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Die Natur schenkt uns gewaltige Erneuerungskräfte. Mithilfe der Bionik kann es uns gelingen, aus dem Teufelskreis des überoptimierten Alltags auszubrechen und dem Stress zu entkommen. Prof. Dr. Gerd Schnack klärt die medizinischen und biologischen Grundlagen und zeigt uns die entscheidenden Rituale: kleine Übungen, mit deren Hilfe wir uns Oasen der Entspannung schaffen, und die wir mühelos in unseren Tagesablauf integrieren können.
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Seitenzahl: 191
Prof. Dr. med. Gerd Schnack
Neue Körperwundergegen Stress
Rituale zum Entspannen im Alltag
© KREUZ VERLAG
In der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: agentur IDee
Umschlagmotiv:© Vast Photography/First Light/Corbis
Zeichnungen im Innenteil von Wolfgang Pfau und Francesco Iorio
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-80634-6
ISBN (Buch) 978-3-451-61362-3
Inhalt
Einstimmung
1. KapitelDie Natur – Lehrmeisterin im Stressalltag
2. KapitelDas Naturgesetz des Gegenschwungs
3. KapitelDie technische Bewegung und ihre Folgen
4. KapitelDie freie Energie der »Lebenskurve«
5. KapitelGegenschwung-Stretching gegen Muskel-Sehnen-Gelenk-Stress
6. KapitelDas Bewegungswunder der Lachse – Wie kann der Mensch es kopieren?
7. KapitelStressbelastungen bei Mensch und Tier
8. KapitelDas Vorbild der Naturvölker
9. KapitelHoffnung durch Selbstorganisation
10. KapitelNachhaltige Gesundheitsförderung durch Rituale
11. KapitelRituale – entspannt durch den Stressalltag
Anhang
Wenn man sich die dramatische Entwicklung stressbedingter Erkrankungen vor Augen führt, könnte man meinen, dass unser Körper der ständig wachsenden Stress-Lawine schutzlos ausgeliefert sei. Allein die etwa 1000 täglichen Neuerkrankungen an Typ-II-Diabetes in Deutschland lassen uns den Atem stocken. Und trotzdem dürfen wir den Mut und die Hoffnung nicht sinken lassen. Ganz bewusst sprechen wir im Titel von den neuen Körperwundern, die in jeder Körperzelle verborgen liegen und die allein durch unser Verhalten wirksam gegen Stress eingesetzt werden können.
Es gibt in der Tat dieses Wunder, das tief verborgen in jedem von uns schlummert, das neu entdeckt und sofort umgesetzt werden kann, das ist das Wunder der natürlichen Bewegung. Tage- und wochenlang überwinden die Lachse mit eigener Energie die höchsten Wasserfälle – und das ohne Stretching und Energieriegel. Wie ist dieses Bewegungswunder möglich, wie kann der Mensch es nutzen? Das ist das Anliegen dieses Buches!
In unseren Zeiten weltumspannender Computertechnologie brauchen wir ein Wunder gegen die Invasion stressbedingter Erkrankungen! Schlafstörungen, Depressionen, Burn-out, diese neuen Volkskrankheiten machen nicht nur die Betroffenen ratlos, sondern auch die behandelnden Ärzte, weil trotz modernster Therapien durchschlagende Erfolge nicht in Sicht sind. Ist der Mensch von seinen Anlagen so anfällig ausgerichtet, dass er den neuen Herausforderungen im Industriezeitalter nicht mehr gewachsen ist? Nach wie vor dreht sich die Negativspirale in dramatischer Geschwindigkeit, wo soll das noch enden?
Stress und stressbedingte Erkrankungen sind nur dann zu überwinden, wenn wir alle natur-unrichtigen Verhaltensmuster durch natur-richtige ersetzen.
