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Nach der letzten Tour des Tages entdeckt der taxifahrende Philosoph und gebürtige Däne Kökkenmöddinger spätnachts unter einer Elbbrücke einen zitternden Obdachlosen. Wenige Tage später ist der Mann tot, und unser sächselnder Däne mit dem unaussprechlichen Namen findet heraus, dass es sich bei dem Toten um Jochen Wegbaum handelt, Zeitungsjournalist, der an einer Geschichte dran war, die schließlich zu heiß wurde: Systematisch werden in der Galerie Neue Meister Originale durch Fälschungen ausgetauscht. Aber wer steckt dahinter? Noch ehe er es sich versieht, findet sich Kökkenmöddinger in einem brisanten und undurchsichtigen Katz-und-Maus-Spiel wieder, bei dem es am Ende nur einen Sieger geben kann. Christine Sylvester, deren Kriminalromane um die Ermittlerin Lale Petersen bereits Kultstatus genießen, schickt ihren neuen Helden durch ein wahrlich mörderisches Dresden, das so in keinem Reiseführer zu finden ist. Ehrlich und direkt, wie man es von den Dresdnern kennt, und mit einer gehörigen Priese dänischem Humor ist dieser Krimi nichts für schwache Gemüter!
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Seitenzahl: 256
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Christine Sylvester
Neue Meister, alte Sünden
Kökkenmöddingers erster Fall
Ein Dresden-Krimi
Bild und Heimat
Mein besonderer Dank gilt Katja Ezold, die nicht nur mich, sondern auch meine Hauptfiguren stets gern mit originellen Rezepten versorgt. www.katjas-buecher-und-rezepte.de
ISBN 978-3-86789-496-8
1. Auflage
© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © Akira Yozora, Photocase
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstraße 1
10178 Berlin
Tel. 01805/30 99 99
(0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)
www.bild-und-heimat.de
Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden.
Sokrates
1. Feierabend
»Zwölf Euro vierzig, bitte.« Kökkenmöddinger deutete auf den Taxameter. »Twelve forty please.«
Die Fahrgäste plauderten munter durcheinander, und einer zückte das Portemonnaie. »Wo ist diese beergarden?«
»Quite above.« Kökkenmöddinger zeigte die Treppe hinauf zur Waldschlösschen-Brauerei mit dem großen Biergarten. »Nur die Treppe hinauf.«
Er drückte Kökkenmöddinger zwanzig Euro in die Hand. »Thanks. Auch für den Tipp. Dresden is wonderful.«
Kökkenmöddinger lächelte gequält.
Er hatte die Fahrgäste am Theaterplatz im strömenden Regen aufgesammelt, als er eigentlich gerade eine Pinkelpause machen wollte. Diesen Biergarten hatte er ihnen empfohlen, weil an diesem ein Lokal angeschlossen war, sie also so trocken blieben, und um ausnahmsweise pünktlich seine Schicht zu beenden. Seine Blase drückte. Er musste nur noch über die Waldschlösschenbrücke fahren, dann war er fast zu Hause.
Der Regen wurde immer stärker. Kökkenmöddinger fädelte sein Taxi in den spärlichen nächtlichen Verkehr ein und steuerte es hinüber auf die Altstädter Elbseite. Warum waren um diese Zeit noch alle Ampeln in Betrieb? So ein Unsinn.
Ungeduldig verfolgte er die schnelle Bewegung der Scheibenwischer und das herabrauschende Wasser. Der Druck auf die Blase wurde immer stärker. Er konnte unmöglich warten, bis er den Wagen einige Straßen weiter geparkt hatte und mit dem Aufzug im zwölften Stock ankam.
Als die Ampel freie Fahrt signalisierte, bog er kurzerhand nach rechts statt nach links ab und lenkte den Wagen unter der Brücke an den Straßenrand.
Er eilte im Schutz der Brücke ein Stück Richtung Elbe hinunter und erleichterte sich hinter einem der Brückenpfeiler.
Als er seine Hose schloss und sich zum Gehen wandte, erschrak er. Nur wenige Meter entfernt lag etwas Dunkles. Kökkenmöddinger trat zögernd näher. Eine Decke … und darunter war jemand verborgen. Er schluckte. Ein Mensch, der sich nicht rührte. Vorsichtig berührte er den Fremden mit der Hand und zog sie gleich wieder zurück. Er fröstelte. Sauwetter. Er legte dem Fremden erneut die Hand auf die Schulter und fuhr herum, als diese sich bewegte.
»Was ist?« Ein Mann setzte sich auf.
Vermutlich konnte er ihn genauso wenig erkennen wie Kökkenmöddinger sein Gegenüber. Der Schein der beleuchteten Brückengeländer bot nur diffuse Beleuchtung von den Seiten.
»Entschuldigen Sie bitte«, verlangte Kökkenmöddinger. »Ich wollte Sie nicht stören, ich war nur besorgt.«
Der Fremde schnaufte. »Sie haben mich erschreckt.«
»Das tut mir leid.« Kökkenmöddinger bemerkte, dass der Mann zitterte. »Sie sollten bei diesem Wetter nicht mit so einer dünnen Decke hier herumliegen.«
»Interessiert Sie das tatsächlich?«, fragte der Fremde gereizt.
»Natürlich.« Kökkenmöddinger blieb höflich wie immer. »Und ich könnte mir denken, dass Ihnen daran gelegen wäre, einen Schnupfen zu vermeiden.«
»Sind Sie ein Streetworker oder so was?«
»Nun, ich arbeite tatsächlich auf der Straße«, erklärte Kökkenmöddinger.
