Allerlei Leipzig - Christine Sylvester - E-Book

Allerlei Leipzig E-Book

Christine Sylvester

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Sondereinsatz in Leipzig für die beiden Dresdner Kommissarinnen Lale Petersen und Mandy Schneider: Wegen Bombendrohungen zur Buchmesse brauchen die Leipziger Kollegen Unterstützung. Gleich bei Ankunft in der Messestadt finden Lale und Mandy einen toten Obdachlosen, für den sich scheinbar niemand interessiert. Trotz Widerstand ermitteln sie ebenso eigenmächtig wie eigenwillig. Und auch der Messeeinsatz spitzt sich zu. Nicht nur Bombendrohungen erschüttern die Buchwelt, sondern auch die Entführung der Erfolgsautorin Lizzy Lavendel – gerade besonders erfolgreich mit ihrer "Kuss"-Trilogie – will bewältigt werden. Dass Lale ausgerechnet mit dem Kollegen Ole Elfgart zusammenarbeiten muss, schmeckt ihr ganz und gar nicht. Doch Elfgart weiß mehr als er zugibt, und Lale ist schnell sehr viel persönlicher involviert als geplant. "Allerlei Leipzig - Lale Petersen geht fremd" ist bereits der sechste Fall der sarkastischen Kommissarin mit der großen Klappe - nach "Barocke Engel", "Muschebubu", "Oh du tödliche", "Pätschwörk" und "Psychopaten-Polka" ermittelt die gebürtige Hamburgerin ausnahmsweise außerhalb Dresdens.

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Allerlei leipzig - Lale Petersen geht fremd

Allerlei Leipzig - 1Allerlei LeipzigLeipzig, wir kommen!KollegenschelteKrimi-Mimi-TippsMorgenmuffeleienErste IndizienPoeten-ParadeTasmanische TöneWer, wie, was?BombenstimmungLiebste LizzyAllerhand AllerleiFingerzeigeEene, meene, muh und raus bist du …AusgeschlachtetLeipzig liest und liest und …Morgenstunden, SchrecksekundenIm BrennpunktIch sehe was, was du nicht siehstBefreiendAbgefahren

Allerlei Leipzig - Lale Petersen geht fremd

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind völlig frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Allerlei Leipzig

Lale Petersen geht fremd

Christine Sylvester

Copyright © Christine Sylvester 2019

2. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

WorTTakt Hör&BuchVerlag

Bien & Sylvester GbR

Jüngststr. 14, 01277 Dresden

[email protected]

Coverbild: Ingolf Bien

Umschlaggestaltung & Satz: WorTTakt Verlag

Leipzig, wir kommen!

„Oh, mein Gott!“ Lale duckte sich in den Beifahrersitz. „Musst du alle überholen? Wir haben es doch gar nicht eilig!“

Mandy lenkte den Wagen von der linken Spur in die mittlere, um dann abzubremsen und eine Lücke zwischen zwei Wagen auf der rechten Spuren zu nutzen. Schließlich fädelte sie sich im allerletzten Moment für die Abfahrt Leipzig-Ost ein. Hinter ihnen ertönte lautes Hupen.

„Wir haben es immer eilig“, erklärte Mandy. „In zwei Stunden ist überall Stau. Wir sollten unbedingt vorher …“

„Vorsicht!“ Lale starrte auf hellrote Bremslichter und stützte sich am Handschuhfach ab, während Mandy den Dienstwagen abrupt zum Stehen brachte.

„Siehste, es geht schon los.“ Mandy setzte den Blinker und drängelte sich in die nächste Spur. „Wir sind ja nicht von hier, nu.“

Lale schnaufte. „Muss das sein?“

Mandy drückte ihr einen verknickten Stadtplan in die Hand. „Such lieber mal raus, wo wir hinmüssen. Ich habe die Adresse des Hotels angestrichen.“ Sie beugte sich zu Lale hinüber und fuchtelte über der Karte herum. „Irgendwo hier in der Innenstadt.“

„Guck, wo du hinfährst!“ Lale warf einen kritischen Blick auf den Plan. „Kannst du nicht das Navi einschalten? Ich war noch nie in Leipzig und habe keine Ahnung, wo wir jetzt sind.“

Mandy schüttelte den Kopf. „Navi ist langweilig. Außerdem ist deine Stimme viel sympathischer als diese Automatenstimme.“

„Wenn du meinst.“ Lale sah sich um und deutete auf ein Schild, auf dem „Zentrum“ stand. „In 50 Metern rechts abbiegen, in 45 Metern rechts abbiegen. Ha, bitte erst bremsen! Reichen Sie Ihrer Beifahrerin sofort Baldrian.“

„Du bist viel besser als ein Navigationssystem. Du denkst nämlich mit.“ Mandy nahm eine Packung Kaugummi aus der Mittelkonsole. „Ist gut für die Nerven, Frau Kommissarin.“

Lale griff zu und schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne. „Kannst du mir endlich mal verraten, was wir hier genau sollen?“

„Das habe ich doch schon gesagt“, erklärte Mandy. „Verstärkung für die Leipziger Kollegen. Anfrage beim Chef. Dass der uns einfach so ziehen lässt, wundert mich allerdings.“

Lale kaute. „Der ist wahrscheinlich froh, dass er uns mal ein paar Tage los ist“, mutmaßte sie. „Anders kann ich mir das nicht erklären.“

Mandy lenkte den Wagen um die Kurve, wechselte die Spur, beschleunigte und zog an den anderen Fahrzeugen vorbei. „Es gibt Drohungen wegen der Buchmesse. Sie haben Bundespolizei da und weitere Ermittler angefordert.“

„Fahren wir direkt dorthin?“ Lale suchte auf dem Stadtplan nach der Polizeidirektion.

„Erst ins Hotel. War schwierig genug, noch ein Hotelzimmer zu bekommen. Müssen wir nicht links rum?“

Lale drehte den Stadtplan. „Wenn das keine Einbahnstraße ist, wäre das wohl der kürzeste Weg.

Mandy bog mit quietschenden Reifen links ab.

„Es ist eine Einbahnstraße.“ Lale zeigte auf den Wagen, der ihnen mit Lichthupe entgegenkam. „Mandy, anhalten!“

„Jetzt verstopft dieser Knallkopp die Straße“, schimpfte Mandy.

„Aber er hat doch Recht, los setz‘ zurück!“ Lale verschluckte vor Schreck ihren Kaugummi. Der Fahrer des anderen Wagens stieg aus.

„Das haben wir gleich.“ Mandy ließ das Fenster ein Stück herunter, griff nach dem Blaulicht und setzte es aufs Dach. Dann ließ sie kurz die Sirene an. „Gucke mal, wie der rennt!“

Lale schlug die Hände vors Gesicht. „Mandy Schneider, du bist unmöglich!“

„Gucke doch, er setzt seine Karre zurück und wartet brav.“ Mandy feixte. „Wir hätten sofort mit Blaulicht fahren sollen.“ Sie gab Gas und preschte weiter.

„Und wo ist das Hotel?“ Lale musterte die Fassaden.

„Da vorne, hier ist schon die Einfahrt zur Tiefgarage.“ Sie kurvte eine steile Abfahrt hinunter. In der dürftig beleuchteten Garage warf das Blaulicht gespenstisch rotierende Schatten.

„Voll“, stellte Lale fest und stopfte den Stadtplan ins Türfach.

„Wir fahren so tief es geht“, meinte Mandy.

Immer tiefer schraubten sie sich auf der schmalen Spur in die Eingeweide der Stadt, bis sie auf der tiefsten Ebene angekommen waren. Hier parkten noch einige Fahrzeuge mit Münchner und Frankfurter Kennzeichen. Das Hotel schien ausgebucht zu sein. Mandy stoppte den Wagen auf einem Behinderten-Parkplatz neben dem Aufzug.

„Nein“, sagte Lale. „Wir nehmen einen der regulären Parkplätze. Ich diskutiere nicht.“

Mandy zuckte die Achseln, setzte den Wagen mit Schwung zurück und ließ ihn in eine der freien Parklücken rollen. Als sie gerade das Blaulicht vom Dach nehmen wollte, hielt sie inne. „Was ist denn das da?“ Sie deutete in eine Ecke.

Lales Blick folgte ihrem Fingerzeig, sie stutzte. „Da liegt einer.“ Mit wenigen Sätzen erreichte sie die Ecke. Da lag tatsächlich jemand, wandte ihnen den Rücken zu und gab keinen Mucks von sich.

„Hallo, hören Sie mich?“ Lale berührte die fremde Person vorsichtig. Sie rührte sich nicht. „Brauchen Sie Hilfe?“

Mandy kam hinzu. „Soll ich einen Rettungswagen rufen?“

Lale drehte den Menschen vorsichtig zu sich. Es war ein älterer Mann mit ungepflegtem Bart und schmutzigem Äußeren. Lale schluckte. Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase und es kostete sie ein bisschen Überwindung, seinen Schal zu lockern und nach seiner Halsschlagader zu tasten. Sie sah Mandy an. „Ich fühle nichts.“ Vorsichtig tastete sie weiter an seinem schmutzigen Hals herum, doch statt eines Pulsschlags fühlte sie den eingedrückten Kehlkopf. „Der hat das Zeitliche hinter sich.“

Kollegenschelte

„Flimm, Elfgart, in mein Büro.“ Die Kripo-Chefin legte den Hörer auf. „Mayer, Soraya Mayer“, stellte sie sich vor und verabreichte sowohl Lale als auch Mandy einen kräftigen Händedruck. „Willkommen in Leipzig.“ Sie klang sachlich. „Sie wurden mir von Dresden als Expertinnen empfohlen.“

„Aha, und wofür?“, fragte Mandy und erntete einen verwunderten Blick.

„Es gab im Vorfeld zur Buchmesse Bombendrohungen“, erklärte sie. „Unspezifisch, doch wir müssen so etwas ernst nehmen.“

„Von Terroristen hat unser Chef aber nischt gesagt.“ Mandy riss ihre großen Kulleraugen weit auf. „Terror auf der Buchmesse?“

Soraya Mayer schüttelte den Kopf. „Nein, Frau Schneider. Ein terroristischer Hintergrund ist unwahrscheinlich. Dann hätte uns der Verfassungsschutz informiert.“ Sie warf einen ungeduldigen Blick auf die Tür. „Wir bekamen diese Informationen über die Presse.“

„Ach“, machte Mandy. „Ich habe gar nichts davon gelesen.“

„Eben.“ Soraya Mayer nickte. „Sie haben die Ermittlungsbehörden in Kenntnis gesetzt, und die Staatsanwaltschaft hat sofort Informationssperre verhängt. Deshalb haben wir eine Sonderkommission gebildet.“

Lale runzelte die Stirn, was Soraya Mayer offenbar sofort bemerkte. „Ja, Frau Petersen?“

Lale verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. „Sollten wir nicht erst einmal die Identität unseres Toten klären? Immerhin haben wir vor zwei Stunden eine Leiche gefunden, und die Todesursache …“

„Die Todesursache überlassen Sie getrost unseren Rechtsmedizinern“, unterbrach Soraya Mayer sie. „Der Tote ist ganz offensichtlich ein Obdachloser …“

„Und da eilt es nicht so, oder wie?“, ging Lale dazwischen. „Es ist ein Tötungsdelikt!“

„Das wird sich noch zeigen“, erklärte die Kripo-Chefin.

