Neurobiest - Aiki Mira - E-Book
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Neurobiest E-Book

Aiki Mira

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Beschreibung

In absoluter Realität - ohne Träume - kann ein Bewusstsein nicht existieren. Die Stadt Berlin im Jahr 2100 – Der menschlichen Schöpfungskraft sind nahezu keine Grenzen gesetzt, 98 Prozent aller Menschen, Tiere und Pflanzen sind modifiziert. Bioinformatikerinnen und Geningenieurx wollen die letzten Geheimnisse des Lebens entschlüsseln, es wird gezüchtet, präpariert und manipuliert. Die Biohackerin Aruke lebt gemeinsam mit ihrer Community – den Unerschütterlichen – hoch oben auf den Dächern Berlins. Auch wenn nach außen hin alles normal erscheint, mit Arukes Körper stimmt etwas ganz und gar nicht. Liegt die Ursache in ihrer Kindheit, im komplett synthetisch erzeugten Amazonas? Und was hat Riva Lux – geheimnisvolle Mega-Celebrity – damit zu tun? Aruke spürt eine ganz besondere Verbindung zu ihr. Je mehr Aruke in ihre eigene Vergangenheit eintaucht, desto mehr wird alles, woran sie glaubt, in Frage gestellt.

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Seitenzahl: 367

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Neurobiest

 

von Aiki Mira

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-946348-40-5

ISBN 978-3-946348-39-9 (Print Ausgabe)

© Eridanus Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstr. 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Korrektorat: Anke Tholl

Umschlaggestaltung: Aiki Mira (Cover) | Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

https://eridanusverlag.de

https://www.instagram.com/eridanus.verlag.sf

https://www.facebook.com/eridanusverlag

 

Für Kiril und Fritz,

und für Berlin.

© ISynBi 2111

 

Nxomyceten aus dem Amazonas SynBiom

 

Aruke Oh, Freies Biotech Lab »Die Unerschütterlichen«, Dach TN7, Berlin, Deutschland

 

Olivia Oh, Institut für Synthetische Biologie, ISynBi Tower, Berlin, Deutschland

 

El-Hacène Nuyck, Institut für Synthetische Biologie, ISynBi Tower, Berlin, Deutschland

 

Schlüsselbegriffe

Nxomyceten, Neurosubstrat, SynBiom, Amazonas, Neurobiest, Norsynepharum polycephalum

 

Abstract

Das Neurosubstrat ist von fundamentaler Bedeutung für unsere Gesellschaft. Die Nxomyceten sind seine einzige bekannte Quelle. Hier stellen wir die Befunde unserer phylogenetischen Analyse einer Subgruppe dieser Art vor.

Bei den Nxomyceten handelt es sich um einen parasitären Befall, der sehr wahrscheinlich vom NeurobiestNorsynepharumpolycephalum ausgelöst wurde (Oh und Oh, 2108). Izabel Cabral klassifizierte das Neurobiest als »erstes vom Menschen unabhängiges biosynthetisches Ereignis« (Cabral et al 2090, Audioarchiv DIAF). Damit gehört es zu der einzig bekannten Lebensform, die sich selbständig aus einer biosynthetischen Umwelt entwickelte. In der vorliegenden Arbeit schlagen wir vor, dass auch die Nxomyceten als ein biosynthetisches Ereignis anerkannt werden, das vom Menschen weder vorhergesehen noch gesteuert werden kann.

 

Berlin 2100

 

In absoluter Realität – ohne Träume – kann ein Bewusstsein nicht existieren.

Der Gedanke lässt Aruke kippen. Ihr Körper beugt sich vor, ihre Fersen lösen sich von der Dachkante. Unter schäumenden Smogwolken fließt eine Stadt. Von hier oben ein funkelndes Meer. Konturen verbiegen darin, verschwimmen, lösen sich auf.

Aruke will springen.

Mitten hinein.

Schweiß rinnt ihren Rücken hinunter. Leichter Wind kommt auf. Aruke schaudert. Arme schwingen seitwärts, graben durch dickflüssige Hitze. Schon hält sie es nicht mehr aus, zieht den Kopf zwischen die Schultern, geht in die Hocke. Gleich, denkt sie, werde ich bis zum Grund von Berlin tauchen.

 

Mehrere Meter entfernt begrüßt Kenoah die letzte Touri-Gruppe. Aruke hat Schwierigkeiten, die Stimmen auseinanderzuhalten. Nur Kenoahs Bass hebt sich hervor, schwappt warm und weich zu ihr herüber: »Willkommen auf Dach TN7! Von hier oben sehen Sie, was Berlins Architektur so besonders macht: Chrom und Chlorophyll! Wiesen wachsen entlang polierter Häuserfassaden, Nutzpflanzen sprießen auf Balkonen, ganze Wälder erheben sich von Flachdächern.«

»Das ist aber keine so schillernde Stadt im Stil des Weltraumzeitalters wie Frankfurt oder Köln.«

»Nein«, erwidert Kenoah, »das ist ein wilder Haufen, den Menschen auf der ganzen Welt als Heimat bezeichnen.«

»Was ist das für ein Gebäude am Horizont?«

»Sieht aus wie ein senkrechtstehendes Pflanzenblatt.«

»Gerade sieht es so aus. Der Turm basiert auf modularer Architektur und neuster Nanotechnologie. Er kann jederzeit seine Form ändern.«

»Ist das der Riva-Lux-Tower?«

»Nein, das ist das ISynBi, das Institut für Synthetische Biologie.«

»Aber den Tower der Mega-Celeb können wir auch von hier sehen?«

»Klar, der gehört zu den bautechnischen Katastrophen. Dort drüben steht er im Wald aus Glastürmen.«

»Katastrophen?«

»Jetzt im Sommer heizen sich die Glastürme wie Brenngläser auf. Das wahre Berlin offenbart sich erst, wenn die Stadt nicht nur rein architektonisch, sondern als miteinander verbundene Stoffwechselsysteme betrachtet wird. Ein biologischer Organismus – In Berlin ist alles mit dem Netz des Lebens verbunden!«

Eine Woge aus Übelkeit durchfährt Arukes Körper. Sie ist froh, versteckt zwischen zwei Büschen von niemandem gesehen zu werden. Hastig beißt sie die Zähne zusammen, presst die Lippen aufeinander.

Zu spät.

Warme Flüssigkeit schießt in ihr hoch, flutet den Rachen, will hinaus. Aruke fällt auf die Knie. Sie weiß, das ist nur der Anfang. Ihr Blick verschleiert sich, bleibt einen Moment am ISynBi-Turm hängen, der sich vor ihren Augen von einem senkrechtstehenden Blatt in eine Doppelhelix verschiebt.

»Folgen Sie mir bitte«, ruft Kenoah. Aruke bekommt ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte sie die letzte Touri-Gruppe übernehmen. Sie hört Schritte und dann das Quietschen der Tür im vier Meter hohen Zaun.

»Wozu der Zaun?«

»Eine notwendige Maßnahme, um torkelnden Touris das Fahren auf Swiftern oder Schwebekissen beizubringen.«

Die Gruppe reagiert mit wissendem Lachen.

»Hinter dem Zaun stehen unsere Schlafmöglichkeiten. Handverschraubt und zweistöckig. Alles aus dem 3-D-Drucker. Jetzt zur Hochsaison können sie stundenweise gemietet werden. Parallel dazu verlaufen Parzellen. Die sind für die Gartenarbeit reserviert.«

Aruke hört das Schließen des Tors, kurz danach ein Rascheln und Kratzen. Meerschweinchen und Hasen vermutet sie. Niemand kann die Meerschweinchen voneinander unterscheiden, es sind zu viele. Nachts erscheinen und verschwinden sie so schnell, dass Aruke nie sicher ist, sie tatsächlich gesehen zu haben. Das, denkt sie, ist ihre besondere Eigenschaft.

