Nero Wagner und das blutige Grün - Deiter - E-Book

Nero Wagner und das blutige Grün E-Book

Deiter

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Beschreibung

"Büßen sollst du ..." Der Präsident des Golfclubs wird leblos im Bunker aufgefunden. Kommissar Nero Wagner, der ausgerechnet im Ruhrgebiet die schrecklichen Erlebnisse der Soko Berlin hinter sich lassen will, und sein Team werden in einen Strudel von Blut und Sühne gezogen. Ein hinterhältiger Mörder schlägt zu. Spuren führen in die Vergangenheit. Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Nichts ist, wie es scheint. "Büßen sollst du ..." Und so wird es am Ende auch sein!

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Die Autoren:

Dr. Thomas Günnewig, Neurologe, Psychiater und Geriater am Elisabeth Krankenhaus Recklinghausen

Wolfgang Kleideiter, Redakteur, Journalist, bis 2020 stv. Chefredakteur der Westfälischen Nachrichten, Münster

Alle Personen, Institutionen und Ereignisse sind erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Institutionen ist zufällig.

Inhalt

1. Der Sturz

2. Der Entschluss

3. Die Ankunft

4. Die Vorfreude

5. Der Sandbunker

6. Das Koma

7. Der Drohbrief

8. Das Krankenhaus

9. Das Foto

10. Die Besprechung

11. Die Randale

12. Der Brand

13. Die Langeweile

14. Die Anrufe

15. Der Plan

16. Das Turnier

17. Die Siegerehrung

18. Die Tat

19. Die Verzweiflung

20. Der Rundgang

21. Die Reise

22. Die Ruine

23. Der Pakt

24. Der Tourist

25. Der Zufluchtsort

26. Die Anzeige

27. Der Beamte

28. Der Anschlag

29. Die Erzfreunde

30. Die Einsamkeit

31. Das Testament

32. Die Strafe

33. Das Grün

34. Das Opfer

35. Die Obduktion

36. Der Witwer

37. Die Suche

38. Das Haar

39. Die Fakten

40. Die Ermittlungen

41. Die Teamarbeit

42. Der Mentor

43. Die Falle

44. Die Hinrichtung

45. Die Damen

46. Der Totentanz

47. Die Befragung

48. Die Witwe

49. Die Konferenz

50. Der Pensionär

51. Der Keller

52. Das Warten

53. Die Verabredung

54. Die Verbindung

55. Die Vorbereitungen

56. Der Kampf

57. Das Blut

58. Der Blutschatten

59. Das Wasserglas

60. Der Zugriff

61. Der Hochmut

62. Das Leder

63. Das Verhör

64. Das Nichts

65. Der Neuanfang

66. Das Essen

Dank

Der Sturz

21. August 2022

„Mach doch langsam!“ Dr. Michael Dorpenpatt schnappte tief nach Luft. Er japste wie ein unter Sauerstoffmangel leidender Fisch, der in höchster Not an die Wasseroberfläche geflüchtet war und die Kiemen spreizte. Der Brustkorb des 49-Jährigen schmerzte, hob und senkte sich hektisch, die Lunge fühlte sich an, als würde sie platzen. Das Herz des Golfclub-Präsidenten war aus dem Takt geraten, es raste. Dorpenpatts Kopf schmerzte fürchterlich. Er spürte, dass sein Blutdruck durch die Decke schoss.

Am Ende der über 500 Meter langen Bahn 4 hatte er auf seiner Abendrunde im Vestischen Golfclub ein Unwohlsein gespürt. Nach den ersten Metern der folgenden, nach rechts verlaufenden Bahn 5 hatte er gegen die zunehmende Übelkeit zur Trinkflasche gegriffen und wieder einen kräftigen Schluck genommen. Doch das Sicilian Bitter Lemon von Fever Tree, sein bevorzugtes Rundengetränk, wollte ihm nicht schmecken und eine erfrischende Wirkung stellte sich nicht ein. Seine Wut über die plumpe Drohung auf der Mailbox seines Handys kochte in ihm weiter hoch und trieb das Herz an. Der Pulsschlag dröhnte rasch und pochend in seinen Ohren. Dorpenpatt war außer sich: Dieses primitive Arschloch stellte ihm tatsächlich ein Ultimatum! Dabei war er ein guter und regelmäßiger Kunde. Wäre er nicht in der Sauna gewesen, als der Anruf kam, hätte er dem Kerl sofort die Meinung geblasen, und zwar richtig.

Jetzt stand Michael Dorpenpatt an diesem späten Sommerabend im August am leicht erhöhten Abschlag der Bahn 6, hielt sich mit der rechten Hand an seinem Golftrolley fest und suchte mit der anderen Halt an der im Boden verankerten Abschlagtafel. „Par 3, 185 Meter“ – auf der Glasplatte zwischen den Edelstahlträgern war die vor ihm liegende Spielbahn in einer farbigen Grafik abgebildet. Wie oft hatte er hier den Ball elegant auf das große Grün befördert. Doch heute war an einen Abschlag nicht zu denken.

„Mensch, langsam!“, schimpfte Dorpenpatt. Als würden Zwerchfell, Muskeln und Sehnen ihm noch gehorchen, als könne er seinen torkelnden Gang mit der Kraft der Gedanken steuern. Tatsächlich konnte er sich kaum auf den wackligen Beinen halten. Selbst die ärgerliche Nachricht in der Mailbox hatte er inzwischen vergessen.

„Nicht so schnell“, stöhnte er. Gegen seinen Willen hatte seine Hand den Golftrolley losgelassen. Vor seinen Augen rollte das batteriebetriebene edle Titangefährt mit dem silberfarbenen Cartbag und sündhaft teuren Schlägern das leicht abschüssige Fairway der Spielbahn hinunter. Eisen und Hölzer schlugen klappernd aneinander.

„Stopp!“, keuchte Dorpenpatt. Er sah, wie sich die im Abendlicht rot blitzende Karre auf die breite Senke vor dem Grün zubewegte, beinahe wie in Zeitlupe. Sein Golfgefährt hatte das Plateau an der rechten Seite erreicht. Das Eisen 4 winkte, der Driver nickte, der Putter zitterte. Der Präsident schaute auf das Geschehen und grinste erstaunt. Er hatte vergessen, seinen Ball zu spielen. „So was aber auch ...“

Jetzt stolperte er mit hämmernder Brust und nach Luft schnappend ungelenk seiner Golfkarre hinterher. Diese nutzte nach der Senke wie ein Schlitten im Schnee die leichte Anhöhe vor dem Sandbunker zu einem kurzen Luftsprung. Der Trolley hüpfte, machte einen letzten Satz, kippte dann seitlich weg und verschwand hinter der Bunkerkante. Die schwere Golftasche rutschte aus ihrer Befestigung von der Golfkarre. Der Inhalt des Bags landete scheppernd im Sand.

„Das Clubhaus“, schoss es Dorpenpatt in höchster Not durch den Kopf. Dort würde man ihm helfen. Irgendjemand würde noch arbeiten, vielleicht Taschen, Trolleys und Carts für das Seniorenturnier am nächsten Morgen bereitstellen. Die Gastronomie war sicher auch noch besetzt. Er brauchte Hilfe, musste zum Arzt, besser gleich ins Krankenhaus. Noch keine 50 Jahre alt, angesehener Clubpräsident, attraktiver Zahnarzt und beneideter Junggeselle – natürlich würde man ihm helfen. Er konnte das Clubhaus nicht sehen, aber die 300 Meter dorthin würde er schaffen. Die nächste Bahn kreuzen, rüber zum Teich, dann über die Brücke.

Michael Dorpenpatt strauchelte und taumelte. Er erreichte den Bunker und sah die Ausrüstung im Sand liegen.

„Mist, jetzt muss ich den ganzen Kram noch aufsammeln“, dachte er. Doch als er schwankend die Kante des Bunkers betrat, verließen ihn endgültig die Kräfte. Er sackte auf die Knie, griff hilflos in die Luft, als könne er den Sturz abfangen. Aber nichts konnte ihn halten, als er nach vorne in den Sandbunker fiel. Das Letzte, was er vor seinen weit aufgerissenen Augen sah, war die Harke, die sich mit ihren scharfen Zacken rasch seinem Gesicht näherte. Dann wurde es dunkel um ihn.

Der Entschluss

Juni 2021

Nero Wagner stützte sich erschöpft auf den Rand des Waschbeckens und starrte in den Spiegel. Er blickte in das fahle Gesicht eines Mannes, der deutlich älter wirkte als gerade 41. Hager, faltig, unrasiert, müde, mit kurzen, schon angegrauten Haaren, die nass am verschwitzten Kopf klebten. Neros Blick fiel auf das weiße Oberhemd und auf seine Hände. Viel Blut, trockenes, dunkelrotes Blut.