»Und da sammeln Sie also des nachts Obdachlose ein?« Er hustete.
»Für gewöhnlich sammle ich Fahrgäste ein.« Kökkenmöddinger klopfte dem Fremden auf den Rücken. »Dort vorn steht mein Taxi. Kommen Sie mit! Ich habe zu Hause ein Gästezimmer.«
»Ich soll mit zu Ihnen nach Hause kommen?«, keuchte der Mann ungläubig.
»Genau. Hier holen Sie sich doch den Tod.« Kökkenmöddinger half ihm aufzustehen. »Also, los!«
Zwölf Stockwerke lang hatte Kökkenmöddinger im Lift Gelegenheit, seinen Gast eingehend zu betrachten. Er trug eine auffallend helle und elegante Lederjacke und passende Schuhe, die sicher nicht billig gewesen waren. Bis auf seinen Bartschatten wirkte er alles andere als verwahrlost oder obdachlos. Mehr wie ein gestrandeter Dandy. »Wir müssen leise sein, weil meine Mitbewohnerin schläft. Die muss um vier Uhr raus.«
»Frühschicht?«, fragte der Fremde leise, während Kökkenmöddinger die Wohnungstür aufschloss.
»So ähnlich.« Er öffnete leise die Tür und machte Licht. »Sie moderiert beim Radio die Morgensendung.«
Kökkenmöddinger bot ihm einen Platz an und öffnete eine Tür. »Ich wohne mit Jelena und diesem dritten Zimmer. Manchmal wohnen Freunde von uns hier doch derzeit steht es leer.«
Der Fremde sah sich um. »Gemütlich habt ihr es. Danke für die Gastfreundschaft.«
Kökkenmöddinger ging zum Kühlschrank. »Ein Bierchen?«
»Da sage ich nicht nein.«
Kökkenmöddinger öffnete eine Flasche und reichte sie ihm. »Wie heißt du?« Er prostete ihm zu. »Ich bin Kökkenmöddinger.«
»Jochen.« Der Gast trank. »Kökkenwas?«
»Kökkenmöddinger.« Er schmunzelte. »Alle nennen mich so. Eigentlich heiße ich Tjelle Rasmus Kökkenmöddinger. Aber Kökkenmöddinger gefällt mir am besten. Und es klingt so schön, wenn die Sachsen es aussprechen …«
»Nu, klar, Göggenmöddinger.« Jochen lachte. »Kommst du aus Skandinavien?«
»Aus Dänemark.« Kökkenmöddinger nickte.
»Wie kommt ein Däne dazu, in Dresden Taxi zu fahren?«, fragte Jochen.
»Wie kommt ein Mann wie du dazu, unter der nächsten Brücke zu nächtigen?«, konterte Kökkenmöddinger und musterte Jochen aufmerksam. »Du bist nicht der klassische Obdachlose.«
»Das ist eine lange Geschichte.« Jochen seufzte.
Kökkenmöddinger sah auf die Uhr und griff zur Bierflasche. »Geschichten, die länger dauern als ein Feierabendbier, sollten wir auf morgen verschieben. Scoll!«
2. Frühstück
»Guten Morgen, mein Freund«, begrüßte Kökkenmöddinger seinen Gast. »Ich habe uns ein leckeres Frühstück gemacht.« Er stellte Teller voll Fisch und Käse auf den Tisch. »Ein kleines Wikingerfrühstück.«
Jochen nahm Platz. »Das ist ein opulentes Mahl. Ich bin beschämt.«
»Nicht doch«, winkte Kökkenmöddinger ab. »Hast du gut geschlafen?«
»Wie ein Murmeltier.« Jochens Blick wanderte über den Tisch. »Ich merke gerade, dass ich gar nicht mehr weiß, wann ich zuletzt etwas gegessen habe.«
»Greif zu!« Kökkenmöddinger lud Lachs, Rollmops, Käsestücke und heißen Toast auf und reichte ihm den Teller. »Und dann erzählst du mir, warum du unter der Brücke gelegen hast wie Diogenes in seiner Tonne. Weder siehst du aus wie ein Landstreicher noch warst du betrunken. Also, was ist vorgefallen?«
Jochen gabelte ein Stück Käse auf. »Ich konnte nicht nach Hause, also nicht in meine Wohnung …« Er schob sich den Käse in den Mund und kaute.
»Hat deine Frau dich vor die Tür gesetzt?« Um Kökkenmöddingers Augen zeigten sich Lachfältchen. »Was hast du angestellt? Hast du sie betrogen?«
»Nein, nein«, wehrte Jochen ab.
»Dann hat sie einen Anderen?« Kökkenmöddinger schenkte Tee ein. »Ich weiß, Frauen sind schwierig. Manche sogar sehr.« Er seufzte.
»Das mag sein«, gab Jochen zu. »Aber ich habe gar keine Frau.«
Kökkenmöddinger lachte. »Das kann einem das Leben erleichtern. Aber bei dir scheint auch ohne die holde Weiblichkeit etwas schiefzulaufen.«
Jochen nickte und schob sich ein Stück Fisch in den Mund. »Mein Job …«
»Du hast ihn verloren?«, bohrte Kökkenmöddinger weiter.