»Bitte zusammenbleiben! Alle Tiere auf Dach TN7 sind genmanipuliert. Auf den ersten Blick sehen sie unschuldig aus. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Sie sind durchtrieben und organisiert! Gern verbünden sie sich untereinander. Die Meerschweinchen kooperieren mit den stoischen Hasen ‒ leichte, schöne Tiere, die beim Hüpfen zu fliegen scheinen. Zusammen plündern sie unsere Nutzgärten.«

»Die sind doch durch elektrische Zäune gesichert.«

»Ha, für kluge Tiere stellt das kein Hindernis dar.«

Besonders die Hasen, denkt Aruke, die lernen erschreckend schnell. In den ovalen Hasenaugen entdeckt sie manchmal den Mond. Die Tiere scheinen dann wie erstarrt nach oben zu blicken.

Um den Schmerz besser auszuhalten, versucht Aruke jetzt selbst wie erstarrt nach oben zu schauen.

 

»Was ist das?«

»Ein Hase?!«

»Der ist doch bestimmt einen Meter hoch!«

»Wieso sitzt er so ‒ so reglos?«

»Beobachtet er uns?«

»Keine Panik!« Kenoah klingt amüsiert. »Sehen Sie? In seinen Augen spiegelt sich der gesamte Himmel.«

Aruke kennt das Tier, hat es vor langer Zeit Salomon getauft.

»Berlins Dächer sind bekannt für ihre eigentümliche Tier- und Pflanzenwelt.« Aruke hört den Stolz in Kenoahs Stimme.

»Eure barackenähnlichen Behausungen erinnern mich an die Slums des vorherigen Jahrhunderts.«

»Und trotzdem«, entgegnet Kenoah, »strömen jedes Jahr mehr Menschen hinauf als hinunter.«

Aruke presst eine Faust in den Bauch.

»Während unten in der Stadt Montage und Instandhaltung von Drohnen geregelt werden, legen wir hier oben noch selbst Hand an ‒ was erst durch nanotechnologisch verbesserte Materialien und industriellen 3-D-Druck möglich wurde. Auf unseren Dächern haben wir eine zweite Stadt errichtet. Gewohnt und fremd zugleich.«

Ein Schmerz – strahlend, präzise – durchstößt Arukes Unterleib.

Sind acht Wochen schon wieder vorbei?

Sie hätte wissen müssen, dass es heute Abend passiert. Die Anzeichen waren alle da. Die Stimmungsschwankungen, der plötzliche Drang, sich in die Tiefe zu werfen.

 

»Stimmt es, dass die Theken und Bars hier oben geheime Öffnungszeiten haben?«

»Ja, das stimmt. Nur Menschen, die auf dem Dach viele Winter durchgestanden haben, wissen Bescheid.«

»Menschen wie du? Du bist nicht aus Berlin. Woher kommst du wirklich?«

»Lass ihn in Ruhe. Es ist offensichtlich, dass er …«

»Aus einem Auffanglager stammt?«

»Ist es denn wichtig, woher unser Guide kommt?«

»Na, manche behaupten, die Stadt fülle ihre leeren Kassen mit der Aufnahme von Geflüchteten.«

»Schaut euch doch mal um! Hier oben könnten wir ebenso gut auf einem fremden Planeten sein! Jedes Dach ein eigener Planet ‒ Hey Guide, woran liegt das?«

Kenoah antwortet mit seiner professionellen Guide-Stimme. Unmöglich zu sagen, ob ihn das Gespräch der Touris getroffen hat. »Die Dächer entwickelten sich lange wie voneinander isolierte Inseln. Mittlerweile verbinden Hängebrücken aus synthetischen Zellen die meisten Anlagen. Dach TN7 bleibt bis heute eine Ausnahme: Es ist nur über Schwebekissen zu erreichen.«

»Stimmt es, dass die Dächer anfangs vollkommen unkontrolliert besetzt, bebaut, bepflanzt wurden? Von Kriminellen und ID-losen…«

Kenoah räuspert sich. »Mittlerweile versucht die Berliner Regierung das zu regulieren ‒ was nicht immer funktioniert. So wie unten besetzt auch hier oben jede Gruppe eine Ecke, um ihre eigene Realität zu leben.«

»Was ist da drüben?«

»Die Bereiche zum Kochen und Drogennehmen.«

»Beide nicht eingezäunt?«

»Nicht nötig. Im Sommer bildet der Rauch eine eigene Barriere.«

Die Gruppe reagiert mit erstauntem Pfeifen.

»Sehen Sie den Kletterturm in der Mitte? Der bietet die Art von Sonnenuntergang, die sonst nirgendwo mehr in der Stadt zu finden ist: unüberschaubar und weit.« Wieder klingt Kenoah ein bisschen stolz.

Die Gruppe bahnt sich einen Weg dorthin. Manche fangen wegen dem Rauch an zu husten. Die Stimmen werden leiser. Die Schritte schneller. Immer wieder stolpert jemand über die am Boden liegenden Körper.

Aruke beißt erneut die Zähne zusammen, erwartet die nächste Schmerzattacke.

»Da hängen Menschen im Gerüst!«

»Nur im Sommer. Sonst ist der Kletterturm für brütende Vögel reserviert.«

Aruke schließt die Augen, stellt sich vor, wie die Touris gebannt zuschauen, während die scharf geteilten Bereiche des oberen Berlins langsam in der aufsteigenden Dunkelheit verschwinden.

Der Rundgang ist beendet. Die Stimmen nähern sich jetzt von der anderen Seite. »Hier oben leben alle zusammen und doch für sich allein. Bist du deswegen rauf aufs Dach?«

»Gründe gab es genug. Ein Leben auf dem Dach bedeutet Freiheit.«

»Ist das Berlins Utopie? Alle zusammen, aber jeder für sich?«

»Stimmt es, dass im Herbst hier oben mehr Tiere hausen als Menschen?«

»Ja. Dann ist die Touri-Saison vorbei und nichts versperrt den Tieren mehr den Weg.«

»Gehen wir noch in den Wald?«

»Nein, den Bereich haben die Hasen und Meerschweinchen übernommen. Der ist für Menschen tabu ‒ außer für Liebende, die manchmal ins Wäldchen gehen. Einer der wenigen Bereiche, die ein bisschen Privatsphäre bieten.«

Eine fremde Kraft durchzuckt Arukes Körper und schiebt sie näher an den Abgrund. Gleichzeitig kriecht etwas Bewegliches durch den Tunnel ihrer Vagina. Der Druck ist kaum auszuhalten. Aruke schiebt beide Hände in die Shorts, presst von außen dagegen, versucht es mit Gewalt hinauszuschieben. Aber es lässt sich Zeit. Aruke kennt das.

Da bäumt sich ihr Körper auf und das Blut schießt ihr in den Kopf. Erneut setzt der Würgereflex ein. Aruke hört das Gurgeln, schiebt beide Hände tiefer zwischen die Beine, fängt das Ei, bevor es auf dem Boden landet. Sofort legt sie eine zweite Hand darüber und schaut nicht hin, aus Angst, sie könnte sich selbst sehen. Weich und feucht fühlt es sich an. Es pulsiert. Heute scheint es anstrengender gewesen zu sein als jedes Mal davor. Arukes Körper vibriert vor Erschöpfung.