Aber es gibt Hoffnung, Hoffnung zum Besseren, wenn sich die Menschheit wieder ihrer natur-richtigen Begabungen erinnert. »Die Natur – unser bester Lehrmeister«, das ist die Meinung des Autors. Wir müssen uns nur auf den Weg zurück zu unseren natürlichen Anlagen begeben, die tief verborgen in unserem Inneren schlummern. Aus diesem gewaltigen Potenzial heraus kann eine Rückbesinnung auf unsere natürlichen Wurzeln erfolgen, die durch ein neues Bewusstsein einem Paradigmenwechsel zum Durchbruch verhelfen können. Der ständig wachsende Stress der Gegenwart macht uns nicht nur krank an Körper, Seele und Geist, er schürt auch Ängste, führt zu Schlafstörungen und Depressionen. Alle Welt warte auf durchgreifende Hoffnungssignale, die es aber nur durch ein »Zurück zur Natur« geben kann, denn die Natur hat nicht nur einen Jahrmillionen-Vorsprung an Erfahrung, sie hat bisher auch alles richtig gemacht und ihre Energiebilanz ist überaus positiv – ganz im Gegensatz zur modernen Technologie.
In der Natur wie in unseren natürlichen, körperlichen Begabungen, liegen gewaltige Erneuerungskräfte, die reale Wunder bewirken können. Die Erneuerungskraft natur-richtiger Prozesse kann durch den Jahrhundert-GAU Anfang der Achtzigerjahre nach dem Vulkanausbruch des Mount St. Helens in den USA dokumentiert werden. Als dieser Berg explodierte, vernichtete er angeblich alles Leben meilenweit um sich herum auf Dauer. So zumindest die Lehrmeinung der Geologen weltweit, denn diese Zerstörungskraft war so unermesslich, wie sie die Gegenwart noch nicht erlebt hatte, Hiroshima und Nagasaki einbezogen. Und trotzdem, heute, nach nur 30 Jahren, ist wieder neues Leben entstanden, ein Wunder! Die widerstandfähigen Lupinen machten den Anfang, und inzwischen leuchtet die Farbenpracht zahlreicher neuer Blumenmatten. Die Biber und das Rotwild sind zurückgekehrt und neben zahlreichen Fischen auch die kräftigen Lachsforellen, deren Rückweg niemand kennt – ein Rätsel bis heute. In diesem Buch erfahren Sie, wie Forellen und Lachse Bewegung natur-gerecht umsetzten und dabei keine Ermüdung kennen, wie sie im Wasser sogar die Turbulenzen spiralförmiger Wirbel nutzen, um sich daran abzustoßen. So sind sie imstande, sogar bergauf Wasserfälle zu überwinden, was das Wiederauftauchen der Forellen in den »Todesbecken« des explodierten Vulkans erklären könnte.
Albert Einsteins Prognose dagegen ist düster: »Ich fürchte den Tag, an dem die Technologie unsere Menschlichkeit überholt. Die Welt wird dann eine Generation von Idioten sein.« So der berühmte Physiker.
Das sind Zeichen der Hoffnung nicht nur im Einflussbereich dieses Todesvulkans, die auch für uns Menschen im Stresszeitalter gelten, und die Worte Martin Luthers werden wieder aktuell: »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.« Lassen Sie uns zusammen diese Bäume der Hoffnung setzen, die allein auf dem Boden unserer natürlichen Anlagen gedeihen können.
Blockade der Sinne durch ständigen Handy-Kontakt
Auf einem Vagabunden ruht unsere ganze Hoffnung im Stresszeitalter! Und das ist der Vagus, der unser Entspannungssystem beherrscht, der aber der »Unschärfe-Relation« unterliegt und damit nur schwer zu fassen ist.
Die Erneuerungskraft der Natur ist auch in uns Menschen vorhanden, es gilt sie neu zu fördern, um sie aus ihrem Mauerblümchen-Dasein zu befreien. Im Zentrum steht dabei ein Nerv, der Vagus, der der eigentliche Zeremonienmeister unserer Gesundheit ist und der das parasympathische System des vegetativen Nervensystems beherrscht. Er ist der »Vagabund« unter den Nerven, weil er sich praktisch im ganzen Körper herumtreibt und daher schwer zu fassen ist. Einerseits ist er ein Herumtreiber, andererseits ein Gentleman, den man regelrecht auf die Bühne des Lebens drängen muss. Sein direkter Gegenspieler ist der Stressnerv Sympathikus mit konträrem Verhalten, dieser »ungleiche Bruder« drängt ins Rampenlicht, ihn muss man nicht lange bitten, schon bei der kleinsten Erregung ist er als führender Dramaturg dieser schnellen, lauten, grellen Welt in all ihren Stress-Situatioen präsent. Diese beiden »ungleichen Brüder«, der eine laut, der andere leise, gehören zum mehr oder weniger autonomen, vegetativen Nervensystem.