Lale bemerkte eine leichte Rötung an Soraya Mayers Hals. Offenbar fühlte sie sich angegriffen. Gut so! „Man hat dem Mann den Kehlkopf eingedrückt“, legte Lale nach. „Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass er das selbst gemacht hat?“

In diesem Moment erschienen zwei Männer in der Tür. Das mussten die beiden Kollegen sein, mit denen sie zusammenarbeiten sollten. Soraya Mayer wirkte erleichtert. Fast freundlich stellte sie die Kommissare vor. Zunächst Kriminalhauptkommissar Dieter Flimm. Lale schätzte ihn ein paar Jahre älter ein als sie selbst war. Er hatte bestimmt schon die Fünfzig erreicht, leichter Bauchansatz, ergrautes schütteres Haupthaar, Schnauzbart. Er sprach das melodische Sächsisch der Leipziger Region.

„Und das ist Kriminalkommissar Ole Elfgart.“ Soraya Mayer wies auf einen jüngeren Blonden mit souveränem Grinsen, das seinem „Ich-freue-mich-über-so-viel-weibliche-Intuition“ einen seltsam ironischen Beigeschmack gab. Lale schätzte ihn auf Mitte Dreißig.

Im allgemeinen Händeschütteln verkündete die Kripo-Chefin die Spielregeln: „Sie bilden gemeinsam die Sonderkommission für die Ermittlungseinsätze auf der Buchmesse. Für die heutige Eröffnung haben wir Schutzpolizei vor Ort. Das ist koordiniert. Aber morgen sind Sie alle in der Einsatzzentrale auf dem Messegelände. Und Flimm!“

Der Schnauzbart sah sie an. „Nu?“

„Flimm, von Ihnen erwarte ich aller zwei Stunden einen Lagebericht.“

„Geht klar.“ Flimm wandte sich zum Gehen und bedeutete Lale und Mandy, ihm zu folgen. „Wir besprechen die Einzelheiten drüben bei uns im Büro.“

„Halt!“, rief Lale. „Was ist denn nun mit dem toten Obdachlosen? Soll der jetzt bis nächste Woche in der Kühlkammer liegen, damit sein Mörder in Ruhe untertauchen kann?“ Sie bemerkte, wie die roten Flecken auf dem Hals der Kripo-Chefin aufleuchteten.

„Wollen Sie mir sagen, wie ich meine Arbeit zu machen habe?“ Ihre Stimme vibrierte leicht.

„Nur, wenn es nicht anders geht.“ Lale bemerkte den entsetzten Blick von Mandy.

Die drahtige Soraya Mayer zeigte zur Tür. „Erledigen Sie Ihre Arbeit in der SoKo Buchbombe – und zwar sofort!“

Lale runzelte erneut die Stirn, folgte jedoch ihrer Aufforderung und den Leipziger Kollegen.

Auf dem Flur stieß Mandy sie in die Seite. „Das war ja mal wieder ein prima Einstand.“

„Sie sagen es, Frau Kollegin.“ Dieter Flimm hielt ihnen eine Bürotür auf und schüttelte sein Haupt. „Musste das sein, Frau Petersen?“

Lale musterte ihn eingehend. „Natürlich musste das sein, wenn sonst keiner den Mund aufmacht.“

Flimm wandte sich seinem Kollegen zu. „Ole, wenn du so nett wärst und die Damen auf den aktuellen Stand bringen würdest.“

„Das mache ich doch gerne!“ Ole Elfgarts Lächeln erinnerte Lale an amerikanische Fernsehserien. Wieso grinste dieser Typ eigentlich so penetrant?

„Meine Damen, hier sehen Sie einen Plan des Messegeländes.“ Er deutete auf eine Magnettafel, an der eine architektonische Zeichnung mit bunten Markierungen hing. „Wir haben mögliche Positionierungen für Bomben ausgelotet. Die Plätze werden seit dem Beginn des Messeaufbaus überwacht. Aufzüge, Toiletten, Abfalleimer, Lüftungsschächte, Versorgungsleitungen. Alles gecheckt. Bisher wurde nichts gefunden.“ Er lächelte siegesgewiss.

„Das heißt“, hob Mandy an, „wenn jemand tatsächlich eine Bombe platzieren will, dann muss er das im laufenden Messebetrieb tun.“

„Genau.“ Flimm nickte. „Deshalb haben wir die Sicherheitsvorkehrungen enorm verschärft. Es wird in diesem Jahr nur einen Eingang geben. Lediglich für die Aussteller haben wir zusätzliche separate Zugänge geschaffen.“

„Und wenn der oder die Bombenleger zu den Ausstellern gehören, also wenn sie sich so grundsätzlich Zugang verschafft haben?“, fragte Mandy.

Ole Elfgart winkte ab. „Wir überwachen auch diese Eingänge. Ein Restrisiko bleibt nun einmal bei solch einer Veranstaltung. Wir können ein so großes Gelände nicht komplett absichern.“ Er deutete auf den Plan. „Die Anzahl der Überwachungskameras wurde verdoppelt, ein Teil der Toiletten geschlossen, die Mülleimer zugeschweißt. Und hier, am verbliebenen Eingang West haben wir ein enormes Kontrollpotenzial geschaffen.“

„Mit Sprengstoffhunden, nehme ich an.“ Mandy blickte interessiert auf den Plan.

„Gelegentlich“, stellte Flimm klar. „Die Hunde sind nicht ständig verfügbar, denn sie dürfen nicht stundenlang im Einsatz sein. Es gibt da genaue Vorschriften.“

„Im Gegensatz zur Schutzpolizei“, warf Lale ein. „Die kann ruhig vierzehn Stunden am Stück auf dem Präsentierteller stehen und stets volle Leistung bringen.“

Flimm bedachte sie mit einem skeptischen Blick. „Schutzpolizei haben wir ausreichend vor Ort. Die Bundespolizei unterstützt uns. Wir wollen uniformierte Präsenz zeigen.“ Er räusperte sich. „Ein Teil des Servicepersonals wurde durch zivile Beamte ersetzt.“

„Dann habt ihr das doch alles ganz prima im Griff“, meinte Lale. „Was sollen wir hier eigentlich noch? Die Hundeführer bewachen, damit die Hunde keine Überstunden machen?“

Mandy stöhnte auf. „Lale, nun lass das doch.“

Lale wischte Mandys Bemerkung mit einer unwirschen Handbewegung zur Seite. „Ich will jetzt endlich wissen, wer sich hier um unseren toten Obdachlosen kümmert – und vor allem, wann!“

Elfgarts Lächeln schien einzufrieren. „Sobald diese Bombengeschichte vorbei ist, kümmern wir uns darum.“

„Wie heißt der Tote?“ Lale funkelte ihn böse an. „Her mit den Infos!“ Sie beobachtete, wie Elfgart Flimm einen fragenden Blick zuwarf. Lale wippte ungeduldig mit dem Fuß.

„Wir wissen nicht, wer der Tote ist“, erwiderte Elfgart. „Noch nicht.“

„Und dann wollt ihr euch nächste Woche ganz in Ruhe auf die Suche machen, oder was? Ist ja nur ein Obdachloser, den sowieso keiner vermisst!“ Lale verschränkte die Arme vor der Brust. „Wo sind die Fotos vom Opfer?“

„Hier.“ Elfgart sammelte einige Fotoabzüge von seinem Schreibtisch auf und hielt sie ihr hin.

Lale griff nach den Bildern, doch Flimm war schneller. Er warf einen Blick auf die Abzüge und wackelte mit dem Kopf. „Weißt du was, Ole? Wenn die Damen aus Dresden so scharf darauf sind, sich in die Ermittlungen zu stürzen, sollen sie das tun!“ Er reichte Lale die Bilder. „Klappern Sie mit den Fotos die Szene ab! Sie wissen schon, Wohnheime, Nachtasyle, Caritas, Volkssolidarität und so weiter. Das ganze Programm.“

Lale schmunzelte. Na, also. Sie sprang auf. „Los geht´s, Frau Schneider!“

Sie waren schon fast auf dem Gang, als Flimm sie aufhielt. „Moment noch, die Damen! Morgen früh um 8:30 vor der Messe. Die Einsatzzentrale ist im Congress Center. Das Gebäude links vom West-Eingang.“

„Sicher doch“, sagte Lale. „Bis morgen.“

Kaum saßen sie im Auto, stöhnte Mandy vernehmlich. „Wo fangen wir an?“

Lale wedelte mit den Fotos. „Welche ist die größte Tageszeitung in Leipzig?“

Mandy zuckte mit den Schultern. „Da gibt es nur eine.“

„Dann nichts wie hin“, sagte Lale. „Chefredaktion.“

Krimi-Mimi-Tipps

„So, dieses Parkhaus haben wir ohne einen weiteren Toten hinter uns gebracht“, stellte Lale fest, als sie mit Mandy den Aufzug betrat, der sie hinauf in die Leipziger City bringen sollte.

Mandy überprüfte ihre Frisur im Spiegel. „Deine Idee mit der Zeitung war spitze!“

„Wir werden sehen.“ Lale zog ihrem Spiegelbild eine Grimasse. „Und jetzt habe ich Hunger.“

„Geht gleich los“, versprach Mandy. „Hier ist immer Betrieb. Es gibt keine Sperrstunde. Und zur Buchmesse soll sowieso die Luft brennen.“

„Ein solides warmes Essen reicht mir völlig aus“, erklärte Lale. „Vielleicht ein Glas Wein dazu.“

Mit einem Pling öffnete sich die Aufzugtür und Lale eilte hinaus. Nanu, eine Einkaufsgalerie … Hoppla! Auf den glatten Fliesen geriet sie ins Rutschen und rumste gegen einen Pflanzenkübel. „Aua, verdammt!“

Sogleich sah Lale zahlreiche Augenpaare auf sich gerichtet und vernahm verärgerte „Psssts“. Sie stutzte. Warum saßen und standen denn überall Leute herum? Dann hörte sie Stimmen, reckte sich und sah Menschen an Tischen auf einer kleinen Bühne sitzen. Sie beugten sich über Bücher und lasen abwechselnd Sätze wie „Hör auf und geh weg!“ und „Bleib hier, geh nicht fort!“ oder „Alle Mühe ist vergebens“.

Irritiert wandte Lale sich um. Mandy machte ein enttäuschtes Gesicht, als sie sich nun bei ihr unterhakte und sie zwischen den Zuhörern hindurch aus der Galerie zog.

„Was hast du?“, fragte Lale.

„Ich habe meine Bücher vergessen“, erklärte Mandy missmutig. „Die Tasche mit den Büchern ist im Kofferraum.“

„Na und?“ Lale sah sich um. Nicht nur ganz Leipzig schien auf den Beinen zu sein, sondern auch internationale Besucher. Sie meinte neben Englisch in verschiedenen Akzenten auch spanische und französische Wortfetzen zu vernehmen.