»Nein, nicht wie du denkst.« Jochen schien zu überlegen. »Ich habe mich mit den falschen Leuten angelegt.«
»Aaah.« Jetzt wurde es spannend. Kökkenmöddinger zog die Augenbrauen hoch. »Dann hast du …«
Genau in diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür, und Jelena kam herein. Obwohl sie von der Arbeit kam und bereits in aller Frühe aufgestanden war, sah sie fantastisch aus. Kökkenmöddinger betrachtete sie, wie immer, wenn sie sich begegneten, was sie für seinen Geschmack viel zu selten taten. Und das, obwohl sie gemeinsam diese Wohnung bewohnten und doch etwas mehr als gute Freunde waren. Leider nur etwas, denn Jelena, seine schöne zarte Liebe, hielt ihn auf Abstand. Und er, der alte Trottel, harrte aus und nahm, was er von ihr bekommen konnte … hin und wieder ihre Gesellschaft, Gespräche, ab und zu etwas Streit, und sogar gelegentlich ein paar Zärtlichkeiten und Sex. Das war zwar viel zu wenig, wenn es nach ihm ging, aber wenig war immer noch besser als nichts. Und eines Tages, da war Kökkenmöddinger noch immer zuversichtlich, würde Jelena ihre Gefühle für ihn zulassen. Und dann wäre er da und würde sie auf Händen tragen.
»Guten Morgen.« Jelena räusperte sich. »Das Frühstück sieht aber gut aus.«
»Setz dich, meine Liebe.« Kökkenmöddinger stand auf und holte ein weiteres Gedeck aus der Küche. »Wie verlief deine Sendung?«
»Wie immer.« Jelena hängte ihre Tasche über den Stuhl. »Hallo!«
»Das ist übrigens Jochen«, stellte Kökkenmöddinger vor. »Jochen, das ist meine …«
»Jelena.« Sie schüttelte Jochens Hand.
Jochen ergriff flüchtig die Hand, nickte Jelena zu und starrte dann auf seinen Teller.
Jelena betrachtete Jochen, und Kökkenmöddinger bemerkte sofort, dass er ihr Interesse weckte. Wie immer versetzte ihm ihre Aufmerksamkeit für andere Männer einen kleinen Stich.
»Angenehm.« Jochen sah auf die Uhr. »Oje, schon so spät. Ich muss los!« Er sprang auf. »Vielen Dank für das Frühstück, für das Bett, für alles.« Einen Augenblick lang wirkte es so, als wollte er Kökkenmöddinger noch etwas mitteilen. Doch dann murmelte er nur noch etwas wie »Wir sehen uns wieder« und verließ eilig die Wohnung.
Jelena sah erst hinter ihm her und dann Kökkenmöddinger an. »Was war das denn jetzt?«
»Keine Ahnung.«
»Offenbar habe ich ihn verscheucht. Komischer Typ.« Sie schenkte sich Tee ein. »Der kommt mir so bekannt vor.«
»Du kennst Jochen?«, hakte Kökkenmöddinger nach. Er spürte erneut diesen leichten Stich.
»Ich weiß nicht. Der Name sagt mir nichts, aber das muss nichts heißen.« Sie nahm sich eine Scheibe Toast und verstrich etwas Butter darauf. »Woher kennst du ihn denn?«
»Ich habe ihn gestern Abend noch aufgelesen«, wich Kökkenmöddinger aus. »Die späten Schichten sind manchmal einsam.«
»Apropos einsame Schichten.« Jelena warf ein Stück Lachs auf ihren Toast. »Seit vier Wochen übernehme ich jetzt jede Morgensendung. Und was meinst du, wer heute Abend auch noch übernehmen darf?«
»Du musst auch heute Abend moderieren?« Kökkenmöddinger war froh, das Thema zu wechseln.
»Ein Kollege fällt aus.« Jelena biss ins Brot. »Irgendwann setzt mich diese neue Programmchefin vermutlich rund um die Uhr ans Mikro«, stieß sie kauend hervor. »So eine verdammte Sauerei!«
»Sie hört deine Stimme vermutlich ebenso gerne wie ich.« Kökkenmöddinger schmunzelte. »Ernsthaft, du bist halt einfach gut.«
»Fang du auch noch an!«, höhnte Jelena. »Die haben nur alle keine Lust, die Sendung zu übernehmen, weil heute Abend ein langweiliger Studiogast kommt. Irgendein Kunstfuzzi, der die Hörer wahrscheinlich ins Koma doziert. Und wer darf es wieder ausbaden? Ich.«
3. Was ist da los?
Wie schon der Nachmittag schien auch der Abend ruhig zu bleiben. Kökkenmöddingers Taxi stand in der Österreicher Straße in Laubegast. Noch drei Wagen warteten vor ihm, und Fahrgäste waren bei dem schönen Wetter und um diese Zeit nicht in Sicht. Es würde noch dauern, bis er eine Fuhre bekam.
Kökkenmöddinger schnaufte und stellte Radio Elbradar ein. Das übliche Hitgedudel plätscherte belanglos vor sich hin. Musik, die weder begeisterte noch störte. Das musste man erst einmal schaffen, stundenlang nur Belangloses zu senden. Er hörte diesen Sender nur, um hin und wieder Jelenas Stimme zu hören – auch wenn sie natürlich professionell nur Belanglosigkeiten absonderte.