Eine Hand, warm und trocken, legt sich auf ihre Schulter. Erschrocken versteckt sie das Ei in der Faust, dreht den Kopf und blickt in das Gesicht von Kenoah ‒ Freund, Arbeitskollege und zeitweise Liebhaber.

»Hier steckst du!« Unter seiner Haut wölben sich Muskelketten, die aussehen wie aufgeblasene Schwebekissen. Wegen der schweren Arbeit und aus Neugier hat Aruke vor einem Jahr bei Kenoah und sich das Myostatin-Gen ausgeschaltet, das das Muskelwachstum begrenzt. Dadurch besitzen beide genügend Kraft, um sieben Tage die Woche an der Station zu schuften. Ein knallhartes Trainingsprogramm allein hätte das nie fertiggebracht. Selbst die neuste Generation von Muskelaufbaupräparaten ist nicht annähernd so effektiv. Aruke ist zufrieden: Bei Kenoah und sich hat sie sichtbar gutes Körperhacking geleistet.

»Aruke, warum bist du plötzlich verschwunden?«

Sie senkt den Kopf und knurrt: »Ich brauchte eine verdammte Pause.«

»Gab es wieder Probleme mit dem Auftrieb?«

»Ha! Die neuen Leichtrotoren verursachen einen Auftrieb, der kaum zu steuern ist! Vom Wind sind die Schwebekissen mehrmals abgetrieben. Jedes Mal musste ich hinterherjagen und verloren gegangene Touris einsammeln.«

Das ist keine Lüge. Aruke hebt das Gesicht. Ein Lächeln schneidet Kenoahs Mund entzwei. Er hat den richtigen Mund dafür: breit und voll mit blitzenden Zähnen. »Hey, wir haben beide einen langen Tag hinter uns. Abgemacht war, dass du die letzte Gruppe übernimmst.«

Aruke schaut schräg hinüber zur Station. Dort steht niemand mehr. Der Nachthimmel hängt tief und ist fast schwarz vor Hitze. »Du hast allein aufgeräumt?«

»Yep. Das Gas aus den Kissen herausgelassen und alles so gestapelt, damit für dich genügend Platz ist.«

»Danke, aber heute Nacht ist es zu warm. Ich schlafe lieber unter freiem Himmel und stehe auf, sobald die ersten Touris eintrudeln.«

Er schaut sie nachdenklich an, dann sagt er: »Die Geschichte ist überall die gleiche: Menschen leben auf einer Fläche, bebauen und bewirtschaften sie. Dann werden sie enteignet und von einer zunehmend systematisierten Tourismusindustrie abhängig gemacht. Ha, unser Dach als anarchischer Abenteuerurlaub, als Gegengift zur geordneten Zivilisation!«

Kenoah wählt seine Worte bewusst – fast liebevoll. Er stammt aus dem ehemaligen Hawaii, er glaubt zu wissen, wovon er spricht, was Verlust bedeutet, wofür es sich lohnt zu kämpfen.

Aruke kommt aus einer anderen Hölle. »Im Amazonas brannten sie alles nieder, bauten alles neu. Künstlicher Wald. Urlaubsresorts. Umsiedlungen. Statt Fehler wiedergutzumachen, machten sie uns zu ID-losen. Zu Nomaden. Auf der Flucht.«

Er stützt sie am Ellbogen, hilft ihr hoch. Sie hat die Arme immer noch hinter dem Rücken verschränkt, dreht sich weg. Er mustert die nassen Flecken auf ihrer Shorts. »Alles in Ordnung?«

Aruke trägt ultrakurze Shorts und eine Brustbandage. Für mehr ist es im Sommer meist zu heiß. Manchmal zieht sie ein Hemd von Kenoah darüber, heute war ihr selbst das zu schwer. Sie hat daher nichts, um das Ei verschwinden zu lassen, hält es immer noch in der Faust, presst die Faust jetzt in ihren schweißnassen Rücken, konzentriert sich, damit das Ei schrumpft. Sie kann nicht nachsehen, ob das funktioniert.

»Du siehst so…«, beginnt er.

»Blass aus?« Sie reckt das Kinn.

Kenoah lacht und aus seinem sonnenverbrannten Gesicht tropft Schweiß. »Blass siehst du nie aus.«

Arukes Arme und Beine sind tiefschwarz, schillern vor Schweiß und wechseln an den Innenseiten ins Silbergrau. Der hohe Anteil an Melanin soll ihre Haut vor der gefährlichen UV-Strahlung schützen. Trotzdem lodert ihr Rücken wie Feuer. Im Sommer schmelzen in Berlin selbst die Straßen dahin.

Aruke macht einen Schritt nach vorne und stellt fest, dass ihre Knie zittern.

Kenoah wirft ihr einen langen Blick zu. Sie weiß, was er ihr damit sagen will. Aber sie nimmt sein Angebot nicht an. Sie will mit niemandem darüber reden.

Endlich brummt er: »Ich geh rüber ins HQ.«

Das Hauptquartier der Unerschütterlichen liegt nur wenige Meter entfernt. Eine einfache zweistöckige Behausung aus dem 3-D-Drucker, wie sie auf Berlins Dächern häufig zu finden ist.

»Ich komme nach«, verspricht Aruke. Ihr Freund schaut sie an, als müsste er sich versichern, dass sie sich nicht in Luft auflöst. Sie macht eine Kopfbewegung zum Wald auf der anderen Seite. »Ich will kurz nachsehen, ob die neue Wasserfloh-Population geschlüpft ist.«

Er nickt, dann dreht er sich um und geht.

Sie schaut ihm hinterher. Kenoahs massiver Körper strahlt eine Männlichkeit aus, die Aruke zugleich als beruhigend und ungefährlich empfindet.

Von einem inneren Impuls gelenkt, dreht sie sich zurück zum Abgrund. Erleichtert atmet sie aus. Das Verlangen zu springen ist fort.

Ihr Blick wandert weiter zu der Baumgruppe, die am Ende des Dachs in den Himmel stößt. Wie gefangen in einem unsichtbaren Kraftfeld bewegt Aruke sich dorthin. In ihrer Hand klopft das Ei. Ein neuer Puls.

 

Unter den üppigen Baumwipfeln des Walds werden selbst Tage dunkel wie ein Grab. Sobald Aruke in die angenehme Kühle tritt, erinnert sie sich, wie Kenoah und sie genau an dieser Stelle das erste Mal Sex miteinander hatten, eingeklemmt zwischen zwei Bäumen. Aruke kam sofort, war fast rasend, flirrte nur so vor Energie. Hinterher fragte Kenoah, ob es bei ihr schon lang her gewesen sei. Aruke schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ich bin immer so.«

Und es stimmt. Bloß, wie soll sie das anderen erklären, dieses Gefühl jeden Moment aus der Haut zu fahren? Aus der Haut und von dort in eine andere.

Auf Dach TN7 kam Aruke zwei Jahre nach Kenoah am 28.08.2095 im staubigen Sommer. Zur Dürrezeit. Wie Kenoah kam sie mit vorläufiger ID und direkt aus einem der Auffanglager, die am Rand der Stadt liegen. Hier oben wollte sie alles hinter sich lassen, alles vergessen und ganz neu anfangen. Kenoah war der erste, der sie wie ein Mensch behandelte.

Ein ovales Glitzern im Dunkeln. Arukes Schritte werden langsamer. Hier inmitten des kleinen Walds bildet das Dach eine Kuhle, darin sammelt sich das Abwasser undichter Leitungen. Im Schutz der Bäume verdunstet es nicht gleich wieder.

