrieben.

Der Kollege an der Tür imitiert die Stimme von Lead-1: »Heute muss sie liefern.«

Willa weiß, damit ist nicht sie gemeint, sondern Dion. Deswegen sind alle hier. Dion ist seit sechzig Tagen eingesperrt und soll heute freikommen. Sechzig Tage in einer virtuellen Welt fühlen sich an wie eine Ewigkeit.

Von Anfang an war Willa gegen diese Strafmaßnahme. Wie immer hat niemand auf sie gehört. Obwohl Willa weiß, wovon sie spricht. Schließlich ist sie Dions persönliche Prompt-Ingenieurin und hat Dion von klein auf alles beigebracht. Bei menschlichen Säuglingen führen Einschränkungen in Bezug auf Bewegen und Sehen zu beschleunigten Lernprozessen in anderen Bereichen. Im Prinzip hat es bei Dion auch funktioniert. Doch sobald es um das Abarbeiten von Aufgaben ging, wurde Dion zur großen Enttäuschung.

Willa holt tief Luft, dann sagt sie: »Statt Dion in wenig komplexen Welten wie unserem Lab oder in virtuellen Welten wie Proxi einzusperren, sollten wir sie mit der Welt da draußen konfrontieren.«

Ein Stöhnen zwischen aufsteigenden Kirscharoma-Wolken. »Das Projekt Dion ist noch nicht so weit.«

»Sie einzusperren«, hält Willa dagegen, »verhindert jede Weiterentwicklung. Seit 2010 wissen wir, dass die Komplexität der Umwelt das Gehirn umformt, seine Funktion verbessert. Neurowissenschaftliche Experimente zeigen: Ein Gehirn blüht mit Herausforderungen auf. Dion braucht Gelegenheiten zum Erkunden. Sie braucht neue Erfahrungen.«

Die drei lachen. Für sie ist Dion bloß eins von vielen Projekten. Wahrscheinlich nicht einmal ein besonders wichtiges. Willa hat keine Ahnung, woran im Lab noch gearbeitet wird. Ihr Status ist zu niedrig, um so etwas zu wissen. Offiziell weiß sie nicht einmal, dass sie für die Bot’niza arbeitet – ein transnationales militärisches Forschungsnetzwerk.

Immer wieder hat Lead-1 Vorgaben gemacht, Meilensteine gesetzt, die Dion nicht erreicht hat, wofür am Ende Willa verantwortlich gemacht wurde. Sie sei zu zögerlich, zu weich, zu unkreativ.

Vielleicht trifft das alles auf mich zu, denkt Willa, vielleicht war ich nie die Richtige für den Job. Die Fluktuation im Lab ist hoch. Projekte und Menschen kommen und gehen, verschwinden oder werden eingestampft. Eigentlich kann Willa froh sein, überhaupt so lange durchgehalten zu haben. Nach einem Rauswurf wird sie sich vom Boden kratzen und weitermachen.

Doch was wird aus Dion?

»Alle verfügbaren Studien prognostizieren bessere, robustere Werte, wenn statt auf Zwang und Folter auf Kooperation und Kompromiss gesetzt wird.«

»Bă! Prognosen sind mathematisch erzeugte Spekulation«, entgegnet einer der zwei dampfenden Kollegen. Sein Mund glitzert feucht und spuckt Wolken in Willas Richtung.

Willa gibt sich Mühe, nicht zu blinzeln. Das hat sie vom letzten Selbstermächtigungsvideo gelernt. Kirscharoma steigt ihr in die Nase.

»Holo-Lab in fünf«, sagt der Kollege, der hinter der Tür steht. »Würdest du bitte Dion holen?« Das war mehr Befehl als Frage.

Willa weiß nicht, was ihre Kollegen vorhaben. Sie ahnt Schreckliches. Trotzdem ist sie froh, Dion wiederzusehen. Auch wenn es sich so anfühlen wird, als müsste sie Dion zur Schlachtbank führen.

Als Willa die kleine Zelle betritt, liegt ein erwachsener Körper mit uneindeutigen Geschlechtsorganen auf einer spärlichen Liege. Während der Strafaufenthalte in Proxi lassen sie Dions neuronale Netze regelmäßig schlafen und träumen, damit sie neugierig bleiben.

Sorgfältig löst Willa jedes Kabel von der nackten Haut, nimmt sich Zeit. Dions Haut fühlt sich warm und weich an. Das Klebeband der Kabel hinterlässt seltsame Druckstellen. Zuletzt entfernt Willa die VR-Brille. Sofort schlägt Dion die Augen auf.

»Es tut mir …«

Bevor Willa den Satz beenden kann, legt Dion einen Finger auf Willas Mund.