So sehr Kökkenmöddinger das Taxifahren liebte, lange Wartezeiten waren manchmal lästig. Er warf einen Blick ins Handschuhfach, in dem er immer ein paar Bücher herumfuhr. Denn am liebsten vertrieb er sich die Zeit noch immer mit Philosophie. Besonders die deutschen Philosophen hatten es ihm angetan. Sie machten alles gründlich kompliziert und drückten sich sperrig aus. Kökkenmöddinger hatte eine diebische Freude an Heideggers Sprachdesaster, Adornos Theoriebezügen und vor allem am nahezu unverständlichen Hegel. Die deutschen Denker hatten ihn zum Studium nach Deutschland gezogen. Und nun musste er seinen Kopf fit halten. Obwohl er seine Doktorarbeit in Philosophie mit summa cum laude abgeschlossen hatte, befürchtete er immer noch, wichtige Erkenntnisse einzubüßen.
Im Radio verplätscherten die letzten Takte einer fröhlichen Melodie. Dann hörte Kökkenmöddinger Jelenas Stimme und seufzte. Sie hatte eine wunderbare Stimme: tief und dennoch weiblich, mit einem lasziven Hauch, der die Ohrmuscheln streichelte. Er achtete gar nicht darauf, was sie sagte, sondern lauschte nur. Schon stampften wieder die Beats. Schade.
Kökkenmöddinger stellte das Radio ab und stieg aus dem Auto. Seine Kollegen standen beisammen und rauchten. Wenigstens eine lästige Angewohnheit, die er nicht hatte. Er aß zu gern und zu viel und liebte sein Feierabendbier, und mit Jelena trank er zum Essen auch gern einen Wein.
»Heute tut sich nischt.« Ein Kollege nickte ihm zu. »Wenn ich könnte, wie ich wöllte, ich würd Feierabend machen.«
Kökkenmöddinger lächelte über diesen sächsischen Konjunktiv. »Wöllte« – das klang ähnlich wie eine Heideggersche Wortschöpfung. Er steckte sein Handy in die Jackentasche. »Ich gehe mir mal ein bisschen die Beine vertreten. Sagt mir Bescheid, wenn ich nachrücken kann.«
Er lief die schmale Straße hinunter in Richtung Elbe. Er mochte diese Gegend, nur am Wochenende war ihm an der Elbinsel zu viel Betrieb. Vor allem zu viele Radfahrer, also Leute, die Straßen und Wege verstopften und nicht als Kundschaft taugten. Da waren ihm Autofahrer lieber, noch lieber natürlich erschöpfte Fußgänger.
Hoppla! Kökkenmöddinger war so in Gedanken, dass er fast mit einem Polizisten zusammengestoßen wäre. »Entschuldigung.«
Der Uniformierte schien vor ihm ein Stück zu wachsen. »Hier ist kein Durchgang, alles gesperrt.«
»Ach so? Ich sehe gar keine Absperrungen.« Kökkenmöddinger sah sich aufmerksam um. Weiter unten am Ufer standen noch zwei Polizisten und schienen eine Gruppe von Menschen zu bewachen. »Ist denn etwas passiert?«
Der Polizist guckte finster. »Hier ist gesperrt.«
Kökkenmöddinger reckte sich leicht, um besser sehen zu können. Doch er war ohnehin einen Kopf größer als sein Gegenüber und sah, dass die beiden anderen Polizisten nun den Radweg blockierten.
»Bitte, gehen Sie jetzt zurück«, verlangte der Uniformierte.
»Das ist schlecht. Ich muss mal pinkeln«, log Kökkenmöddinger.
»Aber doch nicht hier!«
»Nein, aber dort vorn ist ein Lokal.«
Der Polizist schnaufte. »Gut, dann gehen Sie eben schnell noch durch. Aber zurück nehmen Sie die nächste Straße. Wir machen jetzt alles dicht.«
»Und warum?« Jetzt sah Kökkenmöddinger, dass Bewegung in die Menschengruppe am Ufer kam.
Der Uniformierte wandte sich ab, um Radfahrer anzuhalten. Kökkenmöddinger nutzte die Gelegenheit, um ein Stück die Böschung hinunterzulaufen und einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Viel konnte er nicht erkennen. Eine helle Jacke am Boden erregte seine Aufmerksamkeit, und ein Schuh, der dazu passte. Er trat näher an die Gruppe heran. Die Jacke sah genau so aus wie die, die sein Gast Jochen getragen hatte. Und dann der Schuh … Keine Frage, das war Jochen mit seinem Dandy-Outfit, der da am Boden lag. Jochen mit der geheimnisvollen Geschichte …
Kökkenmöddingers Handy piepste. Gereizt nahm er das Gespräch entgegen. »Ja? Bei der Arbeit!«
»Nun, offenbar nicht.« Es war Sarah aus der Zentrale. »Ein Kunde wartet am Taxistand. Er sagt, es stehe nur ein verlassener Wagen herum.«
»Ich musste mal«, sagte Kökkenmöddinger. »Bin sofort wieder beim Wagen.« Er steckte das Handy weg, ging die Böschung hinauf über den Radweg zur Straße. Auf halbem Weg zum Taxistand an der Ecke Österreicher Straße kam ihm ein Kombi mit verdunkelten Scheiben entgegen. Ein Leichenwagen. Kökkenmöddinger bekam eine Gänsehaut. Jochen …
Schnell schüttelte er den Gedanken ab und lief auf die Fahrgäste zu, die neben seinem Taxi warteten. Sie waren sichtlich angeheitert und winkten ihm fröhlich zu. »Gut gepullert?«, fragte einer mit Bierfahne.
Kökkenmöddinger nickte knapp. »Wohin soll’s denn gehen?«
»Zum Flughafen«, hauchte die Bierfahne und kicherte blöde.