Obwohl Aruke erst fünf Jahre auf dem Dach lebt, weiß sie mit jeder Zelle ihres Körpers: Dieser kleine Wald ist mehr als ein Punkt im Raumzeit-Gefüge. Es ist ein in Echtzeit mutierender Organismus. Wandel ist hier andauernd. Zu versuchen das zu erfassen, ist wie der Versuch, ein Aquarell unter Wasser zu malen. Mit diesem Gedanken steigt sie in den Teich. In der Faust hält sie das pulsierende Ei.

Bis zum Hals taucht sie ein, lässt sich auf dem Rücken in dem warmen Tümpel treiben. Allein die Leichtigkeit des Wassers hält sie. Über ihr fließt ein immer noch neonfarbener Abendhimmel, schimmert gleich einem Ölteppich zwischen den Baumspitzen hervor. Ihre Beine schlagen Wellen, ihre Lippen schmecken Algen, Salz und noch etwas anderes. Sie taucht unter, stellt sich vor, unter Wasser atmen zu können. Wasser füllt ihren Mund und sie wartet darauf, daran zu ersticken. Aber Wasser gleitet einfach hinein und hinaus. Hinein und hinaus. Euphorie durchzuckt ihren Körper. Etwas Unmögliches zu können. Und dann Panik. Sie merkt, dass ihr Mund voll mit Wasser ist. Mit dem Kopf stößt sie an die Oberfläche und spuckt dickflüssiges Dunkel aus. Ihr Inneres fühlt sich einen Moment wie der wellennarbige Sand unter ihren Füßen an.

In der Hand, die ins Wasser getaucht ist, vibriert das Ei. Sie konzentriert sich auf den Rhythmus, bis sich ihr menschliches Auge vor Anstrengung verschleiert. Aruke schaut jetzt durch die Augen der Libellen, der Fliegen und Spinnen. Sie sucht die Wasserflöhe und findet sie. Es sind mehr als genug.

Ihr Körper schiebt sich tiefer hinein. Wie ein frischgekochter Pudding umhüllt die Brühe ihren Körper. Zuletzt taucht der Kopf ein. Aruke lauscht den Unterwassergeräuschen, schaut durch die Augen der Kröten und Stichlinge. Der Wasserstand schwankt. Am Boden wachsen Gräser. Aufgrund der hohen Wassertemperaturen auch ein- und mehrzellige Algen.

Der Teich ist als Laichgewässer wichtig, deshalb deckt Aruke ihn manchmal mit Kunststofffolie ab. Schnelles Wachstum, hohe Fortpflanzungsrate und eine kurze Generationsfolge: Die Tierwelt dieses Tümpels ist kurzlebig. Regelmäßig manipuliert Aruke diese Welt, entwickelt neue Arten von Schwimmkäfern, Wasserkäfern, Zuckmücken und Stechmücken, modifiziert die hartschaligen Eier der Kiemenfußkrebse, die danach jahrzehntelang im Trockenen liegen können ‒ Flohkrebse monatelang, wenn sie mit Erde bedeckt sind. Auch die manipulierten Rädertiere, Fadenwürmer, Ruderfußkrebse und Muschelkrebse können in Trockenstarre lange Zeiträume überdauern und selbst im staubtrockenen Schlamm weit verbreitet werden. Meist handelt es sich um Auftragsarbeiten. Manchmal verfolgt Aruke auch eigene Projekte und modifiziert Amphibien ‒ Frösche, Kröten, Molche ‒ bis deren Haut Wasser speichern kann und die Tiere selbst in flachen Pfützen überleben. Kleine Fische und eine Vielzahl von Wirbellosen wie Spinnen, Ameisen, Fliegen und Läuse hat Aruke hitzeresistent gemacht, damit sie die Tollwut des Berliner Sommers überleben.

Vollständig eingetaucht öffnet sie die Faust und lässt das Ei aus der Hand ins Wasser gleiten. Unzählige Eier hat sie auf diese Weise losgelassen. Lichtblitze zucken hinter ihren Augenlidern. Sie spürt das warme Wasser und wie es das Ei träge absinken lässt. Sie spürt, wie Algen und Gräser mit ihren langen dünnen Armen nach dem Ei greifen. Sie fühlt die Trennung jedes Mal wie einen Stich, der allmählich nachlässt.

 

Die Luft ist noch warm, als Aruke wenig später zwischen zwei Dornenbüschen unter dem Fenster des Hauptquartiers sitzt und darauf wartet, trocken zu werden. Neben ihr stehen tropfende Behälter mit Wasserflohlarven. Kenoah entdeckt seine Freundin vom Fenster aus. Mit wiegenden Schritten verlässt er das HQ und geht neben ihr in die Hocke. Sein Atem riecht nach billigem Ersatzbier. Er bietet ihr einen Schluck aus seiner Flasche an. Aruke schüttelt den Kopf. Sie fühlt sich zu erschöpft. Lieber sitzt sie nur da und spürt ihrem Körper nach wie einer Landschaft, schön und voller Leben. Überall auf ihrer Haut bilden sich braungrüne Inseln aus Algen und Schlamm. In der warmen Sommerluft werden daraus Krusten, die sich hell von der Haut abheben. Ihr Körper sieht jetzt aus wie eine Landkarte mit Kontinenten und Straßen.

Aruke schließt die Augen und aus ihrem Torso wachsen statt der Arme zwei weiße Schläuche. Wenn das passiert, umschlingt sie ihren Oberkörper und reißt die Augen auf. Kenoah kennt das. Er glaubt, solche Zustände hängen mit der Zeit im Auffanglager zusammen. Eine Zeit, über die beide nie sprechen. Sie sieht seinen besorgten Blick und will rufen:

»Nein, nein, das hat nichts mit dem Lager zu tun! Es ist eher so, als wäre ich früher eine andere Person gewesen, eine die nicht Aruke, sondern Prima hieß.«

 

SynBiom 2090

 

Prima presst die Nase gegen die Scheibe des Multikopters. Unter ihnen nichts als dichtgewachsenes Grün. Ihre Mutter Dr. Helen Ludwig sitzt neben ihr, starrt ins Leere und sagt kein Wort. Gegenüber sitzt Helens Ehefrau Vera und schläft mit offenem Mund. Zuhause in Deutschland sprach die Mutter immer nur von »der Kolonie« und von einem Projekt für das »DIAF« ‒ das Deutsche Institut für Auswärtige Forschung, wie Prima mittlerweile weiß. Den genauen Zielort nannte die Mutter nicht. Dann eines Nachts verließen sie die Berliner Wohnung. Prima durfte nur einen Rucksack mitnehmen.

Von Berlin reisten sie nach Amsterdam, von Amsterdam nach Sao Paulo, von Sao Paulo nach Manaus. Sie flogen mehrere Nächte hindurch, sahen mehrere Sonnenaufgänge hintereinander. Oder hat Prima das geträumt?

Die Farbe Grün erstreckt sich bis zum Horizont.

»Seht nur!«, wie erwacht aus einem Traum zu einem noch viel Größeren, reißt Primas Mutter die Augen auf und zeigt nach draußen, »das größte synthetische Biom der Welt!«

Nie zuvor hat Prima so viel Grün gesehen. Wo sie herkommt, gibt es vor allem Beton.

Der autonome Multikopter landet. Helen weckt ihre Frau. Nacheinander klettern sie aus der Maschine. Die Luft ist feucht. Primas Lungen können die Feuchtigkeit kaum atmen. Der Körper fühlt sich wie ein schweres, nasses Handtuch an. Ihre Mutter zieht ihr einen unförmigen Sonnenschutz über. Alle drei setzen ihre Rucksäcke auf. Vera stöhnt und Prima hofft, dass alles ein Witz sei. Aber ihre Mutter macht nie Witze, sie besitzt keinen Humor.