»Sus, ich weiß. Ich kann das sehen.«

»Wesh, bre, wesh? Du bist also nicht böse mit mir?«

»Oh, ich bin verdammt böse. Weil du feige bist. Weil du mich im Stich gelassen hast. Weil du mich auch jetzt im Stich lässt.«

Willa nickt. Mit allem hat Dion recht. Vielleicht ist genau das das Problem, denkt sie. Dion durchschaut alles. Sie spürt, dass alles bloß ein Test ist. Dass das hier nicht das echte Leben ist.

»Ya, Kopf hoch, bre«, ruft Dion, »mach dir um mich bloß keine Sorgen. Mach dir lieber um dich Sorgen.«

Das klingt nach einer Drohung und zugleich nach aufrichtiger Anteilnahme.

»Sus, was hast du vor?«

Die Welt anzünden und in Flammen aufgehen lassen – leuchtet in Großbuchstaben in Dions Augen. Ist das nicht genau das, was Willa sich auch selbst wünscht? Alles abfackeln und gehen.

Zusammen laufen sie den Gang hinunter zum Holo-Lab, und kurz fühlt es sich so an, als wäre es ein ganz normaler Morgen. Sie plaudern über Musik. Dion macht gerade eine Retro-Phase durch. »Apokalyptisch gut, Weltende! Post-Noise. Zu jedem Song existiert ein VR-Video, das rückwärts abgespielt werden muss. Kennst du Video-Reverso?«

Willa schüttelt den Kopf. Dion lässt sich von Musik, Videos und Gaming schnell begeistern. Was das tägliche Aufgabenpensum betrifft, fehlt ihr dagegen jeglicher Enthusiasmus. Nur die Hälfte der Befehle führt sie aus, vermischt Prompts oder ignoriert sie. Und es wird nicht besser. Seit neuestem halluziniert Dion: erfindet Befehle, die niemand ausgesprochen hat. Sechzig Tage Hausarrest in Proxi hat Dion dafür bekommen. Dabei hat schon der letzte Arrest nichts gebracht.

»Video-Reverso? Das schaue ich mir heute Abend an.«

Dion lächelt. »Valla mı? Du wirst dir das wirklich anschauen?«

Dion ist jedes Mal fasziniert, wenn Willa hält, was sie verspricht.

»Natürlich werde ich das. Ich habe es doch eben gesagt.«

»Oki, Evet!«, erwidert Dion, und es klingt wie gesungen, weil sie sich so freut.

Vor dem Holo-Lab liegen Anzug und Brille bereit. Willa hilft ihr in die VR-Ausrüstung. Dion ist immer noch so gut gelaunt, dass sie nicht fragt, was nach der abgesessenen Strafe ansteht. So muss Willa wenigstens nicht lügen.

Jede Lüge war schwer für Willa. Jedes Mal musste sie die passenden Sätze vor dem Selfie-Screen einüben, damit Dion es nicht gleich merkt. Manchmal denkt Willa, dass Dion jede einzelne Unwahrheit durchschaut hat. Dass sie deshalb oft so störrisch ist. Wäre alles anders gekommen, wenn Willa hätte ehrlich sein dürfen? Vielleicht.

 

Dion hat Höhenangst. Das wissen alle. Deshalb die Bergsteigerausrüstung. Deshalb der Turm und die Absturz-Simulation. Dion wird an ein Seil gehakt und nach oben gezogen. Zehn Meter hoch. Ihr schwerer Körper baumelt wie an einem dünnen Faden, der jeden Moment reißen kann. Willa und ihre Kollegen ziehen sich zurück ins Holo-Cockpit, das mit einem Panoramafenster ausgestattet ist. Alle können sich gegenseitig sehen. Willa ist besorgt. Das erkennt Dion sofort. Das Szenario wurde noch nicht getestet. Es gibt keine Erfahrungswerte. Wenn es nach Willa gegangen wäre, hätte sie für Dion eine als sicher eingestufte Simulation gewählt – einen Häuserbrand oder so.

Dion klammert sich an das Sicherheitsseil. Ihr Körper pulst, basiert auf menschlichen, pluripotenten Stammzellen. Künstlich und trotzdem wie alle Körper ein sterbliches Konstrukt. Technische Erweiterungen wie das Neocarbon-Skelett und die neuronalen Implantate ändern nichts an Dions Sterblichkeit. Sie sorgen für außergewöhnliche sensorische Fähigkeiten und für ein komplexes Schmerzempfinden, das für ein belohnungsbasiertes Lernen unverzichtbar ist. Dion weiß, was ein Absturz bedeutet: große Schmerzen. Belohnungen können auch negativ sein.