Vagabunden sind schwer zu fassen, sie sind unscharf in der Darstellung, sie leben im Abseits der Verschwommenheit. Unser Vagus zieht die Unschärfe des Abseits vor, obwohl von aller Welt im Stresszeitalter gesucht!
Vagabunden sind unstet, sie sind schwer zu orten und unser Vagus in besonderer Weise, denn sein Heimathafen ist das selbständige (autonome) vegetative Nervensystem, das sich bisher mehr oder weniger der Steuerung durch die Medizin entzogen hat. Dieses Sowohl-als-auch entspricht also einer gewissen Unschärfe des Vagus, analog zum Prinzip der Unschärfe, das der deutsche Quantenphysiker Werner Heisenberg geprägt hat. Hiernach ist es auf der subatomaren Ebene unmöglich, Lage und Impuls eines Teilchens gleichzeitig zu bestimmen, weil die eine Erscheinungsform sofort in der Unschärfe der Gegenseite übergeht, wenn man glaubt, sie fassen zu können.
Entspannt und gesund durch einen hohen Vagustonus! Hol dir Nadelhölzer ins Haus! Der Große Ruhenerv, der Vagus, steht für Entspannung und Erholung, er beruhigt das Herz und wirkt gegen Entzündungen und Krebs. Das sind erste Lichtblicke im Stressalltag.
Trotz alledem, unser Vagus ist präsent und durchaus einsatzbereit, wie neue Studien aus Österreich belegen. Schon mit Nadelhölzern und ihren ätherischen Ölen lässt sich unser Vagabund aus der Reserve locken. Unser Puls schlägt deutlich langsamer, wenn wir uns zu Hause mit Hölzern umgeben, wenn wir in einem hölzernen Bett schlafen. Stehen vor den Krankenhausfenstern Bäume, führt das zu besseren Heilungsergebnissen. Schüler in Massivholz-Klassenzimmern unterrichtet, zeigten nicht nur niedrige Pulszahlen, am Ende des Schuljahres waren sie auch entspannter. Das Holz sollte allerdings unbehandelt, also offenporig sein, höchstens mit Wachs oder Leinöl bestrichen, kein Holzdekor aus Spanholzplatten (Maximilian Moser und Ernst Thoma: Die sanfte Medizin der Bäume).
Die Natur ist voller Wunder. Der Marathon der Lachse, die tage- und wochenlang gegen eine reißende Wasserströmung anschwimmen, gleicht einem solchen Wunder, genauer: einem Energiewunder der Natur. Aus naturwissenschaftlicher Sicht offenbart sich ein Energietransfer, der uns nur staunen lässt. Zu gleichen Leistungen sind übrigens auch Forellen bei der Überwindung von Wasserfällen imstande, wenn sie bergauf alle Strömungshindernisse der Flüsse meistern. Das hat der Evolutionsbiologe James C. Liao von der Harvard University mit Kollegen vom Massachusetts Institut of Technology Cambridge mittels EMG (Elektromyografie, Messung der elektrischen Muskelaktivität) untersucht.
Hierbei zeigte sich, dass die Fische nur einen Teil der hinteren Flossenmuskeln in typischer Slalomtechnik einsetzen müssen, weil sie allein durch das ständig wechselnde Richtschwung-Gegenschwung-Prinzip einen optimalen Energietransfer gewährleisten können. Ein Vorgehen, das mit den Wendemanövern eines Segelschiffes gegen die Windrichtung durch ständiges Kreuzen vergleichbar ist.