Prima spürt, wie die Haut im Gesicht wegschmilzt. Menschenhaut scheint für dieses Klima vollkommen ungeeignet zu sein. Auch im milchweißen Gesicht der Mutter sprießen unzählige rote Flecken. Ihre Mutter beschwert sich nicht, was Prima als schlechtes Zeichen deutet. Offenbar hat sie sich in den Kopf gesetzt, das durchzuziehen – was immer das ist.

Ein dumpfer Schmerz klopft in Primas Knochen und, als hätte sie monatelang nicht geschlafen, kann sie nicht mehr klar denken. Sie fühlt sich zugleich geistig überdreht und körperlich erschöpft. Lautes Knattern. Die Rotoren des Multikopters spielen erneut ihre Hymne. Die Maschine hebt ab, fliegt davon ‒ ohne sie.

Prima starrt auf die undurchdringbare Wand, die sich vor ihnen aufbaut. Ein in den Himmel wachsender Teppich geknüpft aus Pflanzen. Der Teppich hebt und senkt sich wie die Haut über einem schlagenden Herzen. Ranken schießen daraus hervor. Die Wand besitzt tausend Arme, tausend Augen. Prima hört tausend Stimmen.

»Was ist ein synthetisches Biom?«

Ihre Mutter scheint die Frage nicht zu hören, blickt starr ins Blätterrauschen. Dann endlich rührt sie sich. Unerträglich langsam dreht sie den Kopf und sagt: »Ein Großlebensraum, ein riesiges Ökosystem aus biosynthetischen Zellen.«

»Ein Wald aus dem Labor«, ruft Vera genervt und beschwert sich über Hunger und Durst.

Primas Mutter scheint es egal zu sein, dass ihre Ehefrau alle Vorräte verputzt. Prima bereitet das Sorgen.

Plötzlich schießt etwas Großes aus der Wand. Ein Jeep! Das Fahrzeug reißt ein Loch hinein, das sich sofort wieder schließt. Am Steuer sitzt eine Frau, die Kommandos brüllt. Sie lässt den Motor laufen, während Prima und Vera auf die Ladefläche klettern müssen. Nur Helen darf vorne sitzen.

Beim Hochklettern stößt Vera die eigene Stieftochter zur Seite, gleichzeitig gibt der Jeep Vollgas. Panisch springt Prima nach vorne, hangelt sich gerade noch rechtzeitig auf die Ladefläche, verliert dabei einen Schuh. Niemand außer Vera bemerkt das und sie lacht darüber.

Der Jeep bricht durch die schäumend grüne Wand. Die fremde Frau und Helen unterhalten sich. Prima schnappt den Namen der Fremden auf: Dr. Izabel Cabral. Mit ihr hat Primas Mutter schon in Deutschland kommuniziert ‒ hinter verschlossenen Türen, an die Prima manchmal das Gesicht gedrückt hat.

»Dr. Cabral leitet die Gruppe, die aktuell das Biom betreut«, während Helen das sagt, hat sie nur Augen für Izabel Cabral. Das ist offene Bewunderung.

Dr. Cabral lacht, zeigt überhaupt gern Zähne und hat, wie Prima feststellt, etwas Raubtierhaftes an sich. Zu Primas Entsetzen dreht Dr. Cabral den Kopf zu allen Seiten, statt stur nach vorne zu gucken. Immer wieder lässt sie den Jeep gezielt ins Unterholz springen. Insekten fallen dann in Primas Nacken und stoppelige Blätter scheuern das Gesicht. Tränen von Schmerz und Wut laufen über Primas Wangen. Sie wischt sie nicht weg. Die Mutter soll das sehen. Vera zeigt mit dem Finger auf Prima und grinst. Dann holt sie einen Flachmann aus der Brusttasche und trinkt. Sie bietet ihrer Stieftochter von dem halluzinogenen Schnaps an. Prima schüttelt den Kopf. Seit Vera ihr etwas davon ins Müsli gekippt hat, wird ihr beim bloßen Anblick übel. Vera weiß, wie sehr Prima das Zeug verabscheut und weidet sich daran. Sie kann es nicht lassen, ihr hinter dem Rücken der Mutter den Flachmann hinzuhalten. Natürlich weiß sie, dass ein vierzehnjähriger Teenager zu jung für Alko Trips ist. Aber der erschrockene Gesichtsausdruck, mit dem Prima darauf reagiert, ist einfach zu köstlich.

»Ha, tu nicht so! Bei euch Teenies sind flippi Trips längst ein Thema.«

Woher soll Prima das wissen? Sie ist nie Teil einer Freundesclique gewesen. Daher gibt es auch niemand in Deutschland, der sie jetzt vermisst. Dieser Gedanke macht unsagbar traurig.

Der Jeep schießt an Ruinen vorbei. Halbverfallene Gebäude, die wie Villen aus einem anderen Jahrhundert aussehen. Prima entdeckt leere Schwimmbecken. Wer hat hier gewohnt? Sie fragt ihre Mutter. Statt der Mutter antwortet Dr. Cabral, brüllt: »Menschen mit Idealen ‒ so wie wir.«

Dann schaut sie Primas Mutter an und zwinkert ihr zu. Zu Primas Überraschung wird die Mutter rot und grinst dümmlich. Prima gefällt das nicht.

»Wo sind wir hier überhaupt?«, will Vera wissen.

Dr. Cabral antwortet etwas, das wie eine fremde Sprache klingt. Das Grün lichtet sich. Die unbefestigte Straße versickert in einer hässlichen gerodeten Fläche. Einfache Hütten heben sich zu beiden Seiten. Der Jeep rollt weiter. Vor einem großen, quadratischen Steingebäude kommt er schließlich zum Halt.

»Das Forschungszentrum. Das Herz der Kolonie.«

Die Art, wie Dr. Cabral das verkündet – als fänden in dem Gebäude abscheuliche Verbrechen statt. Kaltes Prickeln wäscht über Primas Schädel. Die winzigen Härchen auf ihren Armen und Beinen erheben sich wie Zombies im Bann einer neuen, noch fremden Angst.

Abgesehen von dem Forschungszentrum sieht der Rest der Kolonie einfach, fast schon armselig aus. Einzelne Teile stammen wohl aus dem 3-D-Drucker. Die Dächer der Hütten scheinen aus Pflanzen zu bestehen.

Dann sieht Prima etwas Interessantes: Ein Mädchen, so alt wie sie selbst, steht im Schatten des Forschungszentrums und beobachtet die Neuankömmlinge. Sie trägt ein graues Shirt, dazu schnelltrocknende Badeshorts und Badelatschen. Ketten aus kleinen Stöcken und Blättern. Das lockige Haar kurzgeschnitten. Prima reibt sich die Augen. Niemand sonst scheint das Mädchen zu bemerken.

Im schattigen Gesicht leuchtet das Augenweiß des Mädchens beinah grell. Ohne Scheu blickt sie Prima damit an, schaut bis in das Innerste, dorthin, wo noch nie jemand hingeschaut hat. Prima ist darüber so erschrocken, dass ihr ein Schrei entweicht. Helen wirft der Tochter einen verärgerten Blick zu. Prima kennt den Ausdruck. Ihre Mutter findet sie peinlich. Vera und Dr. Cabral lachen. Als Prima erneut in den Schatten schaut, ist das Mädchen fort. Noch Tage später hält Prima Ausschau nach ihr. Vergebens.

