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Der Nachfolger des Top-Sellers „Sieg über Narzissmus“. Unternehmen Sie eine Heldenreise in Ihr Selbst und durch das Herz des Narzissmus, um wie neu geboren auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Sie haben das Spiel des Narzissten aufgedeckt und begonnen, sich von ihm zu befreien. Dabei spüren Sie jedoch, dass die Prägungen, die sein Missbrauch hinterlassen hat, Sie noch immer hemmen. „Neuanfang nach Narzissmus“ bietet eine Anleitung, um die Folgen von narzisstischem Missbrauch zu überwinden und zur persönlichen Unabhängigkeit und Ganzheit zu gelangen. Als Wegweiser dient dabei die Mythologie der Heldenreise. Wie der Held in der Geschichte, müssen wir Vertrautes hinter uns lassen, uns in das Reich der Schatten in unserem Inneren wagen und die „Monster“, die uns immer wieder sabotieren, bekämpfen und besiegen. Nur so können wir uns tiefgreifend verwandeln, um der Welt gestärkt und zuversichtlich entgegenzutreten und die Veränderungen vorzunehmen, die wir und unser Umfeld brauchen. Indem Sie sich auf Ihre Heldenreise begeben, werden Sie eine tiefgehende Transformation durchmachen. Sie werden Ihre persönliche Macht entwickeln und Narzissten allenfalls noch als kleine Störungen wahrnehmen. Somit können Sie endlich selbstbestimmt mit Ihrem Leben weitermachen und zu dem Menschen werden, der Sie schon immer sein sollten. Darin liegt die Kunst eines kompletten Neuanfangs nach Ihrem Sieg über Narzissmus.
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Urheberrecht © 2021 JH Simon
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, einschließlich Fotokopien, Aufzeichnungen oder anderen elektronischen oder mechanischen Methoden, reproduziert, verteilt oder übertragen werden, außer im Falle von kurzen Zitaten in Rezensionen und bestimmten anderen, nach dem Urheberrechtsgesetz erlaubten nicht kommerziellen Verwendungen.
Dieses Buch ist nicht als Ersatz für rechtliche, medizinische oder psychische Gesundheitsberatung gedacht. Die Absicht dieses Buches ist es, allgemeine Ratschläge zu dem behandelten Thema zu geben. Wenn professioneller Rat oder Expertenhilfe erforderlich ist, sollten diese eingeholt werden.
Übersetzung des englischen Originaltitels „Narcissism To Rebirth“
Impressum
© 2019 JH Simon, [email protected], Gubenerstr. 23, 10243, Berlin
Übersetzung und Lektorat: Matthias Arnoldt
Zeige mir einen Helden, und ich schreibe dir eine Tragödie.
- F. Scott Fitzgerald
Sich aus einer narzisstischen Beziehung zu befreien ist wie aus einem Koma zu erwachen. Der Zauber, der Sie gefangen hielt, zerbricht und Sie fühlen sich wie neu geboren. Das Leben regt sich mit ungeahntem Schwung in Ihnen und Sie sehen die Welt mit neuen Augen. Die Hoffnung kehrt in Ihr Herz zurück und zum ersten Mal seit langer Zeit wagen Sie wieder, von einer besseren Zukunft zu träumen.
Dann endet die Zeit der ersten Euphorie und die Nacht bricht an. Sie finden sich in einer Welt wieder, die sich ohne Sie weitergedreht hat. Nach und nach steigen die Folgen Ihrer zurückliegenden Tortur an die Oberfläche. Toxische Scham, Selbstzweifel und Angst regen sich in Ihnen, um die Lücke, die der Narzisst hinterlassen hat, zu füllen. Emotionale Flashbacks, Albträume oder sogar Panikattacken quälen Sie. Sie versuchen, den Heilungsprozess geduldig durchzustehen. Sie erleben gute und schlechte Tage, erreichen manchmal einen Punkt der Klarheit, dann wieder Verwirrung und Verzweiflung. Sie beginnen sich zu fragen, ob Sie es jemals schaffen werden, Ihre Vergangenheit wirklich hinter sich zu lassen. Wenn die Einsamkeit besonders schlimm ist, fühlt es sich an, als würde sie niemals enden.
Irgendwann merken Sie, wie Ihre Arbeit langsam Früchte trägt. Sie fangen an, mehr gute Tage zu erleben als schlechte. Ihre Gedanken schweifen seltener in die Vergangenheit. Sie bekommen eine Atempause von den Turbulenzen, um zu reflektieren, was Ihnen zugestoßen ist. Möglicherweise spüren Sie, dass Ihre Reise mit der Loslösung vom Narzissten noch nicht vorbei ist. Die Prägungen Ihrer Vergangenheit kommen immer wieder an die Oberfläche, um Sie zu sabotieren. Sie haben das Gefühl, dass das Leben mehr für Sie bereithält, doch irgendetwas hält Sie davon ab, Ihr volles Potenzial zu entfalten.
Ihre Erfahrungen haben Ihnen einen Vorgeschmack davon gegeben, was Freiheit bedeutet. Sie haben erste positive Erfahrungen gemacht, die Sie trösten und stärken. Sie spüren, wie Sie als Mensch reifer werden und die Dinge klarer sehen als zuvor. Sie merken, dass Ihre frühere Naivität einer gewissen Wachsamkeit und Weisheit gewichen ist. Immer mehr Erkenntnisse über Ihre Vergangenheit stellen sich ein. Ihr Blick auf die Welt ist kritischer geworden. Zugleich haben Sie angefangen, etwas Neues zu bemerken, das sich in Ihrem Inneren regt.
Möglicherweise ist es Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, als der Zauber des Narzissten von Ihnen abfiel. Dieses „Etwas“ macht Sie neugierig, aber es verunsichert Sie auch zutiefst. Es ist, als blickten Sie in einen dunklen Abgrund, der Sie erschüttert, aber auch auf mysteriöse Weise anzieht. Vielleicht scheuen Sie noch die Begegnung und ziehen sich lieber wieder zurück in Ihren Alltag. Trotzdem können Sie nicht anders, als ab und an einen Blick hinein zu wagen und sich zu fragen, was wohl dort unten auf Sie wartet.
Dieses Buch ist eine Ermutigung, dem Ruf, der aus der geheimnisvollen Tiefe an Sie ergeht, zu folgen. Was Sie gespürt haben, ist die Aufforderung zum Aufbruch auf eine Reise, die Sie komplett verändern wird. Es ist nicht irgendein Weg, auf den Sie sich damit begeben, sondern der, für den Sie geboren wurden. Sie sind ihn sogar schon einmal gegangen, bevor Narzissmus in Ihre Welt eindrang und sie verdarb. Was auf Sie wartet, ist die Möglichkeit, ganz zu werden. Was Sie in Ihrer Tiefe spüren, ist die Verwirklichung Ihres Potenzials, die Fülle Ihres noch nicht voll gelebten Lebens. Die Wahrheit ist: Ihr Weg hat gerade erst begonnen. Indem Sie sich von einem Narzissten losgemacht haben, haben Sie die erste Schlacht erfolgreich geschlagen. Doch Ihr Gefühl ist richtig: Der Kampf ist noch nicht vorbei. Irgendwo tief in sich wissen Sie, dass Sie dem Ruf folgen müssen. Ob Sie ihm auch folgen werden, liegt bei Ihnen. Wahrscheinlich fragen Sie sich nun: Von welchem Weg ist hier die Rede? Was ist dies für eine Reise, die Sie ruft?
Es ist die älteste und persönlichste Reise, die es gibt. Sie begegnet uns in allen Sagen, Religionen und Legenden. Der amerikanische Mythologieforscher Joseph Campbell nannte sie die „Heldenreise“. Sie beginnt mit einem Menschen wie Ihnen, an den der Ruf des Abenteuers ergeht. Bereitwillig oder nach anfänglichem Zögern folgt er ihm, verlässt seine vertraute Welt und betritt ein unbekanntes Land. Dort muss er zahllose Gefahren überstehen, neu geboren werden und schließlich in seine ursprüngliche Welt zurückkehren, um sie mit seinen neu erlangten Gaben zu retten. Ob uns dieser Held als altägyptischer Osiris, griechischer Odysseus oder moderner Iron Man begegnet: Das Prinzip der Heldenreise hat über die Jahrtausende nichts von seiner Strahlkraft verloren. Der Grund hierfür ist einfach: Sie resoniert mit etwas tief in unserem Inneren. Sie ruft uns dazu auf, den Helden in uns selbst zu verwirklichen. Ein Held muss kein Königssohn oder Götterliebling sein. Jeder, der sich darauf einlässt, seine Bestimmung zu erkennen und sie entschlossen zu verfolgen, macht sich damit auf seine ganz persönliche Heldenreise.
Für Sie stellt sich vielleicht die Frage: Warum sollten Sie die Mühen einer solchen Reise auf sich nehmen? Worin liegt die Relevanz für unser modernes Leben? Die Antwort lautet: Weil auch unser Leben, unser „Reich“, darauf wartet, dass wir es von Grund auf transformieren. Wir spüren, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Das Erfahren von Narzissmus hat Spuren in uns hinterlassen. Wir tragen dunkle Ecken in uns, in die wir uns nicht wagen, und begegnen im Alltag mentalen und emotionalen „Feinden“, die uns aus uns selbst heraus angreifen und uns davon abhalten, unser Leben so zu leben, wie wir es wollen. Manchmal haben wir das Gefühl, wir könnten ihnen nichts entgegensetzen, aber unsere Intuition verrät uns, dass wir über das Potenzial verfügen, sie zu meistern. Wie bei den Helden der Legenden ist die Voraussetzung dafür, dass wir unseren Herausforderungen nicht ausweichen, sondern uns ihnen stellen. Ein Held ist jemand, der etwas wagt. Er weiß um die Gefahren seines Weges, aber er wird getragen von der Überzeugung, dass der Schatz, der auf ihn wartet, alle Anstrengungen wert sein wird. Im Märchen ist der Schatz die Königswürde, die Hand des Prinzen oder der Prinzessin oder ein magischer Gegenstand mit der Macht, die Welt zu verändern. Der Schatz, der uns erwartet, ist nicht weniger wertvoll oder mächtig. Er liegt in der Entfaltung und Verwirklichung unseres Selbst.