Berlin stöhnte seit Tagen unter einer brutalen Hitze. Der Einsatz der Soko Balkan hatte als Routine begonnen und war in einer furchtbaren Katastrophe geendet. Peter Faßbender war tot. Wagners bester Freund und Kollege war zur Mittagszeit im Hinterhof einer alten Mietskaserne an der Oranienburger Straße erschossen worden. Ihn hatte eine Kugel getroffen, die für Nero gedacht war.

Mittags war Peter Faßbender, der wegen seiner rheinischen Gemütlichkeit Möppes genannt wurde, in den alten Kadett von Nero Wagner gestiegen. Die Fahrt zum Einsatzort bot den beiden Freunden die Gelegenheit, ungestört über Privates zu sprechen. Faßbender wollte wissen, warum Nero sich immer noch kein H-Kennzeichen für den Wagen besorgt hatte. „Brauch ich nicht. Sieht doch jeder, dass der Opel alt ist. Auf eine alte Weinflasche wird doch auch kein neues Etikett geklebt.“ Nero hatte den Vorschlag seines Freundes, auf diesem Weg ein paar Euro Kfz-Steuer zu sparen, zum x-ten Mal abgelehnt.

Kurz vor dem Ziel an der Oranienburger Straße bogen sie ab und parkten in der Auguststraße. „Wir werden nur mit ihm reden. Wie tief er in diesem Sumpf drin steckt, wissen wir noch nicht“, sagte Faßbender. Sie sprachen über Adam Hadžić, einen Mann aus Bosnien, der möglicherweise etwas mit dem florierenden Schusswaffenhandel an der Spree zu tun hatte. Die Soko arbeitete seit Monaten eng mit Europol zusammen. In Amsterdam hatte es bereits zwei Festnahmen gegeben. Von einem Kontaktmann bei Europol kam der Tipp, sich Hadžić einmal anzusehen. Die Akte war bereits nach Berlin gemailt worden.

„Lass, viel zu heiß“, hatte Nero Wagner zu Faßbender gesagt, als dieser seine schwere Schutzweste vom Rücksitz nehmen wollte. Im Gleichschritt waren sie von der Auguststraße in die Oranienburger Straße marschiert und geradewegs im dunklen Torbogen des Zielobjekts auf den Eingang zum Treppenhaus zugegangen. Im trüben Licht einer alten Deckenlaterne hatte Peter Faßbender den Namen Hadžić am breiten Klingelbrett schnell gefunden. „Treffer. Hier wohnt unser Mann.“ Da war bereits der erste Schuss gefallen.

Nero Wagner hatte den Schatten im Hof noch bemerkt. Reflexartig griff er mit der rechten Hand zur Dienstwaffe, die er unter der Leinenjacke in seinem Schulterholster trug.

Keine Vorwarnung, kein Mündungsfeuer, kein ohrenbetäubender Knall. Nero hatte nur kurz gespürt, wie sein linkes Bein plötzlich wegsackte. Wie vom Schlag getroffen, war er gestürzt. Die Pistole fiel ihm aus der Hand und rutschte zwei Meter übers Pflaster.

Ein kräftiger grauhaariger Mann, der in der Zufahrt zum Hinterhaus auf die Ermittler gewartet hatte, war aus der Deckung getreten. Hilflos auf dem Boden liegend hatte Nero den Mann, der sich mit schnellen Schritten näherte, gleich erkannt. Hadžić hielt seine Pistole mit Schalldämpfer aggressiv im Anschlag und zielte auf Nero. „To je to za tebe“, rief Hadžić. „Das war's für dich.“

Faßbender stürzte aus dem Hauseingang und warf sich schützend vor seinen verletzten Kollegen. Schnell hintereinander fielen weitere Schüsse. Hadžićs Kugel traf Faßbender in die Brust. Gleichzeitig hatte Möppes den Bosnier erwischt. Hadžić sackte zusammen, schlug mit dem Kopf auf die Pflastersteine und blieb reglos liegen.

Nero hatte noch versucht, die Blutung aus der tiefen Wunde, die Hadžić seinem Freund beim Schusswechsel zugefügt hatte, mit beiden Händen zu stoppen. Vergeblich. Die für Nero gedachte Kugel aus der Pistole des Waffenhändlers hatte Faßbenders Brustbein durchschlagen und sein Herz zerfetzt. Nero hatte am linken Oberschenkel einen glatten Durchschuss erlitten.

Wagner humpelte zum Fenster seines Krankenzimmers. Er blickte zutiefst erschüttert und unendlich traurig auf sein gottverdammtes Berlin. Möppes war in seinen Armen gestorben. Nero hasste sich, er hasste seinen Job und die Arbeit in der Soko.

In dieser Nacht fasste Nero Wagner einen Entschluss. Zehn Jahre lang hatte er sich in der Soko-Arbeit aufgerieben und Dreck gefressen. Jetzt war es an der Zeit, die Großstadt mit ihrer brutalen Kriminalität zu verlassen. Weg von Berlin, weg zu einer anderen, ruhigeren Dienststelle. Egal wo, im dunklen Harz oder im platten Emsland, vielleicht auch am Rande des Ruhrgebiets.

Die Ankunft

September 2021

An diesem Montagmorgen war Katharina Schmitz spät dran. Nicht ungewöhnlich nach einem dienstfreien Wochenende. Die 27-jährige Kommissarin war am Samstag von Recklinghausen nach Düsseldorf gefahren, um in der 2. Judo-Bundesliga für ihren Club anzutreten. Nach einer Verletzungspause feierte Katta, wie ihre Freunde sie nannten, ein gelungenes Comeback und holte in der Gewichtsklasse bis zu 70 Kilogramm wertvolle Meisterschaftspunkte. Am Sonntag hatte Marcel sie zuhause abgeholt, um mit ihr gemeinsam nach Münster zu fahren, wo in einem ehemaligen britischen Offizierscasino der Tango Argentino die Luft erotisch knistern ließ. Katta liebte Tango, Marcel auch – aber noch mehr liebte Marcel seinen Freund Benjamin.

Es war kurz vor 9 Uhr, als die Kommissarin die Tür ihrer Dachgeschosswohnung energisch zuwarf, die Treppe im Hausflur hinuntereilte und draußen in der ruhigen Wohnstraße ihren vollelektrischen Mini Cooper startete. Die Ladung der Batterie war gerade noch ausreichend, um auf direktem Weg bis zum Polizeipräsidium am Westerholter Weg zu kommen. „Mist, schon wieder zu spät“, ärgerte sich die junge Frau mit dem braunen Pagenkopf, als sie in die Castroper Straße abbog. „Aufladen muss ich auch noch.“

Am Polizeipräsidium rollte Katharina Schmitz rechts am wuchtigen Backsteingebäude vorbei zum hinteren Parkplatz direkt auf ihren Stellplatz mit der Ladestation zu. Die Kommissarin stutzte: „Das ist ja wohl ein Witz.“ In ihrer Parkbox mit der Wallbox stand auf schmalen Reifen eine in grauer Vorzeit einmal goldfarbene und nun stark verblichene Limousine mit einem kreisrunden Ring auf der Kofferraumklappe, durch den horizontal ein Blitz zuckte. „Ein Opel!“, entfuhr es Katta. „So ein Trampel! Das geht doch gar nicht.“

Als die Kommissarin endlich ihren Wagen auf einem Platz abseits ihrer E-Box abgestellt hatte, brummte in der Tasche ihr Handy. „Wo bleibst Du? Bux ist schon in der Bütt. LG Yara“, las Katharina Schmitz die WhatsApp-Nachricht auf dem Display. Yara Demir war eine junge und pfiffige Kollegin aus der Kriminaltechnik, Hennes Bux der Polizeipräsident. Katta nahm im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal und eilte im ersten Stock durch den langen Flur zum Besprechungsraum.

Vorsichtig öffnete sie die breite Tür. „Tschuldigung. 'ne Baustelle“, murmelte sie halblaut und nahm am rechteckigen Holztisch Platz. Tack – die orangefarbene Wanduhr mit den schwarz-weißen Klappzahlen sprang auf „09.12“.

„So, so – die Montagsbaustelle, Frau Schmitz. Egal. Hauptsache wir sind komplett“, sprach Hennes Bux die Kommissarin an. „Ich habe Frau Demir und den Kollegen hier schon ihren neuen Chef, Herrn Kommissar Wagner, vorgestellt.“ Neuer Chef – Katta spürte eine leichte Hitzewelle aufsteigen. „Er kommt aus Berlin und hat sich, ich will es mal so formulieren, im Job mehr Orden verdient als ein Kölner Karnevalsprinz.“

Hennes Bux war Kölner mit Leib und Seele, FC-Fan und Kölsch-Liebhaber. Für ihn war die fünfte Jahreszeit ein Geschenk des Himmels. Anfangs reagierten die Beschäftigten im Polizeipräsidium irritiert, wenn er sich in der Kantine nach einem „Halven Hahn“ erkundigte, mit „Joot“ am Tresen dankte und später mit „Tschö“ in den Feierabend verabschiedete. Inzwischen schätzten die Allermeisten aber seine lebensfrohe Art. Und jeder im Präsidium wusste bald, dass der kölsche „Halve Hahn“ kein Grillhähnchen ist, sondern ein halbes Roggenbrötchen, aufgetischt mit mittelaltem Gouda, sauren Gurken und scharfem Senf.