Was würde geschehen, wenn der Mensch auf der Autobahn statt hoher Geschwindigkeit mit der Schwarmintelligenz der Tiere unterwegs wäre?
Durch den relativ geringen Muskeleinsatz beim typischen Flossenschlag sparen die Fische erheblich an Kraft. Doch damit nicht genug: Der Energieverbrauch wird zudem durch das Abstoßen an wechselnden Turbulenzen im Wasser gedrosselt, wie z.B. an Strudeln oder Wasserwirbeln, die vorrangig in Grenzflächensituationen entstehen, wenn schnelles auf langsames Wasser trifft. Treten die Tiere dann noch in Massen auf, tritt ihre Schwarmintelligenz in Erscheinung, die für zusätzliche Turbulenzen sorgt. Wie im Wasser erzeugt das Sozialverhalten im Schwarm übrigens auch in der Luft Turbulenzen, die dafür sorgen, dass die Vögel sich im Flug von diesen Luftwirbeln abstoßen und, auf diese Weise nach vorn getragen, eine Menge an Energie einsparen können. Nach vorn katapultiert können sich die Vögel von Spiralwirbel zu Spiralwirbel sogar in Frontrichtung durchhangeln.
Stellen Sie sich einmal vor, der Mensch würde in seinem Fahrverhalten auf der Straße die Schwarmintelligenz der Fische und Vögel entwickeln. Plötzlich wären wir nicht mehr in einem ständigen Gegeneinander auf der Autobahn unterwegs, sondern miteinander in Kohorten zu viert oder zu sechst, in der das Führungsfahrzeug ständig abwechselte, wie man das vom Radsport kennt. Durch dieses Windschattenfahren könnten wir viel an Kraft, Nerven und Benzin einsparen – und das bei deutlich vermindertem Unfallrisiko. Ein völlig neues soziales Miteinander wäre die Folge, das nicht mehr von der Stärke des Motors, sondern von einer bestimmten Form der Schwarmintelligenz bestimmt wäre. Nicht mehr die Größe des Autos mit möglichst vielen Pferdestärken wäre das Maß aller Dinge, sondern diese spezielle Form emotionaler Intelligenz. Und ganz automatisch würde sich die allgemeine Geschwindigkeit auf moderate Drehzahlen des Motors reduzieren, ohne dass der Gesetzgeber mit neuen Verordnungen eingreifen müsste.
Im Gegensatz zum Menschen ist das Überlebensprinzip in der Natur die Energieersparnis. Bei natürlichen Bewegungen geht es – im Gegensatz zum Menschen – nie um Maximalkraft, sondern um gerade so viel Energieeinsatz, wie es die momentane Situation unbedingt verlangt.
In der Natur hat die Energieeinsparung absolute Priorität! Das Beispiel der Forellen zeigt zudem, dass bei der Bewegung nur so viel Muskulatur eingesetzt wird, wie unbedingt nötig. Fische nutzen zum Antrieb nur einen Teil ihrer Flossenmuskeln, der Mensch dagegen strebt stets das Maximum seines Kraftpotenzials an.
In diesem Zusammenhang interessant: Insekten weisen den höchsten Stoffwechseltransfer aus, denn bei ihnen gelangt der Sauerstoff über Atmungsröhren (Tracheen) direkt ins Gewebe. Diese optimale Versorgung ist nötig, weil Insekten beim Fliegen viel Energie verbrauchen, so steigert eine Biene ihren Stoffwechsel um das Zwanzigfache, der Mensch schafft beim Laufen nur das Fünffache. Hierin liegt der Grund, warum die Insekten in ihrem Überlebenskampf so erfolgreich sind.
Für Bewegungs- und Wachstumsprozesse in der Natur gelten grundsätzlich andere Regeln als in der menschlichen Gesellschaft:
Nicht Energieverbrauch, sondern Energieeinsparung um jeden Preis hat oberste Priorität.
Nicht die Maximalleistung steht im Mittelpunkt, sondern das Optimum, das mit dem geringsten Einsatz erreicht werden kann.
Die Bewegung lebt nicht allein vom Antriebsmotor, das gesamte Umfeld wird beim Energietransfer mit genutzt.