 

Berlin 2100

 

Kenoah zeigt auf die Behälter, die neben Aruke auf dem Boden stehen. »Crispin wartet.«

Aruke reißt die Augen auf, sieht einen Moment so aus, als wüsste sie nicht, wo sie ist. Dann dämmert es ihr und sie fragt: »Du gehst?«

Ihr Freund muss nicht antworten. Der sonderbare Glanz in seinen Augen verrät ihn.

»Tiago«, säuselt Aruke mit übertrieben weicher Stimme, »so heißt doch der wunderschöne junge Mann, der wohl einiges an seinem Gesicht hat richten lassen. Ich vermute regelmäßige Injektionen von neurotoxischen Proteinen und Derma-Füllstoffen.«

»Wir sind verabredet.«

Aruke atmet aus und das klingt so, als hätte sie eine Ewigkeit die Luft angehalten.

»Tiago und du ‒ irgendwie scheint das was Ernstes zu werden …«

»Hey, ich habe versucht, mit dir darüber zu reden, im Wäldchen, bei der Arbeit …«

Sie spürt einen Stich, während er all die verpassten Momente aufzählt. Die ganze Zeit hat sie gedacht, er ist das Arschloch. Aber sie ist es. Sie hat seine Versuche, mit ihr zu sprechen, abgebrochen ‒ jedes Mal.

Sie lacht. Aber eigentlich pustet sie bloß Luft durch die Nase. »Seid ihr zwei etwa tief und rücksichtslos ineinander verliebt, tut aber so, als wärt ihr es nicht?«

Das klingt bitter und hart. Statt darauf zu antworten, schaut Kenoah an ihr vorbei, wendet sich zum Gehen.

Wieder spürt Aruke einen Stich. »Ich mache mir Sorgen um dich. Für Menschen wie Tiago, die unten leben, ist das Dach nur ein aufregender Zeitvertreib. Wir, die Unerschütterlichen, kennen das. Wie oft wurden wir von solchen Menschen wie Spielzeug behandelt ‒ einfach fallengelassen, sobald Langweile aufkommt.«

»Dir ist das passiert.«

»Ich will dir diese Erfahrung ersparen.«

Aber sie weiß nicht wie. Während sie noch grübelt, verschwindet Kenoah in der Dunkelheit. Wahrscheinlich wird er seinen hart erarbeiteten Lohn für einen Swifter und den Eintritt auf ein Partydach ausgeben. Sie schnappt sich die Behälter mit den Wasserflöhen und springt auf. Warme Luft streichelt ihre nackte Haut wie ein Tuch. Mehrmals klopft sie gegen die Tür des Hauptquartiers. Es dauert, bis auf der anderen Seite alle Sicherheitsschlösser entriegelt sind und im schmalen Spalt ein ungewöhnlich blasses Gesicht mit Visor erscheint. Hinter dem Visor verstecken sich zwei lichtempfindliche Augen. Hektisch dreht sich das Gesicht zu beiden Seiten, dann wedelt eine bildschirmweiße Hand Aruke herein. Mit der großen spitzen Nase hat Crispin etwas von einer Krähe. Einer Albino-Krähe. Das Haar ebenso bildschirmweiß wie die Haut. Dabei ist Crispin erst sechsundzwanzig.

Arukes Gedanken sind immer noch bei Kenoah und sie fragt: »Hast du manchmal das Gefühl, dass du andere Menschen verpasst, weil du zu sehr um dich selbst kreist?«

»Ha, schön wär’s! Tag und Nacht werde ich verfolgt! Ich wünschte, andere Menschen würden einfach von mir abprallen.« Unkontrolliertes Kichern folgt.

Aruke runzelt die Stirn. »Ist das wieder dein Schurkinnenlachen?«

Bei ihren Worten kichert they noch mehr. Aruke fühlt sich in Crispins Nähe trotzdem wohl.

Während sie hineingehen, sprudelt Crispin über vor Ideen, ähnlich einem Korken, der von einer Flasche fortspringt. »Endlich! Die Larven! Was wir damit alles anstellen könnten: biologisch abbaubare Datenträger, essbare Spione! Ich kümmere mich ums Gen-Design, du führst die Gen-Operationen durch. Totale Weltmutation – har, har, har!«

»Crispin!«

»Was? Wir haben zwei Quantencomputer, mehrere Kühlschränke, Trionkular-Mikroskop und haufenweise Pipetten und Eppis zur Verfügung.«

They hat recht. Die Ausrüstung verteilt sich im ganzen Raum. Das meiste davon billig ersteigert, einiges selbstgebastelt mithilfe kostenloser Baupläne. Der gesamte untere Teil der zweistöckigen Behausung ist für das Biohacking reserviert.

»Wie sieht es mit deinen Meds aus?«

Crispin klappt den Visor hoch, reißt die rotglühenden Augen auf. »Schau selbst nach.«

Bevor Kenoah die Arbeit an der Station ergatterte, dealte er Psychopharmaka. Crispin war sein kauffreudigster Kontakt. Aruke lernte beide kennen, als Crispin noch an starkem Verfolgungswahn und Kenoah an ebenso starken Schuldgefühlen litt. Heute bemuttert Kenoah die Unerschütterlichen mit Musik und Selbstgekochtem. Für Crispin sind Verschwörungen mittlerweile zur Religion geworden, they nimmt jedoch nur noch einen Bruchteil der Meds von damals ein.

»Crispin, schluckst du etwa das schlecht dosierte Zeug von der Straße?«

»Schon vergessen – ich lebe unter falscher Identität! Wenn ich mir ein offizielles Rezept ausstellen lasse, wären sie sofort auf meiner Spur. Mir bleibt nur das Zeug von der Straße.«

»Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob wirklich ein chemisches Ungleichgewicht in deinem Kopf herrscht oder ob Paranoia einfach Teil deiner Persönlichkeit ist.«

Crispin schließt sogfältig die Tür, schiebt nacheinander alle Panzeriegel vor. Dann dreht they sich zu Aruke und lacht das böse, verrückte Lachen.

»Wieso tust du das? Dieses Lachen, bis es zum künstlichen Spleen wird.«

Crispin zuckt mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

Trotz ihrer Größe ‒ fast zwei Meter ‒ gleitet Aruke durchs Zimmer, geräuschlos wie ein Tier der Nacht. Die mitgebrachten Behälter platziert sie auf einem kleinen Arbeitstisch in der Ecke. Petrischalen, Handschuhe und Nanobesteck liegen dort für sie bereit. Mithilfe einer Zentrifuge stellt sie zunächst den Wirkstoff her, mit dem sie Gene nach Belieben ausschalten, reparieren oder neu einsetzen kann. Dann platziert sie einige der Larven in einen aus einer Wärmelampe und einer Petrischale selbstgebauten Bioreaktor.

Crispin setzt sich derweil an den Konsolentisch. Auf dem rollenden Möbelstück sind ein Quantencomputer sowie zwei Bildschirme montiert. Die Konsole verfügt über Steuerknüppel und Hebel. Crispin legt die Finger darüber. »Gib mir das Zeichen und ich schicke dir meine Armee.«

Aruke ignoriert das Gekicher, das folgt und gibt das Zeichen für die Nanos.

Mithilfe von Pipetten träufelt sie die winzigen Maschinen in den Bioreaktor.