„Wagner, wie der Komponist“, setzte Hennes Bux die Vorstellung des neuen Kommissars fort. „Er war zuletzt Ermittler in einer Soko, also in Berlin ganz nah dran an den schweren Jungs und ihren besten Kunden. Noch mal...“, Bux beugte sich vertraulich zum Kommissar hinüber: „… schön, dat Se do sind in de Vestmetropole.“

Der Polizeipräsident sah die Fragezeichen in Wagners Blick. „Vest Recklinghausen – das schreibt sich nicht mit F wie Festspielstadt, sondern mit V wie Verbrechen“, bog Bux kurzerhand ins Fach Heimatkunde ab. „Vest mit V ist die alte Bezeichnung für den Gerichtsbezirk im Mittelalter, als noch für düt und dat die Köppe rollten.“ Und er fuhr gut gelaunt fort: „Nur für den Hinterkopf: Wir Kölner hatten in Recklinghausen schon früh die Finger drin. Denn unsere Erzbischöfe regierten hier lange Zeit ganz ungeniert rein. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Kollege Wagner. Unser Kommunikationsass Woelki, der an seinem Kardinalssessel klebt, hat im Vest Recklinghausen nichts zu sagen. Habe ich noch was vergessen?“, drehte Bux sich fragend zu Nero Wagner um.

Der neue Dienststellenleiter, der die ganze Zeit schweigend, aber höflich lächelnd neben dem redseligen Hennes Bux gesessen hatte, schmunzelte: „Ja, Herr Bux. Ich wollte noch ein paar Worte zu meiner Person sagen. Zunächst einmal herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung. Ich bin übrigens gebürtiger Düsseldorfer, aber in Berlin aufgewachsen. Dort habe ich auch meine Ausbildung gemacht und bin die letzten zehn Jahre in der Hauptstadt bei einer Soko tätig gewesen. Ich habe ein kleines Team geführt und war zuvor auch als verdeckter Ermittler unterwegs. 42, ledig, keine Kinder.“

Wagner schaute in die Runde. „Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.“ Er stand auf, ging um den Tisch herum auf Katharina Schmitz zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Tag, Frau Schmitz. Ich freue mich Sie kennenzulernen.“

Katta erhob sich und schaute hinauf in Wagners Gesicht. „Mindestens 1,90“, dachte sie. Grüne Augen, eine Narbe auf der Wange, Dreitagebart, kurze und dunkle, in Ansätzen graue Haare. Wirkt etwas älter, drahtig, nicht unattraktiv. Im Bruchteil einer Sekunde hatte die Kommissarin Nero Wagner gescannt und seine wesentlichen Merkmale gespeichert. Sie hatte beobachtet, dass der Mann, der ihr zur Begrüßung freundlich in die Augen schaute, links ganz leicht hinkte. Sein weißes Hemd unter dem blauen Sakko und die Jeans waren ein wenig verschlissen. Doch die Schuhe, stellte Katharina fest, waren der Hammer: Wagner trug rahmengenähte und offenbar handgefertigte Schuhe Budapester Machart. Sie glänzten mit dem polierten Holzboden im Präsidium um die Wette.

„Katharina Schmitz, angenehm – und willkommen bei uns.“ Die Kommissarin ergriff Wagners ausgestreckte Hand und drückte beim Blickkontakt etwas fester zu. Sie wollte selbstbewusst wirken. „Von der Hauptstadt Berlin nach Recklinghausen?“, fragte Schmitz und schaute ihren neuen Chef neugierig an. „Ja, Frau Schmitz“, antwortete Wagner, „ich brauchte einen Tapetenwechsel. Das Ruhrgebiet hat mich schon immer gereizt.“

Katta nickte freundlich. Sie war in Recklinghausen groß geworden. Ihre Eltern waren Ärzte, hatten lange eine eigene Praxis geführt. Die ehrgeizige Tochter hatte am Petrinum, dem traditionsreichen Gymnasium in bester Altstadtlage, ihr Abitur bestanden. Der Notenschnitt hätte es ihr ermöglicht, nach einem Studium der Humanmedizin in die Fußstapfen der Eltern zu treten. Doch die jungeFrau, die an der Schule zu den besten Sportlerinnen gehörte, hatte anderes im Sinn.

Nach einem Psychologiestudium in Münster, das sie nach sechs Semestern mit dem Bachelor und der Gesamtnote 1,0 abschloss, ging Katharina nach Quantico in die USA. Das kleine Örtchen liegt 55 Kilometer südwestlich von Washington D.C. im Bundesstaat Virginia und beherbergt die FBI-Akademie. Katharina absolvierte dort als eine der wenigen jungen Hospitanten aus Europa ein Praktikum beim weltbekannten Federal Bureau of Investigation. In den zwölf Monaten dort wurde sie Jim Fergusson zugeordnet, der sie als stellvertretender Direktor der Spezialeinheit für die Analyse von Gewaltverbrechen unter seine Fittiche nahm. Sein Team ermittelte bei schwersten Straftaten wie Serienmord und erstellte Verbrechensanalysen und Täterprofile - keine leichte Kost für die damals 22-Jährige.

Jetzt war sie mit fast 28 Jahren seit wenigen Monaten Kommissarin in ihrer Heimatstadt. Dass ihr neuer Chef aus Berlin kam, fand sie gut. „Große Erfahrung und wahrscheinlich ein Gespür für Multikulti, was wir im Ruhrgebiet häufig brauchen“, hatte sie schon am Freitag zu Yara Demir gesagt.

Nero Wagner hatte sich über Katharina Schmitz im Vorfeld erkundigt. Bei einer passenden Gelegenheit würde er ihr sagen, warum er in Neukölln seine Wohnung gekündigt und sich um eine Stelle in Nordrhein-Westfalen bemüht hatte. Jetzt war er weit genug weg von Berlin, aber doch so nah, um dort hin und wieder seine Mutter zu besuchen, die nach dem Tod des Vaters allein in der Hauptstadt wohnte.

Wagner lebte seit wenigen Tagen in einer geräumigen Altbauwohnung an der Halterner Straße. Seine High-End-Musikanlage, zwölf Schuhkartons und etliche Flaschen mit gutem Wein hatte er zusammen mit der überschaubaren Garderobe in seinem alten B-Kadett, Erstzulassung 1973, mit nach Recklinghausen genommen. Alles Weitere war noch zwischen Berlin und seinem neuen Wohnort unterwegs; die Möbel würden eventuell am Dienstag von der Spedition gebracht.

Seine neue Vermieterin – „Ich bin Fräulein Mensing“, so hatte sie sich ihm vorgestellt – war geradezu entzückt, einen Polizisten im Haus zu haben. „Wissen Sie, Herr Wagner, ich schaue jeden Abend Soko im ZDF. Heute ist das Team Potsdam dran. Ich bin quasi vom Fach ...“, hatte ihn die ältere Dame angestrahlt und den Kommissar dann in die erste Etage zu seiner Wohnung begleitet.

Im Hausflur roch es nach frisch gebackenen Plätzchen. Am Tag seines Einzugs stand nachmittags ein liebevoll dekorierter Teller mit Bärentatzen und Mandelkeksen vor seiner Wohnungstür. Tags darauf gab es Vanillekipferl. „Sie können es doch vertragen“, stellte Fräulein Mensing energisch fest und bestand darauf, Nero Wagner kulinarisch zu bemuttern.

„Wollen Sie ein Plätzchen probieren?“ Katta stutzte, als Nero Wagner ihr nach der Vorstellungsrunde und einem ersten Rundgang durch das weitläufige Präsidium im gemeinsamen Büro eine randvolle Dose auf den Schreibtisch stellte. „Komischer Einstand für einen Ermittler der Soko Balkan“, dachte sie.

Nero Wagner hatte ihren irritierten Blick verstanden. „Keine Sorge, Fräulein Mensing, meine Vermieterin backt.“ „Sie meinen Frau Mensing. Es gibt ja auch kein Herrlein“, korrigierte Katta. Wagner schüttelte den Kopf: „Frau Mensing legt Wert darauf, Fräulein genannt zu werden. Ich werde einer über 80-jährigen Dame nicht widersprechen. Übrigens, Frau Schmitz: Wie schmecken die Plätzchen? Ich bin nicht so für die süßen Sachen. Ich mag lieber die guten Tropfen, gerne mal einen Brunello oder Barbera.“

„Und schicke Schuhe“, antwortete Katharina Schmitz. „Apropos chic: Was fahren Sie eigentlich für einen Wagen?“ Ihr war eingefallen, dass der Opel auf ihrem Parkplatz ein Berliner Kennzeichen trug – “B - NW 73“, wenn sie sich richtig erinnerte. Im Laufe des Tages musste sie Nero Wagner erklären, dass dies der Platz für ihren EMini war. Vor Feierabend wollte sie den Wagen unbedingt noch laden.