Nur durch dieses komplexe und intelligente Energiekonzept sind die gewaltigen Leistungen in natürlichen Prozessen zu verstehen. Wie schwer tut sich dagegen der Mensch! Was hat er in seiner bedingungslosen Anpassung an die moderne Zivilisation eigentlich alles falsch gemacht?
Eines ist sicher, der Lachs ist in der Entwicklung seiner Fischnatur immer treu geblieben. Die oberste Maxime des Menschen dagegen war in allen Epochen auf die Beherrschung und Ausnutzung aller natürlichen Ressourcen ausgerichtet. Unter Verleugnung seiner natürlichen Anlagen ging der Handlungsbedarf des Menschen sogar so weit, für die Erhaltung seiner eigenen Gesundheit ganz auf das Prinzip der Selbstorganisation natürlicher Prozesse zu verzichten. Ohne Wenn und Aber hat man auf eine Medizin gesetzt, die vorrangig symptomatisch ausgerichtet ist und Handlungsbedarf erst dann für gegeben ansieht, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, der Erkrankungsfall also schon vorliegt. Die vorherrschenden Leitlinien dieser aktuellen Hightech-Medizin, deren Erfolge ich sehe und anerkenne, werden vorrangig von moderner Technik in Verbindung mit Mechanik und in enger Kooperation mit der Pharmaindustrie bestimmt. In dieser betont »naturwissenschaftlichen« Strategie hat der Mensch in fast allen Bereichen seine natürlichen Anlagen aufs Spiel gesetzt, insbesondere sind durch die einseitige Anpassung an die Technik die natur-richtigen Bewegungen vollständig in Vergessenheit geraten.
Aus seinem natur-richtigen Urverhalten wurde der Mensch durch die einseitige Anpassung an die Technik in ein natur-unrichtiges Verhalten geführt:
Aus dem Laufwesen wurde ein Sitzwesen.
Die allseitig tätige Aktivität in Wald, Feld und Wiese wurde auf die Monotonie der Bedienung technischer Hilfsmittel reduziert.
Damit büßte der Mensch seine Elastizität ein, das wichtigste Energiekonzept aller natürlichen Prozesse, analog zu einem wogenden Kornfeld im Wind. Ein einzelner Kornhalm ist ein Wunder natürlicher Flexibilität, das auch die kühnste Architektur in ihrem Wettlauf um das höchste Gebäude dieser Welt nicht erreichen kann.
In der Natur gibt es keine geraden Wege. Der Mensch in seinem Vorwärtsdrang setzte bevorzugt auf die pfeilgerade Dynamik, um schnell und auf kurzem Wege ans Ziel zu gelangen. Aus Sicht der Bionik (Biologie und Technik) hätte sich die Menschheit den Irrweg der linearen Mechanik ersparen können.
Die Kraft kommt aus der Stille, die allerdings dem lauten Zeitgeist geopfert wurde.
Bereits vor mehr als 200 Jahren hatte Goethe diese Entwicklung im zweiten Teil des Faust thematisiert. Faust erscheint im 5. Akt als Ingenieur und »Weltverbesserer«. In seinem Vorwärtsdrang bricht er in die heile Welt von Philemon und Baucis ein. Dieses alte Paar lebt noch gottesfürchtig und im Einklang mit seiner natürlichen Landschaft am Meer. Faust dagegen möchte dem Wasser Land abgewinnen, das einfache Leben von Philemon und Baucis passt so gar nicht in das Faust’sche Weltbild:
Die Sonne sinkt, die letzten Schiffe,
Sie ziehen munter hafenein.
Ein großer Kahn ist im Begriffe,
Auf dem Kanale hier zu sein.
Die bunten Wimpel wehen fröhlich,
Die starren Masten stehn bereit;
In dir preist sich der Bootsmann selig,
Dich grüßt das Glück zur höchsten Zeit.