Kökkenmöddinger hielt ihnen die Türen auf. »Gern. Solange Sie nicht der Pilot des nächsten abhebenden Fliegers sind.«
»Wir sind die Stewardessen«, sagte einer schleppend. Alle drei grölten.
Kökkenmöddinger stieg ein und aktivierte den Taxameter. Immerhin lohnte sich eine Fuhre von Laubegast bis zum Flughafen.
4. Bilder im Kopf
»Nein!« Kökkenmöddinger wand sich, schwitzte. »Nein, lasst mich gehen!«
Schritte entfernten sich, er starrte in vollkommene Dunkelheit und spürte Angst in sich hochkriechen. Nein, nicht in Panik geraten! Er musste sein Gehirn beschäftigen. Was wusste er über Angst? Wie sagte Kant: »Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen«. Er musste unbedingt seinen Kopf anstrengen. Das half.
Kökkenmöddinger zerrte an seinen Fesseln. Keine Chance, er würde seine Handgelenke nicht befreien können. Er saß fest – in unbekannter Umgebung und tiefer Finsternis. Es stank faulig und nach Fäkalien.
»Denk!«, rief er sich erneut zur Ordnung, als nun der Ekel seine Eingeweide zusammenzog. »Denk an das, was du gelernt hast! Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie« – war das auch von Kant? Warum fiel ihm nur Kant ein? Epikur war doch der Denker, der sich mit der Überwindung der Furcht beschäftigt hatte. »Denn alles, was gut, und alles, was schlecht ist, ist Sache der Wahrnehmung.«
Kökkenmöddinger schnaufte. Wie sollte er Fesseln, Gestank, Dunkelheit, Kälte und Angst als gut wahrnehmen? Philosophie. Er hätte lieber Kampfsport erlernen sollen. Was half ihm sein tonnenschwerer Philosophenkopf schon bei einem Überfall!
»Kraftedame lort! Verdammte Scheiße!« Sein Ruf hallte. Offenbar befand er sich in einem großen hohen Raum, einer Halle vielleicht. Der Boden war rau, wirkte porös wie bröckeliger Beton.
Es gab häufig Überfälle auf Taxifahrer. Die Bedrohung fuhr immer mit. Die Täter waren bewaffnet oder wurden handgreiflich, raubten Geld. Ein Kollege von ihm war sogar vor einigen Jahren bei einer Messerstecherei getötet worden. Auch Taxifahrermorde machten immer wieder Schlagzeilen in der Boulevardpresse. Aber das hier? Sie verschleppten ihn irgendwohin und nahmen seinen Wagen. Mit dem Taxi würden sie nicht viel anfangen können. Wenn er sich in der Zentrale nicht meldete, der Wagen verschwunden war … Sobald der Wagen irgendwo auftauchte, würde man nach ihm suchen. Kökkenmöddinger atmete kurz auf. Natürlich!
Doch was, wenn die Verbrecher vorher wiederkamen? Schließlich hatten sie ihn nicht einfach irgendwo abgesetzt, sondern ihn verschleppt und versteckt. Die Fragen ballten sich in seinem Kopf zu einem Klumpen zusammen. Hatten sie ihn nur vorübergehend aus dem Verkehr gezogen? Er fröstelte. Aber warum? Was hatten sie mit ihm vor? Was sollte er hoffen? Dass sie bald wiederkamen? Dass sie nie wiederkommen würden? Wie oft hatte man schon von Entführungen gelesen, die tödlich ausgingen, weil die Geisel nicht gefunden werden konnte …
»Neiiin!« Kökkenmöddinger spürte eine Hand an seiner Schulter. Als er die Augen aufriss, blickte er in Jelenas Gesicht. »Du?«
Sie ließ sich auf der Sofalehne nieder und sah ihn besorgt an. »Hattest du wieder diesen Traum?«
Kökkenmöddinger rappelte sich auf. »Ich muss eingeschlafen sein. Ich habe … ich dachte …«
»Hört das denn nie auf?« Jelena seufzte. »Du hättest damals doch eine Therapie machen sollen.
»Ach was«, winkte Kökkenmöddinger ab. »Dann wäre ich doch meinen Job losgeworden. Einen Taxifahrer mit Psychomacke nimmt keiner.«
»Eben drum«, sagte Jelena. »Aber ich will nicht mit dir streiten. Hast du auf mich gewartet?«
Kökkenmöddinger rieb sich die Augen. »Ja.«
»Das ist lieb von dir.« Jelena lächelte.
»Hast du Informationen darüber, was gestern in Laubegast los war?«, hakte Kökkenmöddinger nach. »An der Elbinsel waren Polizei und ein Leichenwagen. Haben die dort einen Toten gefunden?«
»Ach, daher weht der Wind. Und ich dachte schon, du wolltest Zeit mit mir verbringen.« Jelena verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Dann schien sie zu überlegen. »Doch, es kam eine Meldung über die Agenturen. Aber ich habe das nicht weiter verfolgt. Ein unbekannter Toter passte nicht in meine Sendung.«
»Kannst du mir ein paar Informationen besorgen?«
»Jetzt?« Jelena tippte sich an die Stirn. »Du spinnst wohl. Ich habe den ganzen Abend mit diesem Kunstmenschen verbracht. Zwischendurch habe ich ihm zweimal einfach das Mikro zugedreht. Ich hatte ja schon Schwierigkeiten, bei seinem Geschwafel nicht einzuschlafen.« Sie verdrehte die Augen. »Ich fürchte, wir hatten genau zwei Hörer. Seine Frau und seine Mutter.«
Kökkenmöddinger schmunzelte. »Was macht der Mensch denn für Kunst?«
»Keine.« Jelena lachte auf. »Er ist Kunsthistoriker und organisiert internationale Ausstellungen.«
»Das hört sich gar nicht so langweilig an«, warf Kökkenmöddinger ein.