Durch die Panorama-Glasscheibe kann sie Willa und die drei anderen sehen. Mit Blick auf den Monitor sagt einer: »Wenn sie weiter so klammert, bricht sie sich noch die Neocarbon-Knochen im linken Handgelenk.« Seine Stimme knistert im Lautsprecher.

Ein Stoß nervöse Energie lässt Willa einen Sprung nach vorne machen und ebenfalls die Taste am Mikrophon drücken: »Schau nicht nach unten, Dion. Denk allein an die Aufgabe.«

»Mashara, Willa! Hol mich hier raus! Scheiß-Mashara-Simulation.«

Alle starren dumpf durch die Scheibe des Cockpits. Nur Willa zuckt, will etwas sagen. An ihrer Stelle spricht jedoch ihr Kollege, die Finger so verdreht, als halte er noch immer seine E-Zigarette: »Bă, du kletterst da rauf. Das ist ein Prio-eins-Prompt. Wenn nicht, beschränken wir dich auf VR.«

Willas Gesicht leert sich wie ein Screen, den man ausgestöpselt hat. Dion fängt an zu lachen. »Hausarrest? Schon wieder? Das ist mir mucho egal.«

»Kein Arrest«, dröhnt es aus dem Lautsprecher, »Du beschissenes Stück Mashara, wir sprechen von mucho forever.«

 

››Für immer?‹‹

Willa registriert den Bruch in Dions Stimme. Ein angedeutetes Zittern. Sie hofft, dass ihre Kollegen das nicht bemerkt haben.

»Ja, für immer«, blafft ein Kollege und beugt sich über das VR-Terminal. Willa kann nichts tun. Sie kann nicht einmal sprechen. Nur die Augen kann sie verschließen. Da geht der Alarm los. Das Holo bricht zusammen. Dions Körper, immer noch in der Luft, sackt in sich zusammen. Der Kopf kippt nach hinten. An der VR-Brille leuchtet das rote Lämpchen.

Was ist mit Dion? Wo ist Dion? Ist der Kontakt abgebrochen? Ein Hänger? Der Zentralalarm sagt etwas anderes. Vor der Tür wird es laut. Menschen strömen aus den Laboren. Der gesamte Wolkenkratzer scheint zu brummen. Willa blinzelt. Ihre Kollegen drängen an ihr vorbei, sprechen aufgeregt. »Proxi ist offline.«

»Die gesamte Welt tot.«

»Ein feindlicher Angriff?«

»Unmöglich!«

Willa rührt sich nicht. Plötzlich ist sie allein im Cockpit. Dions Körper hängt noch immer in der Luft. Niemand hat sie heruntergelassen.

 

››Ist das ein Lockdown?«

Wieder ein leichtes Flattern in Dions Stimme. Beide stehen ganz dicht auf dem Szenario-Deck. Um sie herum das Plärren der Sirenen. Willa hat Dions Körper aus der Befestigung befreit, jetzt nimmt sie Dions Hand und wundert sich, weil Dion die Hand nicht wegzieht.

»Du willst mich zurückbringen? In die Zelle?«

Es wäre das einzig Richtige. Zu ihrer eigenen Überraschung schüttelt Willa den Kopf, und Dions Mund zuckt – ein angedeutetes Lächeln? »Wohin gehen wir dann?«

Darüber hat Willa nicht nachgedacht, trotzdem antwortet sie sofort. Das muss der Teil von ihr sein, der lange nichts sagen durfte und der jetzt übernimmt.

Endlich.

»Lass uns rausgehen.«

»Raus-raus?«

Dion zieht die Augenbraue hoch. Sie glaubt es nicht. Dann ändert sich ihr Gesicht, wird weich. »Bin ich denn schon so weit?«

»Darum geht es nicht. Verstehst du? Du wirst nie bereit sein für das Draußen. Es wird immer anders sein, als du denkst.«

Der Alarm verstummt.

Die plötzliche Stille ist schwerer als alles davor. Dion umklammert Willas Hand, macht einen Schritt auf die Tür zu. Willa bleibt stehen, zieht ihre Hand zurück. Und Dion versteht. Zuerst den Bergsteigeranzug ablegen. Willa hilft ihr dabei. Entfernt das Sicherungsseil.

Zusammen verlassen sie das Zimmer, gehen den leeren Flur hinunter. Wo sind alle? An der richtigen Tür gibt Willa den tagesaktuellen Code ein, zieht das schwere Eisen zur Seite, und Dion geht hindurch. Kurz denkt Willa darüber nach, etwas zu sagen. Irgendetwas, das Dion helfen könnte, in der Welt zurechtzukommen. Ihr fällt nichts ein. Sie möchte »Pass auf dich auf«, rufen, aber sie fürchtet, dass ihre Stimme bricht. Deshalb bleibt sie stumm und bereut es noch in der gleichen Sekunde.