In diesem Moment klingt das kleine Glöckchen der Kapelle und erinnert Faust an Philemon und Baucis in ihrer engen Verbindung zur Schöpfung, und er ruft zornig aus:
Verdammtes Läuten! Allzu schändlich
Verwundet’s, wie ein tückischer Schuss;
Vor Augen ist mein Reich unendlich,
Im Rücken neckt mich der Verdruss.
Faust ist ganz auf Gewinnmaximierung eingestellt. Bescheidenheit, Natürlichkeit in Verbindung mit einem urwüchsigen Gottvertrauen, wie Philemon und Baucis es vorleben, ist für Faust ein unnützes Abschweifen in die Ewigkeit, wenn er ausruft:
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, lässt sich ergreifen.
Diese technische Welt entspricht der linearen Mechanik, sie ist schnell, direkt, sie peilt ihr Ziel auf geradem Wege an. Dynamische Prozesse sind der Natur fremd, natürliche Landschaftsformen kennen nicht die diretissima. Ein ursprünglicher Fluss schwingt in Mäandern großzügig in Zeit und Raum durch die Landschaft, die der Mensch inzwischen jedoch nachhaltig im Sinne der linearen Mechanik verändert hat. Kanalisierung statt Mäander, lautete das Motto, das Wasser floss schneller, und die Hochwassergefahr ist gewachsen.
Das prägende Energiekonzept natürlicher Prozesse ist nicht die pfeilgerade Dynamik, sondern die logarithmische Spirale.
Die logarithmische Spirale hat ihren eigenen Rhythmus, der durch den ständigen Wechsel der Gegensätze bestimmt wird. Diesen prägenden Rhythmuswechsel kennt die lineare Mechanik nicht. Das Wechselspiel der Spirale im Austausch sich gegenüberliegender Extreme ist das Grundprinzip natur-richtiger Bewegungen. Dabei ist das Ziel der logarithmischen Spirale klar ausgewiesen: Balance, Harmonie, Gesundheit, Sinn, Werte, Glaube. Die Gesundheit ist für den Menschen ein Leben lang ein wichtiges, wenn auch nicht das einzige Ziel. Unser Schicksal ist es aber, dass die absolute Gesundheit vielfach eine Wunschvorstellung ist, die zum Greifen nah erscheint, jedoch nie zum festen Bestandteil unseres Lebens wird. Ein Leben lang müssen wir uns auf den Weg machen, um uns nach dieser Vollkommenheit zu strecken, und in Wirklichkeit sind wir immer nur mehr oder weniger gesund.
Noch einmal: Nicht der Pfeil in seiner direkten Dynamik, sondern die logarithmische Spirale mit ihren gegensätzlichen Schwingungsbahnen ist das prägende Energiekonzept der Natur. Auf diesen langen Wegen spielen natürliche Prozesse in Zeit und Raum ihr Wachstumspotenzial aus. Der Mensch in seiner dynamischen Ausrichtung hat einer permanenten Beschleunigung den Vorzug eingeräumt, in der Zeit und Raum in einer linearen Gerade verschmelzen:
Flüsse fließen in spiralförmigen Mäandern, der Mensch hat sie kanalisiert. Damit hat er das Wassers schnell gemacht, abzulesen an den ständig steigenden Hochwasserkatastrophen.
Blumen, Bäume, Pflanzen ranken sich dem Sonnenlicht entgegen, sie wählen nicht die schnelle Gerade, sondern den Umweg der Spirale. Spektakulär in Szene gesetzt in großen Höhen gegen Wind, Regen und Schnee. Korkenzieherartig schrauben sich die Bäume auf Korsika in 1800 Metern Höhe dem Sonnenlicht entgegen, nur so ist ein optimaler Energiegewinn möglich; das gleiche Verhalten zeigen die Arven oder Zirbelkiefern in Graubünden und Tirol.
Der Mensch baut seinen Wohnraum linear mit Ecken und Kanten. Die Schnecke wählt bei ihrem Wunderwerk den Weg der Selbstähnlichkeit, wobei jede neue Schicht in ihrem Wachstum der vorangegangenen ähnelt, jedoch niemals identisch ist. Womöglich liegt hier auch der Grund, warum wir uns in alten Klostergewölben so wohl fühlen. Von dieser Baukunst war schon ein Leonardo da Vinci in den Bann gezogen, für ihn war die Natur mit ihren logarithmischen Spiralen Vorbild. Nur so ist es zu erklären, dass die
Mona Lisa
bis in die Gegenwart hinein Menschen in ihren Bann zieht.