„Du weißt doch, dass ich ein großer Fan von Samson Perowski bin“, erklärte Mandy. „Dieser Krimiautor, der kaum in der Öffentlichkeit auftritt.“

Lale nickte, während sie das flanierende Publikum musterte. Sie machte sich angesichts der Masse an Leuten Sorgen um ihr Abendessen. Ob sie noch einen freien Tisch finden würden? „Lass uns mal losgehen.“

Mandy zappelte an Lales Arm herum. „Und nun habe ich gelesen, dass Perowski dieses Jahr einen Auftritt zur Buchmesse hat und alle meine Bücher mitgebracht.“

Lale sah Mandy verwundert an. „Nennt man das nicht ‚Eulen nach Athen tragen’? Du schleppst Bücher mit zur Buchmesse? Meinst du nicht, die haben hier genug davon?“

„Ach Lale.“ Mandy schüttelte grinsend den Kopf. „Ich will sie mir von Samson Perowski höchstpersönlich signieren lassen!“ Sie hatten jetzt einen kleinen Platz mit Brunnen erreicht, an dem verschiedene Gassen zusammenliefen. „Komm.“ Mandy zog Lale nach rechts mitten ins größte Getümmel. „Außerdem wollte ich Perowski schon immer mal sehen. Der macht sonst nie Lesungen.“

Lale schmunzelte. Sie kannte durchaus Mandys Leidenschaft für Krimis, und auch wenn sie sie selbst nicht teilte, kannte sie inzwischen einige Kollegen, die kriminelle Fiktion nach Feierabend zu schätzen wussten. Sie mochten vermutlich die Spannung, die ihnen im Berufsalltag zwischen Papierkram und Zuständigkeitsgerangel abhandenkam. Sie hätte wetten können, dass auch Soraya Mayer gerne Krimis las und von einer hundertprozentigen Aufklärungsquote träumte.

Mandy schien ihre Gedanken zu erraten. „Ich weiß, dass du keine Krimis magst. Aber gerade die Perowski-Krimis finde ich toll, weil sie so weit weg sind vom Polizeialltag.“

„Du meinst, so wie im ‚Tatort’ oder im ‚Polizeiruf’?“ Lale mochte auch Fernsehkrimis nicht besonders.

„Nein, soooo weit weg nun auch wieder nicht“, protestierte Mandy. „Was wollen wir eigentlich essen?“ Sie deutete auf die belebte Straße, in der sich ein Restaurant an die nächste Kneipe kuschelte.

Lale zuckte die Schultern und beobachtete die plappernden, lachenden und gestikulierenden Menschen. Es war eine Stimmung wie an einem Sommerabend am Mittelmeer und nicht wie Mitte März in Mitteldeutschland. Es war noch zu kühl, um draußen zu sitzen, doch die beschwingte Atmosphäre schien die Gemüter wohlig aufzuheizen.

Als sie nach einigem Gedränge und Gewühle endlich einen kleinen Tisch hinter einer halb offenen Fensterfront ergatterten, hatte Lale den Überblick längst verloren. Es war ihr völlig egal, in welchem Lokal sie saß und welche Spezialitäten hier genau angeboten wurden. Hauptsache, es gab endlich etwas zu essen. Gierig stürzte sie sich auf die Speisekarte und bestellte Kartoffelsuppe mit Würstchen.

Mandy war schon wieder in Gedanken bei ihrem Lieblingsautor. „Ich bin so gespannt, was für ein Mensch Samson Perowski ist. Irgendwie stelle ich ihn mir groß und weißhaarig und mit Pfeife vor.“

„Sie lesen auch so gerne die Bücher von Perowski?“, mischte sich eine Dame vom Nebentisch ein. „Ich liebe seine Krimis!“

Mandy bekam leuchtende Augen. „Haben Sie ihn schon mal persönlich getroffen, also den Autor selbst?“

Die Krimifreundin schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich hoffe, dass es diesmal klappt.“ Sie zog ein Heftchen hervor. „Schauen Sie, das Programm.“

Mandy lehnte sich hinüber zum Nachbartisch. „Wissen Sie, wann er auftritt?“

„Ja, er liest aber nicht auf der Messe selbst.“ Die Dame zeigte Mandy einen Eintrag am Ende des Heftchens. „Die Premierenlesung ist am Sonntagabend in einem kleinen Theater hier um die Ecke.“

„Wie schön!“ Mandy strahlte Lale an. „Da gehen wir hin. Am Abend sollen wir ja wohl nicht mehr die Messehallen bewachen.“ Jäh änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Entsetzen machte sich breit. „Was für ein Veranstaltungsprogramm ist das denn?“

Nun war auch Lales Interesse geweckt. Sie ahnte, was Mandy befürchtete. „Gehört diese Abendveranstaltung zur Buchmesse?“

Die Krimi-Mimi vom Nebentisch nickte begeistert. „Aber klar! Das ist das Programm ‚Leipzig liest’, das rund um die Buchmesse überall in Leipzig stattfindet.“ Sie klopfte auf den Titel ihres Heftchens. „Wenn Sie mich fragen, ist das das Beste an der ganzen Buchmesse! So ein tolles Rahmenprogramm gibt es in Frankfurt nicht.“ Sie ließ die vielen Seiten des Veranstaltungsheftchens über ihren Daumen gleiten. „Dieses Jahr sind es besonders viele Lesungen: bei der Polizei, in Museen, in Theatern und in Kneipen sowieso.“

Mandy sah Lale mit weit aufgerissenen Augen an. „Denkst du das Gleiche wie ich?“ Sie schien bemüht, eindeutige Vokabeln zu vermeiden. „Bei unserer Besprechung heute, da war von einem Rahmenprogramm an verschiedenen Orten gar nicht die Rede.“

„Du meinst“, hob Lale mit einem Seitenblick auf ihre Zuhörerin an. „Du meinst, wir haben bei unserer Planung die Veranstaltungen von ‚Leipzig liest’ nicht berücksichtigt und sollten das unbedingt nachholen?“ Sie atmete tief durch. Wenn diese Bombendrohung tatsächlich ernst gemeint war, dann musste das keineswegs heißen, dass sich der Bombenleger auf die Messehallen konzentrierte. Im Gegenteil: Der oder die Bombenleger wären schön blöd, ein unkalkulierbares Veranstaltungspotenzial nicht zu nutzen.

„So ein Desaster“, schimpfte Mandy. „Das hätte nicht passieren dürfen! Was machen wir denn jetzt?“

„Machen Sie sich mal keinen Kopp“, besänftigte die Bücherfreundin vom Nebentisch und zog ein weiteres Heft aus der Tasche. „Viel haben Sie noch nicht verpasst, und alle Veranstaltungen kann man ohnehin nicht besuchen. Dieses Programmheft können Sie haben, ich habe zwei davon.“ Sie drückte Mandy das Heft in die Hand. „Die Krimi-Lesungen habe ich angestrichen. Ich mag es, wenn es so richtig zur Sache geht, mit Leichen, Blut und so.“

Lale schluckte und hoffte, dass die erzählerischen Vorlieben dieser Krimi-Mimi nicht die Realität heimsuchten.

Morgenmuffeleien

„Aufstehen! In einer halben Stunde ist Abfahrt“, flötete Mandy gut gelaunt.

Lale vergrub den Kopf unter ihrem Kissen und stöhnte. „Erst liest du die halbe Nacht lang bei Festbeleuchtung“, maulte sie. „Und nun musst du auch noch die Animateurin raushängen lassen.“

Mandy riss mit Schwung Lales Bettdecke weg. „Raus aus den Federn!“

Lale kletterte murrend aus dem Doppelbett. Sie hatte sich damit abfinden müssen, mit ihrer Kollegin ein Doppelzimmer zu teilen. In ganz Leipzig waren die Hotelzimmer zu Messezeiten knapp. Sie mochte ihre Kollegin gern und sie hatten schon oft private Abende verbracht. Aber Mandys nächtliche Krimilektüre hatte ihr den Schlaf geraubt. Mit jedem Kapitel hatte Mandy eine weitere Lampe angemacht, um sich beim Lesen nicht zu sehr zu fürchten. Sie musste ihr für heute Abend unbedingt Liebesromane schmackhaft machen, und zwar am besten solche, bei denen Mandy nicht laut schluchzen würde. „Geh doch schon mal zum Frühstück. Ich springe kurz unter die Dusche.

„Möchtest du etwas Bestimmtes frühstücken?“ Mandy hatte die Hand bereits an der Türklinke.

Lale schüttelte den wirren Blondschopf. „Ich schütte mir nur Kaffee ins Gesicht. Und Mandy! Ich will dabei nicht reden, verstanden?“

„Geht klar, Chefin.“ Mandy verließ trällernd das Zimmer.

Zwanzig Minuten später stand Lale in Jeans, T-Shirt und Lederjacke am Frühstücksbuffet und drückte bereits zum zweiten Mal die Espresso-Taste der Selbstbedienungsmaschine. Langsam spürte sie ihre Lebensgeister erwachen und amüsierte sich über Mandys leicht verkrampfte Versuche, den Mund zu halten.

Über dem Raum hing beredtes Schweigen, das durch das gelegentliche Klappern von Geschirr und Besteck betont wurde. Lale nippte am Kaffee und beobachtete über den Tassenrand hinweg die Frühstücker. Sie schienen heute alle einen höchst offiziellen Messetag vor sich zu haben. Eine junge Frau in gedecktem Kostüm hatte noch keinen Appetit und klammerte sich an ihre Kaffeetasse. Lale hatte sie schon auf dem Weg zum Vollautomaten knapp überholt. Kein Wunder. Mit einem schadenfrohen Blick auf ihre hochhackigen Schuhe mutmaßte Lale, dass sie auch beim nächsten Mal schneller sein würde. Sie hatte das geeignetere Schuhwerk. Die Frau stellte ihre Tasse ab, sah kurz hinein und erhob sich. Jetzt! Lale sprang auf und spurtete zum Büffet. Tasse drunter, Knöpfchen drücken. Grinsend beobachtete sie, wie die Appetitlose auf hohen Hacken heranstakste. Der Automat gab ein letztes Blubbern von sich, dann einen langen Piepston. Eine rote Lampe blinkte und das Display riet: „Bitte nachfüllen.“ Mit hoch erhobener Kaffeetasse lief Lale zurück an ihren Tisch.

„Du bist kindisch“, empfing Mandy sie.

„Aber endlich wach“, entgegnete Lale.

Mandy deutete auf Lales halb volle alte Kaffeetasse. „Da hast du doch noch Kaffee.“

„Stimmt.“ Lale schlürfte. „Die beiden Tassen trinke ich noch und dann kann es losgehen.“

Eine halbe Stunde später machte sich Lale allerdings Sorgen um den Verbleib ihres Frühstückskaffees. Denn Mandy kurvte mit quietschenden Reifen über die freien Parkflächen am Messegelände.

„Hey, das ist klasse!“, rief sie und trat das Gaspedal, dass der Motor nur so aufheulte.

„Ich bin also kindisch“, motzte Lale und hielt sich den verdächtig gluckernden Bauch. „Ich fahre immerhin nicht mit Dienstfahrzeugen Amok. Ich fahre übrigens auch mit anderen Fahrzeugen nicht so.“

„Ist ja schon gut.“ Mandy steuerte den Wagen um drei Messehallen herum auf den Parkplatz hinter dem Congress Center. „Endstation, alles aussteigen.“

Lale befreite sich aus Gurt und Beifahrersitz und streckte sich ausgiebig, während Mandy eine Reisetasche aus dem Kofferraum zerrte.

„Wo müssen wir jetzt hin?“ Lale sah sich um.

„Hilf mir doch mal“, schimpfte Mandy.