»Quizfrage: Weshalb verboten europäische Gentechnik-Gesetze lange Zeit das Einschleusen computergenerierter Gene in heimische Lebewesen?«

Ohne Arukes Antwort abzuwarten, ruft Crispin: »Wegen so durchgeknallter Menschen wie uns! Har, har, har!«

Aruke schaut hoch. »Wir experimentieren doch bloß an Insekten und Amphibien.«

»Hä? Du probierst dauernd neue Methoden aus, um Kenoahs Haut hitzebeständiger zu machen.«

»Ja gut. Die meiste Zeit verändere ich aber nur die Gene von Tieren und Pflanzen. Oder besser gesagt: Ich führe Bestellungen aus, die du dann ans ISynBi lieferst. Und der grundlegende Mechanismus ‒ das Herbeiführen eines Doppelstrangbruchs und die anschließende Reparatur ‒ ist derselbe wie bei jeder zufälligen, natürlichen Mutation.«

»Der entscheidende Unterschied ist meine Armee! Har, har, har!«

»Das stimmt. Mithilfe deiner Nanos führe ich die Veränderung bloß an einer einzigen vorbestimmten Stelle aus, genau an der Stelle, die für die zu verändernde Eigenschaft verantwortlich ist.«

»Habe ich dir schon die abgefahrenen Gene gezeigt, die ich neulich am Computer erstellt habe?«

Während they das sagt, öffnet sich auf dem Bildschirm wie von Zauberhand das Programm Genom-Mixer.

»Crispin, was immer das ist, es ist nicht unser Auftrag.«

Aruke zieht die Sensor-Handschuhe auseinander, als wollte sie prüfen, wie stabil sie sind. Dann streift sie die VR-tauglichen Sensoren über und setzt die dazugehörige VR-Brille auf.

»Ach Aruke, wie ich dich beneide! Du gehörst zu der Sorte Mensch, die mit virtueller Realität zurechtkommt. Dein Gehirn reagiert offenbar besonders stark auf akustische und visuelle Signale, wandelt die äußeren Sinnesreize in Reize auf der Haut um. Das liegt vermutlich an deiner ASMR-Fähigkeit.«

Aruke loggt sich ein, versucht sich zu konzentrieren.

Crispin hört nicht auf zu reden. »Wahrscheinlich erlebst du Immersion als ein angenehmes Kribbeln. ASMR bedeutet natürlich auch, dass sich bei dir während einer VR-Simulation automatisch die Herzfrequenz senkt und gleichzeitig die Hautleitfähigkeit erhöht. Menschen wie ich können von so einer VR-Erfahrung nur träumen! Mein Körper reagiert mit Kopfschmerz und Erbrechen. Es gibt zwar VR-Brillen, die versprechen, das zu kompensieren. Aber bei mir funktionieren sie nicht und ich muss mich trotzdem übergeben. Scheiße bin ich neidisch auf deine entspannte Körperhaltung.«

Endlich bemerkt Crispin das Flackern an Arukes VR-Brille und weckt die Nanos. »Denk dran, sie wollen die Larven transgen-frei. Also keine eingeführten Fremdgene! Die von dir benutzte Gen-Schere muss von der Zelle wieder vollkommen entsorgt werden.«

»Verstanden. Zur Sicherheit lasse ich deine Armee am Ende nochmal durchlaufen.«

Mit Hilfe der Nanomaschinen injiziert sie die Gen-Schere in die betäubten Larven, die fast unsichtbar in einem kleinen Tröpfchen Flüssigkeit im Eppi schwimmen. Dann steuert sie die Nanoroboter, damit sie der Genschere den Ort des Schnitts vorschreiben.

Crispin überprüft den Status am Bildschirm. »Habe ich dir schon gesagt, dass du mit dem Nanobesteck hantierst, als hättest du in einem früheren Leben nichts anderes getan?«

Aruke lacht.

Kurz hält Crispin den Atem an. They weiß, Aruke muss sich jetzt konzentrieren. Schneiden die von ihr gesteuerten Roboter an der falschen Stelle, treten später unbeabsichtigte Mutationen auf.

»Fertig!«

»Gen-Operation erfolgreich ‒ Patient mutiert! Har, har, har!«

Aruke ignoriert das Lachen und murmelt: »Na, erst die nächsten Generationen mutieren … Das Eppi muss eine halbe Stunde in den Kühlschrank, dann dreißig Sekunden lang in einem zweiundvierzig Grad warmen Wasserbad stehen. Morgen kannst du es im ISynBi abliefern.«

Sie setzt die Brille ab, zieht die Handschuhe aus, dann schiebt sie die Plastikschale in den Kühlschrank und nimmt sich eine Flasche Ersatzbier. Vollkommen synthetisch hergestellt ist das Alkoholgetränk nicht nur billig in der Herstellung, sondern schont Rohstoffe und hat obendrein kein Verfallsdatum, weshalb Crispin es gern in großen Mengen einkauft – nur für Aruke und Kenoah. Andere Nahrungsmittel gibt es im Kühlschrank kaum.

»Boah, nur abgepackte Trockennahrung und süße Limonaden?«

»Aus Sicherheitsgründen! Kenoahs selbstgebackene Rollen aus frischem Gemüse und Proteinwürfeln esse ich natürlich – ab und zu.«

»Hat lange genug gedauert, bis wir dich dazu bringen konnten …«

»Mein Körper ist gegen so gut wie alles allergisch.«

Aruke schaut hoch, grinst. »Vergiss nicht die ständige Gesundheitsgefahr von fremden Mächten ausspioniert, überfallen oder auf irgendeine Weise ermordet zu werden…«

»Eine Zeit lang drohten sie mit Vergiftung, aktuell mit Briefbomben.«

»Was ist das?« Aruke hält ein Gestell aus Draht hoch, zieht es über den Kopf.

»Ein Gehirnwellen-Synchronisator. Das hilft gegen Albträume.«

Sie lacht.

»Das habe ich im Kühlschrank nicht erwartet. Passt aber zu dir.«

Crispin starrt sie an. Wenn Aruke lacht, blitzt das Weiß ihrer Augen wie zwei flackernde Monde. Crispin lauert auf diesen Anblick. Seit der ersten Begegnung ist Crispin in Aruke verliebt und davon überzeugt, dass alle Menschen sich früher oder später in sie verlieben, weswegen Crispin die eigene Liebe einfach so hinnimmt, nichts dafür oder dagegen tut.

Als Crispin neben sie tritt, um das Gestell an ihren Kopf anzupassen, glaubt they auf der Kante eines hohen Gebäudes zu stehen und spürt ein Ziehen im Bauch. Kurz hält they inne. Aruke bemerkt davon nichts.

Ihr Blick fällt auf die rotblinkende Anzeige an der Wand. »Scheiße, Crispin, bist du mit der Miete im Verzug?«

Sofort macht sie sich Sorgen. Das Hauptquartier ist schließlich das, was einem Zuhause am nächsten kommt.

Laut sagt sie: »Du riskierst damit meinen Arbeitsplatz!«

»Unser Arbeitsplatz und unser Hauptquartier«, korrigiert Crispin.

In Crispins Vorstellung gehören sie alle – Aruke, Kenoah, das Nachbarkind Soho und Crispin selbst – zu den Unerschütterlichen, eine Kreuzung zwischen Biohacking Labor und Superheldenorganisation. Ohne Psychopharmaka kann sich Crispins Weltbild jedoch schnell ändern. Aruke hat das schon erlebt: Wochenlang öffnete they nicht die Tür und wenn doch, beschimpfte they sie oder warf ihr vor, zu den Feinden übergelaufen zu sein. Später kam heraus, dass they die Meds nicht genommen hatte.

Was würde aus den Unerschütterlichen ohne Hauptquartier werden? Besonders Crispin würde da draußen nicht klarkommen.

Auch wenn Crispin zwei Jahre älter ist als Aruke, betrachtet sie them trotzdem wie ein jüngeres Geschwisterkind.