Der Kommissar wollte seiner Kollegin antworten, als sein Handy klingelte. Er schaute auf das Display. Bei dieser Nummer musste er das Telefonat entgegennehmen: „Nero hier, grüß dich, Mutter, was gibt’s? Ich bin gerade bei der Arbeit.“

„Hallo Junge, wo bleibst du? Ich habe zu Mittag gekocht. Das Essen ist fertig.“

„Aber Mutter, ich arbeite doch jetzt in Recklinghausen. Das hast du bestimmt vergessen. Ist nicht schlimm. Wir waren doch beim Dr. Ahrens. Seitdem nimmst du die Tabletten fürs Gedächtnis.“

„Ach Junge, wenn ich dich nicht hätte. Jetzt fällt es mir wieder ein. Heute ist dein erster Arbeitstag, nicht wahr. Ich dusselige Kuh, wie kann man das als Mutter vergessen. Wenn dein Vater doch bloß noch leben würde. Er ist viel zu früh gegangen.“

„Ja, Mutter, das ist lange her. Ich melde mich heute Abend wieder bei dir. Und das gute Essen, was du gekocht hast, ist doch praktisch. Frag Deine Freundin Emma, ob die mit dir essen will. In Gesellschaft schmeckt es immer am besten. Und den Rest frierst du ein.“

„Gute Idee, Nero. Jetzt halte ich dich nicht länger auf, Junge. Bis heute Abend.“

Katharina sah Nero mit großen Augen an. Nero zuckte mit den Schultern und erklärte seiner Kollegin bedrückt: „Meine Mutter hat Alzheimer. Die Diagnose kam erst, als meine Versetzung schon bewilligt war. Ich habe rasch noch ein Netzwerk für sie gestrickt, welches jederzeit kurzfristig Hilfe leisten kann. Ich hoffe, das klappt auch wie geplant.“

„Das tut mir leid. Ich drück Ihnen die Daumen.“

Die Vorfreude

2. Juli 1994

Als Sabine Richter am Samstagmorgen zu Hause erwachte, wusste sie nicht, dass dieser Tag ihr Leben verändern würde. Die Sonne schien durch das Fenster und legte sich angenehm wärmend über ihr Gesicht. Die Schülerin dachte gut gelaunt an ihre Zukunft. Aber der 2. Juli 1994 würde der schrecklichste Tag im Leben der 18-jährigen Abiturientin sein.

Es war Zeit aufzustehen. Das schlanke Mädchen sprang mit einem Satz aus dem Bett. Sie nahm ihre langen blonden Haare und band sich auf dem Weg zum Badezimmer einen Pferdeschwanz. Nach der Dusche sah sie ihre schlanke und sportliche Figur im Spiegel, zwinkerte sich selbst zu und musste daraufhin herzhaft lachen. Für das Frühstück zog sie rasch Jeans und T-Shirt über. Barfuß flitzte sie in die Küche. Sie war allein in der Wohnung. Der Vater hatte das Haus bereits verlassen.

Sabine hatte vormittags keine Eile, da ihr Ferienjob im Golfclub erst um 15 Uhr beginnen würde. Sie konnte das Geld gut gebrauchen. In einer Woche würde sie ihre Koffer packen und Recklinghausen verlassen. „Auf nach Amerika. New Haven, Connecticut, here I come“, sangen ihre Gedanken fröhlich. „Nichts kann mich hier noch halten.“

Ihre Mutter war im letzten Jahr mit nicht einmal 48 Jahren innerhalb von drei Monaten nach der Diagnose sehr rasch an einer akuten Leukämie gestorben. Ihr Vater hatte am Grab keine einzige Träne vergossen und sich, wie schon in den Wochen vor dem Tod seiner Frau, im Wohnzimmer eingeschlossen und seine stille Wut und wortlose Trauer im Alkohol ertränkt.

Monika Richter war die Seele der kleinen Familie gewesen; eine liebevolle Mutter für Sabine. Sie hatten eine sehr enge und gute Beziehung. Dagegen war ihr Vater Karl-Dieter ein jähzorniger und gefühlskalter Mensch. Wie oft hatte sie nachts den Streit ihrer Eltern anhören müssen. Das Klatschen der Schläge und die Schreie ihrer Mutter drangen unerträglich durch die geschlossene Tür ihres Zimmers. „Ohren zuhalten und unter die Bettdecke kriechen“, so versuchte sie der Wirklichkeit zu entfliehen. Doch nichts half; die Laute blieben in ihrem Kopf mit einem lauten Echo haften.

Aber Sabine konnte sich wegbeamen und die zärtlichen Hände von Monika auf ihrer Haut spüren. Die warme Stimme der Mutter erklang in ihren Gedanken und überdeckte alles Unangenehme um sie herum: „Heile, heile Gänschen, ist schon wieder gut.“

Immer wieder nur diese eine Liedzeile und sie konnte alles vergessen. Geräusche, Berührungen und sogar Erinnerungen waren für Sabine ausgeblendet. Das war ihre Gedankenflucht in die Arme der Mutter.

Im Psychologieunterricht an ihrem Gymnasium hatte sie mit den Klassenkameraden über traumatische Erfahrungen und psychische Verletzungen diskutiert. Dissoziative Störung war das Fachwort für diesen Schutzmechanismus der Seele, wenn nur die Flucht aus der Realität die unerträgliche psychische Belastung aushalten lässt. Das Abitur hatte Sabine vor einigen Wochen sehr gut abgeschlossen. Der Vater hatte ihr nicht einmal gratuliert.

„Weg mit diesen düsteren Gedanken.“ Es sollte ein herrlicher, warmer Sommertag werden. Die acht Stunden als Servierhilfe im Golfclub würden ihr noch ein letztes Sümmchen Geld für das Gastjahr bei der Familie Miller in New Haven bringen. Sabine hatte sich viel mit Connecticut und den Neuenglandstaaten befasst. Sie wollte dort als Au-pair die Kinder ihrer Gastgeber betreuen; Ethan und Emma, zwei süße Racker von fünf und acht Jahren. Sie wollte einmal Englischlehrerin werden und freute sich darauf, ein Jahr lang ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.

Über 2000 D-Mark, die vor ihrem Vater sicher auf dem eigenen Konto bei der Sparkasse lagen, und auch das Geld für den Hinflug hatte die Abiturientin durch Nachhilfe für Mitschüler und andere Jobs zusammengespart.

Heute fand das traditionelle Präsidententurnier im Golfclub statt. Da durfte sie auf ein gutes Trinkgeld hoffen, insbesondere wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft am Abend gegen Belgien in Chicago gewinnen sollte. Sie war kein großer Fußballfan und die Weltmeisterschaft in den USA hatte sie bisher nicht sonderlich verfolgt. Um 19 Uhr war Anstoß. Gute Laune und perfektes Sommerwetter. Sabine freute sich auf die aufregende Reise, die ihr bevorstand.

Der Sandbunker

22. August 2022

Gepflegte Golfanlagen sind optisch ein wahrer Genuss, kosten aber auch fast ganzjährig Schweiß und Mühen. An diesem 22. August waren Mähen, Trimmen, Nachsäen, Düngen und Bewässern im Vestischen Golfclub Recklinghausen allerdings nur eine Nebensache.

In den kühlen Morgenstunden des Sommertags waren die für die Platzpflege zuständigen Greenkeeper wie gewohnt mit ihren schweren Maschinen und den wendigen Carts ausgeschwärmt. Doch schon um kurz nach 7 Uhr stand die Arbeit auf der großen Vereinsanlage wieder still. Ein gellender Schrei, der durch Mark und Bein ging, und die folgenden Hilferufe hatten jeden in Hörweite alarmiert.