Lale schnappte sich den zweiten Henkel von Mandys kleiner, aber schwerer Reisetasche. Das mussten ihre Bücher sein. „Deine Eulen sind alle übergewichtig.“

„Eulen? Ach so.“ Mandy lächelte gequält. „Wenn ich Perowski treffe, will ich vorbereitet sein. Mir war gar nicht klar, wie viele Bücher ich von ihm habe.“

Die Tasche in der Mitte, gingen sie um das Congress Center herum, ein Stück am ausgedehnten Messebrunnen vorbei auf den West-Eingang zu. Dort wurden sie bereits erwartet. Vor den verschlossenen Glastüren stand Ole Elfgart und rauchte.

Der Leipziger Kollege grüßte knapp. „Was schleppen Sie denn da mit sich herum? Haben Sie einen Nacktscanner aus Dresden mitgebracht?“

„Und absetzen.“ Mandy rieb sich die Hand.

„Eulen“, erwiderte Lale. „Meine Kollegin trägt Eulen nach Athen. Sie ist Autogrammjägerin.“

Elfgart sah sie verwundert an. „Gibt es doch wieder einen neuen Harry Potter?“

„Harry Potter?“, fragte Mandy. „Was hat denn der damit zu tun?“

„Nur, weil dort auch immer Eulen verschickt werden“, erklärte Elfgart achselzuckend.

„Apropos Eulen, also Nachteulen …“ Lale beobachtete, wie der Leipziger Kommissar sorgfältig seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. „Wir haben gestern Abend von diesem Rahmenprogramm erfahren.“

„Leipzig liest“, ergänzte Mandy.

„Genau“, sagte Lale. „Welche Sicherheitsmaßnahmen habt ihr denn bei diesen Lesungen vorgesehen?“

Elfgart wirkte irritiert. „Welche Veranstaltungen meinen Sie denn? Die Buchmesse ist hier.“

Mandy klang ungehalten. „Die Lesungen, die in der gesamten Stadt stattfinden, während der Buchmesse und an den Abenden.“ Sie zog das Programmheft aus der Tasche und hielt es ihm vor die Nase. „‚Leipzig liest’, das einzigartige Rahmenprogramm der Leipziger Buchmesse.“

Elfgart sah Mandy an. „Das kenne ich gar nicht.“

„Was sagt man dazu?“, meinte Mandy. „Das kennt er nicht.“

Lale zog die Augenbrauen hoch. „Sie wussten nicht, dass es noch mehr gibt als das Gehampel in den Messenhallen?“

Elfgart guckte verwirrt.

„Ist Ihnen klar, dass das etwa hundert Veranstaltungen sind, die in eurem ganzen Sicherheitskonzept einfach unter den Tisch gefallen sind?“ Lales Stimme war leise und drohend.

Elfgart machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Dass ich davon nichts weiß, muss nichts heißen.“ Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich noch eine an. „Das Konzept haben wir nur teilweise ausgearbeitet. Die Koordination macht Frau Mayer.“

„Und was genau machen Sie dann in der Sonderkommission?“ Lales Stimme wurde nun lauter. „Sind Sie der Praktikant, oder was?“

Elfgart grinste schief. „Natürlich nicht, ich sage ja nur, dass es nichts heißen muss, wenn ich nichts davon weiß. Am besten sprechen Sie mit Soraya Mayer.“

„Ja klar.“ Lale schnaubte. „Wir können uns auch noch ein bisschen quer durchs Präsidium diskutieren, während da draußen ein Irrer eine Bombe nach der anderen platziert.“

Der Leipziger Kommissar drückte verbissen seine angerauchte Zigarette in den Aschenbecher. „Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich immer so?“

Lale verschränkte die Arme vor der Brust. „Wieso? Wie bin ich denn?“

„So, so unerträglich.“ Auch Elfgart verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. „Sie müssen immer Ihren Kopf durchsetzen, was?“

„Immerhin benutze ich meinen Kopf“, konterte Lale grimmig.

„Schluss jetzt!“ Mandy sah von einem zum anderen. „Das bringt doch nichts.“

„Allerdings“, knurrte Lale. „Es wird Zeit, dass wir mal handeln. Wo ist denn diese Einsatzzentrale?“

Elfgart warf ihr einen wütenden Blick zu. „Folgen Sie mir.“ Er ging zum Congress Center und Lale überholte ihn.

„Und meine Tasche?“, rief Mandy hinter ihnen her.

Lale drehte sich um und nickte Elfgart zu. „Nun machen Sie sich mal nützlich.“

Er grinste. „So nicht, Frau Kollegin.“

Lale sah ihn böse an.

Elfgart hielt ihrem Blick stand. „Wie wäre es mit einem Bitte?“

„Pffft“, machte Lale, lief zu Mandy zurück und ergriff den zweiten Henkel der Tasche. „Wer ist hier eigentlich auf wessen Hilfe angewiesen?“, grummelte sie.

„Das habe ich gehört“, ließ sich Elfgart vernehmen.

„Dann wissen Sie ja Bescheid“, gab Lale zurück.

Ein halbe Stunde später liefen Lale und Mandy durch die Hallen 2 und 4. Sie hatten den Auftrag, beide Hallen auf Sicherheit zu überprüfen, bevor die ersten Messebesucher kamen. Außerdem mussten sie sich den Kollegen der Schutz- und Bundespolizei zeigen. Schließlich mussten die Einsatzkräfte wissen, wer zur Einsatzleitung dazugehörte. Auf persönliche Vorstellung oder Gespräche vor Ort wurde verzichtet, um die Aussteller nicht zu beunruhigen. Es sollte routinemäßig wirken und wurde mit international verschärften Sicherheitsrichtlinien für alle Großveranstaltungen begründet.

Lale überprüfte zunächst den Energiehaushalt ihres Handys. Der Akku strotzte vor Leistungswillen. „Ich bin froh, dass du deine Reisetasche in der Einsatzzentrale gelassen hast.“

Mandy stöhnte leise. „Ich kann nur hoffen, dass ich nicht ausgerechnet heute Samson Perowski in die Arme laufe.“

„Wenn du ihn irgendwo siehst, sag´ bescheid.“ Lale feixte. „Dann verhafte ich ihn vom Fleck weg und kette ihn mit Handschellen an deine Tasche. Das ist dann so, als hätte er eine Steinkugel am Fußgelenk.“

Mandy kicherte. „Und mit welcher Begründung willst du ihn verhaften?“

„Wegen Raubes“, erklärte Lale prompt. „Dir raubt er mit seinen Büchern den Schlaf und mir die Nerven.“

„Schau mal.“ Mandy rüttelte an einem Abfalleimer. „Die sind alle zugenietet. Die nehmen das verdammt ernst mit der Bombendrohung.“

„Ach was, das haben sie nur gemacht, damit sie uns losschicken können, um Mülleimer zu kontrollieren.“ Lale ärgerte sich immer noch über die Leipziger Kollegen. Da wusste doch die rechte Hand nicht, was die linke tat. Und statt einfach mal mit beiden Händen kräftig zuzupacken, wurden Verantwortlichkeiten hin und her geschoben. „Wenn du mich fragst, ist das hier nur Beschäftigungstherapie, damit sie uns los sind.“

Mandy winkte grinsend ab. „Flimm und Elfgart kontrollieren doch selbst Halle 1 und Halle 3.“ Sie rüttelte am nächsten Abfallbehälter und überprüfte die Tür zum Außengelände. „Wieso ist die offen?“

Lale deutete auf das Schild über der Tür. „Notausgang. Die Türen müssen offen sein.“ Sie betrachtete eingehend die dicken Verkleidungen, die von der Decke hingen und die Versorgungskanäle verdeckten. „Verplombungen sitzen akkurat.“

„Die haben alles verplombt?“ Mandy folgte der Verkleidung am Hallenrand entlang.

„Das hat Flimm gesagt.“ Lale sah hinauf zum Hallendach. „So kann man sofort erkennen, ob irgendwo manipuliert wurde.“

„Dann auf in Halle 4.“ Mandy seufzte.

Sie durchschritten gerade wachsamen Auges den Gang zur nächsten Messehalle, als Lales Handy sich meldete. Schnell fingerte sie das Gerät aus der Tasche. „Vielleicht ist das schon die erste Reaktion auf unseren Toten. Petersen!“

„Petersen?“, quietschte es aus dem Apparat. „Das hätte ich mir ja denken können!“

„Frau Mayer“, sagte Lale überrascht. „Guten Morgen. Woher haben Sie denn meine Handynummer?“

Mandy sah verdutzt zu Lale und widmete sich dann wieder Türen, Plomben und Behältern.

„Woher ich Ihre Handynummer habe?“ Die Stimme der Kripo-Chefin überschlug sich. „Aus der Zeitung! Sie haben doch Ihre Handynummer in der Zeitung veröffentlicht.“

„Ich weiß.“ Lale betrat Halle 4. Hier waren die Messestände größer als nebenan, und es tummelten sich schon einige Aussteller. „Und? Warum rufen Sie an? Haben Sie unseren Toten identifiziert?“

„Sie sind unmöglich“, quietschte Soraya Mayer. „Ihr Vorgehen ist in höchstem Maße unkollegial. Das war so nicht abgesprochen! Warum tun Sie das?“

„Warum tue ich was?“ Lale lief durch einen der Gänge zwischen den Ständen. Sie nahm vorsichtshalber ihr Handy vom Ohr.

„Sie setzen das Foto des Toten in die Zeitung, Sie setzen Ihre persönliche Handynummer hinzu, Sie setzen sich über sämtliche Absprachen hinweg, und sie setzen mich nicht einmal davon in Kenntnis“, schepperte es aus dem Handy.

„Ja.“ Lale war am anderen Ende der Halle angekommen und inspizierte einen Versorgungskanal. Sie zeigte Mandy den aufrechten Daumen.

„Was? Ja?“ Die Kripo-Chefin schnaufte ungehalten.

„Ja, ich habe mich über Absprachen hinweggesetzt, weil es gar keine Absprachen gab“, erwiderte Lale.

„Ich weiß nicht, wie Sie das in Dresden handhaben“, schnauzte Soraya Mayer. „Dort mögen Sie damit durchkommen. Bei mir gibt es so was nicht, verstanden?“

„Da fehlt die Verplombung und der Eimer ist nicht dicht.“ Lale winkte einen Sicherheitsmann heran.

„Hören Sie mir zu, wenn ich Sie zusammenstauche“, verlangte die Kripo-Chefin hörbar erbost.

„Das tue ich, Frau Mayer“, entgegnete Lale gereizt. „Warten wir doch erstmal ab, was bei der Zeitungsmeldung herauskommt. Wenn es bis heute Abend keine neuen Erkenntnisse gibt, können Sie mich immer noch zusammenstauchen.“

„Wollen Sie mir jetzt auch noch vorschreiben, wann ich mich aufregen darf und wann nicht?“ Soraya Mayers Stimme jaulte jämmerlich.

„Meinetwegen sollen Sie sich überhaupt nicht aufregen.“ Lale war Dispute mit Vorgesetzten durchaus gewohnt, aber diese hysterische Person ging ihr besonders auf die Nerven.