Trifft in einer Strömung schnelles Wasser auf langsames, sind spiralförmige Wasserwirbel die Folge, die dem Fluss seine Lebendigkeit verleihen. Das sind die betörenden Grenzflächensituationen in der Natur, entstanden aus der direkten Konfrontation im Wechsel von einem Extrem zum anderen. Das ist das Phänomen des Zwielichts in der Morgendämmerung oder des Abendrots beim Übergang vom Tag zur Nacht.
Das prägende Energiekonzept der logarithmischen Spirale ist aber nicht nur in der Natur anzutreffen, sondern auch im menschlichen Organismus. Die steuernden Kommandozentralen in unserem Körper sind spiralförmig aufgebaut:
Die Erbsubstanz der DNA ist eine Doppelhelix.
Die Mitochondrien, unsere Kraftwerke, sind spiralförmig angeordnet.
Das Herz in seinem Dauereinsatz ist kein Motor, sondern ein spiralförmiges Turboaggregat, das nach dem Prinzip der Raumverkleinerung-Raumerweiterung arbeitet.
Auch die leistungsstarken Spermien haben spiralförmige Triebwerke.
Die Fingerkuppe, unser persönliches Markenzeichen, ist eine Spirale.
Nur die Spirale kann die unendlichen Variationen zustande bringen, die in diesem kleinen Areal untergebracht werden müssen, um kleinste Veränderungen bei fast sieben Milliarden Menschen zu ermöglichen. Das könnte der Kreis nicht.
Die Hand mit der Oppositionsstellung des Daumens ist eine Spirale, dabei beschreibt jede Fingerbeugung den Bogen der logarithmischen Spirale.
Zwei lineare Gelenkachsen müssen im oberen und unteren Sprunggelenk zusammengebracht werden, damit der Fuß spiralförmig am Boden abrollen kann. Die Verbindung von zwei Geraden bei optimalem Energietransfer ermöglicht nur die logarithmische Spirale, am Fuß ebenso, wie bei der Verbindung der Nord-Süd- mit der Ost-West-Autobahn. Um ein Auto von hoher auf niedrige Geschwindigkeit einzustellen, darf sich der Bogenradius analog zur logarithmischen Spirale nur langsam verkleinern. Das kann der Kreis nicht, in einer Kreisverbindung mit konstantem Kurvenradius würden die Autos beim Eintritt in eine Kreisverbindung in relativ hoher Geschwindigkeit unweigerlich aus der Kurve getragen.
Um beide Bewegungsachsen zusammenzubringen, müssen wir beide Sprunggelenke spiralförmig als Sprungfeder verschrauben, so entsteht die natur-richtige Bewegung im Schwerkraftfeld. Ein Fersenabsatz ist in diesem Rollfeld nicht vorgesehen!
Die führende Bewegungsachse im oberen Sprunggelenk verläuft praktisch horizontal. Hierdurch kann der Fuß nach oben angehoben und nach unten abgesenkt werden, wie das beim Abrollen am Boden zwischen Fersen-Vorfußbelastung der Fall ist. Parallel läuft gleichzeitig eine Drehbewegung über das untere Sprunggelenk, dessen Bewegungsachse vorwiegend vertikal ausgerichtet ist. Sie bewirkt eine zusätzliche Kombinationsbewegung, in der anfangs der äußere Fußrand in Sinne der Supination gesenkt, anschließend der vordere, innere Fußrand gesenkt wird (Pronation). Diesen Ablauf können Sie an Ihren Schuhsohlen ablesen, die sowohl im Absatzbereich außen (Supination), als auch vorn-innen (Pronation) abgelaufen sind.