Der Aufschrei kam von der Spielbahn 6. Dort sollte der neue Azubi den rechts vom ausladenden Grün liegenden großflächigen Sandbunker säubern. Eine Routinearbeit und für den Lehrling eine gute Übung. „Du kannst dem Bunker mal zeigen, was eine Harke ist, Felix“, hatte Wilhelm Pötter, Chef der Greenkeeper, den jungen Mann grinsend angeschaut und ihm einen breiten Rechen in die Hand gedrückt. „Und nimm mit dem Cart den Weg über die 9 und dann über die 7. Los, Junge, Abmarsch!“

Jetzt saß Felix kreidebleich und mit den Füßen im Sand auf der Bunkerkante. „Ist der tot?“, fragte er mit zittriger Stimme in die Runde der Greenkeeper, die vor ihm mit ihren grünen Arbeitshosen im hellen Sand knieten und den dort liegenden leblosen Mann vorsichtig auf den Rücken drehten. „Ich habe noch nie einen Toten gesehen.“

Dunkles Blut hatte den Boden an der Stelle durchtränkt, wo der Kopf des Mannes gelegen hatte. Die Verletzungen sahen hässlich aus. Ein Gemisch aus Blut und Sand überzog wie eine dicke und tiefrote Kruste das entstellte Gesicht. Die Zacken der Harke hatten sich seitlich in die linke Wange gebohrt und sie bis zum Ohr aufgerissen. Das rechte Auge war nur knapp verfehlt worden, aber der Nasenrücken hatte eine bis auf den Knochen klaffende Wunde. „Ich war das nicht – ehrlich“, versicherte Felix und schaute auf seinen breiten Rechen, den er für die Arbeit im Bunker mitgebracht hatte. „Der Mann lag da schon.“

„Um Gottes Willen! Das ist Dr. Dorpenpatt, unser Clubpräsident“, entfuhr es plötzlich Hermann Wilken, der schon viele Jahre auf der Anlage arbeitete. „Ich hätte ihn fast nicht erkannt.“ Hermann legte vorsichtig drei Finger an Dorpenpatts blutverschmierten Hals und tastete neben dem Kehlkopf nach der Schlagader. „Der lebt ja noch. Ich kann den Puls spüren.“ Im selben Moment wurden gleich mehrere Handys gezückt. 112 – Notruf.

„Die Feuerwehr hat einen Notarzt losgeschickt. Der wird in ein paar Minuten hier sein. Ich habe den Weg zum Abschlag 1 beschrieben und ihnen gesagt, dass wir dort auf den Arzt warten“, erklärte der Chef des Teams. „Felix, am besten rennst Du ihnen schnell entgegen. Dann kannst Du sie einweisen.“ Der Junge stand mit wackeligen Knien auf, war aber heilfroh, dass er nicht mehr auf den Schwerverletzten blicken musste. „Ich komme mit“, sagte ein Kollege. „Wir nehmen mein Cart. Das geht schneller.“

Dr. Michael Dorpenpatt lag wie tot in der Morgensonne. „Kollegen, was meint ihr denn, was dem Präsi passiert ist?“, fragte Hermann Wilken in die Runde. „Herzattacke“ lautete eine Greenkeeper-Diagnose. „Den hat der Schlag getroffen“ eine andere. „Der ist doch noch keine 50 und topfit. Es muss was anderes gewesen sein“, ging es munter weiter. „Vielleicht Alkohol? Wer weiß.“

Dass Dorpenpatt am Abend zuvor auf eine Golfrunde gegangen war, erschien allen plausibel. „Der war sicher allein unterwegs. So lässt man ja keinen hilflos liegen.“ Auch diese Feststellung blieb unwidersprochen. Und auch „Golfrunde“ war gesetzt, da Trolley und Tasche des Präsidenten im Bunker lagen. Dass diese teuren Utensilien Dorpenpatt gehörten, wurde nicht bezweifelt. „Seht ihr? Da hängt auch das Namensschild am Bag: Dr. Michael Dorpenpatt, Präsident.“, griff Hermann an das Golfbag und kippte es dabei leicht zur Seite. Während ein Kollege sich schon daran gemacht hatte, den Trolley aus dem Sand zu hieven, sammelten die anderen Männer Schläger, Trinkflasche und ein paar herausgekullerte Golfbälle ein. „Mal gucken, was der noch so an Bord hat“, griff Hannes neugierig in die Seitentaschen und beförderte neben einer Tube Sonnencreme und einigen Müsliriegeln ein Blatt Papier ans Tageslicht.

„Zeig mal, vielleicht ist das ein Liebesbrief. Der hat es doch immer mit den Frauen“, meinte einer, griff nach dem Blatt und las dann nach kurzem Zögern aufgeregt vor:

“07 Büßen sollst Du Schwein 02 Ich weiß alles 94“

„Das nennt man wohl Drohbrief – oder? Was für eine Sauerei!“, sagte Hermann besorgt.

Das Wort Drohbrief wirkte wie ein Startsignal. Während man in der Ferne schon das Martinshorn des heran rauschenden Rettungswagens hörte, wurde der Präsident von den Männern vorsichtig aus dem Sand gehoben und behutsam auf schnell ausgebreitete grüne Jacken an den Rand der Spielbahn gelegt. Sein Trolley und sein Bag samt Schläger wurden ebenfalls an der Seite abgestellt. Und da man schon einmal gemeinsam vor Ort war, ging es an die Arbeit. Bald sah der Sandbunker an Bahn 6 wieder so aus, als hätte ihn noch nie ein Mensch betreten. Ordnung muss schließlich auf dem Platz sein.

Um zu verhindern, dass der schwere Rettungswagen sich quer über den feinen Rasen bewegen und dort tiefe Spuren hinterlassen würde, entschied sich das Team, den verletzten Präsidenten auf die Ladefläche eines der Carts zu legen. Zwischen Bäumen und Büschen ging es an Abschlägen und Fairways vorbei im Schritttempo Richtung Clubhaus. Am Fuß der Terrasse traf die schweigende Prozession auf den Rettungswagen, dessen Fahrer schon Anstalten gemacht hatte, das 3,5 Tonnen schwere Gefährt am Abschlag 1 zur Brücke auf die erste Spielbahn zu lenken. Vor der Kühlerhaube hatte sich Felix im flackernden Blaulicht wie ein Klimaaktivist mit ausgebreiteten Armen breitbeinig aufgestellt, um die Weiterfahrt des RTW auf das zarte Grün zu verhindern. „Aus dem Jungen wird noch was“, kommentierte ein Greenkeeper den aus seiner Sicht großartigen Einsatz des Azubis.

Das Koma

22. August 2022

Um 7.08 Uhr traf der Notruf bei der Kreisleitstelle der Feuerwehr ein: „Hier spricht Pötter, Greenkeeper vom Vestischen Golfclub. Wir haben hier einen Bewusstlosen im Bunker, unseren Präsidenten. Der liegt bestimmt seit gestern Abend dort. Das Gesicht ist voller Blut und sieht echt schlimm aus. Der ist in die Harke gefallen. War bestimmt das Herz oder ein Schlag.“

„Wo finden wir den Notfall auf dem Gelände?“, fragte der Disponent der Rettungsleitstelle praktischerweise nach.

„Am Clubhaus wird jemand auf den Notarzt warten. Sonst findet er den nicht.“

Der Feuerwehrmann hatte sogleich schon den Rettungswagen und den Notarzt alarmiert und gab die spärlichen Fakten durch: „Einsatz im Golfclub an der Bockholter. Unklares Koma mit wahrscheinlichem Schädelhirntrauma. Der Mann hat wohl seit gestern Abend draußen gelegen. Wahrscheinlich mit Unterkühlung. Auf geht´s!“

Die RTW-Besatzung bretterte mit Blaulicht los. Die Fahrzeit lag bei optimalem Verkehr erfahrungsgemäß unter sechs Minuten. Der Notarzt saß heute im Prosper-Krankenhaus und würde den RTW am Einsatzort treffen. Der Weg dorthin war für den schnelleren VW Passat zwar kürzer, aber der Laufweg von der Cafeteria, wo der Notarzt gerade sein Frühstück begonnen hatte, hin zum Einsatzwagen dauerte schon mindestens neunzig Sekunden. Dr. Müller zog im Laufschritt die rote Jacke an und rief den Küchendamen der Cafeteria zu: „Passt auf mein Frühstück auf. Ich bin in einer Dreiviertelstunde wieder zurück.“

Der RTW bog in die Zufahrt zum Golfclub ein. Tim, der Fahrer, blickte weiter geradeaus, als er die jüngere Meike auf dem Beifahrersitz ansprach: „Hier müssen wir nur selten hin. Der Herzkasper ist auf den Tennisplätzen doch häufiger als hier bei der ruhigen Kugel für die alten Herrschaften.“ Meike nickte gelangweilt: „Wer hat denn bei den Ärzten Dienst? Müller 1 oder 2? Hoffentlich nicht Müller 1, dem man alles dreimal erklären muss.“

„Nee, heute hat Müller zwo Dienst. Der ist neu bei uns, hat aber Kenne und war vorher Notarzt in Mühlheim.“

Vor dem Clubhaus stand ein Mann mit Arbeitskleidung winkend neben einem Cart. Der RTW hielt an. Meike öffnete das Fenster. Der Mann rief: „Ich zeig euch den Weg!“

Meike öffnete die Beifahrertür und der Mann stieg vorne mit ein. Von hinten näherte sich der Notarztwagen. Tim fuhr an, umrundete das Clubhaus und musste plötzlich scharf bremsen. Vor ihm stand ein grün gekleideter junger Kerl breitbeinig und mit gespreizten Armen und blockierte den schmalen Pflasterweg.