„Wir haben eine allgemeine Informationssperre und Sie geben Opferfotos an die Zeitung“, quietschte die Kripo-Chefin. „Wie soll ich mich da bitteschön nicht aufregen?“

„Sehen Sie, Sie bringen schon alles durcheinander. Die Informationssperre betrifft doch lediglich …“ Lale senkte die Stimme, „diese Bombendrohung. Oder gibt es da einen Zusammenhang mit unserem Toten?“

„Ach was“, meckerte Soraya Mayer. „Ich halte mich an die Fakten. Und Sie halten sich ab jetzt an meine Anweisungen, ist das klar?“

„Klar.“ Lale beobachtete einen Aussteller, der immer wieder aufs Neue seine Bücher umsortierte. Offensichtlich war er ziemlich nervös. Sie sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würden die ersten Messebesucher kommen. „Hören Sie, Frau Schneider und ich sind gerade auf einer Kontrollrunde. Gleich wird die Messe …“

Klack! Soraya Mayer hatte aufgelegt. Achselzuckend betrachtete Lale ihr Telefon und steckte es in die Jackentasche. Dann beobachtete sie wieder den zappeligen Aussteller. Jetzt räumte er einige seiner Bücher wieder aus den Regalen in einen großen Karton und zückte ein Telefon. Langsam ging Lale auf den Stand des Mannes zu. Erst als sie näher kam, konnte sie verstehen, was er sagte.

„Wenn ich es Ihnen doch sage.“ Und: „Gut. Aber auf Ihre Verantwortung!“

Lale trat von hinten an ihn heran. „Gibt es Probleme?“

Der Mann fuhr herum und sah sie erschrocken an. „Was? Was wollen Sie von mir?“

„Ich will wissen, ob es Schwierigkeiten gibt“, sagte Lale und musterte ihn argwöhnisch. „Ich gehöre zum Sicherheitspersonal. Darf ich mal in Ihren Karton dort sehen?“

„Sicherheitspersonal? Sie sehen gar nicht so aus.“ Der Mann schien Lale zu belauern.

„Den Karton bitte.“ Lale nahm einige Bücher heraus: „Das Grauen aus dem Mumiengrab“, „Der Todesdolch“, „Leichenbasar“, „Vom Leben gebeutelt, im Tode zerfetzt“.

Der Mann riss ihr die Bücher aus der Hand und verstaute sie im Regal. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Lale warf erneut einen Blick in den nun fast leeren Karton. „Oh, das passt aber gar nicht zu den anderen.“ Sie nahm ein knallrotes Buch mit goldener und lila Schrift heraus. „Küsse unterm Rosenbusch“, las sie.

„Das gehört nicht in unser Programm.“ Der Mann sah sich um, griff nach dem Buch und ließ es in seine Sakkotasche gleiten. „Das lese ich privat.“

Lale schmunzelte. „Sind Sie Verleger?“

„Nein.“ Er stöhnte leise. „Lektor.“

„Na, dann“, sagte Lale. Vermutlich hatte der arme Kerl eine Portion zu viel Horror inhaliert. „Einen erfolgreichen Messetag wünsche ich.“

Als sie sich umwandte, sah sie Mandy, Flimm und Elfgart auf sich zukommen.

„Wir sind dann soweit“, erklärte Flimm. „Wir werden jetzt überprüfen, wie die Einlasskontrollen funktionieren. Und Sie beide übernehmen die Monitorwache in der Einsatzzentrale. Wir lösen Sie dann in zwei Stunden ab, wenn ich meinen Lagebericht durchgeben muss.“

Lale meinte, in Flimms letztem Satz einen unwilligen Unterton zu hören. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Flimm und Elfgart wirklich gut mit der Mayer klarkamen.

„Und ‚Leipzig liest’?“, fragte Mandy.

Lale vermied den Blickkontakt mit Elfgart und konzentrierte sich ganz auf Flimm.

„Wir machen es wie geplant“, sagte er. „Umfassende Sicherheit können wir bei so vielen Veranstaltungen nicht gewährleisten. Wir zeigen an möglichst vielen Orten Präsenz.“

„Dann dürfen wir so viele Lesungen wie möglich besuchen?“ Mandys Augen leuchteten auf. „Das ist ja toll!“

Elfgart zeigte wieder sein Fernsehserienlächeln. „Ihr könnt von Überstunden gar nicht genug bekommen, was?“

Erste Indizien

Gähnend starrte Lale auf einen der vielen Monitore. Die elektronischen Bilder verschwammen vor ihren müden Augen. Sie zwinkerte und schaute auf ihr Telefon. Bisher hatte sich noch niemand auf ihre Veröffentlichung gemeldet. Das hatte sie sich anders vorgestellt. „Diese Monitore machen mich ganz schläfrig.“

„Quatsch, das macht Spaß.“ Mandy guckte neugierig in die verschiedenen Hallen und zoomte sich einzelne Bilder heran. „Eine bessere Chance gibt es doch gar nicht, Samson Perowski zu entdecken.“

Lale warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Richtig praktisch wäre es jetzt, wenn du überhaupt wüsstest, wie dieser Mensch aussieht.“

„Spielverderberin“, maulte Mandy. „Mir macht das Spaß.“ Sie deutete auf einen der Monitore und vergrößerte einen Bildausschnitt, der den Eingang von Halle 3 zeigte. „Gucke mal, der ist doch verdächtig!“

Lale betrachtete das Bild. „Verdächtig gutaussehend, wenn du mich fragst. Der tut doch gar nichts.“

„Der rüttelt am Mülleimer“, stellte Mandy fest.

„Weil er seinen Kaffeebecher loswerden will“, meinte Lale. „Ich wäre auch irritiert, wenn überall Abfallbehälter herumstehen, die nicht zu öffnen sind. Ein Kaffee wäre jetzt übrigens nicht schlecht.“

In diesem Moment summte Lales Handy auf dem Tisch herum. „Unbekannt“ erschien auf dem Display. Na endlich. „Petersen, hallo.“

„Hallo?“, rief eine männliche Stimme. „Bin ich da richtig? Ich habe diese Nummer aus der Tageszeitung.“

Lale sprang auf. „Da sind Sie goldrichtig. Kennen Sie den Mann auf dem Foto?“

„Ja. Ich habe ihn ein paar Mal gesehen“, sagte der Mann. „Sind Sie von der Polizei?“

„Ja, Entschuldigung“, beeilte sich Lale zu sagen. „Kriminalhauptkommissarin Lale Petersen.“

„Der ist also tot“, stellte der Mann fest.

Lale verkniff sich die Bemerkung, dass das in der Zeitung gestanden habe. „Wer sind Sie denn?“

„Fährmann, mein Name.“ Er räusperte sich.

„Gut, Herr Fährmann“, sagte Lale. „Können Sie mir etwas mehr über den toten Mann sagen? Sie haben ihn gesehen. Wo und wann?“

„Der war in den letzten Wochen bei uns in der Gegend unterwegs“, erklärte Fährmann. „Einer, der auf der Straße lebt, so was fällt auf bei uns.“

„Wo wohnen Sie denn?“, fragte Lale und zog sich einen Block mit Stift heran.

„Gohlis“, sagte Fährmann. „Ich gebe zu, ich war erst etwas beunruhigt, als der hier um die Häuser strich, aber meine Frau, die hat ihn sofort angesprochen und ihm etwas zu essen gegeben.“ Er räusperte sich erneut. „Meine Frau ist so eine, so eine Soziale.“

„Das spricht sehr für Ihre Frau.“ Lale machte sich Notizen. „Haben Sie auch mit ihm gesprochen?“

„Nur kurz“, erklärte Fährmann. „Er wirkte sehr höflich.“

„Alarm!“, rief Mandy und zoomte das Bild vom Messeeingang heran. „Ein Hund hat angeschlagen.“

Lale warf einen Blick auf den Monitor. Tatsächlich. „Herr Fährmann, können Sie mir Ihre Nummer geben, sodass ich mich später bei Ihnen melden kann? Ich würde sehr gerne mit Ihrer Frau sprechen.“

„Meine Frau ist erst am Nachmittag zu Hause“, sagte er. „Mit wem habe ich noch mal gesprochen?“

Lale wiederholte Namen und Amtsbezeichnung und notierte seine Telefonnummer. Mit einem „Ich bin dann mal weg“ lief sie hinüber in die Glashalle. Zum Glück war noch nicht viel Betrieb, sodass sie flott den Eingangsbereich mit seinen Ticketschleusen erreichte. Flimm, Elfgart und ein Hundeführer standen um eine junge Frau herum, die verstört wirkte. Der Hund lag in Lauerstellung vor ihrem Rucksack und bellte in regelmäßigen Abständen.

„Schnell sind Sie ja“, begrüßte Elfgart Lale und deutete auf den Rucksack. „Der Kollege mit vier Pfoten hat etwas gefunden. Experten sind im Anmarsch.“

„Aber das ist unmöglich“, sagte die junge Frau. „Ich habe nichts Gefährliches in meiner Tasche. Was soll denn da drin sein?“

„Sprengstoff“, sagte Flimm.

„Sprengstoff?“ Die junge Frau riss die Augen auf. „Woher soll ich denn Sprengstoff haben?“

„Das würde uns auch interessieren.“ Elfgart sah sie durchdringend an. „Können Sie sich ausweisen?“

„Ja.“ Sie beugte sich zu ihrem Rucksack hinunter.

„Nicht anfassen!“, ging Flimm dazwischen.

Lale wunderte sich, dass ihnen kaum jemand von den Messebesuchern Aufmerksamkeit schenkte. Alle waren damit beschäftigt, Eintrittskarten zu kaufen und sich kontrollieren zu lassen. Das änderte sich allerdings, als zwei martialisch gekleidete Gestalten mit schwerem Gepäck im Laufschritt hereinkamen.

Jetzt zog sich der Hundeführer mit seinem Spezialkollegen zurück. „Guter Alfi!“ Er tätschelte den Hund. „Alfi braucht eine Pause. Bis später.“

Die beiden Sprengstoffexperten begannen den Rucksack zu untersuchen.

Flimm schaute verwundert. „Sollen wir nicht die Halle räumen?“

„Eine tickende Zeitbombe ist nicht drin.“ Der Experte öffnete den Rucksack. „Wir sprengen nicht immer alles in die Luft.“

Elfgart riskierte einen Blick. „Da ist gar nichts drin.“

„Das habe ich doch gesagt.“ Die junge Frau sah nun Lale an. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich nur Portemonnaie und Schlüssel dabei habe. Ich will schließlich Bücher kaufen.“

„Hier in der Außentasche ist etwas.“ Der Experte öffnete den Reißverschluss. „Ein Brotdose.“ Er nahm sie vorsichtig heraus und legte irgendwelches Gerät an. Lale runzelte die Stirn. Kamen jetzt gleich Drähte und Dynamit zum Vorschein?

„Vielleicht Plastiksprengstoff.“ Der Experte hielt die Dose hoch und Flimm zuckte zusammen. „Keine Angst! Den müsste man schon in offenes Feuer werfen, damit es ein bisschen knallt.“ Er lockerte endlos langsam und vorsichtig den Deckel der Dose. Als er den Deckel endlich abgenommen hatte, starrten alle hinein. „Malfabrot“, erklärte er mit Kennermiene. „Mit Aufstrich.“

Sein Kollege schnupperte an der Dose. „Das ist Pommersche.“

„Da hat Alfi aber sehr gut gearbeitet“, lobte Lale.

„Wer?“ Elfgart sah sie an.

„Der Hund“, erklärte Lale. „Ein gemeingefährliches Mischbrot mit berüchtigter Kalbsleberwurst, und Alfi hat das sofort erschnüffelt. Ohne Diensthunde wären wir echt aufgeschmissen.“

„Vernehmung“, ordnete Flimm an und wandte sich an Lale. „Wir gehen nach oben zu Ihrer Kollegin. Sie machen hier mit Elfi weiter.“

Elfi? Lale grinste breit, als sie Elfgarts Gesicht sah. Er war sichtlich verstimmt.