Wenn Sie unter den Folgen von Narzissmus leiden, ist das Ziel Ihrer Reise klar. Sie müssen die Tyrannei, die ein Narzisst über Ihr „Reich“ errichtet hat, endgültig brechen. Sie müssen das Land heilen und Ordnung und Harmonie wiederherstellen. Hierfür müssen Sie in Ihre Abgründe hinabsteigen, sich Ihren Dämonen stellen und sie bekämpfen und besiegen. Anschließend können Sie zurückkehren, um Ihre innere und äußere Welt aus einem höheren Zustand heraus zum Besseren zu verändern. Ein Teil von Ihnen fürchtet sich vielleicht davor, doch wahrscheinlich fühlen Sie sich auch belebt von der Vorstellung, aus eigener Kraft eine entscheidende Veränderung herbeizuführen. Dies ist Ihr innerer Held, der erwacht.
Es ist kein Wunder, dass uns die Vorstellung reizt, einen neuen Weg zu betreten. Der Held ist stets ein Pionier, den das Unbekannte reizt. Er weiß, dass bekannte Wege und Doktrinen ihren Nutzen haben, um aus der Erfahrung anderer zu lernen, aber dass er, wenn er immer nur auf ihnen bleibt, die Möglichkeit verpasst, sich gemäß seiner eigenen Bestimmung zu entfalten. Er spürt, dass er nur durch Widerstand erfahren kann, wie viel Kraft er wirklich in sich trägt. Die Heldenreise auf uns zu nehmen bedeutet, die Stützräder, die uns andere zu unserer vermeintlichen Sicherheit mitgegeben haben, abzulegen und unsere eigene Stärke zu entdecken.
Wie der Held in der Geschichte, haben auch wir die Möglichkeit, uns dem Ruf der Heldenreise zu verweigern. Viele von uns fürchten Aufbruch und Veränderung. Die meisten Menschen bleiben lieber bei ihren Routinen und vermeiden einen Weg, der Herausforderungen und Widerstände mit sich bringt. Daran ist nichts auszusetzen. Wenn wir bewusst beschließen, dass unser aktuelles Leben „auskömmlich“ genug ist, sehen wir vielleicht keinen Sinn darin, Härten auf uns zu nehmen und uns fundamental zu verändern. Viele von uns wollen oder können jedoch nicht stehen bleiben, wo wir gerade sind. Als Zielperson von Narzissmus bedeutet Stillstand oft, dass wir in einem Teufelskreis gefangen bleiben, in dem uns immer wieder die Dämonen unserer Vergangenheit quälen. Es bringt uns nicht weiter, zu fragen, warum uns Dinge zugestoßen sind oder womit wir es „verdient“ haben, Ziel von Narzissmus zu werden. Was wir tun können, ist, dem Ruf zu folgen, den Kampf anzunehmen und entschlossen in die Freiheit durchzustoßen. Um die Fesseln unserer Vergangenheit abzuwerfen, müssen wir Vertrautes hinter uns lassen und ein neuer Mensch werden. Möglicherweise haben Sie im Alltag schon gespürt: Es reicht nicht aus, sich körperlich von einem Narzissten zu entfernen. Sie haben seinen Missbrauch auf vielfältige Weise internalisiert, sodass Ihnen seine Prägungen immer wieder begegnen, egal, wo Sie sind. Um echte Freiheit zu erlangen, müssen Sie tiefer gehen. Sie müssen Ihre Kernwunden erkennen und heilen und Ihr Wahres Selbst zur vollen Entfaltung bringen.
Die Heldenreise kann uns dabei als Landkarte dienen. Joseph Campbells Modell hat nicht nur für die Literatur- und Mythenforschung Relevanz, sondern liefert uns die Blaupause für eine Reise durch das Unbewusste. Sie hilft uns, als Mensch zu reifen und wirklich erwachsen zu werden. Mit ihrer Anleitung können wir die Kraft entwickeln, unser bestes Leben zu leben: nicht nach den Vorstellungen anderer, sondern als Individuum. Ihre Ratschläge sind weit genug, dass wir sie an unsere individuelle Situation anpassen können, und universell genug, um für jeden von uns relevant zu sein. Indem wir sie nicht nur mit dem Verstand durchdringen, sondern auch mit unserem Körper erspüren, können wir herausfinden, was mit uns resoniert und uns voranbringt.
Entscheidend ist, dass wir sowohl eine innere als auch eine äußere Reise auf uns nehmen. Beide sind unteilbar verbunden und ergänzen einander. Erst die Verankerung in uns selbst erlaubt uns, in der Welt zielgerichtet tätig zu werden und uns ein lebenswertes Umfeld zu schaffen. Dieses Buch gibt Ihnen die Landkarte für Ihre Reise und hilft Ihnen Schritt für Schritt, alle Gefahren zu meistern und die andere Seite zu erreichen.
In „TEIL I: DIE URSPRÜNGE DES SELBST“ beginnen wir damit, einen Blick auf uns selbst zu werfen, bevor wir uns in den Abgrund wagen. Wir betrachten das verborgene Reich des Unbewussten und erkunden, was unser Selbst ist, wie es zu Beginn unseres Lebens geformt wurde und welche Faktoren einen Einfluss darauf hatten, wie wir heute sind. Wir betrachten die Kernelemente des Selbst, die Archetypen, die uns formten, und Faktoren, die unsere Selbstentwicklung fördern oder stören können. Hierfür gehen wir auf die fünf Entwicklungskräfte ein, die wir für die Entfaltung unseres Selbst in Einklang bringen müssen. Diese sind Sicherheit, Vitalität, Beharrlichkeit, Göttlichkeit und Weisheit. Indem wir die Natur der Psyche verstehen, begreifen wir, welche Rolle Macht in unseren Beziehungen spielt, wie wir sie verlieren, wiedergewinnen und erweitern. Insgesamt sehen wir im ersten Teil, wie uns ein gesundes Elternhaus auf unsere selbstbestimmte Reise durch das Leben vorbereitet – oder uns durch Dysfunktionalität daran hindert und uns anfällig für Missbrauch macht.
„TEIL II: DAS ZEITALTER DES NARZISSISMUS“ lenkt unseren Blick hinab in den Abgrund und erklärt, wie wir an den Punkt gekommen sind, an dem wir stehen. Er zeigt, wie die Tyrannei des Narzissmus unser Reich übernehmen und verwüsten konnte. Dies kann früh in unserem Leben in einer narzisstischen Familie geschehen oder erst später im Rahmen einer narzisstischen Beziehung, Freundschaft oder sozialen Gruppe. Wir werden sehen, wie ein Narzisst entsteht, und erhalten einen Einblick in die zugrunde liegenden Prozesse, in denen das Ego eines Narzissten das Wahre Selbst in ein narzisstisches Regime zwingt und versklavt, getrieben von Scham, Trauma und Schuldgefühlen. Die Methoden, mit denen er sein Ziel gefangen hält, werden ebenso dargelegt wie die Zusammenhänge zwischen einzelnen Rollen in einer narzisstischen Familie und denen in unserer Gesellschaft. Der zweite Teil erlaubt uns, eine Vorstellung davon zu bekommen, was uns auf unserer Reise erwartet, um einen Weg hindurch zu finden. Wir erkennen, dass unsere Loslösung vom Narzissten weder das Ende unserer Reise noch ein kompletter Neubeginn ist, sondern die Fortsetzung unseres ursprünglichen Weges, den wir als Kind ganz natürlich begonnen hatten, bevor Dysfunktionalität und Narzissmus unsere Welt verdarben.
In „TEIL III: DIE HELDENREISE“ beginnt unser eigentlicher Abstieg. Wir folgen den wichtigen Stationen des Helden, verlassen unsere gewohnte Welt, bekommen eine Ahnung unserer Macht, überwinden die Gefahren, die uns auf dem Weg erwarten, und lernen, wie wir die fünf Entwicklungskräfte des Selbst durch praktische Übungen ins Gleichgewicht bringen können. Hierdurch machen wir eine tiefgehende Transformation durch, um schließlich den entscheidenden letzten Schritt vorzubereiten: unsere Rückkehr in die Welt als veränderter Mensch.
„TEIL IV: DIE RÜCKKEHR“ gibt uns eine praktische Anleitung für die letzte Phase unserer Reise. Er geht auf die Herausforderungen ein, die unsere Wiederbegegnung mit der Alltagswelt mit sich bringt. Zudem erkunden wir, wie die Berufung eines Helden über seine Selbstheilung hinausgeht und die Verantwortung beinhaltet, seine Gabe mit der Welt zu teilen, um sie zu verbessern. Auch wenn die Versuchung besteht, uns auf uns selbst zu konzentrieren, brauchen wir die Gemeinschaft anderer, um Ganzheit zu erreichen. Zuletzt beschäftigen wir uns mit einem praktischen Modell, um unserem Leben Ziel und Zweck zu geben.