„Was ist das für ein verrückter Grünspecht“, brüllte Tim fassungslos.

Rechts blockierte die Terrasse und links eine hüfthohe Hecke jede Ausweichmöglichkeit. Von vorne näherte sich rasch eine weiße Golfkarre. Auf der Ladefläche lag ein Mann, der von zwei weiteren grünen Gestalten gehalten wurde.

Tim reagierte geistesgegenwärtig und rief Meike zu: „Komm, schnell den Stryker hinten rausholen und dann am Wagen vorbei zur Karre dort. Das geht am schnellsten.“

Die beiden Rettungssanitäter öffneten die Türflügel hinten am Wagen und holten die höhenverstellbare Fahrtrage der Firma Stryker aus dem Wagen. Innerhalb von weniger als zehn Sekunden rollte das Gefährt schon zu dem komatösen Notfall. Dr. Müller sprang derweil aus dem Notarzt-Passat und erreichte den Patienten doch als Erster.

„Grobe Weichteilverletzung an Wange und Stirn, viel trockenes Blut im Gesicht und am Hals. Schneller, unregelmäßiger und hämmernder Puls um die 140, wahrscheinliche Tachyarrhythmia absoluta, mögliche Blutdruckentgleisung, viel alter Schweiß, trockene Schleimhäute im Mund. Schnell die Vitalparameter.“

Tim und Meike waren als erfahrene Rettungssanitäter schon am Werk. „Komm Doktor, rasch umlagern.“

Die drei packten den Komatösen geschickt und zogen ihn von der Ladefläche auf die gleich hoch eingestellte Strykerliege. Dann ging es rasch zum RTW. Innerhalb von 30 Sekunden waren die EKG-Elektroden angeschlossen und der Blutdruck gemessen.

„205 zu 115, Puls 158.“ Müller zwo sah auf dem Monitor die erwartete Herzrhythmusstörung.

„Schnelles Vorhofflimmern und Hochdruckkrise, weite Pupillen … Komisch ist das schon.“

„Was macht der BZ, Männer?“, kam schon die nächste Frage des Arztes. Tim antwortete kurz darauf: „138 Blutzucker.“

Müller 2 zählte professionell die Befunde auf: „Augen geschlossen trotz Umlagerung, keine Antwort auf Ansprache. Nur ungezielte Bewegungen auf Schmerzreize. Das macht schlappe sechs Punkte auf der Glasgow-Koma-Skala. Zugang legen. Intubation vorbereiten. Sauerstoffmaske jetzt. Eine Ampulle Metoprolol aufziehen, eine halbe Ampulle geben, dann Kontrollmessung. Danach eine 1000er Sterofundin im Schuss.“

Die Arbeitsschritte passten zueinander wie die Bewegungen eines lang einstudierten Balletts. Zwei Minuten später war der Patient intubiert. Meike wandte sich an Müller zwo: „Der Mann hatte keine Schutzreflexe beim Schnorchellegen. Dem wäre ohne Tubus auf der Fahrt ins Krankenhaus die ganze Suppe aus dem Magen in die Lunge gelaufen.“

Tim stimmte zu: „Das hätte eine fette Lungenentzündung verursacht. Erstickungsgefahr beseitigt. Wir können los.“

„Ihr Sanis seid klasse“, lobte der Notarzt, „bei euch sitzt auch jeder Handschlag.“

Meike fragte: „Wohin?“

„Zum Knappschafts-Krankenhaus“, entschied Müller zwo. „Die haben dort in der Knappi Herz, Neuro und Gesicht. Alles, was der arme Kerl braucht.“

Viel lieber wäre der Arzt wegen seines wartenden Frühstücks in sein Prosper-Hospital gefahren. Da wäre der Weg zu seinem Tablett am kürzesten gewesen. Am besten für „Herz“ war eigentlich das Elisabeth-Krankenhaus in Recklinghausen-Süd. Die hatten dort auch ein gutes Frühstück und sogar eine gute Neuro, aber leider keine Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie.

Dr. Dorpenpatt lag festgeschnallt auf der Trage. Der Monitor im Wagen zeigte stabile Werte für Puls, Blutdruck und Sauerstoff im Blut. Müller zwo sah zu den Sanitätern hinüber: „Abmarsch, Leute, schmeißt das große Programm an.“

Tim fuhr los und schaltete Martinshorn und Blaulicht ein. Die meisten Notärzte hatten ihre eigene Bezeichnung für die Alarmfahrt: Manche sagten Disco, andere Mucke oder Mach-mal-laut. Nur Müller zwo sprach immer vom großen Programm.

Meike gab die ungefähre Ankunftszeit in der „Knappi“ an die Leitstelle durch. Die Kollegen dort würden die Notaufnahme des Klinikum Vest informieren, dass in vier Minuten der RTW mit dem Notarzt an Bord kam. Das Personal der Notaufnahme würde bereitstehen und sie erwarten. Früher war das ein Krankenhaus der Kumpels unter Tage und wurde liebevoll „Knappi“ genannt. Heutzutage war das Haus ein anonymer Moloch, der vornehm als Klinikum Vest firmierte.

Die Greenkeeper auf dem Platz sahen dem RTW hinterher. „Das war gute Arbeit, Männer. Erste Hilfe, so wie es sich gehört“, lobte Wilhelm Pötter als oberster Greenkeeper seine Truppe. „Stellt das Golf-Gerödel vom Präsidenten in die Garage und schließt ab. Die Polizei wird sich die Sachen später anschauen wollen. Macht jetzt Kaffeepause. Ich rufe bei der Polizei an.“

Wilhelm Pötter drehte sich um und machte sich auf den Weg zu seinem Wohnhaus, das neben dem Clubhaus lag. Von dort wollte er telefonieren und dann mit seiner Frau erstmal eine Tasse Kaffee trinken. Es gab schließlich viel zu erzählen. „Drohbrief in der Tasche des Präsidenten.“ Er schüttelte nachdenklich seinen Kopf. „Der schöne Michi hat wohl ein paar schwarze Flecken auf seinem sonst so weißen Zahnarztkittel.“

Der Drohbrief

22. August 2022

„Wilhelm Pötter am Apparat“, sprach der Chef des Greenkeepings um 8.13 Uhr ins Telefon, als sich die Zentrale des Polizeipräsidiums meldete. „Wir haben bei uns im Vestischen Golfclub unseren Clubpräsidenten bewusstlos aufgefunden. Dr. Dorpenpatt muss dort wohl die ganze Nacht gelegen haben. Wir haben die Rettung gerufen. Jetzt liegt der arme Kerl im Krankenhaus.“

„Guter Mann“, entgegnete der diensthabende Polizeibeamte, „Sie haben alles richtig gemacht. Warum melden Sie den Fall der Polizei?“

„Als wir Dorpenpatt und seine Ausrüstung aus dem Bunker geborgen haben, fiel ein Schreiben aus der Golftasche. Das war ein Drohbrief.“

„Da verbinde ich Sie am besten mit der Kripo. Einen kleinen Moment, ich schau mal nach, ob die Kollegen schon im Haus sind.“

„Kommissarin Schmitz, Kripo Recklinghausen, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich eine sympathische Stimme am Telefon. Pötter trug geduldig erneut sein Anliegen vor. Er beendete seine Schilderung mit der Frage: „Frau Kommissarin, finden Sie das nicht seltsam?“

„Haben Sie das Schreiben noch?“

„Ja. Außerdem haben wir die ganzen Golfsachen verwahrt und weggeschlossen.“

„Gut, wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen. Bitte sperren Sie den Auffindort ab, wo der Mann gelegen hat. Wir schauen uns das dann genau an.“

„Jawoll! Wir schließen die Bahn 6 für den Spielbetrieb.“

Zehn Minuten nachdem die Kommissarin den Hörer aufgelegt hatte, betrat ihr Chef Nero Wagner den Raum. „Morgen, Nero“, begrüßte ihn Katharina. „Ich hatte eben ein Telefonat mit einem Wilhelm Pötter vom hiesigen Golfclub. Dort wurde heute Morgen der Präsident des Clubs, ein Dr. Michael Dorpenpatt, draußen auf dem Golfplatz bewusstlos aufgefunden. Verdächtig ist, dass bei dem Mann ein Drohbrief entdeckt wurde. Wir sollten da gleich hinfahren.“

„Wer fährt?“, fragte Nero. „Nehmen wir meine gepflegte alte Dame Kadett oder brausen wir elektrifiziert ohne Feinstaub-Erzeugung zur Ermittlung?“

„Wir nehmen das historische Fahrzeug“, entschied Katharina.