„Wir nehmen das Zeug mit zur Analyse“, sagte einer der Experten und überreichte der jungen Frau Schlüssel und Portemonnaie. „Den Rucksack müssen wir auch untersuchen.“

„Sie bekommen von mir eine Quittung“ sagte Flimm. „Kommen Sie.“

„Dann legen wir mal los.“ Lale musterte den Kollegen Elfgart. „Nicht dass uns eine Käsestulle durch die Lappen geht, Elfi.“

Der hatte bereits sein Telefon am Ohr. „Einen neuen Hundeführer mit SSH zum Eingang! Aber flott!“

Poeten-Parade

Frau Fährmann teilte sich gerne mit. Lale sollte es recht sein. Nur die lauernden Blicke der Kollegen nervten. Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster auf das Messegelände, wo sich die Aussteller auf den Weg zum Abendessen machten.

„Habe ich erzählt, dass er ein sehr höflicher Mann war?“, fragte Frau Fährmann. „Tadellose Tischmanieren. Der Mann war kein Penner …“

„Sie haben ihn zum Essen eingeladen?“, unterbrach Lale.

„Königsberger Klopse und Leipziger Allerlei“, war die Antwort. „Der war nicht von hier, sprach mit Akzent. Bestimmt ein Engländer, bei den Manieren.“

Lale hörte hinter sich ein gelangweiltes Pfeifen und vermutete, dass es von Elfgart kam. Der sollte sich bloß nicht so aufspielen. „Frau Fährmann, wissen Sie noch, worüber Sie sich unterhalten haben? Hat er Ihnen gesagt, warum er in Ihrer Gegend war?“

„Er hat etwas gesucht, eine Praxis oder Klinik“, erklärte die Frau. „Ich konnte ihm aber nicht weiterhelfen.“

Lale runzelte die Stirn. Ein konkreter Anhaltspunkt sah anders aus. „Dann danke ich Ihnen, Frau Fährmann.“

„Frau Kollegin, wir wären dann soweit.“ Flimm klang verärgert.

Lale verabschiedete sich eilig. „Sorry, war wichtig.“

„Wie schön, Frau Petersen, dass Sie uns nicht vergessen haben“, sagte Elfgart.

Lale grinste breit. „Wie könnte ich Sie vergessen, Elfi?“

„Gut“, ergriff Flimm das Wort. „Angesichts der Situation sind wir alle angespannt. Wir haben einen langen Tag hinter uns.“

„Und der ist noch nicht vorbei“, flötete Mandy. Sie wirkte nicht im Geringsten angespannt. „Wir müssen doch die Abendveranstaltungen überwachen.“

Elfgart stöhnte vernehmlich.

„Dann sollten wir zur Sache kommen“, schlug Lale vor. „Was sagen die Sprengstoffexperten? Vorsicht bei Marmeladenbroten?“

„Der Brotaufstrich war tatsächlich feine Kalbsleberwurst“, erklärte Flimm. „Aber unser zweiter Fund lieferte Spuren von Schwarzpulver.“

„Die Tasche der älteren Dame?“, fragte Mandy.

Lale kratzte sich hinterm Ohr. „War das etwa ein Stück ‚Schwarzpulver Kirschtorte’?“

Elfgarts Mundwinkel zuckten. „Wenn Sie nicht ständig telefonierten, hätten Sie das längst mitbekommen.“

Lale atmete tief durch. Ständig? Schön wär´s. Bisher hatte sie nur die Angaben der Fährmanns. „War es denn nun ein Sprengsatz?“

„Laut Expertenteam hätten die paar Krümel kaum etwas zum Explodieren gebracht“, erklärte Flimm. „Doch für die Handtasche einer älteren Dame sind Schwarzpulverreste ungewöhnlich.“

„Was hat die Dame denn dazu gesagt?“, begehrte Mandy zu wissen. „Kuriere müssten doch selbst gar nicht wissen, dass sie Kuriere sind.“

„Dann könnten allerdings Bombenteile ohne Sprengstoffanteil längst innerhalb des Messegeländes gelandet sein“, stellte Elfgart fest. „Keine schöne Vorstellung.“

„Sie meinen, dass uns bei unseren Kontrollen einiges durch die Lappen geht?“ Lale überlegte. „Sprengstoffe finden wir mit weiteren Kontrollen auf jeden Fall. Und wem nützt das ausgebuffteste Bombenmodell ohne Rums?“

Flimm lächelte verhalten. „Mir ist trotzdem unwohl bei der Vorstellung, dass in aller Seelenruhe Material zum Bombenbau hereingeschmuggelt wird. Heute war es noch ruhig. Am Wochenende ist die Hölle los.“

„Was sagt denn Frau Mayer?“, fragte Mandy. „Sie ist doch der Boss.“

„Ich würde das lieber zuerst mit Ihnen besprechen“, erklärte Flimm. „Außerdem will ich nicht nur ein Attentat verhindern. Ich will die Attentäter!“

Lale warf einen Blick auf die Uhr. „Könnten wir die vielleicht morgen schnappen und uns jetzt auf die Sicherheit konzentrieren?“

„Die Frau Kommissarin ist wohl doch nicht so arbeitseifrig wie sie tut.“ Elfgart grinste blöde. „Scharf auf Feierabend, was?“

„Herr Kollege“, entgegnete Lale. „Sie wollen sicher schnell hier raus, um eine zu rauchen. Dann sind Sie vielleicht nicht mehr so ein Stinkstiefel.“

„Elfi, deine Kommentare sind nicht hilfreich“, sagte Flimm. „Ihre Retourkutschen auch nicht, Frau Petersen.“

„Wir lassen morgen einfach niemanden mehr mit Tasche hinein“, schlug Mandy vor.

„Ich bin grundsätzlich für mehr Transparenz“, schleuderte Lale dazwischen. „Wir sind hier in Leipzig! Warum sagen wir den Leuten nicht, was Sache ist? Ich glaube kaum, dass die Buchmesse darunter leiden würde.“

„Aber die Ermittlungen erschwert es“, gab Flimm zu bedenken.

Lale stemmte die Hände in die Hüften. „Arbeiten wir hier an unserer persönlichen Erfolgsstatistik, oder wollen wir möglichst viel Sicherheit bieten?“

Die Leipziger Kollegen sahen Lale an. Es war ausgerechnet Elfgart, der meinte: „Dieter, du musst zugeben, dass sie Recht hat.“

Flimm streichelte versonnen seinen Schnäuzer. „Machen Sie das mal dem Staatsanwalt klar.“

„Machen Sie das Soraya Mayer klar, und die macht es dem Staatsanwalt klar“, schlug Lale vor.

„Sie hat Angst, dass das Neonazi-Schlagzeilen gibt.“ Elfgart rieb sich das Kinn.

„Neonazis und Buchmesse?“ Lale lachte auf. „Neonazis können gar nicht lesen, sonst wären sie doch keine Neonazis.“

„Außerdem sind blöde Schlagzeilen immer noch besser als ein Blutbad“, erklärte Mandy. „Wir müssen dem Staatsanwalt sagen, dass wir keine Sicherheit garantieren können. Stellt euch vor, es passiert etwas - und dann kommt raus, dass es vorher schon Drohungen gab.“

Lale nickte. „Wir können die Sicherheit der Leute nicht den Marketingstrategien der Messeveranstalter oder den Kommunikationsstrategien der Staatsanwaltschaft unterordnen.“

„Das sehe ich genauso.“ Elfgart sah Flimm an.

„Nun gut.“ Flimms Gesicht drückte Unbehagen aus.

Mandy sprang auf. „Dann können wir uns jetzt endlich um die Abendveranstaltungen kümmern?“

Flimm zückte einen Zettel. „Sie fahren mit Frau Petersen ins Gohliser Schlösschen. Dort gibt es eine große Veranstaltung, „Poetische Panoramen“. Ole und ich gehen zur „Leipziger Leserunde“. Wir bleiben in Kontakt.“

Lale warf einen Blick auf ihr Handy. Das Batteriesymbol war noch halb gefüllt. Sie ergriff den Henkel von Mandys Reisetasche. „Die muss doch sicher mit, oder?“

Wenig später hatten die beiden Kommissarinnen die Krimifracht im Kofferraum ihres Dienstwagens verstaut und fuhren los. Lale bemühte sich, die Ansagen des Navigationssystems auf dem Stadtplan nachzuvollziehen. Als sie die Maximilianallee verließen, rief sie: „Nicht gleich wieder abbiegen, fahr weiter geradeaus!“

„Warum?“ Mandy wechselte die Spur. „Hast du eine Abkürzung entdeckt?“

„Eher einen sinnvollen Umweg“, entgegnete Lale. „Diese Fährmanns haben den Mann in ihrer Wohngegend gesehen. Und da sie in Gohlis wohnen und wir zum Gohliser Schlösschen fahren …“

„… machen wir einen kleinen Umweg und schauen uns ein bisschen die Gegend an.“ Mandy drehte dem Navigationsgerät den Ton ab.

„Da vorne an der Tankstelle nicht links, sondern geradeaus fahren.“ Lale deutete auf eine blaue Leuchtreklame. „Lange gibt es sowieso nichts mehr zu sehen. Es ist schon ganz dämmrig.“

„Zum Essengehen reicht die Zeit nicht, aber rumfahren ist besser als rumstehen.“ Mandys Fuß drückte innig das Gaspedal.

Sie fuhren auf einer holprigen Straße durch eine grüne Wohngegend. Mandy bog links ab, dann wieder rechts und wieder links. Lale gab es auf, ihre Strecke auf dem Stadtplan zu verfolgen. Sie betrachtete aufmerksam die Umgebung. Bei Mandys Zick-Zack-Kurs war es ratsam, den Blick in die Ferne zu richten und den Magen per Gehirn zu überlisten. Inzwischen war der Straßenrand von Stadthäusern gesäumt.

„Schöne Gegend.“ Lale deutete hinaus. „Viel sanierter Altbau.“ Je weiter sie in Richtung Süden fuhren, desto besser gefiel Lale die Umgebung. Sie konnte sich vorstellen, dass ein Obdachloser hier nicht ins Straßenbild passte.

„Schau mal, hier sind wir richtig.“ Mandy deutete auf ein Schild mit der Aufschrift Poetenweg.

Lale warf nun doch einen Blick auf den Stadtplan. „Du hast Recht, da vorne links, das muss das Schlösschen sein.“

Mandy hielt am Straßenrand. „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“

„Das wurde auch Zeit.“ Lale warf einen Blick auf ihre Uhr. „Komm, sonst sind die mit der Bombe schneller.“

Am Eingang stellte sich ihnen ein Herr im dunklen Anzug in den Weg. „Ihr Karten bitte.“

Mandy zückte ihren Dienstausweis. „Wir gehören zum Sicherheitsteam der …“

„… der Buchmessenveranstaltungen“, ergänzte Lale schnell und hielt ebenfalls ihren Ausweis hin.

„Polizei?“ Der Mann machte ein betroffenes Gesicht. „Gibt es Sicherheitsbedenken?“

„Es gibt immer Sicherheitsbedenken“, antwortete Lale.

„Es ist aber schon voll.“ Der Mann räusperte sich.