Ein Unterfangen dieser Größenordnung darf nicht leichtfertig angegangen werden. Es erfordert das Herz eines Helden und die Bereitschaft, den gefährlichen Weg bis an die Grenzen der eigenen Kraft und des eigenen Mutes zu gehen – und darüber hinaus. Diese moderne spirituelle Reise verlangt, dass Sie Ihre „Heimat“ –Ihre Komfortzone und Ihre vertrauten Routinen – zurücklassen und sich in die Tiefen Ihres Seins begeben. Auf Ihrem Weg werden Sie auf furchterregende Gegner treffen: toxische Scham, Wut, Verzweiflung, Verwirrung, Ihren inneren Kritiker und Saboteur, emotionale Flashbacks, Ihre Verlassenheitswunde und natürlich Angst. Sie werden lernen, Ihre unangenehmen und manchmal überwältigenden Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sich durch sie hindurch zu bewegen. Gleichzeitig werden Sie erkennen: Sie sind auf dieser Reise nicht alleine. Ein mächtiger Verbündeter begleitet Sie auf Ihrem Weg. Der rätselhafte „andere“, den Sie beim Blick in den Abgrund erahnen können, sind Sie selbst. Ihr Wahres Selbst und Ihr Höheres Selbst warten darauf, von Ihnen gefunden zu werden, um Ihnen beizustehen. Ihre Suche nach einem „Retter“ von außen wird ein Ende finden, sobald Sie erkennen, welchen unerschöpflichen Reichtum Sie in sich selbst tragen.
Diese Essenz ist der Schatz, der magische Ring, die verborgene Macht aus den Legenden, die der Held von seiner Reise mitbringt, um sich und seine Welt zu erneuern. Wie er müssen auch Sie lernen, sich ihr zu öffnen, ohne von ihr überwältigt zu werden, um sie zu integrieren und sich von ihr verwandeln zu lassen. Wir müssen unser Bewusstsein mit dem Unbewussten in Einklang bringen. Wir müssen, drastisch ausgedrückt, bereit sein, uns zerreißen und wieder neu zusammensetzen zu lassen. Doch keine Angst: Auch wenn nur Sie selbst Ihre individuelle Reise bestreiten können, sind Sie doch nicht der oder die Erste, der sie auf sich nimmt. Wir alle sind das Ergebnis zahlloser Generationen erfolgreicher Evolution. Jeder unserer Vorfahren hat sich die Wahrheit seines Selbst im Kontext seiner Zeit auf eigene Art erschließen müssen. Es ist an der Zeit, dass auch wir tun, was unsere innere Veranlagung von uns erfordert.
Die Ermächtigung und Entfaltung Ihres Selbst steht auf diesem Weg im Mittelpunkt. Dies ist jedoch keine Aufforderung, sich von anderen abzukoppeln. Auch der Held in den Legenden ist nie alleine unterwegs. Weise Helfer, Ratgeber und Vertraute sind erforderlich, um sich nicht zu verlaufen oder blinde Flecken zu entwickeln. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, zuverlässige und vertrauenswürdige Menschen mit auf die Reise zu nehmen. Je nachdem, was Sie durchmachen, kann dies ein Therapeut oder eine Therapeutin sein. Auch eine Selbsthilfegruppe oder ein guter Freund können die Rolle eines Helfers einnehmen. Gerade zu Anfang kann Ihnen dies Mut und Perspektive geben. Je weiter Sie auf Ihrem Weg voranschreiten, desto mehr Ressourcen werden Sie in sich selbst entdecken. Sie werden Kräfte finden, von denen Sie glaubten, dass nur andere sie besitzen. Sie werden ganz konkret feststellen, dass jede mutige Tat eine Belohnung mit sich bringt. Wenn Sie die notwendigen Episoden von Schmerz und Frustration durchstehen, werden Sie Fortschritte machen. Mit jedem kleinen Sieg werden Sie lernen, dass Ihre Fähigkeit, Intensität und Schmerzen zu ertragen, weit über das hinausgeht, was Sie sich zugetraut haben, und von dort aus noch erweitert werden kann. Auch werden Sie den „anderen“ in Ihrem Inneren mit seiner intuitiven Weisheit immer besser kennenlernen. Je mehr Sie lernen, ihm zu vertrauen, umso leichter wird Ihr Fortschritt werden.
Unsere Heilung von narzisstischem Missbrauch ist nur ein Schritt auf unserem Weg. Unsere wahre Bestimmung ist es, all unsere inneren Ressourcen freizusetzen und sie auf ein höheres Ziel zu richten. Narzisstischer Missbrauch hat uns auf einen Umweg gebracht, der letztendlich zu nichts führt. Mittels der Heldenreise können wir wieder „auf Kurs“ kommen. Sobald wir uns in uns selbst verankert haben, können wir das, was wir gelernt haben, auf unser tägliches Leben anwenden, aber dieses Mal zu unseren Bedingungen. Indem Sie Ihr Wahres Selbst verwirklichen und die äußere Welt mit ihm in Einklang bringen, werden Sie endlich das Gefühl erlangen, mit Zweck und Ziel zu leben. Das nagende Gefühl der Leere wird nachlassen und Sie werden aufhören, immer wieder in missbräuchliche Beziehungen zu verfallen. Der tyrannische Zugriff des Narzissmus wird für immer zerstört und ein Zeitalter von Hoffnung und Wohlsein kann in Ihrem „Reich“ anbrechen.
Der Weg durch eine Welt, in der zu oft Narzissten das Sagen haben, ist gefährlich, doch Sie verfügen über die Kraft, ihn zu bestehen. Narzissten existieren in jeder Gesellschaft, immer auf der Suche nach Beherrschung und Kontrolle. Narzissmus ist ein Teil der menschlichen Natur. Zum Glück gilt das Gleiche für die Kraft Ihres Wahren Selbst.
Der Mensch hat, solange er frei ist, keine beständigere und quälendere Angst, als so schnell wie möglich jemanden zu finden, den er verehren kann.
– Fjodor Dostojewski
Ein voll entwickeltes Selbst ist das Gegengift zum Narzissmus. Es kombiniert Ganzheitlichkeit mit Weisheit, erhält sich aus sich selbst heraus und handelt von einer erleuchteten Bewusstseinsebene aus. Um einen solchen Zustand zu erreichen, müssen wir die Härten der realen Welt ertragen und uns von ihnen formen lassen. Gedanken und Erkenntnisse bringen uns nur bis an einen bestimmten Punkt. Wir brauchen praktische Erfahrungen, um Wissen zu integrieren. Jede davon wirkt wie eine Fackel, an der sich die nächste für das folgende Wegstück entzünden kann. Ein freies Selbst strahlt in unsere täglichen Begegnungen aus. Dies wiederum unterstützt unsere Entwicklung auf natürliche Weise. Wir alle sind dazu bestimmt, auf diese Art durchs Leben zu gehen. Das Problem ist, dass viele von uns durch Traumata, Scham und dysfunktionale Beziehungen von unserem Wahren Selbst getrennt wurden. Um wieder mit ihm in Verbindung zu treten, müssen wir zuerst einen Schritt zurückgehen. Wir müssen zu dem Zeitpunkt zurückkehren, an dem die Flamme unseres Selbst entzündet wurde – als wir in die Welt kamen und unsere erste höhere Macht erblickten, darauf hoffend, dass sie uns bei unserer Entwicklung unterstützen würde.
Der Begriff „Selbstverwirklichung“ bedeutet in diesem Buch etwas ganz Bestimmtes: die Entfaltung hin zu einem höheren Seinszustand, genährt vom Fluss der Lebensenergie und realisiert im Kontext unserer Umgebung. Wir sind dazu programmiert, uns selbst und unser Umfeld zu erforschen und unseren Platz in der Welt und der Gesellschaft zu finden. Wie genau wir dies angehen, hängt von mehreren Faktoren ab. Dazu gehören unsere Gene, unsere charakterliche Veranlagung und unsere äußeren Umstände. Auch fließt mit ein, welche inneren und äußeren Reize mit unserem Wahren Selbst resonieren, also es zum Schwingen bringen.
Unterschiedliche Menschen verfolgen ihre Selbstverwirklichung auf unterschiedliche Arten. Dazu gehören Arbeit, Sport, Kunst, Philosophie oder die Gründung einer Familie. Wenn ein bestimmtes Feld mit uns resoniert, spüren wir eine Anziehungskraft, die über den praktischen Verstand hinausgeht und uns zu dieser Sache hintreibt. Wir geben uns ihr hin und saugen alles wie ein Schwamm in uns auf, was sie betrifft. Hierdurch vertiefen wir unsere Bindung mit der Welt, reifen als Mensch und – was am wichtigsten ist – vertiefen unsere Verbindung mit unserem Wahren Selbst. Wenn wir mit etwas „schwingen“, das unserem Naturell entspricht, bewegen wir uns in unser spirituelles Zentrum und richten es auf einen höheren Zweck aus. Dieser grundsätzlichen Dynamik folgen alle Lebensformen.
Die Evolution hat uns nicht ohne Grund mit einem Verstand, aber auch mit Intuition und Emotionen ausgestattet. Sie sind das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung und leisten einen wertvollen Beitrag für unser Überleben. Unser „emotionales Gehirn“ fördert unser Lernen, lässt uns Bindungen mit anderen eingehen und ermöglicht uns, Genuss zu empfinden. Unser urzeitliches Reptiliengehirn, das viel älter ist als unser praktischer Verstand, kontrolliert unsere Herzfrequenz, unsere Atmung, unsere Körpertemperatur, unser Gleichgewicht und vieles mehr. Während sich Lebensformen auf unzählige Arten entwickeln können, ist der grundsätzliche „Bauplan“ derselbe. Vom Einzeller bis zum Blauwal – jedes Wesen stammt aus einem Ursprung, entwickelt sich einem Ziel entgegen und dient damit einem höheren Zweck.
Nehmen wir als Beispiel einen Baum mit den verschiedenen Aspekten seines Seins:
Erde:
Er wird von unten genährt, indem er sich im Boden verwurzelt.
Himmel:
Er wird von oben gestärkt, indem er der Sonne entgegenwächst.
Höhere Bestimmung:
Er unterstützt das Leben um sich herum, indem er Wildtiere anlockt und Sauerstoff, Nahrung, Schutz oder sogar Medizin bietet.