Fünfzehn Minuten später trafen die Ermittler auf dem Golfplatz ein. Der Parkplatz erstreckte sich etwa 150 Meter in Richtung Clubhaus, das in einem alten Fachwerkgebäude aus dem Jahr 1630 untergebracht war. Gleich daneben wohnte die Familie Pötter. Sie klingelten an der Haustür, die kurz darauf von einer freundlich grüßenden jungen Frau geöffnet wurde.

„Guten Morgen. Ich bin Frau Pötter. Sie sind von der Polizei?“

Nero und Katharina zeigten ihre Ausweise und wurden gebeten einzutreten.

Wilhelm Pötter kam ihnen entgegen und begrüßte das Duo: „Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee trinken oder gleich auf den Platz, um die Stelle zu besichtigen, wo wir den Doktor gefunden haben?“

„Kaffee wäre sehr freundlich. Bitte erzählen Sie, was heute Morgen passiert ist“, eröffnete Nero das Gespräch.

„Unser Azubi Felix hat heute Morgen den Dorpenpatt bewusstlos im Bunker der 6 aufgefunden.“ Nero fragte sogleich nach: „6 und Bunker? Würden Sie das bitte erläutern?“

„Natürlich. 6 bedeutet die sechste von achtzehn Spielbahnen auf dem Golfplatz. Ein Bunker ist ein Hindernis mit Sand, halt eine große, strategisch zur Spielerschwernis platzierte Sandkuhle. Mittendrin lag der bewusstlose Dr. Dorpenpatt auf dem Bauch und die Zinken der Bunkerharke hatten sich in sein Gesicht gebohrt.“

„Wer kommt nur auf die Idee, eine Harke mit den Zinken nach oben auf den Boden zu legen? Das ist doch gefährlich. Das weiß doch jedes Kind!“, schaltete sich Katharina ein.

„Ach wissen Sie, Frau Kommissarin … Was glauben Sie, was hier alles los ist“, seufzte Pötter.

Nero schaute den Mann konzentriert an. Nach einer kurzen Pause fuhr der Greenkeeper mit seinem Bericht fort: „Meine Leute haben den Präsidenten im Bunker umgedreht und gesehen, dass er noch lebt. Dann haben sie die Rettung gerufen. Die Männer haben seine Golfausrüstung aus dem Bunker geholt. Dabei fiel ein Brief aus der Golftasche heraus. Ein Kollege hat das Schreiben gelesen. Es sieht nach einem Drohbrief aus. Nachdem der Notarzt den armen Dorpenpatt abgeholt hat, habe ich bei Ihnen angerufen. Das ist alles.“

„In welches Krankenhaus ist der Mann gefahren worden?“, fragte Nero.

„Keine Ahnung. Das müssen Sie die Feuerwehr fragen.“

Katharina wurde ungeduldig: „Wir würden uns jetzt gerne den Auffindort ansehen.“ Pötter stand sofort auf: „Kommen Sie bitte mit. Das sind nur knapp 300 Meter dorthin.“

Fünf Minuten später zeigte der Chefgreenkeeper auf den Bunker der Bahn 6 und sagte: „Hier hat unser Felix den Präsidenten gefunden.“

Katharina schaute entgeistert zu Nero und platzte ungestüm heraus: „Das sieht hier aber sehr ordentlich aus. Wo hat der Mann denn gelegen?“

Pötter antwortete geruhsam: „Da vorne am Bunkeranfang. Meine Leute haben wohl etwas vorschnell für Ordnung gesorgt und die Sauerei hier rasch aufgeräumt. Die wollten bestimmt den Spielbetrieb nicht blockieren.“

Nero und Katharina blickten sich konsterniert an: „Guckt denn von euch keiner sonntagabends den Tatort? Jeder weiß doch, dass man nichts verändern soll. Puh, ein aufgeräumter Tatort. Das ist der Albtraum für jeden Ermittler.“

Pötter entgegnete kleinlaut: „Tschuldigung, aber ich war nicht dabei. Sonst …“

„Wo ist denn die Harke, in die der arme Kerl gefallen ist, falls er nicht gestoßen wurde?“, fragte Katharina genervt.

„Mein Gott, wie kommen Sie auf solche Gedanken?“, erschrak der Chef der Greenkeeper.

„Berufsroutine“, entgegnete die Kommissarin trocken. „Und Sie haben doch selbst von einem Drohbrief gesprochen.“

Nero übernahm das Gespräch: „Herr Pötter, wo ist die Harke? Haben Sie die schon zur Reinigung in die Spülmaschine gesteckt?“

Pötter wirkte verlegen: „Naja, im dritten Jahr von Corona denken wir immer an die Hygiene. Da war Blut dran. Das geht doch gar nicht. Vielleicht haben die Männer das Teil aber noch nicht gereinigt. Ich habe die Kollegen erst mal zum Kaffeetrinken geschickt.“

„Dann lassen Sie uns schnell zur Harke gehen, bevor sie die letzten Spuren durch ihre Desinfektion restlos beseitigt haben. Außerdem wollen wir jetzt den Brief sehen.“

Die Werkhalle der Greenkeeper lag zwischen Übungsgelände und Parkplatz. Die Tür war ordnungsgemäß versperrt. Wilhelm Pötter schloss auf und die Kripobeamten traten ein: „Dort steht das Bag mit dem Drohbrief. Wir haben das Schreiben wieder in die Tasche gesteckt. Die Harke daneben müsste die aus dem Bunker der 6 sein. Schauen Sie nach, ob die Zinken noch blutig sind.“

Katharina zog Handschuhe an und hob die Harke auf. Die Zinken waren dunkelrotbraun verfärbt, so wie sich altes Blut typischerweise darstellt. Die Kommissarin nahm eine gefaltete Plastiktüte aus ihrer Umhängetasche und hüllte die Zinken darin ein, um die einzigen verbliebenen Spuren eines potenziellen Tatorts sicherzustellen.

Der Kriminalhauptkommissar hatte auch Handschuhe angelegt, inzwischen die Taschen des Golfbags der Reihe nach geöffnet und schließlich ein weißes Din-A4-Blatt mit Schreibmaschinenschrift gefunden.

Nero Wagner öffnete das gefaltete Blatt und las die Botschaft:

„07 Büßen sollst Du Schwein 02 Ich weiß alles 94“

Er reichte das Blatt an Katharina weiter, die in aller Ruhe die geheimnisvolle Nachricht studierte. „Ich glaube, wir haben tatsächlich ein potenzielles Opfer samt Tatort“, wandte sie sich an Nero. Dann packte sie den Brief in eine Dokumententransporttasche der Spurensicherung.

„Ja, das glaube ich auch. Wir fahren erst zurück ins Präsidium, bevor wir dann im Krankenhaus, wie war sein Name noch mal, ach ja, Dorpenpatt und seinen betreuenden Arzt aufsuchen. Wir haben noch etliche Fragen zu klären.“

Katharina nickte nachdenklich: „Auf geht´s. Wer weiß, der Tag kann ja noch ganz interessant werden.“

Das Krankenhaus

22. August 2022

Nero bog mit seinem Kadett vom Westring in den Westerholter Weg ein. Das Polizeipräsidium lag bald rechter Hand vor ihnen. In sechs Wochen würde die Polizeibehörde Recklinghausen ihren 100. Geburtstag feiern. Bei der Gründung waren die Zeiten chaotisch gewesen. Im Oktober 1922 hatte der erste Amtsleiter ein Gebiet von elf Städten zu befrieden. Das Ruhrgebiet war ein Unruheherd mit sozialen und politischen Spannungen. Im Januar 1923 marschierten die Franzosen und Belgier wegen strittiger Reparationsforderungen ins Ruhrgebiet ein und der oberste Polizist wurde nicht ganz freiwillig nach Münster versetzt.

„Die Welt ist aktuell schon wieder verrückt“, überlegte Nero, „vielleicht hauen sich im kommenden Winter hier im Sprengel diesmal Klima-Aktivisten und Querdenker gegenseitig auf die Nasen.“

Der Kadett fand seinen Parkplatz nicht weit vom Präsidium entfernt. Katharina holte die eingetütete Harke und die Dokumententasche aus dem Kofferraum. Die beiden Kommissare gingen direkt zum KK 33, wie die Dienststelle der Spurensicherung offiziell genannt wird. Auf der Etage lagen die Räume der Waffen- und Lichtbildtechnik, Materialanalyse, Dokumentenprüfung, Fingerabdruckstelle und das Materialdepot eng beieinander. Nur die Fahrzeuguntersuchung befand sich ebenerdig wegen der notwendigen Nähe zu den Parkplätzen.