„Ein Grund mehr, die Leute genau unter die Lupe zu nehmen“, sagte Lale streng. „Wo geht es denn zu dieser Poeten-Parade?“

„Poetische Promenaden“, korrigierte der Einlasser. „Die Treppen rauf, 2. Etage, Oesersaal.“ Er zögerte. „Aber bitte, keine Schießerei.“

Lale war schon an ihm vorbeigeflitzt und stand auf der Treppe. „Frau Schneider, du hast es gehört: Heute wird mal nicht wild herumgeballert.“

Mandy schnitt eine Grimasse und folgte Lale in den großen Saal. Es waren fast alle Stühle belegt.

„Da vorne sind noch zwei.“ Mandy lief zwischen den Stuhlreihen hindurch. „Mittendrin haben wir alles genau im Blick.“

Flink drückten die Kommissarinnen sich an den bereits sitzenden Gästen vorbei. Lale schaute sich im Saal um. Das Publikum wirkte bunt gemischt, vom studentischen, bärtigen Poesiefreund bis zur aufgebrezelten Dékolletéeträgerin war so ziemlich alles dabei. Lale ließ sich auf einen Stuhl zwischen Mandy und einen älteren Herrn sinken. Wenig begeistert erschnupperte sie eine Mischung aus Mottenkugeln, feuchter Wäsche, Zahnfäule und getrocknetem Schweiß. Sie verzog das Gesicht und musste unwillkürlich an den toten Obdachlosen denken. Aus reiner Mordlust hatte man ihm nicht den Kehlkopf eingedrückt. Den hatte nur jemand angefasst, weil ein Mord sein allerletzter Ausweg gewesen war.

Lale warf den Kopf in den Nacken und betrachtete die dunkel dräuenden Wolken an der Decke. Anmutige Gestalten räkelten sich darauf und Engelswesen schienen durch das Himmelblau zu schweben.

Ein duftendes Gemisch aus Magensäure, Knoblauch und Alkohol streifte ihr Gesicht. „Der Lebensweg der Psyche“, hauchte ihr Nebenmann. „Nach dem Maler wurde dieser Saal benannt, Adam Friedrich Oeser.“

Lale hielt den Atem an. Der Geruch war penetrant.

„Oeser? Sagt Ihnen der Name etwas?“, hauchte der stinkende Bildungsbürger weiter. „18. Jahrhundert. Goethe hat bei ihm gelernt.“

In diesem Moment trat zum Glück die erste Poetin neben den Flügel. Sie war ein pummeliges Knäuel in Grün.

Mandy stupste Lale an. „Voll froschig.“

Stirnrunzelnd verfolgte Lale die lyrische Muppetshow. Die Frau hüpfte herum wie eine als Kermit verkleidete Miss Piggy und rief mit schriller Stimme Wortfetzen durch den ehrwürdigen Raum. „Satzkadaver, Schundpalaver“ schien den Refrain ihrer unverständlichen Strophen zu bilden. Während Mandy leise vor sich hin kicherte, verspürte Lale Kopfschmerzen. Sie schloss die Augen. Ein Nickerchen wäre jetzt das Richtige gewesen. Doch man schien ihr keine Ruhe zu gönnen. Nach einem letzten frenetischen „Satzkadaver, Schundpalaver!“ und einem eher höflich verhaltenen Applaus, warf sich ein junger Mann auf den Boden. Inbrünstig behauptete er, sich im „Schützengraben seines inneren Krieges“ dem Kampf zu stellen, um mit „geballter Panzerfaust“ eine „Granate der Lust“ dem „Gemetzel der Gedanken“ entgegen zu schleudern. Sie sah, wie Mandy sich bereits in den eigenen Ärmel verbissen hatte. Mitten im performten „Taumel im Rhythmus der Schuld“ schrillte ein Telefon auf. Lale brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ihr Handy war. Dann griff sie beherzt in die Tasche und nahm erfreut den Anruf entgegen. „Hallo!“

Mandy stupste sie am Arm und deutete auf den Lyriker, der sie entsetzt anstarrte, während sich böse Blicke und Kopfschütteln im Saal verstärkten.

„Bleiben Sie dran!“ Lale sprang auf, schob sich durch die Reihe und verließ den Saal. Sie hoffte inständig, dass sie die Poeten-Parade nicht gegen ein Gespräch mit Soraya Mayer eintauschen musste. „Hallo?“

„Hallo? Ich rufe an wegen die Foto in der Newspaper“, sagte eine weibliche Stimme mit ausländischem Akzent.

Lale atmete auf. „Das ist ja großartig.“

„Aber die Mann ist tot.“ In der fremden Stimme schwang Vorwurf. „Das ist doch so, nicht wahr?“

„Ja, und das tut mir leid“, beeilte sich Lale zu versichern. „Kennen Sie ihn denn?“

„Well, er ist mein Boss“, war die Antwort.

„Können wir uns treffen?“, fragte Lale. „Wohnen Sie in Leipzig?“

„Ich bin gerade angekommen“, erklärte die fremde Frau. „From Australia. Murray wollte mir abholen von die Station.“

„Murray? Ist das sein Name?“ Lales Gehirn war in Bereitschaft.

„Ja, Murray Bell Fergusson. Ich wartete lange Zeit.“ Sie klang jetzt traurig. „Er kam nicht und ich sah dann die Foto in der Newspaper.“

„Sie sind also noch am Bahnhof.“ Lale war bereits auf der Treppe nach unten und nahm die beiden letzten Stufen mit einem Sprung. „Bleiben Sie, wo Sie sind, das heißt nein, gehen Sie zu Gleis, ähm, 10! Ich bin gleich bei Ihnen!“

„Stop!“, rief die Fremde. „Wer sind Sie eigentlich?“

„Lale Petersen mein Name. Kriminalpolizei“, erklärte Lale eilig. „Und Sie heißen …?“

„Julie.“ Sie räusperte sich. „Julie Brown. Ich bin die personal assistant von die berühmte Schriftsteller.“

Tasmanische Töne

„Zum Westeingang oder zum Osteingang?“, fragte die Taxifahrerin.

„Haupteingang“, antwortete Lale.

Die Taxifahrerin schmunzelte. „Sie sind nicht von hier, was?“

„Aus Dresden“, sagte Lale. Immer wieder versuchte sie, sich an den genauen Namen des Toten zu erinnern. Murray … das war hängen geblieben.

„Nu, Dresden kenn ich ooch.“ Die Taxifahrerin lachte. „Aber ich kenne eine ganze Menge. Ich bin Monate lang durch Afrika gereist und habe in Neuseeland Schafe geschoren. Aber am besten war Australien, sechs Monate Outback.“

Lale sah sie verwundert an. „Und was haben Sie in Dresden gemacht?“

„Das gleiche wie in Barcelona, studiert. Literaturwissenschaft“, erklärte sie freimütig. „Brotlos, aber endgeil!“

Lale horchte auf. „Dann lesen Sie gerne?“

„Wenn man fürs Lesen Geld bekommen würde, wäre ich ein Geldsack.“ Sie deutete auf ein Taschenbuch, das zwischen den Vordersitzen klemmte. „Ich lese alles, was ich in die Finger bekomme.“

„Sagt Ihnen Murray Del Furgosson oder so ähnlich etwas?“, fragte Lale.

„Murray Bell Fergusson meinen Sie“, mutmaßte die Fahrerin. „Australischer Autor. Tolle Thriller!“

„Aha.“ Lale fühlte sich spontan ungebildet. „Haben Sie schon viel von ihm gelesen?“

„Zwei oder drei Bücher“, erklärte sie. „Aber nur, weil ich manches im Original lese. Es gibt bisher kaum etwas in deutscher Übersetzung.“ Die Fahrerin setzte den Blinker und lenkte den Wagen auf einen Platz, auf dem bereits Taxis warteten. „Da sind wir.“

Lale sah sich um. Wo war denn nun der Eingang?

„Fergusson soll dieses Jahr sogar zur Buchmesse kommen.“ Die Taxifahrerin stoppte hinter einer Reihe von Wagen. „Letztes Jahr habe ich übrigens Daniel Kehlmann gefahren, und im Jahr davor Elke Heidenreich.“

Lale war fast erleichtert, diese Namen zumindest schon mal gehört zu haben.

„5,20 bitte.“ Sie stoppte die Taxiuhr. „Brauchen Sie eine Quittung?“

„Ja bitte.“ Lale drückte ihr einen 10-Euro-Schein in die Hand. „Stimmt so.“

„Danke!“ Die Taxifahrerin griff nach dem Block und füllte schwungvoll eine Quittung aus.

„Sie haben mir sehr geholfen.“ Lale öffnete die Tür. „Nicht nur transportmäßig.“

„Gerne doch. Da West, dort Ost.“ Sie reichte Lale die Quittung und zeigte nach vorne und nach hinten. „Lesen Sie mal was von Fergusson. Es lohnt sich. Ich hoffe, dass er noch viele gute Thriller schreibt.“

Lale stieg aus. Diese Hoffnung war nach dem Stand der Dinge kaum zu erfüllen, aber das wollte sie der netten Leseratte lieber nicht auf die Nase binden.

Bald darauf saß Lale mit Julie Brown in einem Lokal in der Leipziger Innenstadt. Sie waren vom Bahnhof aus durch eine Fußgängerzone geschlendert, bis sie in die Gegend gekommen waren, die Lale vom Vorabend bekannt vorkam. Heute herrschte noch mehr Betrieb, und da sie beide Hunger hatten, hatten sie sich schnell im Gedränge in einen der Höfe geschoben, um in einem Lokal noch einen Tisch vor den Toiletten zu ergattern.

Julie Brown inspizierte die Speisekarte und Lale beobachtete sie. Sie war vielleicht Anfang Dreißig, wirkte sehr gepflegt und attraktiv mit ihren schulterlangen dunklen Haaren und den wasserblauen Augen. Schnell legte sie die Karte wieder zur Seite und bestellte Pasta. Lale schloss sich an.

„Sie kommen also aus Australien?“, eröffnete Lale den Dialog.

Julie Brown nickte. „Tasmanien.“ Sie zog die Zeitung hervor. Sie war so gefaltet, dass die Aufschlagseite des Lokalteils mit dem Bild des Toten vorne prangte. Nachdenklich betrachtete sie das Bild.

„Sind Sie denn ganz sicher, dass er das ist?“ Lale lauerte.

„I´m quite sure.“ Sie fuhr sich durch die Haare. „Das ist MBF.“

„MBF?“ Lale stutzte. „Ist das sein Kürzel?“

Die Tasmanierin nickte. „Bei uns in Hobart wird Murray nur so genannt. MBF für Murray Bell Fergusson.“

Lale nahm einen Schluck Mineralwasser. „Was wollte er in Leipzig?“

Julie Brown legte die Zeitung zur Seite. „Er hat eine Auftritt am Wochenende in die Buchmesse. Deshalb er ist schon früher angereist. Und für die Recherche an der neue Thriller. Der spielt in Germany.“

Lale wartete ab, bis der Kellner die Pasta serviert hatte. „Er hat also recherchiert. Nur in Leipzig, oder wollte er noch andere Regionen Deutschlands aufsuchen?“

Julie Brown schob sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund und zuckte mit den Schultern.

„Wissen Sie, worum es in seinem neuen Thriller geht?“ Lale kaute und musterte die fremde Frau genau. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass diese Julie Brown mehr wusste als sie sagte.