Doch im Stressalltag sind wir als absatzbetonte Vorfußgeher vorwiegend auf harten Platten unterwegs. Allein der hohe Absatz erzwingt die betonte Vorfußbelastung, d.h. in der vorderen Landephase des Fußes setzen wir den Fuß nicht mehr natur-richtig und zeitgerecht mit der Außenkante der Ferse auf, sondern kippen ihn überfallartig über den hohen Absatz verfrüht auf den Vorfuß. Dieser vordere Fußabschnitt wird durch den Absatz zu früh und zu stark belastet, dagegen sollte bei der ersten Bodenlandung des Fußes betont und zeitgerecht die Außenkante der hinteren Ferse zum Einsatz kommen. Nur so wird der vorderen Schienbeinmuskulatur (Musculus tibialis anterior) die Gelegenheit gegeben, sich muskulär in den Gehvorgang einzubringen, der Vorfuß wird angehoben, und das bei gleichzeitiger Längenerweiterung des Wadenmuskels und der Achillessehne.
Auf den primären Fersenschub bei jedem Schritt kommt es an!
Dies ist der entscheidende Moment bei jedem Schritt, den wir unternehmen, der das rhythmische Wechselspiel zwischen Synergisten (Beugemuskel) auf der einen Seite und anderseits zu den Antagonisten (Streckmuskel) bestimmt. Nur so erhalten die Wadenmuskeln genügend Sauerstoff, nur so können Wadenkrämpfe, Muskelrisse und die zahlreichen Achillessehnenbeschwerden durch das absatzbetonte Vorfußgehen verhindert werden.
Der bei uns vorherrschende Absatzschuh macht uns allerdings einen Strich durch die Rechnung, denn bereits bei der vorderen Fußlandung wird der Vorfuß zu früh und zu stark belastet. Dabei ist sein eigentlicher Einsatzort die hintere Abstoßphase des Fußes am Boden, wenn mit der Kraft der Wadenmuskel der Vorfuß zwischen der ersten und zweiten Zehe abgestoßen wird, um den Körper nach vorne zu treiben. Der Absatz im Schuh führt automatisch zu einer Doppelbelastung des Vorfußes: einmal bereits bei der vorderen Fußlandung und zum anderen beim hinteren Abstoßen des Vorfußes vom Boden.
Hierdurch wird aus einer natur-richtigen eine natur-unrichtige Bewegung, Auslöser für zahlreiche Funktionsstörungen, ausgewiesen durch Wadenkrämpfe, Wadenmuskelzerrungen und -risse, Achillessehnenbeschwerden, Fersenspornbildungen, Krallenzehen. Diese spezielle Form von Muskelstress ist im Sprint und im klassischen Ballett am stärksten ausgeprägt, den extremsten Formen einseitiger Vorfußbelastung.
Über die primäre Fersenbelastung in der vorderen Stützphase erfolgt die Dehnung der Wadenmuskeln durch den betonten Einsatz der vorderen Schienbeinmuskulatur. Nur hierdurch erhalten die Wadenmuskeln für einen kurzen Moment die dringend notwendige »Sauerstoffspritze«, um eine hohe Leistung auch auf Dauer aufrechterhalten zu können.
Mit den Waden wird auch die Achillessehne über ihre Grundlänge hinaus gedehnt. Für die große Sehne ist die Dehnung leistungsbestimmend, denn nur so kann sie ihren Katapulteffekt beim Gehen oder Laufen ausspielen. Wir müssen nämlich wissen: Muskeln sind ein kontraktiles Gewebe, das sich aktiv verkürzen kann. Das kann die Sehne nicht, denn sie verfügt ausschließlich über potenzielle Lageenergie elastischer Fasern, die ihre Bewegung nur passiv durch die Längenerweiterung über den Katapulteffekt ausspielen können. Dieser »Achillessehnen-Turbo« zündet aber nur im Moment der Fersenbelastung in der vorderen Stützphase, ausgelöst durch die Anspannung der vorderen Schienbeinmuskulatur. Gleichzeitig ist das Kniegelenk beim vorderen Fußeinsatz am Boden leicht gebeugt, um so die Erschütterungen des harten Bodens auf Hüftgelenke und Wirbelsäule zu mildern.