Abbildung 1: Aspekte des Seins. Der Baum entsteht, wie jeder lebende Organismus, aus einem einzigen Punkt (Erde), wächst in einen höheren Zustand (Himmel) und wirkt schöpferisch auf seine Umgebung (höhere Bestimmung). Der Prozess wird angetrieben und im Gleichgewicht gehalten durch zwei entgegengesetzt wirkende Kräfte: den Lebenstrieb und den Todestrieb.
Wenn wir die Analogie des Baums betrachten, sehen wir, dass der Mensch derselben Dynamik unterliegt. Auch wir müssen von einer nährenden Quelle versorgt werden, einem höheren Zustand entgegenstreben und unsere Lebensenergie auf einen Zweck richten, der etwas zu unserer Welt beiträgt. Wenn eines dieser drei Elemente fehlt, gerät unser Leben in ein Ungleichgewicht. Die Folgen sind Orientierungslosigkeit und Verzweiflung.
Wir alle machen gelegentlich Phasen durch, in denen wir aus dem Gleichgewicht geraten. Statt unsere Ziele zu verfolgen, fühlen wir, wie eine dunkle Schwere uns zurückhält. Sigmund Freud prägte für diese Abwärtsbewegung den Begriff des Todestriebs. Dieser steht dem Lebenstrieb entgegen, der uns vorantreibt. Das Ziel des Lebenstriebs ist es, unser Überleben zu sichern. Er bringt uns dazu, nach Vergnügen und Liebe zu streben, mit anderen zusammenzuarbeiten, uns um sie zu kümmern, uns fortzupflanzen und uns selbst zu verwirklichen. Sein Ziel ist die Fülle. Im Vergleich dazu treibt der Todestrieb uns zur Auflösung, Zerstreuung, Leere und Erstarrung. Wir erleben den Konflikt zwischen den beiden Trieben, wenn wir morgens Schwierigkeiten haben, aus dem Bett zu kommen, wenn wir uns in negative Gedanken verstricken, wichtige Aufgaben aufschieben oder in Apathie und Depression verfallen. Der Todestrieb zielt darauf ab, das Leben in seinen ursprünglichen, anorganischen Zustand zurückzuführen. Freud stellte diesbezüglich die These auf, dass „das Ziel allen Lebens der Tod“ ist. Dies ist jedoch nur ein Teilaspekt dessen, was wir im Kosmos beobachten können. Passender wäre es, zu sagen: Das Ziel alles Lebens sind Tod und Wiedergeburt. Im endlosen Kreislauf des Universums wird ein Leben geboren, stirbt und wird durch ein neues ersetzt. Tod und Leben wechseln sich immer wieder ab.
Das Gleiche gilt für den Zyklus in uns selbst, in dem mal der Lebens-, dann wieder der Todestrieb überwiegt. Solange unsere Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Bindung gedeckt sind, kann unser Lebenstrieb gedeihen und den Abwärtssog des Todestriebs überwinden. In dem Fall ist die Frage, auf welches Ziel wir diesen Fluss der Energie richten.
Entscheidend dafür, wohin wir uns im Leben orientieren, ist, wen oder was wir verehren. Dies muss nicht unbedingt die rituelle Verehrung einer Gottheit sein. Eine geeignetere Definition wäre: „Der Versuch, Selbstverwirklichung durch jemand anderen oder etwas anderes zu erreichen.“ Wir verehren etwas oder jemanden, weil wir uns von ihm versprechen, dass er unseren aktuellen Zustand schützt und uns von dort aus zu einem höheren Seinszustand führt. Die Folgen sind, dass wir uns für ihn öffnen und uns ihm hingeben, ihm unsere verletzlichsten Bereiche offenbaren und vielleicht sogar den Wunsch entwickeln, eins mit ihm zu sein und nicht mehr als Individuum zu existieren.
Das Phänomen der Verehrung begegnet uns bereits ganz zu Anfang unseres Lebens. So wie der Same eines Baums Erde und Wasser braucht, um zur Sonne wachsen zu können, benötigen wir Nahrung, Schutz und Liebe, um unsere ersten Jahre zu überstehen. Als Säuglinge sind wir weder in der Lage, unsere Grundbedürfnisse alleine zu decken, noch dazu, die überwältigende Fülle an Eindrücken zu verarbeiten, die wir jeden Tag erleben. Wir suchen instinktiv nach jemandem, der diese Aufgaben für uns übernimmt. Und wir können nicht anders, als jeden zu verehren, der diese Rolle für uns erfüllt.
Ob Sie religiös sind oder nicht: Auch Sie haben sich in Ihrem Leben schon einmal einer höheren Macht hingegeben. Als Sie aus dem Leib Ihrer Mutter kamen, waren Sie ein verängstigtes, verletzliches Baby mit einem verzweifelten Bedürfnis nach Fürsorge und Sicherheit. Aus dieser Lage heraus nahmen Sie jeden, der Ihre Bedürfnisse erfüllen konnte, als über- oder sogar allmächtig wahr. Sie hatten keine Ahnung, dass Ihre Eltern oder sonstigen „Hüter“ ebenfalls verletzliche Menschen mit Unsicherheiten und Schwächen waren. In Ihrer Wahrnehmung waren sie magische Wesen mit unfassbaren Kräften.
Damals besaßen Sie noch nicht die Fähigkeit, Ihre Eindrücke mit Ihrem praktischen Verstand zu analysieren und zu hinterfragen. Sie nahmen Ihre Welt intuitiv war. Ihre Eltern waren für Sie wie Götter oder Superhelden. Ihr Vater, der Sie mühelos emporhob, schien über die Kraft eines Titanen zu verfügen. Ihre Mutter mit ihrer nährenden Milch und der Weichheit ihres Körpers erschien Ihnen wie Gaia, die Erdenmutter selbst. Es ist kein Wunder, dass Sie begannen, Ihre Hüter rückhaltlos zu verehren.
Nach einiger Zeit entwickelte sich in Ihnen ein Bewusstsein für Ihr Selbst. Mit etwa zwei Jahren traten Sie in Ihre Trotzphase, in den narzisstischen Abschnitt Ihrer kindlichen Entwicklung ein. Sie entdeckten erstmals, dass Sie Ihre Umwelt selbst verändern konnten. Sie konnten nach Dingen schreien und sie bekommen oder sie ergreifen und festhalten. Ihre Selbstsicherheit nahm zu und steigerte sich zur Überheblichkeit. Sie glaubten, unverwundbar und der Mittelpunkt der Welt zu sein. Ihr Vokabular drehte sich um „ich“, „mir“ und „mein“. Sie bewegten sich völlig schamlos durch Ihre Umgebung, nicht daran denkend, dass auch andere Menschen Bedürfnisse haben könnten. Immer war jemand da, um sich um Sie zu kümmern. Irgendwann kam der Punkt, an dem Sie auf Widerstände stießen. Ihre Kraft reichte nicht aus, um etwas anzuheben oder zu erreichen. Vielleicht sagte jemand „nein“ zu Ihnen oder „lass das“. Sie mussten sich der frustrierenden Erkenntnis stellen, dass Sie nicht allmächtig sind. Ihre Grandiosität nahm ab und Sie akzeptierten, dass Sie Ihre Macht an Ihre Hüter abgeben mussten. Im Gegenzug für eine Vollversorgung mit Nahrung, Kleidung und Spielzeug akzeptierten Sie, dass Ihre Hüter Ihnen vorschreiben durften, wann und was Sie aßen, wann Sie schlafen mussten und so weiter. Hieraus formte sich die Überzeugung, dass es normal ist, wenn andere Ihr Leben organisieren und für Sie entscheiden.
Dieser Akt des Abgebens persönlicher Macht wird Infantilisierung genannt. Infantilisierung ist wie eine warme Decke, die über einen gezogen wird und einen jeder Willenskraft beraubt. Man übergibt das Steuer seines Lebens jemandem mit „höherer Macht“ und akzeptiert, dass sich die eigene Handlungsfreiheit auf den Bereich beschränkt, den der andere vorgibt. Für Kinder stellt dies einen Überlebensmechanismus dar. Ein Kind kann nicht anders, als sich für sein Überleben auf jemand anderen zu verlassen. Ob dieser Jemand liebevoll oder missbräuchlich ist, spielt keine Rolle. Jede Hilfe von außen ist besser als gar keine. Zugleich leidet das Kind psychologisch unter dem Gefühl seiner Machtlosigkeit. Um diesem zu entkommen, greift es zu einem psychologischen Mechanismus, der ihm erlaubt, zumindest ein gewisses Maß an psychologischer Kontrolle zurückzuerlangen.
Bei aller Bequemlichkeit, die es mit sich bringt, von anderen versorgt zu werden, ist es eine zutiefst verunsichernde Erfahrung, komplett abhängig zu sein. Ein Kind spürt, dass es verloren ist, wenn seine Hüter es verlassen. Für ein Kind bedeutet das Verlassenwerden den Tod. Es hat nicht den „Luxus“, abzuwägen, wie groß die Bedrohung wirklich ist, sondern muss sofort und mit all seiner Kraft reagieren, um die vermeintliche Gefahr abzuwenden. Dies wiederum löst eine evolutionär vererbte Kampf-oder-Flucht-Reaktion in ihm aus. Da es sich in seiner Existenz bedroht fühlt, fängt es an zu schreien und zu strampeln (Kampf) oder panisch die körperliche Nähe eines Hüters zu suchen (Flucht). Neue Forschungen zeigen, dass noch eine dritte Handlungsweise der Kampf-oder-Flucht-Reaktion zugeordnet werden muss: die der Erstarrung. Der Betroffene „gefriert“ wie das sprichwörtliche Reh im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos und kapselt sich mental von der Situation ab. Die Erstarrung steht im besonderen Zusammenhang zur Entwicklung von Traumata. Daher wird auf sie in späteren Passagen noch genauer eingegangen.