„Er nur sprach von Leipzig“, sagte sie. „Mehr weiß ich nicht.“

„Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Lale spürte, dass die Frau innerlich mit sich rang.

„I don´t know.“ Julie Browns Mimik blieb verschlossen.

Lale ging es vorsichtig an. „Sie sind doch seine Assistentin. Was sind denn da Ihre Aufgaben?“

Julie Brown stocherte auf ihrem Teller herum. „Dies und das, was gemacht werden muss.“

„Und was ist das?“, insistierte Lale. „Tippen Sie seine Manuskripte oder verkaufen Sie die an Verlage?“

Julie Brown zögerte. „Ich mache Termine, mit dem Agenten, mit der Verlag, im TV. Booking, Travelling and so on.“

„Und Sie haben keine Ahnung von seiner inhaltlichen Arbeit?“ Lale war skeptisch. Es war unwahrscheinlich, dass MBFs Assistentin weniger als eine Tippse war.

„Sometimes.“ Sie sah Lale mit flackerndem Blick an. „Manchmal ich mache Recherchen für Murray.“ Sie rührte in ihrer Pasta herum.

„Auch diesmal?“, bohrte Lale. „Sie müssen doch irgendetwas wissen! Warum hat er Sie denn nach Leipzig bestellt? Schließlich ist das von Tasmanien aus nicht mal eben um die Ecke. Warum kommen Sie also extra hierher?“

Julie Brown öffnete die Außentasche ihres kleinen Trolleys, zog eine Mappe heraus und reichte sie Lale. „Das sollte ich für ihn heraussuchen. Er wollte alle diese Artikel von die letzten Jahre aus dem World Wide Web.“

Lale schlug die Mappe auf und blätterte. Es waren nur kurze Beiträge und Nachrichten, kaum bebildert. Ausdrucke von Online-Artikeln aus Zeitungen. Es ging um Obdachlose, Straßenkinder, die gesucht wurden, Wohnungslose, die man tot aufgefunden hatte. Die meisten Texte waren in deutscher Sprache verfasst und hauptsächlich in Zeitungen aus Sachsen erschienen. „Die Artikel sind in Deutsch. Murray sprach ebenfalls deutsch?“

Julie Brown nickte. „Wir haben beide deutsche Vorfahren. Wir haben oft in Deutsch gesprochen miteinander. Training, Sie verstehen?“

Lale verglich die Erscheinungsdaten der Artikel. Es lagen nicht nur Wochen, sondern Monate dazwischen. Es gab sogar Beiträge, die von 2008 und 2009 datierten. „Haben Sie eine Ahnung, warum er das nicht selbst recherchiert hat, wenn er doch hier war?“

„Nein. Er hat mich informiert zu suchen diese Texte, bevor ich komme.“ Sie sah Lale an. „Sie glauben mir nicht. Aber ich kenne wirklich nicht seine Ambition.“

Lale zog die Augenbrauen hoch. „Wussten Sie, dass er hier selbst als Obdachloser unterwegs war?“

„No.“ Julie Brown nippte an ihrem Wein. „Er hat in der Straße gelebt?“

„Nun, zumindest hat er sich diesen Anschein gegeben.“ Lale deutete auf die Mappe. „Und Ihre Recherchen beschäftigen sich mit diesem Thema. Es passt ins Bild.“

„Mysterious“, murmelte die Tasmanierin. Sie schob ihren Pastateller zur Seite.

„Wovon handeln denn seine Bücher?“, wollte Lale wissen. „Ich habe gehört, dass er Thriller schreibt.“

„Right.“ Julie Brown starrte in ihr Glas.

„Sie sind seine Assistentin“, sagte Lale. „Sie werden doch seine bisherigen Bücher kennen! Hat er bestimmte Themen? Geht es mehr um Action oder Psycho?“

„Society“, erwiderte Julie Brown. „Es geht um reale Kriminalfälle, die vertuscht wurden oder nicht gelöst. Real crime.“ Sie trank noch einen Schluck Wein. „Er war in die Militär, hat Policeman gespielt. In Tasmania er ist inzwischen sehr bekannt.“

In diesem Moment vernahm Lale plötzlich Applaus um sich herum. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Gäste von den Nebentischen ihre Aufmerksamkeit auf eine kleine Bühne richteten. Lale wandte sich um. Ein Mann nahm an einem runden Tisch auf der Bühne Platz, knipste eine altmodische Stehlampe an und blinzelte nervös ins Publikum. Er griff nach einem Mikrofon, und dem Klatschen folgten ohrenbetäubende Quietschtöne. Dann begann der Mann mit zitternden Stimmbändern etwas vorzulesen. Die von ihm belesene „Aura des Bösen“ stand in lebhaftem Kontrast zu seinem Auftreten.

Julie Brown tippte Lale auf den Arm. „Was macht diese Mann da?“

Lale seufzte. „Er liest. Oder er versucht es zumindest.“ Die „Aura des Bösen“ versickerte in Versprechern und Stottereinlagen und der lesende Kopf erglühte in Schamesröte. Das Mikrofon jaulte immer wieder gequält auf.

„Warum tut er das?“, fragte die Tasmanierin. „Das ist sehr unangenehm.“

Lale vermutete, dass der offenbar sehr theoretische Fachmann für die „Aura des Bösen“ das ebenso empfand und ihr spontanes Fremdschämen ging in handfestes Mitleid über. „So etwas tun hier derzeit viele. Ich fürchte, man zwingt die Leute dazu. Die einen zum Lesen, die anderen zum Zuhören.“

Wer, wie, was?

Lale klammerte sich geradezu an ihren Pappbecher, als sie hinter Mandy das Congress Center der Messe betrat.

Mandy drehte sich um. „Sag mal, Lale, was schleichst du denn so? Das ist schon dein zweiter Kaffee nach dem Frühstück. Langsam müsstest du doch wach sein.“

Lale gähnte demonstrativ. „Ich habe heute Nacht kaum ein Auge zugetan. Ich fühle mich wie gerädert.“

„Habe ich so laut geschnarcht?“ Mandy schaute betroffen.

„Nein, du hast geschlummert wie ein Baby.“ Lale winkte ab. „Was hatten dir deine Barbekanntschaften denn eingeflößt, dass du nicht einmal mehr Lust zum Lesen hattest?“

„Cocktails.“ Mandy strahlte. „Aber ‚Barbekanntschaften’ ist wohl kaum die richtige Bezeichnung für die interessanten Kontakte, die ich gestern Abend knüpfen durfte.“

„Oho!“ Lale versuchte es mit einem schiefen Grinsen. „Wirst du jetzt Reality-Kommissarin im Fernsehen?“

Sie kicherte. „Ich hatte nur sehr anregende Gespräche mit ein paar wichtigen Verlagsleuten aus München und Frankfurt. Stell dir vor, die wohnen auch alle bei uns im Hotel!“

„Definiere wichtig.“ Lale seufzte. „Etwa so wichtig, dass jeder von ihnen sein eigenes Einzelzimmer hat?“ Sie warf schwungvoll ihren Kaffeebecher in Richtung Papierkorb. Er prallte ab und rollte über den grauen Kunststoffboden. „Mist!“

„Das habe ich sie nicht gefragt“, erklärte Mandy ernsthaft. „Aber wen die so alles kennen, lauter berühmte Leute!“

Lale hob den Kaffeebecher auf. „Etwa deinen Samson Perowski?“

Mandy öffnete die Tür zur Einsatzzentrale. „Nö, den leider nicht. Aber es hätte ja sein können.“ Sie ließ Lale den Vortritt.

„Moin, moin“, schmetterte Lale in den Raum. „Nanu?“ Sie warf einen Blick hinter die zahlreichen Monitore. „Keiner da?“

Mandy nahm vor den Bildschirmen Platz. „Guck mal, die machen schon die Kontrollrunde. Und deine spezielle Freundin ist diesmal auch dabei.“

Lale beobachtete am Bildschirm, dass Soraya Mayer auf einen Sicherheitsmenschen einredete. „Wie gut, dass die Übertragung ohne Ton ist.“

In diesem Moment eilte Flimm zur Tür herein und stutzte. „Sie sind schon da? Wir hatten Sie erst später erwartet.“

„Guten Morgen“, sagte Lale. „Wir sind früher dran, weil wir in einer Stunde einen Termin haben. Wir müssen also gleich wieder los.“

Flimm runzelte die Stirn. „Das sollten Sie mit der Chefin besprechen. Die kommt gleich.

Lale musterte ihn. „Interessiert es Sie gar nicht, was wir für einen Termin haben?“

„Nein.“ Flimm schüttelte den Kopf und wechselte das Thema. „Wir haben alle Hallen überprüft. Jetzt geht noch mal eine Hundestaffel durch.“

„Werden die Hunde denn nicht am Eingang eingesetzt?“ Mandy konnte ihren Blick kaum vom Monitor lassen.

„Doch, dort auch“, erwiderte Flimm. „Wir haben eine zusätzliche Staffel aus Chemnitz angefordert.“

„Jetzt kommt sie gleich“, prognostizierte Mandy.

Lale musterte den älteren Kollegen. Warum war er so desinteressiert? „Wo steckt denn der stets stänkernde Elfgart?

Flimm strich über seinen Schnauzbart. „Elfgart ist sicher noch draußen, um zu rauchen.“

„Meinethalben. Es ist schließlich seine Lunge“, sagte Lale und lauschte. Sie hörte Stimmen vor der Tür, die lauter wurden. Schon trat eine zeternde Soraya Mayer ein.

„Sie können sich doch nicht ungefragt vom Einsatzort entfernen! Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder macht, was er will?“ Ihre Stimme erreichte wieder erstaunliche Höhen. Der gescholtene Elfgart folgte ihr mit finsterer Miene.

Mandy und Lale tauschten einen langen Blick. „Frau Mayer, einen wunderschönen guten Morgen“, säuselte Lale.

„Sie sind schon da?“ Die Kripo-Chefin verzog das Gesicht, als habe sie in eine Zitrone gebissen. „Wir haben Sie erst später erwartet.“

„Ich weiß“, erklärte Lale. „Aber wir haben einen Termin und dachten deshalb …“

„Einen Termin?“, schrillte Soraya sogleich auf. „Das wüsste ich aber! So geht das nicht! Sie können doch nicht ungefragt, hören Sie mir mal zu …“

„Stopp!“, ging Lale dazwischen. „Wir sind doch hier, um das mit Ihnen zu besprechen. Es gibt neue Erkenntnisse im Fall des toten Obdachlosen.“

Soraya Mayer stemmte die Hände in die Hüften. „Und warum weiß ich davon nichts? Warum werde ich nicht informiert?“

Jetzt sprang Mandy auf, ihre großen Augen funkelten angriffslustig. „Wir sind doch hier, um Sie zu informieren! Hören Sie endlich mal auf mit Ihrem ständigen Gemecker und hören Frau Petersen zu!“

Über Elfgarts Gesicht huschte ein unverschämtes Grinsen und Flimm schien sich mächtig auf die Monitorbilder zu konzentrieren.

Die Kripo-Chefin starrte Mandy an und wandte sich dann Lale zu. „Was gibt es denn Neues im Falle unseres Obdachlosen?“

„Zunächst mal, dass er gar nicht obdachlos war“, sagte Lale. „Ich habe gestern Abend eine Frau getroffen, die meint, den Toten zu kennen. Wir fahren gleich mit ihr in die Rechtsmedizin. Sie soll ihn identifizieren.“