»Schon. Er ist hier, um für andere Museen Bilder und Skulpturen auszuleihen«, erklärte sie. »Aber leider musste er mir gefühlte hundert Kunstwerke bis ins Detail beschreiben. Ein historisches Kleinklein und Namedropping ohne Ende …«
»Und ohne Bilder.« Kökkenmöddinger lachte auf. »Im Radio macht das wirklich überhaupt keinen Sinn.«
5. Beunruhigt?
Mit einem heißen Pappbecher in der Hand verließ Kökkenmöddinger die Bäckerei und stieß auf seinen Kollegen Heinz, der sich der morgendlichen Zeitungslektüre widmete. Die Schlagzeile auf der Titelseite des Boulevardblattes erregte Kökkenmöddingers Aufmerksamkeit. »Mord oder Unfall? Tod am Elbufer«, las er.
»Guten Morgen, Heinz.«
»Kökkenmöddinger!« Heinz reichte ihm die Hand.
»Wir haben ein Verbrechen zu beklagen?« Kökkenmöddinger deutete auf die Zeitung. »Steht etwas Interessantes drin?«
»Natürlich nicht. Sie haben einen Toten gefunden und kommen nicht weiter. Oder die Polizei will nichts sagen.« Heinz schüttelte den Kopf. »Diese Schmierfinken wollen das doch nur aufbauschen. Wahrscheinlich hatte irgendein überarbeiteter Manager einen Herzinfarkt.«
Kökkenmöddinger nahm einen Schluck Kaffee. »Auch nicht schön.«
»Selbst schuld, wenn solche Leute bis zum Umfallen Geld scheffeln.« Heinz wirkte gleichgültig. »Ich habe mir die Zeitung nur besorgt, weil ich wissen wollte, ob einer von uns das Opfer war. Meine Frau macht mich immer ganz rappelig damit, weil sie behauptet, dass Taxifahren so gefährlich sei.« Er faltete die Zeitung zusammen. »Ständig legt Bärbel mir Artikel mit Überfällen auf Taxifahrer oder auch Morden aus Hamburg, Frankfurt hin …«
»In Dresden lebt doch jeder Fußgänger gefährlicher als wir«, warf Kökkenmöddinger ein. Er dachte an seinen wiederkehrenden Traum, den Jelena für ein Trauma hielt.
Der Kollege winkte lachend ab. »Wenn ich Lehrer wäre, würde sie mir Berichte über gewalttätige Schüler servieren, oder als Bankangestellter alles über Banküberfälle. Bärbel ist eine wandelnde Katastrophenstatistik.«
»Hallo, Taxi!«
»Kundin, Kollege.« Kökkenmöddinger deutete mit einem Nicken hinüber zu einer eleganten Dame, die mit allerhand Gepäck aus dem Bahnhof auf die Taxireihe zusteuerte. »Deine Fuhre.«
Heinz seufzte. »Die will bestimmt nur drei Straßen weiter ins Hotel.« Er drückte ihm die Zeitung in die Hand. »Dann wollen wir mal …«
Kökkenmöddinger warf einen Blick in das Boulevardblatt. Das Bild zum Artikel zeigte nur Elbufer, Menschen und Polizisten. Das hatte er selbst alles gesehen. Und sogar ein bisschen mehr. Er musste wieder an die auffällige Jacke und die Schuhe denken. Vielleicht war das ein Zufall, oder er hatte irgendetwas falsch wahrgenommen.
Er nahm einen Schluck Kaffee und überflog den Text. Man hatte wohl nur die von Jelena erwähnte Agenturmeldung um ein paar Kommentare von Schaulustigen ergänzt. Sinnlose Bemerkungen wie »Schrecklich, ein Toter in unserer Nachbarschaft!« oder »Ich verstehe das nicht. Warum tun Leute so was?«. Was allerdings tatsächlich passiert war, ließ der Artikel offen: »Die Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus.« Das war doch ein Standardsatz.
Kökkenmöddinger legte die Zeitung zur Seite und griff nach seinem Handy. Er sah auf die Uhr und wählte Jelena an. Um diese Zeit machte sie für gewöhnlich Frühstückspause, wenn sie im Sender war.
»Kökkenmöddinger! Was gibt’s?« Sie klang gehetzt. »Dringend?«
»Weißt du etwas Neues über den Toten an der Elbe?« Kökkenmöddinger bemerkte, dass ein Mann schnurstracks auf sein Taxi zulief.
»Nicht viel. Moment.« Er hörte Jelena kramen.
Kökkenmöddinger warf den fast geleerten Pappbecher in einen Mülleimer und winkte dem Mann. »Und?«
»Ich denke, sie wissen schon, wer der Tote ist«, sagte Jelena. »In der neuen Meldung steht aber nur, es handle sich um einen Dresdner Journalisten, der bereits vermisst wurde.«
»Danke.« Kökkenmöddinger drückte das Gespräch weg und wandte sich dem Fahrgast zu. »Wohin soll es denn gehen?«
»Sehenswürdigkeiten«, sagte der Mann und rollte sein Businessköfferchen zum Kofferraum. »Ich habe noch über eine Stunde Zeit bis zu meinem nächsten Termin. Die Zeit will ich nutzen. Sie fahren mich einfach zu allem, was man hier gesehen haben muss. Ich mache schnell ein Foto und weiter geht’s.«
Kökkenmöddinger grinste. So eine Fahrt war eine willkommene Abwechslung.