Auch wenn einige Situationen das Kind tiefer verunsichern als andere, kann es sich aufgrund seiner Abhängigkeit von seinen Hütern nie völlig sicher fühlen. Es bleibt feinfühlig gegenüber Stressreizen, die jederzeit seine Kampf-oder-Flucht-Reaktion auslösen können. Diese Konzentration aller geistigen und körperlichen Kräfte auf sein Überleben sorgt dafür, dass das Kind seine Welt stark vereinfacht wahrnimmt. Etwas ist entweder eine Bedrohung für sein Leben oder etwas, das es schützt, stärkt und nährt. In dieser Perspektive gibt es keine Abstufungen: Jede Bedrohung bringt potenziell den Tod und der einzige Ausweg liegt darin, bei seinen Hütern Sicherheit zu suchen. Diese duale Sicht wendet das Kind auch auf die Menschen in seiner Umgebung an und reagiert entsprechend auf sie. Entweder es verehrt sie als „gut“ oder es hasst sie als „schlecht“.
Dieser polarisierte Zustand sieht, auf einem Kontinuum dargestellt, folgendermaßen aus:
Abbildung 2: Das Liebe-/Abscheu-Kontinuum. Kinder, aber auch Menschen, die durch Angst polarisiert sind, wechseln zwischen den beiden Extremen der Skala, um ein Gefühl der Kontrolle über ihre Umgebung zu erlangen. Abscheu dient dazu, eine Bedrohung psychologisch zu vernichten, während Liebe den Antrieb bildet, um eins mit einer Quelle der Nahrung und der Macht zu werden.
Für ein verletzliches Kind ist die neutrale Position in der Mitte des Kontinuums keine Option. Seine Wahrnehmung des Lebens ist schwarz und weiß, alles oder nichts. Geht der Hüter auf seine Bedürfnisse ein und verschafft ihm ein Gefühl der Sicherheit, liebt es ihn von ganzem Herzen als „göttliches Wesen“. Es fühlt sich erfüllt vom Lebenstrieb, einem warmen Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, der ihm die Freiheit gibt, es selbst zu sein. Ist der Hüter hingegen wütend, abweisend oder nachlässig, wird das Kind vom Todestrieb erfasst. Es reagiert mit Hass und Abscheu auf das „Monster“, das es bedroht. Dieser polarisierte Zustand ist der Grund dafür, dass Babys und Kinder so unerwartet in Wut umschlagen können, um sich dann innerhalb eines Augenblicks wieder zu beruhigen.
Melanie Klein, eine Pionierin der Psychoanalyse für Kinder, bezeichnete den beschriebenen Komplex als Spaltung. Hierbei handelt es sich um eine psychologische Dynamik, die dazu führt, dass ein Kind seine intensiven positiven oder negativen Emotionen, die es nicht verarbeiten kann, auf andere projiziert. Diese Projektion ermöglicht ihm, zumindest irgendwie mit seinen Gefühlen umzugehen, indem es ihnen ein Gesicht und eine Repräsentanz in der „echten“ Welt gibt, auf die es reagieren kann. Anstatt seine Hüter in Schattierungen von Grau zu sehen, die gute und schlechte Tage, Stärken und Schwächen haben, teilt das Kind sie in zwei unterschiedliche Arten von Wesen. Fühlt es sich von einem Hüter versorgt, nimmt es ihn als „göttliches Wesen“ wahr, als eine liebevolle und perfekte Präsenz, die es niemals verlassen wird. Fühlt es sich hingegen vom Hüter angegriffen oder verlassen, sieht es in ihm einen Tyrannen, gegen den es seine Wut richten kann. Somit schafft es sich psychologisch eine Handlungsmöglichkeit, nämlich Hass und Wut gegen den vermeintlichen „Feind“ zu richten, anstatt passiv und hilflos zu bleiben. Diese duale Aufteilung und die Angst vor der „Vernichtung“ mag uns extrem erscheinen, doch das Kind kann auf diese Art ein Grundgefühl der Kontrolle zurückerlangen, um von der Komplexität der Welt nicht erdrückt zu werden.
Das Phänomen der Spaltung, bei dem wir unsere eigenen Gefühle auf andere projizieren, lässt uns auch als Erwachsene nie ganz los. Im Kino identifizieren wir uns mit dem Helden und „verehren“ ihn, weil uns dies das Gefühl verschafft, an seiner Macht und seinem Erfolg teilzuhaben und selbst groß und stark zu sein. Die Schurken müssen dafür herhalten, dass wir unsere negativen Emotionen auf ihnen abladen, um sie in der Form des Bösewichts hassen und „vernichten“ zu können. Das Gleiche gilt, wenn wir uns in Fantasien verlieren, in denen wir „perfekt“ sind. Jedoch macht uns die Macht der Spaltung auch verwundbar. Bei vielen Menschen reicht bis ins Erwachsenenalter eine einzige Bemerkung ihres Elternteils, um sie zu bestärken oder am Boden zu zerstören. Der Grund liegt darin, dass wir in unseren Eltern nicht „nur“ menschliche Wesen vor uns sehen, sondern auch noch etwas anderes.
Wie bereits erläutert, ist eine höhere Macht in unserem Leben ein entscheidender Faktor für unsere persönliche Entwicklung. Wie ein Baum gesunden Boden, frische Luft und Sonne braucht, um zu wachsen, müssen auch wir mit einer höheren Macht in Verbindung stehen, um zu gedeihen. Ohne sie verfallen wir in Chaos und Verwirrung. Unsere Hüter spielen daher eine zentrale Rolle für unsere persönliche Entwicklung. Wie gut unsere Eltern diese erfüllen können, hängt davon ab, ob sie bereit sind, über sich selbst hinauszuwachsen. Dabei stehen ihnen nicht nur ihre eigenen Kräfte zur Verfügung, sondern auch zwei archetypische Energien. Diese basieren auf den Konzepten von Himmel und Erde, Maskulinem und Femininem. Sie begegnen uns in unzähligen Formen in Religionen, Sagen und Legenden. Ein bekanntes Beispiel ist Abraham, der Patriarch, auf den sich die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam beziehen. Er verkörpert die Blaupause des Maskulinen. Mit seiner Entschlossenheit und Weisheit schützt er seinen Stamm und stellt sich in den Dienst einer höheren, göttlichen Sache. Das feminine Gegenstück begegnet uns als Muttergöttin oder Matriarchin. Sie ist Gaia, die Natur, Personifizierung der Erde und die nährende Kraft hinter allem Leben. Das Maskuline steht für Weisheit, das Feminine für grenzenlose Fülle. Das eine schafft Struktur, Führung und Sinn, das andere ist die Quelle allen Überflusses und eine Meisterin der Kunst, Lebensenergie zu kanalisieren. Diese maskulinen und femininen Energien manifestieren sich in der Psyche in Form von zwei Archetypen: der des Großen Vaters und der Großen Mutter. Jeder davon stellt eine Sammlung von Eigenschaften, Fähigkeiten und Energieformen dar. All unsere Vorfahren bis hin zu unseren eigenen Eltern mussten sie verwirklichen.
Die beiden Archetypen sind nicht an eine Person des männlichen oder weiblichen Geschlechts gebunden. Ein Mann kann liebevoll und fürsorglich sein und die Große Mutter verkörpern und eine Mutter kann Führung und Weisheit geben und damit den Großen Vater kanalisieren. Auch ist es entscheidend, zu realisieren, dass kein Mensch der vollen Verwirklichung der Archetypen jemals ganz gerecht wird. Was wir jedoch tun können, ist, ihr Potenzial, das in jedem von uns liegt, aufzuspüren und freizusetzen. Vom Zeitpunkt unserer Empfängnis an waren diese Archetypen bereit, sich durch unsere Hüter auszudrücken. Nicht umsonst empfinden Eltern die Geburt ihres ersten Kindes oft als einen Wandel, der alles in ihrem Leben komplett verändert. Hierbei handelt es sich um das Erwachen des Großen-Eltern-Archetyps. Junge Eltern spüren, dass sie in eine einzigartige Verantwortung treten, ihre jugendlichen Illusionen ablegen und in eine Rolle wachsen müssen, die ihr Kind braucht.
Im Idealfall bringt der Archetyp der Großen Mutter oder des Großen Vaters „übermenschliche“ Qualitäten im Elternteil hervor und erweitert seine Kräfte weit über das Vorstellbare. Hierzu gehören die Fähigkeiten, Weisheit zu vermitteln, sich auf die Bedürfnisse des Kindes einzustellen, für es da zu sein und ein energetisches Behältnis bereitzustellen, in dem es wachsen und sich ausdrücken kann. Schwierig wird es, wenn die Eltern unerfahren, unfähig, unwillig oder traumatisiert sind. In diesem Fall behalten die Archetypen ihre Macht, aber sie verwandeln sich in Tyrannen. Die Eltern nutzen ihre Fähigkeiten nicht mehr, um das Kind zu fördern und in Freiheit wachsen zu lassen, sondern um es zu kontrollieren und zu unterdrücken. Auch die Signale, die sie mit ihrem Aussehen und ihren Taten an das Kind senden, verändern sich komplett. Die Haltung der Hüter versteift sich, ihr Gesicht verhärtet sich und der Ausdruck in ihren Augen wird schärfer. Sie nutzen eine Kombination aus Wutausbrüchen, missbilligenden Blicken und emotionaler Kälte, um das Kind in eine bestimmte Struktur einzusperren. Manche Eltern wechseln innerhalb kürzester Zeiträume zwischen zwei Extremen. Im einen Augenblick kanalisieren sie den Großen Elternteil, sind liebevoll und fürsorglich, und im anderen lassen sie ihrer Frustration freien Lauf, werden hart, herrisch und aufbrausend.