Aktuell war ihnen Yara Demir von der Spurensicherung zugeordnet. Die drahtige Kriminaltechnikerin erwartete sie bereits. Die 28-Jährige trug in ihrer bekannt provokativen Art ein T-Shirt mit der Aufschrift „Legalize it“. Die roten Haare mit der Sidecut-Frisur stachen ins Auge. Am rechten Oberarm war ein Tribal-Tattoo sichtbar. Sie saß gut gelaunt auf einem Schreibtisch und ließ die Beine baumeln.

„Was habt ihr mir denn mitgebracht?“ Mit diesen Worten stand Yara Demir auf und zeigte auf den großen Tisch in der Raummitte, wo neues Material zur Registrierung abgelegt wurde.

„Eine Bunkerharke vom Golfplatz. Das vermeintliche Opfer ist mit dem Gesicht auf die mit den Zinken nach oben liegende Harke gestürzt“, berichtete Nero.

„Oder vielleicht ist der Mann auch gestoßen worden,“ fügte Katharina nach einer kurzen Pause hinzu. „An den Zinken sollte genügend Blut zu finden sein, um eine DNA-Analyse samt Blutgruppenbestimmung vorzunehmen. Wir gehen zurzeit von einem wahrscheinlichen Tatort aus, da bei dem verletzten Mann ein Drohbrief gefunden wurde.“

Die Kommissarin legte die Dokumententasche mit dem geheimnisvollen Schreiben ebenfalls auf den Tisch. Dann quittierten beide Kommissare und die Kriminaltechnikerin die Einlieferungsformulare, damit die eventuell benötigte Beweiskette vor Gericht sichergestellt war. Nero und Katharina verabschiedeten sich aus dem KK 33 und gingen hinauf zu ihrem Büro.

„Frag doch mal die Leitstelle der Feuerwehr, in welches Krankenhaus der Notarzt den Mann gebracht hat und ruf bitte dort an“, bat Nero seine Kollegin.

Kein Bossing, nie Druck von oben. Mein jetziger Chef lässt den Vorgesetzten nicht heraushängen, freute sich die Kommissarin, als sie in Gedanken ihre Arbeitsbeziehung reflektierte. Nach dem Telefonat mit der Feuerwehr wählte sie die Nummer für das Klinikum Vest: „Kriminalpolizei Recklinghausen, Schmitz mein Name“, meldete sich Katharina bei der Telefonzentrale des Krankenhauses. „Würden Sie mich bitte mit der Aufnahme verbinden?“

Kurze Zeit später meldete sich eine ältere Frauenstimme: „Beckmann, Aufnahmeleitung, was kann ich für Sie tun?“

„Schmitz, Kripo Recklinghausen. Bei Ihnen ist heute ein Dr. Michael Dorpenpatt als Notfall zur Aufnahme gekommen. Wahrscheinlich für die Intensivstation. Ich würde gerne mit dem zuständigen Arzt sprechen. Würden Sie mich bitte verbinden?“

„Einen Moment Geduld bitte.“ Die Dame checkte die Aufnahmedatei im PC und wählte die Klinik-Handynummer des diensthabenden Oberarztes der Inneren Intensiv: „Herr Doktor Krampe, ich habe hier die Kripo für Sie am Telefon. Es geht um die Neuaufnahme Dorpenpatt. Nehmen Sie das Gespräch an?“

„Klar, stellen Sie durch.“ Der Oberarzt wunderte sich, warum die Kripo an einem Herzinfarkt interessiert war. Das lange Koma und die Sturzverletzung waren zwar schon etwas ungewöhnlich. Aber das EKG und der erhöhte Troponin-T-Test ließen keine Zweifel an einem Infarkt aufkommen, auch wenn die Herzkatheteruntersuchung keinen Verschluss der Herzkranzgefäße finden konnte. „Krampe, Oberarzt der Inneren Intensiv.“

„Schmitz, Kriminalpolizei Recklinghausen. Guten Tag, Herr Doktor Krampe. Danke für Ihre Zeit. Sie haben sicher viel zu tun. Wir kommen gleich zu Ihnen ins Krankenhaus und würden Sie gerne wegen Herrn Dr. Dorpenpatt persönlich sprechen.“

„Was liegt denn an?“, fragte der Arzt interessiert.

„Wir haben einen Anfangsverdacht, dass eine Straftat zu Lasten Ihres Patienten vorliegen könnte.“ Katharina überschlug kurz den Zeitplan: hinfahren, parken, Eingangskontrolle und dann zur Intensivstation. „Mein Kollege und ich können in knapp 30 Minuten bei Ihnen sein. Passt Ihnen das? Wo sollen wir hinkommen?“

„Ich habe gleich noch einen kleinen Eingriff durchzuführen. Den kann ich nicht aufschieben. Ich brauche dafür ungefähr 45 Minuten. Kommen Sie doch bitte um 13.30 Uhr zur Inneren Intensiv. Zweiter Stock. Bitte an der Tür klingeln und warten. Ich hole Sie dort ab.“

Pünktlich kamen Nero und Katta am Eingang der Intensivstation an und klingelten an der Gegensprechanlage. Katharina sprach ins Mikrofon, als sich eine Stimme meldete: „Wagner und Schmitz, Kripo Recklinghausen.“

Die Stimme antwortete kurz, aber nicht unfreundlich: „Einen kleinen Moment. Der Oberarzt holt Sie ab.“ Die Box wurde still.

Zwei Minuten später öffnete Dr. Krampe die Tür. Der Oberarzt trug einen grünen Kasack über einer grünen Hose, darüber einen weißen Arztkittel und lila OP-Schuhe an den Füßen. Das Stethoskop war lässig um den Hals geschlungen. Das Gesicht wirkte freundlich, aber auch gestresst.

„Krampe“, stellte er sich vor. Die Kripobeamten zeigten ihre Ausweise: „Kriminalhauptkommissar Wagner.“ „Kommissarin Schmitz, wir haben miteinander telefoniert.“

„Kommen Sie bitte mit. Wir setzen uns in den Besprechungsraum. Wollen Sie einen Kaffee?“

„Gerne“, antworteten beide.

„Was ist denn mit dem Patienten? Sie sprachen von einem Anfangsverdacht.“

Nero nickte Katharina zu, die sogleich das Gespräch übernahm: „Dr. Dorpenpatt wurde heute Morgen auf dem Golfplatz bewusstlos aufgefunden. Er muss dort schon seit gestern Abend gelegen haben. Herr Dr. Krampe, können Sie uns etwas zur Erkrankung sagen? Und haben Sie ungewöhnliche Dinge bei der Untersuchung Ihres Patienten bemerkt?“

„Der Mann kam heute Morgen komatös, leicht unterkühlt und mit einer Bluthochdruckkrise zu uns. Es sieht alles nach einem Herzinfarkt aus. Daneben hat er eine hässliche Verletzung im Gesicht. Er soll in die Zinken einer offen liegenden Harke gestürzt sein. Welcher Idiot legt eine Harke denn mit den Zinken nach oben hin? Jedes Kind weiß doch schon, wie gefährlich das sein kann.“

„Das Thema hatten wir schon auf dem Golfplatz“, stimmte Nero dem Arzt zu. „Wer die Harke so platziert hat, wird sich wahrscheinlich nicht klären lassen.“

Katta fragte nach: „Gibt es Verletzungen oberhalb der Hutkrempe?“

Krampe schüttelte den Kopf: „Nein, kein Hinweis auf Schläge, die den Kopf oberhalb der Hutkrempe getroffen haben. Ich bin da zwar kein Facharzt, habe aber früher mal für ein Jahr in der Chirurgie gearbeitet.“

Nero schaltete sich ein: „Ist die Ursache des Komas oder des Herzinfarkts denn geklärt?“

„Wir haben ihn gleich auf den Tisch gelegt. Die Koronarien waren glatt wie ‘ne Fischhaut. Bestimmt ein Nichtraucher.“

Nero fasste nach: „Herr Doktor, wie sollen wir das verstehen? Tisch und Fischhaut?“

Krampe hielt verdutzt inne und schmunzelte dann: „Da ist bestimmt wieder der Pschyrembel mit mir durchgegangen.“ Nero zog ostentativ die Augenbrauen hoch.

Der Arzt sah den Kommissar an: „Pschyrembel, das Wort-Lexikon der medizinischen Begriffe. Kennt jeder Student bei uns. Ich meine damit, dass wir schon die Herzkranzgefäße katheterisiert haben. Der Befund sah aber gut aus. Da klebte kein Fitzelchen Arteriosklerose an den Gefäßwänden.“

Katharina wollte es genauer wissen: „Herzinfarkt bei intakten Gefäßen. Kann das denn sein?“

„Vielleicht hat die Hochdruckkrise den Infarkt ausgelöst. Ein Blutdruck von 205/115 ist schon Mega-Stress für ein Herz.“

„Haben Sie neben der Gesichtswunde weitere Verletzungen entdeckt?“, fragte Katharina.