»Was meinen Sie, wie viel wir in einer Stunde schaffen?«, fragte der Business-Mann, ohne eine Antwort abzuwarten. »So viel wie möglich wäre gut. Ich muss pünktlich am Kongresszentrum sein. Also nicht zu viel Aufwand.«
Nach einer Fotorunde auf dem Theaterplatz, vor dem Schloss und von der Augustusbrücke steuerte Kökkenmöddinger sein Taxi durch einige Neustädter Seitenstraßen, um möglichst nah an die Elbe zu kommen.
»Der Rosengarten«, informierte er seinen Fahrgast und fuhr langsam weiter. »Dort vorn fährt übrigens eine kleine Fähre.« Kökkenmöddinger hielt kurz an und spähte hinunter zum Anleger.
»Was wollen wir denn hier?«, fragte sein Fahrgast. »Fahren Sie doch einfach weiter.«
Kökkenmöddinger schnaufte. Ja, was wollte er hier. Er ertappte sich dabei, nach Jochen Ausschau zu halten. Es hätte ihn ungemein beruhigt, ihn irgendwo unversehrt zu sehen.
Er chauffierte seinen Fahrgast weiter die Bautzner Straße entlang, vorbei am Waldschlösschen, über den Weißen Hirsch hinauf nach Bühlau, um dann hinunter nach Loschwitz zu fahren.
»Zur Rechten ist der Wohnsitz des Ministerpräsidenten«, erklärte Kökkenmöddinger. »Und unten am Körnerplatz finden Sie die beiden Standseilbahnen.«
Sie passierten die als »Blaues Wunder« bekannte Loschwitzer Brücke und der Fahrgast knipste durch die Heckscheibe. Dann ging es mit Blick auf die Elbschlösser zurück in Richtung Altstadt.
Kökkenmöddinger warf einen Blick auf die Uhr. Sein Kunde würde mehr als pünktlich das Kongresszentrum erreichen. Er lenkte den Wagen unter der Waldschlösschenbrücke an den Fahrbahnrand.
»Warum halten wir hier an?« Sein Fahrgast schien automatisch die Kamera in Position zu bringen.
»Weil wir mal pinkeln müssen.« Kökkenmöddinger stieg aus. Dieser Business-Mann ging ihm mit seinem Effektiv-Sightseeing, das jede japanische Reisegruppe in den Schatten stellte, gewaltig auf die Nerven. Sein Kopf war mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Unruhig sah er sich unter der Brücke um und lief weiter hinunter zur Elbe. Doch an keinem der Pfeiler konnte er Jochen oder Spuren von ihm entdecken. Nur ein einsamer Spaziergänger mit Hund lief unter der Brücke hindurch. Nicht einmal unten am Radweg waren Menschen.
Seufzend machte Kökkenmöddinger kehrt. Es schien unsinnig, nach Jochen Ausschau zu halten. Und wenn er untergetaucht war, würde er vermutlich nicht wieder denselben Orten aufsuchen.
Sein Fahrgast kam ihm bereits entgegengelaufen. »Wo bleiben Sie denn? Ich habe in zwanzig Minuten meinen Termin!«
»Keine Sorge, wir sind in zehn Minuten am Kongresszentrum.« Kökkenmöddinger ließ sich hinters Steuer gleiten. Jetzt hatte er ganz vergessen zu pinkeln.
6. Verkocht, Verlangen, Verlust
Kökkenmöddinger streute Speckwürfel und Semmelbrösel über den Teig und rollte alles zu einer dicken Wurst zusammen. Dann teilte er handbreite Stücke ab und gab sie vorsichtig in die köchelnde Fleischbrühe.
Er öffnete den Backofen und schnupperte genüsslich an der zwiebelbedeckten Auflaufform. Jelena würde sich freuen über dänisches Apfelfleisch mit sächsischen Wickelklößen.
Pfeifend machte sich Kökkenmöddinger daran, den Tisch zu decken. Als er den Schrank öffnete, zögerte er angesichts der Weingläser. Welcher Wein passte zu diesem Essen? Weiß oder rot? Oder doch lieber Bier?
In diesem Moment hörte er den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür. Und schon stand Jelena am Tisch.
»Du hast gekocht«, stellte sie fest. »Riecht lecker.«
»Wein oder Bier?« Er sah sie erwartungsvoll an.
»Dusche.« Sie warf ihre Tasche in die Ecke und begann sich auf dem Weg ins Bad auszuziehen.
Kökkenmöddinger seufzte. Am liebsten wäre er ihr gefolgt. Er griff zu den Rotweingläsern und nahm die passende Flasche aus dem Regal.
»Übrigens wissen sie jetzt, wer der Tote ist …«, hörte er Jelena rufen. Dann verlor sich ihre Stimme im Wasserrauschen.
Kökkenmöddinger entkorkte die Flasche und schenkte Wein in die Gläser. Als der Backofen einen schrillen Pfeifton ausstieß, lief er in die Küche, um Topflappen zu zücken und die Auflaufform aus dem Ofen zu ziehen.