Ein Grund hierfür liegt darin, dass auch viele Eltern ihre frühkindliche Spaltung nie ganz überwunden haben und sie auf ihr Kind projizieren, wenn sie sich unsicher oder überfordert fühlen. Schreit das Kind oder hört nicht auf Anweisungen, wird es vom Elternteil als „böses Kind“ wahrgenommen oder sogar offen so bezeichnet. Ist es brav und ruhig, wird es „guter Junge/gutes Mädchen“ genannt.
Die Spaltungsdynamik zwischen Kind und Eltern kann folgendermaßen dargestellt werden:
Abbildung 3: Die Spaltungsdynamik zwischen einem Kind und seinen Hütern. Die Archetypen, die sich im Verhalten des Kindes und der Eltern ausdrücken, sind Prägungen aus dem unmanifestierten Bereich des Unbewussten. Die Große Mutter repräsentiert die Yin-Energie, eine Quelle der Stärkung für das Wahre Selbst aus dem Erden-Bereich. Der Große Vater repräsentiert die Yang-Energie, den Himmel, Nordstern oder Leuchtturm, der uns zu unserer Selbstverwirklichung führt.
Als Kinder suchen wir nach Menschen, auf die wir die Archetypen der Großen Elternteile projizieren können. Zuerst sehnen wir uns nach einer Großen Mutter, die uns Körperlichkeit bietet, uns ernährt und unsere Seele stärkt. Dies ist verbunden mit der Erfahrung, im Mutterleib zu sein und von einer Quelle der Güte ernährt zu werden. Durch die Yin-Energie der Großen Mutter können wir im „Sein“ ruhen und Harmonie mit dem Fluss der Lebensenergie finden. Später tendieren wir dazu, uns stärker mit dem Großen Vater zu verbinden, der uns Struktur und Richtung bietet. Er hilft uns, Yang-Energie zu kanalisieren, eine aktive Kraft, die die Welt durchdringt und sie nach ihrem Willen formt.
Diese beiden rätselhaften Archetypen dominieren uns als Kind und verschwinden auch als Erwachsene nie ganz aus unserer Psyche. Unsere Erwartungen an andere werden stark davon geprägt, welche Erfahrungen wir mit unseren Hütern hatten. Dies betrifft ältere Geschwister, Familienmitglieder, Lehrer, Chefs und sonstige Menschen, die wir als „höhere Macht“ erleben. War Ihr Vater beispielsweise ungeduldig und jähzornig, kann es sein, dass Sie diese Eigenschaften als Grundmuster von Autoritätspersonen betrachten. War Ihre Mutter emotional verschlossen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Ihr Bild von Frauen eher gefühlskalt und fordernd ist – eine Quelle der Scham und Ablehnung statt der Stärkung und Versorgung.
Vom Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung stammt die Theorie, dass diese Prägungen als elterliche Komplexe in uns verankert bleiben, als „eine Sammlung emotional aufgeladener Bilder und Vorstellungen, die mit den Eltern verbunden sind“. Diese werden aktiviert, wenn wir jemandem begegnen, den wir als mächtiger empfinden als uns selbst, und führen dazu, dass wir Eigenschaften unserer Hüter auf diese Menschen projizieren. Dies erklärt auch, warum wir uns in der Gegenwart von Menschen mit hohem Status, beispielsweise Reichtum, gesellschaftlicher Stellung oder Schönheit, oft unsicher fühlen. Haben wir von unseren Eltern eher Ablehnung als Bestärkung erfahren und sie als „unerreichbare Götter“ erlebt, vermitteln uns Begegnungen mit „höherrangigen“ Menschen oft Schmerz und Frustration. Dies sind aufsteigende Erinnerungen an unsere vergeblichen Bemühungen, die Liebe unserer Eltern zu erlangen. Elterliche Komplexe können uns mit Gefühlen der Demütigung, Angst und Scham erfüllen, die uns lähmen und hilflos machen. Dabei erscheint es uns möglicherweise, als hätte unser Gegenüber unsere Gefühle ausgelöst. In Wirklichkeit wurde lediglich unsere Spaltung aktiviert, was zu emotionalen Flashbacks zu vergangenen Ereignissen führen kann.
Als Kind hatten wir keine Wahl, als unsere Hüter als „Götter“ zu verehren. Nur einem perfekten Wesen kann man rückhaltlos vertrauen. Jegliche Vermischung des „göttlichen“ mit dem „tyrannischen“ Elternteil in einer Person hätte dieses Vertrauen erschüttert und wir hätten nicht die Sicherheit empfinden können, die wir brauchten. So ließen wir uns willentlich auf eine Infantilisierung ein, traten unsere Macht an unsere Hüter ab und verehrten sie. Wir gewöhnten uns daran, zu ihnen aufzuschauen, in der Hoffnung, dass sie unsere eigene göttliche Natur widerspiegeln und unser Wachstum fördern würden. Auch später noch, als wir begannen, unsere Welt eigenständiger zu erkunden, schauten wir immer wieder zu unseren „Großen Eltern“ zurück, um sicherzugehen, dass sie noch da waren und über uns wachten. Die Reaktionen unserer Hüter nahmen wir als absolut gültige Urteile über unsere „Erfolge“ und „Misserfolge“ an. Ihre Anerkennung bedeutete uns alles und ihre Ablehnung oder Missbilligung konnte uns zerstören.
In der dualen Sicht des Kindes, die nur Götter und Tyrannen, absolut Gutes und absolut Böses kennt, führt dies zu einem weiteren psychologischen Effekt. Wenn unsere Hüter absolut „perfekt“ waren, musste zwangsläufig auch jede ihrer Handlungen perfekt sein. Was aber, wenn uns unsere Eltern offensichtlich „unperfekte“ Verhaltensweisen wie Wut oder Missbilligung entgegenbrachten? Die Antwort konnte nur lauten, dass diese Handlungen von anderen Personen stammten, dass also der „Große Elternteil“ und der Tyrann unmöglich der gleiche Mensch sein konnten.
An dieser Stelle war es entscheidend, wie Ihre Hüter mit Ihrer Spaltung umgingen. Nahmen sie sie hin oder förderten sie sie sogar, um ihre Macht zu sichern? Oder halfen sie Ihnen, sie zu überwinden? Die Antwort auf diese Frage hat weitreichende Konsequenzen dafür, welche Sicht Sie auf die Welt entwickeln konnten. Solange wir in einer Spaltung der Welt in „gut“ und „böse“ gefangen bleiben, sind wir anfällig für Manipulation. Nicht umsonst bemühen sich „Stars“ in den Medien und Sozialen Netzwerken, eine Illusion von Vollkommenheit zu erschaffen, damit wir sie verehren. Monarchien berufen sich auf die „Göttlichkeit“ ihres Herrschers, um über Völker zu regieren. Und Diktatoren pflegen Personenkulte, um sich als „Vater der Nation“ zu inszenieren und sich die Loyalität der Massen zu sichern. Zahllose Versprechungen, die andere uns machen, zielen darauf ab, unsere Verehrung auszulösen. Wir laufen Gefahr, uns auf kindliche Weise angezogen zu fühlen, unsere Macht abzugeben und uns zu infantilisieren. Der ursprüngliche Zweck der kindlichen Spaltung verkehrt sich damit ins Gegenteil. Anstatt unsere Sicht auf die Welt so lange durch eine duale Perspektive zu vereinfachen, bis wir reif genug sind, um Differenzierungen zuzulassen, verfestigt sich unser Schwarz-Weiß-Denken und hält uns davon ab, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist. Dabei verlieren wir leicht unsere höhere Bestimmung aus den Augen: unsere Selbstverwirklichung hin zu einem freien und selbstbestimmten Menschen. Die ursprüngliche Verehrung unserer Hüter sollte nie eine Endstation sein. Sie sollte uns als Startrampe für unser Wachstum dienen und uns helfen, ein kompetentes und voll entwickeltes Selbst auszubilden.
Es gibt eine Vitalität, eine Lebenskraft, eine Energie, eine Beschleunigung, die durch Sie in Handlung umgesetzt wird, und da es von Ihnen immer nur einen gibt, ist dieser Ausdruck einzigartig.
– Martha Graham
Damit wir uns mit unserer Selbstverwirklichung befassen können, müssen unsere Grundbedürfnisse sowie unser Bedürfnis nach Verbindung und Inspiration ausreichend gedeckt sein. Es ist die Aufgabe einer höheren Macht, eine Struktur für die Befriedigung dieser Bedürfnisse zu schaffen. Die höhere Macht ist nicht in sich das Ziel. Sie ist ein Leuchtturm, der uns eine Richtung gibt, während wir reifen und erwachsen werden. Als Kinder sind unsere Hüter unsere höhere Macht. Die Familie ist unser Schiff, auf dem wir durch das Leben segeln. Ihr Zweck besteht darin, uns zu lieben, für uns zu sorgen und uns ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben. Der Familienverbund sollte uns Halt bieten, bis wir alt genug sind, um uns als eigenständiges Wesen wahrzunehmen und unseren eigenen Weg zu gehen.
Eine besondere Rolle spielt hierbei unsere erste und womöglich stärkste Bindung: die an unsere Mutter. Bevor der Samen des Selbst aufblühen kann, muss ein Kind Wurzeln in seiner Mutter schlagen. Wie die Nabelschnur es vor seiner Geburt ernährt, ist die Verbindung zu seiner Mutter die erste Quelle zur Entwicklung seines Wahren Selbst. Durch sie bezieht es eine emotionale Grundstruktur und ein Gefühl der Sicherheit. Welche Art von Bindung wir zu unserer Mutter eingehen, hat weitreichende Auswirkungen auf spätere Bindungen in unserem Leben. Ist die Mutter präsent, einfühlsam und durch Berührung, Nähe, Augenkontakt, Laute, Mimik und Spiegelung emotionaler Zustände erreichbar, kann eine sichere Bindung entstehen. Diese sorgt nach und nach dafür, dass das Kind ruhig bleibt, auch wenn die Mutter einmal abgelenkt, müde oder gestresst ist. Solange die Mutter die meiste Zeit physisch und emotional verfügbar ist, kann das Kind sein Vertrauen in die Beziehung vertiefen. Hierdurch bekommt es einen Rahmen, um ein eigenes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Es kann mit seiner Gefühlswelt in Verbindung bleiben, ohne sie zu unterdrücken oder sie durch eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion abzuwehren. In anderen Worten: Es kann sich für den Fluss der Lebensenergie öffnen, seine Fülle erleben, sich weiterentwickeln und mit Vertrauen auch mit maskulinen Figuren in seinem Leben umgehen, um von diesen ebenfalls zu lernen.