Aber nicht nur Crispin würde nicht lange überleben. Aruke fürchtet, ohne die Unerschütterlichen würde auch sie früher oder später aufgeben und in den Tod springen.

Klar, Crispin ist kein einfacher Mensch. Aber Aruke hält es gut mit them aus. Vielleicht weil sie ahnt: Crispin und sie kämpfen mit etwas Ähnlichem. Etwas, das in ihnen steckt. Körper und Gedanken von innen heraus krank macht. Manchmal beobachtet sie Crispin, als wollte sie von them lernen, wie es möglich ist, mit dem Riss im Innern weiterzuleben.

Das Hauptquartier, die Unerschütterlichen ‒ Crispin baut sich eine eigene Realität, das ist their Lösung. Aruke respektiert das.

 

Plötzlich spürt sie ein Klopfen im Kopf. Das Drahtgestell drückt in ihre Schädeldecke. Crispins Kaugummi-Atem löst auf ihren nackten Schultern ein Gefühl elektrostatischer Entladungen aus. Ob sie them erzählen soll, dass ihr Herz manchmal so stark klopft, dass sie fürchtet, einen Herzinfarkt zu bekommen? Da huscht etwas Graublaues über die Wand.

Crispin springt auf.

Ein Schrei. Schrill wie ein hoher Pfiff.

»Nur ein Nachtfalter.« Aruke wedelt mit der Hand und scheucht das Rieseninsekt durchs offene Fenster.

»Das kann ebenso gut eine feindliche Drohne sein!«

Crispin kennt sich aus. Zusammen mit Aruke hat they schon Fliegen mit Nanokameras ausgestattet. Die meisten verkauften sie im Darknet. Die übrigen nutzt Crispin, um das HQ zu überwachen.

They dreht sich zu Aruke. »Weißt du, wenn du ab und zu was anziehen würdest, sähst du wesentlich normaler aus.«

Aruke blickt entlang ihrer nackten Arme und Beine. Crispin will ihr damit offenbar etwas anderes sagen, sie weiß bloß nicht was. Mit beiden Händen nimmt sie das Drahtgestell ab und legt es zu dem übrigen Elektroschrott, der den Arbeitstisch zumüllt. Aus dem bunten Haufen kramt sie ein Headset und klemmt es sich in die Ohren. Dann fischt sie aus einem Behälter ein Paar In-Augen, balanciert die Plättchen auf ihrer Fingerkuppe und setzt sie nacheinander auf die Mitte ihres Auges. Die künstlichen Linsen haften wie von selbst. Crispin schaut zu, wie Aruke die langen Arme und Beine auf dem kleinen Zweisitzer ausstreckt, kaum Platz darauf findet.

»Klink mich in den VR-Stream.«

»Riva Lux?«

Aruke nickt, lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck vom säuerlichen Ersatzbier.

»Du kannst von der Celeb nicht genug bekommen, was? Du bist wohl das, was sie einen Superfan nennen. Zumindest beschränkt sich deine Besessenheit auf nur eine Celeb. Was mich nicht weiter wundert, gehört sie doch zur Kategorie Mega-Celeb! Ich habe gehört, in Riva Lux kann investiert werden, und alle, die Riva-Lux-Aktien besitzen, dürfen mitbestimmen, wie viel Sport sie täglich macht, ob sie heute einen Salat isst … Wusstest du, dass ihre Live-Shows nicht nur in den größten Stadien der Welt stattfinden, sondern bis ans Ende aller Zeiten ausverkauft sind? Natürlich wusstest du das!«

Aruke hört das Gerede schon nicht mehr. Wie alle Celebs besitzt Riva Lux einen bezahlpflichtigen VR-Stream, dem Aruke, soweit es ihre Arbeitszeiten zulassen, rund um die Uhr folgt. Während sie abgetaucht in virtueller Realität vollkommen entspannt auf dem Zweisitzer liegt, steht Crispin einfach nur da und blickt ängstlich durchs Fenster. »Na, wo seid ihr? Ihr bösen Insekten mit feindlicher Absicht. Har, har, har! Kommt und zeigt euch!«

In der Ferne reihen sich fliegende Scheinwerfer zu immer neuen Formationen, sie gehören zu den Dächern, auf denen Menschen die Nacht wegfeiern und wo Kenoah manchmal bis zur Erschöpfung tanzt.

Seit Monaten hat es nicht geregnet. Die weite Dachlandschaft gibt einen gelben Schein von sich – als würde sie glühen. Der Boden unter dem Busch vor Crispins Fenster ist so hart und rissig wie ein grimmiges Gesicht. Siedend heiß fällt Crispin ein: Die Unerschütterlichen haben vergessen die Büsche zu gießen, was als Mieter ihre Pflicht ist.

Crispin hebt den Visor an. Rote Augen rollen in die Dunkelheit. Wie zwei glühende Kohlen. Der weiße Laborkittel flattert im Nachtwind, der durchs offene Fenster weht. Ohne dass Crispin es merkt, lässt sich erneut ein Falter darauf nieder.

Warum bloß hat they plötzlich das untrügliche Gefühl, dass etwas Großes zu Ende geht?

Crispins Blick springt zu Aruke, die auf dem Zweisitzer lümmelt und Ersatzbier in sich schüttet. Vielleicht steht wirklich alles kurz vor dem Aus. Wenn Crispin jedoch Aruke ansieht, muss they feststellen: Das Ende der Welt fühlt sich in ihrer Gegenwart gar nicht mehr so schlimm an.

 

SynBiom 2090

 

Dr. Cabral duckt sich. In der Hütte, die Dr. Ludwig mit Tochter und Ehefrau teilt, kann ein ausgewachsener Mensch kaum aufrecht stehen.

Mit lauter Stimme erklärt Dr. Cabral: »Bedauerlicherweise hält so eine Hütte nur zwei Jahre, dann ist das Blätterdach undicht.«

Sie lässt ihren Blick über den Erdboden wandern. »Wenn Kakerlaken und andere Insekten überhandnehmen, muss die Behausung bis auf den Grund niedergebrannt werden. Das ist die einzige Möglichkeit, um das Ungeziefer loszuwerden.«

Vera dreht sich weg und geht. Sie kann Dr. Cabral nicht ausstehen, traut sich aber nicht einmal, ihr ins Gesicht zu sehen. Prima vermutet, dass Vera sich mit einer Flasche Schnaps davonmacht und erst nachts wiederauftauchen wird. Prima möchte ebenfalls gehen. Doch sie fürchtet, ihrer Mutter würde das nicht gefallen. Sie würde sich für Prima schämen, was Prima jedes Mal so wehtut, als reiße eine Faser im Herzmuskel. Deshalb steht Prima reglos herum, traut sich weder zu reden noch sich zu bewegen.

Dr. Cabral verbreitet einen intensiven Duft, hat hervorstehende Kurven und ein dunkles Lachen. Alles an ihr erinnert Prima an einen Dämon, der nur lebt, um anderen den Tod zu bringen und überall, wo er hingeht, Leid zu zufügen.

»Kakerlaken können hier so groß wie kleine Vögel sein oder so winzig, dass sie zwischen der Elektronik des Headsets herumkrabbeln.«

Prima weiß nicht, ob sie sich mehr vor den kleinen oder den großen Kakerlaken ekeln soll. Wahrscheinlich vor den kleinen, denn die großen ähneln schon fast einem Haustier.

Dr. Cabral zeigt auf den Beutel, den sie bei sich trägt. »Die habe ich heute Morgen für euch gesammelt.«