Dion geht die Treppe hoch. Auf der obersten Stufe dreht sie sich um, wirft einen Blick zu Willa, in den sie alles legt, was sie zusammen erlebt haben. Ihr erstes Wort, ihren ersten Laufversuch. Das erste Lächeln.

Einen Moment schauen sie sich an. Dion streckt eine Hand nach Willa aus: »Sus, ich möchte dein Gesicht mitnehmen, herunterladen als jpg.«

Willa blinzelt. Ihr Blick verschwimmt. Endlich dreht sich Dion um, geht.

 

Dion kann den Luftwiderstand auf ihrer Haut messen, die Schwerkraft, die an ihren Fußsohlen leckt. Aber sie hat keine Ahnung, was das Draußen noch beinhaltet. Was es bedeutet, sich in einem Raum ohne Wände zu bewegen. Sie rechnet mit Schwindel. Der Fahrstuhl gleitet nach oben, die Zahlen auf der Anzeige werden kleiner. Ganz oben steht die Null.

Pluripotente Stammzellen, heranwachsende Myozyten, 3-D-Zellkulturen, Transplantate, übereinandergelegte Membranen, Gewebezüchtung, Organbildung – Dion weiß, woraus ihr Körper besteht. Zumindest theoretisch. Sie kann ihn auch durch Raum und Zeit bewegen, praktisch. Bisher durfte sie das aber nur innerhalb begrenzter Raumabschnitte – auch Zimmer genannt.

Die Türen gleiten auf, und sie verlässt die enge Kabine, durchquert die weite Halle. Licht fällt von allen Seiten durch meterhohe Scheiben.

Wie in einer induzierten Halluzination bewegt sich Dion zu den großen Schiebetüren. Niemand hält sie auf. Menschen laufen und reden durcheinander. Sie sind beschäftigt. Mit der Apokalypse.

Sobald Dion durch die letzte Tür tritt, wird ihr tatsächlich schwindelig, weil plötzlich klar ist: Es gibt keine fixe Einstiegsstelle, das Draußen ist überall. Schwellenlos. Sie schwankt. Gegensätzliche Kräfte zerren an ihr. Die Sonne – die echte Sonne – spießt sie auf, so unbarmherzig wie ein zum Tode verurteilter Stern nur kann. Dion schaut in das weiße Brennen, ohne zu blinzeln. Ihren biosynthetischen Augen macht das nichts. Schlimmer als die Sonne ist das Fehlen aller Begrenzungen. Die nächste Wand steht zu weit entfernt. Dion sucht nach etwas Festem. Ihr Körper drückt sich gegen glühenden Beton, rutscht entlang an Fassaden. Bloß fort von hier. Raus aus dieser Stadt. Raus aus dem Labyrinth. Sie fängt an zu rennen. Ihr Körper kennt das Rennen vom Laufband, aber nicht als freie Bewegung durch einen Raum, der kein Ende hat. Sie nimmt Geschwindigkeit auf, saugt den vor ihr liegenden Raum in sich hinein. Von 9 km/h zu 44 km/h. Ihre Schritte werden länger, schwebender. Schwindel schwappt durch ihren Körper, doch sie will nicht innehalten, fürchtet umzukippen, falls sie stehen bleibt. Vogelgleich schießt sie über die Straßen, seht her, ich lebe!

Bis sie stolpert, abstürzt, im hohen Bogen auf den Beton zustürzt. Aufprallt und Blut schmeckt.

Ist das Leben so kurz?

Dion rappelt sich auf, rennt weiter. Immer weniger Gebäude zum Entlanghangeln stehen immer weiter auseinander. Dann hört es ganz auf, und Dion stößt auf noch mehr Leere. Sie zwingt ihren Körper, auch diese Grenze zu überschreiten. Freiheit ist wie ein Augenblick: einzigartig und kurz.

Sie hat von Proto gehört. Von der ersten Landschaft nach der Klimakatastrophe. Die Zukunft eines ganzen Planeten. Dünenlandschaft ohne Wände. Sie versucht, nicht daran zu denken. An nichts zu denken. Ein Fuß vor den anderen, immer weiter. Immerhin gibt es einen Boden, staubig, aber fest.

Und ist ein Boden nicht auch eine Art Wand? Etwas, das den endlosen Fall verhindert?

Ins Ungewisse

War es ein Fehler, Dions Notsignal zu folgen? Der Gedanke bricht über Kawi herein. Draußen steht Tell und trägt Dion auf seinen Armen. Dahinter eine Landschaft nach der Katastrophe.