Das Ergebnis einer solchen „idealen“ Erziehung ist ein einfallsreiches und durch Prüfungen gehärtetes Selbst, das sich jeder Herausforderung stellen kann. Ein solcher Mensch kann seine Infantilisierung hinter sich lassen und lernt, die Yin- und Yang-Energie, die er braucht, aus sich selbst zu beziehen. Viele von uns, die dysfunktionale Familienverhältnisse oder narzisstischen Missbrauch erlebt haben, hatten nicht das Privileg, eine solche von unseren Hütern unterstützte Entwicklung zu durchlaufen. Unsere Entwicklungskräfte wurden gehemmt und es wurde ihnen kein Raum gegeben, sich zu entfalten. Um zu verstehen, welche Kräfte am Werk sind und wie sie eingeschränkt oder freigesetzt werden können, sollten wir sie einzeln genauer betrachten.
Fünf Entwicklungskräfte treiben und ordnen den Fluss der Lebensenergie. Diese sind Sicherheit, Vitalität, Beharrlichkeit, Göttlichkeit und Weisheit.
Abbildung 4: Die fünf Entwicklungskräfte des Selbst.
Diese Entwicklungskräfte treten in verschiedenen Stufen unserer Selbstverwirklichung auf, wobei jede von einem bestimmenden Gefühl begleitet wird. Angst ist die erste Emotion. Sie entsteht schon vor der Geburt, während das Kind seine Sicherheit aus dem Mutterleib bezieht und durch ihren Körper die Sicherheit oder Unsicherheit seiner Umgebung erspürt. Nach der Geburt lebt das Kind seine pure Vitalität aus und verfällt, wie beschrieben, in eine Abstoßungs-Anziehungs-Dynamik. Es liebt und verehrt seine Eltern, getrieben von dem Wunsch, sich tiefer mit ihnen zu verbinden, und es hasst den Tyrannen, um ihn psychologisch zu bekämpfen und fernzuhalten. Auf diese Weise lernt es, sich in der Welt durchzusetzen. Angefeuert von derartigen Erfolgserlebnissen formt sich das Ego des Kindes. Das Kind nimmt sich als eigenständige Person wahr, experimentiert mit seiner erwachenden Macht und empfindet Stolz auf seine Leistungen, der manchmal in Grandiosität, also eine Überschätzung seiner Fähigkeiten, umschlägt. Indem es auf Hindernisse stößt, empfindet es Dämpfer der Scham, die es an seine Grenzen erinnern und seinen überquellenden Drang, nach sozialem Status und Einfluss zu streben, auf ein gesundes Maß reguliert.
Diese fünf miteinander verbundenen Kräfte sind entscheidend für die Entwicklung eines Menschen und stehen miteinander in engem Zusammenhang. Sind eine oder mehrere der Kräfte gehemmt, leidet auch der Rest. Der Betroffene verfällt in Kompensationsstrategien, um einen ausgewogenen Zustand wiederherzustellen. Beispielsweise können ein Mangel an Sicherheit und ein Übermaß an Angst einen Menschen dazu bringen, sich zu sehr auf seine Aufgaben und in seine Beziehungen zu stürzen, um in diesen einen „festen Grund“ zu finden. Zu viel Liebe ohne Vernunft macht uns anfällig für Manipulation, während zu viel Hass dafür sorgt, dass wir uns verbittert zurückziehen. Ein Mangel an Beharrlichkeit macht uns abhängig von anderen, um zu bekommen, was wir brauchen. Ohne Stolz zweifeln wir an unserem Platz in der Welt und empfinden übermäßige Scham, die uns davon abhält, unser Wachstum zu verwirklichen. Ein Defizit in einer der fünf Kräfte wirkt auf unsere Beziehungen, auf unsere Überzeugungen, auf unseren Körper, unser Selbstwertgefühl und letztendlich auf unsere Handlungsfähigkeit in der Welt. Mit Blick auf unsere Heldenreise sind die Stufen wie Abschnitte unseres Weges, die wir überstehen und meistern müssen. Die bestimmenden Emotionen können, je nachdem, wie gut wir sie begreifen, mit ihnen umgehen und sie nutzen, zu hilfreichen Wegbegleitern oder auch zu Gegnern werden, die uns aufhalten oder zurückwerfen. Lassen Sie uns daher zuerst betrachten, wozu die Kräfte in der Lage sind. In späteren Kapiteln werden wir den richtigen Umgang mit ihnen üben.
Angst ist die Grundlage der Sicherheit.
– Tertullian
Der Kortex im Gehirn eines ungeborenen Babys entwickelt sich etwa sechs Monate nach der Empfängnis. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass wir schon vor unserer Geburt eine Art Bewusstsein haben. Auch wenn wir keine abrufbaren Erinnerungen an unsere Zeit im Mutterleib besitzen, so ist das, was wir erlebt haben, dennoch tief in uns verwurzelt.
Während der prägenden Monate vor unserer Geburt nehmen wir den Zustand unserer Mutter an. Über unsere körperliche Verbindung mit ihr spüren wir viel von dem, was sie in der Außenwelt erlebt. Wenn sie sich überfordert fühlt, übertragen sich die Stresshormone in ihrem System auf uns und versetzen uns in Alarmbereitschaft. Ihre Angst prägt sich auf zellulärer Ebene in uns ein. Wir krümmen unsere Hände und Füße und spannen unseren winzigen Körper an, um der eindringenden Angst zu widerstehen. Diese „Panzerung“ unseres Körpers dient dazu, Umwelteinflüsse abzuwehren, und kann sehr lange in uns bleiben. Während sie einerseits Schutz bietet, sorgt sie auch dafür, dass wir uns im Fluss des Lebens nie wirklich voll entspannen können. Bei einigen von uns macht sich dies bemerkbar, indem es uns sehr schwerfällt, uns in unserer Umgebung einfach nur „okay“ zu fühlen. Wir sind dauerhaft im körperlichen „Durchhaltemodus“, angetrieben von vorgeburtlichen Prägungen der Angst.
Nach unserer Geburt beginnt der Prozess der Bindung. Im Idealfall nutzt unsere Mutter verbale und nonverbale Kommunikationsmethoden, um uns zu helfen, unseren emotionalen Zustand zu regulieren und uns ruhig und sicher zu fühlen. Je mehr Sicherheit sie selbst empfindet, desto besser ist sie darin, uns ebenfalls Sicherheit zu vermitteln. Indem wir uns emotional und körperlich in ihr verankern, fühlen wir uns behaglich und beruhigt. Ist die Mutter jedoch überlastet oder die Familie dysfunktional, ist eine solche gesunde Verankerung nicht möglich. Das Kind sucht in der Körpersprache und im Gesichtsausdruck der Mutter nach der Bestätigung, dass alles gut ist. Jedoch findet es dort nur Abgelenktheit, Distanz oder Angst. Die Folgen sind ein Aufflackern von Panik und eine Stärkung des Todestriebes.
Es mag paradox klingen, dass Angst das bestimmende Gefühl der Sicherheit sein soll. Um dies zu verstehen, müssen wir betrachten, was Angst ist und wozu sie dient. Ohne Angst würde unser Leben zum völligen Stillstand kommen. Unsere Kernangst ist der Tod. Würden wir ihn nicht fürchten und versuchen, von ihm fortzustreben, hätten wir keinen Grund, irgendetwas zu tun. Wir wären dem Todestrieb, der Leere und dem Nichts erlegen und würden nicht, befeuert vom Lebenstrieb, nach „etwas“ streben. Der Ausdruck des Zyklus von Tod und Wiedergeburt in unserem Leben würde zum Erliegen kommen. Man könnte also sagen: Angst ist der Antrieb, der einen Zustand der Leere wieder zu seinem Gegenteil führt, nämlich zur Fülle, und der die beiden verbindet.
Angst ist daher ein zentraler Grundbaustein unseres Lebens, der den übrigen emotionalen Kräften ihre Form verleiht. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit von der Leere weg und führt uns zur Ganzheit. Sie muss jedoch in „handhabbaren“ Dosen auf uns wirken, die wir verarbeiten können, vor allem in den ersten Lebensjahren. Kinder verfügen noch nicht über die Mittel, um einer hohen Angstkonzentration standzuhalten und sie in Handlung umzusetzen. Sie müssen sich sicher fühlen, um die „Schrecken des Lebendigseins“ zu ertragen.
Wenn in unserem Leben eine belastbare Struktur existiert, wenn wir uns bestärkt und unterstützt fühlen, hören wir auf, Angst als ein destabilisierendes Gefühl zu empfinden. Sie verwandelt sich in andere Formen, die wir für unsere Entwicklung nutzen können: in Liebe, Hass, Scham und Stolz. Wenn wir uns hingegen überwältigt fühlen, wenn das Leben uns bedrohlich und unberechenbar erscheint, kehren wir in einen Zustand der Angst zurück. Unsere Aufmerksamkeit und Energie werden in diesem Fall darauf gerichtet, unser Überleben zu sichern.