Im Bad verklang das Rauschen, und er hörte Jelena eine fröhliche Melodie summen. Als Kökkenmöddinger gerade die Form abstellen wollte, trat Jelena nur in ein Handtuch gewickelt aus dem Bad. Beinahe wäre ihm der Auflauf aus den Händen geflutscht.
»Mein Bademantel hängt nicht am Haken. Weißt du, wo der ist?« Sie befestigte einen Handtuchzipfel unter der Achsel und nahm am Tisch Platz.
»Er ist in der Wäsche.« Kökkenmöddinger stand unschlüssig neben dem Tisch.
»Wieso das denn?« Jelena griff zum Glas. »Prost! Ich ziehe den doch sowieso nur frisch geduscht an.«
Er schmunzelte. Dann fiel ihm Jochen wieder ein. »Was wolltest du mir eben erzählen? Ich habe dich nicht verstanden. Die Dusche …«
»Ach so, ja, es gibt Neuigkeiten. Der Tote ist ein gewisser Jochen W. Sein korrekter Nachname ist Wegbaum, aber den dürfen wir ja nicht nennen. Schutz der Privatsphäre und so. Das ist doch dein seltsamer Freund, der beim Frühstück plötzlich abgehauen ist?«
Kökkenmöddinger ließ sich auf seinen Stuhl sinken. »Also doch.« Nun griff auch er zum Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck. »Pokkers!«
»Ja, das ist Mist.« Jelena nickte. »Was weißt du eigentlich über den Kerl? Er wirkte schon etwas eigenartig.«
»Du weißt, dass ich Menschenkenntnis besitze«, erklärte er. »Das bringt mein Beruf so mit sich.«
»Ich weiß, dass du dir jeden dahergelaufenen Kerl ins Auto lädst.« Ihre Augen blitzten auf. »Das ist schließlich schon einmal schiefgegangen.«
Kökkenmöddinger winkte ab. Plötzlich war da ein beißender Gestank. »Meine Klöße!« Er sprang auf, lief in die Küche, riss den Topf von der Herdplatte und sogleich das Fenster auf. Die Brühe war längst verkocht und seine Wickelklöße hatten sich zu stinkenden Batzen auf dem Topfboden entwickelt. »Verdammt!«
»Wir haben doch noch den leckeren Auflauf«, sagte Jelena und begann, Apfelfleisch auf den Tellern zu verteilen. »Komm, setz dich und iss erst mal.«
»Es stinkt«, grummelte Kökkenmöddinger, doch es musste schon mehr passieren, damit ihm der Appetit verging. »Velbekomme!«
Dann sah er in Jelenas Gesicht. Es war zu einer Grimasse verzogen. Sie ließ die Gabel sinken und spülte hastig mit Wein nach.
»Was ist?«
»Probier!« Jelena nahm einen weiteren Schluck.
Kökkenmöddinger nahm eine Gabel, hielt inne und hätte am liebsten alles wieder ausgespuckt. Doch er kaute tapfer und schluckte. Dann allerdings leerte auch er schnell sein Glas. »Völlig versalzen, verdammt.«
Kurz darauf saß Kökkenmöddinger mit Jelena in der kleinen Pizzeria von Luigi ein paar Straßen weiter vor Antipasti und weiterem Rotwein und sehnte sich nach seiner Pizza Mafiosa.
Jelena erzählte muntere Anekdoten aus dem Sender und man merkte ihr an, dass sie bereits einen leichten Schwips hatte. »Jedenfalls gefällt es mir trotz der blöden Arbeitszeit beim Elbradar immer noch besser als damals in der Redaktion der Tal-Ente …«
»Tal-Ente? Ist das eine Zeitung?« Kökkenmöddinger schob sich eine gefüllte Peperoni in den Mund.
»Nur ein Spitzname, weil dort so viele Enten produziert wurden, also falsche Meldungen, und weil eben nicht gerade viele Talente an Bord waren.« Jelena kicherte. »Die Tagespost war eigentlich nicht schlecht, bis auf unseren Dresdner Lokalteil eben. Für den Laden hat dein toter Jochen W. übrigens zuletzt gearbeitet. Ein früherer Kollege von mir ist noch da und kannte auch diesen Wegbaum.«
»Ach was?« Kökkenmöddinger sah sie an. »Dann müssten die ja wissen, an welcher komischen Geschichte er dran war. Er hat zu mir gesagt, er habe sich mit den falschen Leuten angelegt.«
Luigi servierte die Pizza höchstpersönlich. »Ist der Herr wieder am Verhungern?« Er lachte. »Für dich, mein Freund, ist die Pizza wieder extragroß.«
»Oh, ganz hervorragend, Luigi. Du bist der Beste!« Kökkenmöddinger machte sich gierig über seine Mafiosa her.
Jelena achtelte ihre Pizza und nahm ein Stück zur Hand. »Meinst du, er wurde von irgendwelchen Gangstern beseitigt?«, fragte sie schmunzelnd.
Er kaute. »Das ist doch nicht auszuschließen, wenn er sich schon nicht mehr nach Hause traute und untergetaucht ist.«
»Mmh.« Jelena schien zu überlegen. »Der Sprecher der Polizei murmelte etwas von Vergiftungssymptomen und einem möglichen Selbstmord. Aber natürlich halten die sich bedeckt. Die Kollegen vom Boulevard haben ja sowieso schon einen Mordfall daraus gemacht.«
»Klar, verkauft sich besser.« Kökkenmöddinger hatte bereits die Hälfte seiner Pizza verputzt. Er dachte an die Schlagzeilen. »Vergiftet also …«