Um Angst nicht nur durch eine Beschreibung, sondern körperlich an uns selbst zu erfahren, können Sie eine Übung ausprobieren. Einige der beschriebenen Konzepte mögen Ihnen an dieser Stelle noch fremdartig erscheinen, doch sie werden Ihnen beim Lesen dieses Buches nach und nach klarer werden. Wenn Sie sich achtsam in den Kern Ihres Wahren Selbst vorwagen, werden Sie dort auf den bereits genannten Abgrund stoßen, der Sie gleichermaßen anzieht und erschreckt. Die Begegnung mit ihm erfordert, dass Sie Ihr Ego zurücklassen. Sie müssen die Disziplin aufbringen, hinter die oberflächliche Form zu „sehen“. Statt sich von bestimmten Eindrücken mitreißen zu lassen, müssen Sie die Position eines Beobachters einnehmen und von dieser Perspektive aus betrachten, was in Ihnen vor sich geht. Sie müssen bereit sein, die Schwelle des Todestriebs zu überschreiten und einen psychologischen „Tod zu sterben“, indem Sie zulassen, was ist, ohne sich dagegen zu sträuben.
Durch die Einnahme einer Beobachterposition treten Sie im Wortsinn ins „Bewusst-Sein“. Sie nehmen wahr, was in Ihnen an Gedanken und Gefühlen auftritt, ohne sich in ihnen zu verlieren. Sie erkennen, dass die Dinge, die sich durch Ihren Kopf bewegen, keine unverrückbaren Tatsachen sind, sondern vorübergehende Formen psychologischer Prozesse. Sie begreifen, dass Sie die Freiheit haben, auf sie zu reagieren oder nicht. Aus dieser Erkenntnis heraus können Sie beschließen, tiefer in Ihr Selbst hinabzusinken und einen vorübergehenden „Tod“ Ihres Egos zu erleiden. Was dann geschieht, lässt sich kaum durch Beschreibung, nur durch Erleben verdeutlichen. In der Tiefe wird sich Ihnen ein Reich der Energie öffnen, in dem es Ihnen leichtfällt, die Muster, die Sie prägen, zu durchschauen. Sie werden verstehen, wie Ihre Wahrnehmung der Welt auf vorhersagbare Weise bestimmte Emotionen in Ihnen auslöst. Dabei werden Sie bemerken, dass das, was Sie für Ihr Selbst gehalten haben, in Wirklichkeit nur ein psychologisches Konstrukt aus Gedanken, Sinnesreizen, Emotionen und Überzeugungen war, und es wird zusammenbrechen. Was dann noch übrig bleibt, ist ein Beobachter, der erkennt, dass hinter allen Formen Leere ist. Das Nichts.
Was zuerst verstörend klingt, ist in Wirklichkeit der Zugang zu wahrer Erkenntnis. So wie alles Leben aus dem Nichts wächst und sich ständig weiterentwickelt, werden Sie erkennen, dass auch in der Leere rastlose Bewegung ist. Jenseits der Stille, im Inneren der Schwärze, werden Sie erkennen, wie ein Energiestrom auf Sie zuschießt. Je konzentrierter und wertungsfreier Sie ihm begegnen, desto reiner und ungebrochener kann er fließen. Wenn Sie in sich zentriert bleiben und darauf verzichten, die Erfahrung durch Ihren Verstand zu filtern oder ihre mentalen, emotionalen und sinnlichen Facetten zu analysieren, werden Sie erkennen, dass hinter aller Lebensenergie ein Hauptantrieb liegt: Angst. Es ist diese Angst, die Sie zu wahrer Sicherheit treiben wird.
Wie bereits erwähnt, hängt das Sicherheitsgefühl des Kindes vor und kurz nach der Geburt vollständig vom Zustand seiner Mutter ab. Fühlt sie sich sicher, kann es selbst Sicherheit entwickeln. Fehlt es ihr an Sicherheit, droht ihm eine Überwältigung durch Angst. Es wurde bereits dargestellt, wie kleine Kinder versuchen, sich durch Kampf oder Flucht ein Gefühl der Sicherheit zurückzuerobern. Führt dies über längere Zeit nicht zum Erfolg oder wird die Zuwendung durch die Hüter regelmäßig unterbrochen, verfallen Kinder regelmäßig in eine dritte Option: die der Erstarrung. Das vernachlässigte oder missbrauchte Kind klinkt sich aus der Wirklichkeit aus, die es nicht ertragen kann. Was es in der Realität nicht erhält, verschafft es sich, indem es in Fantasien von Geborgenheit abwandert, die es an die Wärme des Mutterleibs erinnern. Wird es auf diese Weise immer wieder in eine Realitätsflucht gedrängt, kann das Kind psychologisch gesehen nicht vollständig „auf die Welt kommen“. Es lebt mit einem Fuß in der Wirklichkeit und mit dem anderen in einer alternativen Realität, in einer mentalen Rekonstruktion des Mutterleibs. Ein Teil von ihm drängt es, an seiner Umwelt teilzunehmen und sie zu erforschen, doch es kann sich nicht von der Angst freimachen, die es gefangen hält. Es fürchtet sich davor, sich der realen Welt auszusetzen, und klammert sich an eine Utopie, die nur in seinem Kopf existiert.
Jedes Kind wird mit einem Bewusstsein dafür geboren, dass es eine göttliche Natur in sich trägt. Diese ergießt sich durch sein Wahres Selbst in die Welt. Wenn ein Kind spielt und von Dingen in seiner Fantasie so spricht, als wären sie real, sehen wir: Es lebt in zwei Welten zugleich, der „realen“ Welt und im unverwirklichten Reich seiner grenzenlosen Vorstellungskraft und Intuition. Mit der Zeit lernt das Kind von seinen Eltern, sich auf die „echte“ Welt zu konzentrieren und sie als getrennt vom Reich der Fantasie zu betrachten. Ein unsicheres Kind hingegen, das von seiner Mutter keine Sicherheit erfahren kann, entwickelt nie den Mut, vollständig in die Wirklichkeit einzutreten. Aus Unsicherheit hält es immer „einen Fuß in der Tür“ zum Reich des Ausgedachten, um sich notfalls dorthin flüchten zu können. Es kommt zu der Überzeugung, dass es der Wirklichkeit nicht trauen kann. Es bleibt zu einem gewissen Grad mental im Mutterleib. Dieser Zustand des „Nicht-voll-geboren-Seins“ kann bis tief ins Erwachsenenleben wirken. Wir alle kennen träumerische, kreative Typen, die von gesellschaftlichen Normen abweichen und auf schwer beschreibbare Weise nie „ganz da“ sind. Der Grund liegt darin, dass sie es wirklich nicht sind. Menschen dieser Art gleiten immer wieder ins „andere“ Reich der Fantasie und Illusionen ab, besonders, wenn sie sich ängstlich oder überfordert fühlen, was aufgrund ihrer unsicheren Natur oft der Fall ist. Sie „dissoziieren“ sich, entkoppeln sich vom Moment, um sich zu beruhigen. Solche Menschen sind oft schöpferisch begabt und gut darin, Konzepte auf innovative Art miteinander zu verbinden. Wo andere sich in Details oder erprobten Routinen verlieren, betrachten sie die Dinge von einer höheren, abstrakten Ebene aus. Diese ist ihnen vertraut, weil sie die Welt auf der unbewussten Ebene der Symbolik und der Energie erfahren.
Sicherheit ist die Grundlage für unsere Selbstverwirklichung. Wenn ein Kind sich durch die Mutter ausreichend erden kann, hat es keine Schwierigkeiten, sich „okay“ zu fühlen. Ein solches Kind nimmt es als selbstverständlich hin, dass alles in Ordnung sein wird. Dies verschafft ihm den Freiraum, seine Aufmerksamkeit auf das Leben um sich herum zu richten. Ein verunsichertes Kind hingegen bleibt zwischen dem Zufluchtsort seiner Fantasie und der realen Welt „stecken“. Seine überwältigende Angst hindert es daran, sich voll auf die Welt einzulassen. Immer wieder zieht es sich in idealisierte Träumereien zurück, in denen es keine Reibungen und Widerstände gibt; es spürt vielleicht, dass sie nicht der Realität entsprechen, aber kann trotzdem nicht von ihnen ablassen.
Tief in unserem Inneren wissen wir, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Jedes Lebewesen tut sein Bestes, um zu überleben, und bleibt dabei doch ständig anfällig für Verwundung und Tod. Für das Ego, das nichts mehr fürchtet als seine eigene Sterblichkeit, ist diese Wirklichkeit inakzeptabel. Daher kreiert es eine Traumwelt, in der es sich allmächtig, unverwundbar und immun gegen äußere Einflüsse fühlen kann. Als Bewältigungsmechanismus, den wir gelegentlich verwenden, um überwältigende Bedrohungen erträglich zu machen, kann dies nützlich sein. Zu häufig eingesetzt, wird diese Flucht jedoch zu einer Blockade, die unsere persönliche Entwicklung hemmt. Wir sind nicht unbesiegbar und unzerstörbar. Wenn wir uns solche Dinge einreden, gleichen wir dem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt. Wahre Sicherheit lässt sich nur auf eine Art erreichen: durch eine mutige und aktive Herangehensweise an unsere Umwelt, bei der wir uns auf den Fluss des Lebens einlassen.
Das Ego versucht, Sicherheit durch Stillstand zu erreichen, indem es Zustände in einer Fantasiewelt „einzementiert“. Wahre Sicherheit können wir jedoch nur erreichen, wenn wir uns mit dem Fluss des Lebens bewegen und nicht versuchen, ihn aufzustauen. Um uns dabei nicht zu verlieren, ist es wichtig, dass wir genau das richtige Maß an Angst erleben und zudem aufmerksam und präsent bleiben. Zu wenig Angst, und uns fehlt die Energie, um aktiv zu handeln. Zu viel, und wir erstarren oder ziehen uns zurück und verlieren das Bewusstsein für die Situation. Den Fluss der Lebensenergie zuzulassen erzeugt ein gesundes Maß an Angst. Diese ist eine natürliche Reaktion darauf, dass wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Jedoch erkennen wir, dass wir uns nie