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Es lief schon mal besser für Kökkenmöddinger: kurze Fahrten, kaum Touristen, wenig Arbeit. Da kommt ihm ein zufällig aufgegabelter Kunde mit Sonderwünschen wie gerufen. Der Mann mit der Ausstrahlung eines Al Capone sucht nach einem durchzechten Wochenende sein Auto. Schon bald fragt sich Kökkenmöddinger, ob sein Fahrgast wirklich nur optisch einiges mit dem legendären Gangsterboss gemein hat. Augenscheinlich meidet er die Polizei und öffentliche Plätze. Auch sein Auto bleibt unauffindbar, während die Medien von einem ausgebrannten Wagen berichten, in dem eine Leiche lag. Kökkenmöddinger traut seinem seltsamen Fahrgast immer weniger. Doch da die beiden Männer eine besondere Leidenschaft für Blues teilen, entsteht eine geradezu freundschaftliche Verbindung. Und während sie vor dem organisierten Verbrechen ebenso flüchten wie vor der Polizei, brauen sich in der Öffentlichkeit wilde Spekulationen über eine Entführung zusammen. Ausgerechnet Kökkenmöddinger hält man für den Entführer. Eine Situation, die nur noch mit der Hilfe seiner Mitbewohnerin Jelena gemeistert werden kann … Ein spannender Kriminalroman voll verblüffender Wendungen und schrägem Humor!
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Seitenzahl: 295
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Christine Sylvester
Ganoven-Blues
Ein Dresden-Krimi
Kökkenmöddingers dritter Fall
Bild und Heimat
Von Christine Sylvester liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:
Neue Meister, alte Sünden. Ein Dresden-Krimi (2015)
Adel verzichtet. Ein Dresden-Krimi (2016)
eISBN 978-3-95958-762-4
1. Auflage
© 2018 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © iStockphoto LP / benkrut
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Man kann alles bezweifeln, nur nicht den Zweifel selbst.
René Descartes
Die Sache mit der Seele
»So ein Mist, pokkers!«, murmelte Kökkenmöddinger, als er mit dem Taxi vom Hof fuhr. Er drehte die Musik auf: Eric Clapton, »Still Got the Blues«, das traf genau seine Stimmung.
›Nimm dir ein paar Tage frei‹, hatte die Chefin gesagt, ›wir können keine Sonderschichten finanzieren. Wir können genau genommen nicht einmal die normalen Schichten finanzieren. Lass den Wagen auf dem Hof stehen.‹
Das klang nach Kurzarbeit. Und das schmeckte ihm nicht. Und keinesfalls würde er den Wagen stehen lassen. Gut, wenn er keine offizielle Schicht fuhr, dann eben nicht. Dann würde er auf eigene Rechnung arbeiten. Er durfte natürlich den Kollegen nicht die Kunden wegnehmen. Seine üblichen Standorte waren tabu.
Kökkenmöddinger lenkte sein Taxi in Richtung Innenstadt, während Clapton »So long ago, but I still got the blues …« hauchte. Es war immer noch besser, neben dem Wagen in der spätsommerlichen Sonne zu sitzen als zu Hause allein in der Küche. Ja, wenn er die ungewohnte Freizeit mit Jelena verbringen könnte. Das wäre ein Gewinn. Aber seine entzückende Mitbewohnerin und heimliche Herzdame war auf einer Fortbildung in der Lausitz. Vor dem nächsten Wochenende war mit einem gemeinsamen Abend nicht zu rechnen.
Rechnen … Das würde er in Zukunft wohl öfter tun müssen, denn die Geschäfte liefen in der Tat nicht gut. Dresden hatte nicht nur zu viele Taxis, sondern seit ein paar Jahren auch immer weniger Touristen. Und wenn, dann fuhren diese kurze Strecken, und das Trinkgeld saß auch nicht mehr so locker.
Er steuerte den Wagen durch den sonntäglich gemäßigten Verkehr. Alle Taxistände, die er passierte, waren mit wartenden Wagen bestückt. Er parkte in einer Seitenstraße und zog eines seiner Philosophiebücher aus dem Handschuhfach. Die Seele als Lebenshauch. Kökkenmöddinger seufzte. Ihm gefiel die Vorstellung von der Einheit von Körper und Seele, wie sie die alten Griechen beschrieben. Die untrennbare Einheit von Verstand, Wille und Lust in der Seele als Wesen des Menschlichen. Das konnte er empfinden. Nicht diese aufgeklärte Trennung von Körper und Seele. Jeder denkende Mensch spürte es schließlich, dass der Alltag nicht nur unvernünftig war, sondern einem immer wieder mitten durchs Gemüt latschte. Bei aller Erkenntnis und freiem Willen war der Mensch doch seinem Gemüt immer wieder ausgeliefert. Er konnte nicht glauben, dass sich die Seele immer noch in vermeintlich wissenschaftlichen Betrachtungen verhedderte.
Während Clapton wiederholt seinen Blues besang, warf Kökkenmöddinger das Buch auf den Beifahrersitz, drehte den Ton ab und stieg aus. Da vorn war ein Zeitschriftenladen, der sonntags geöffnet war. Dort bekam er auch einen anständigen Kaffee.
Als Kökkenmöddinger den Laden betrat, nahm er tatsächlich nicht nur den Duft von frischem Kaffee wahr, sondern auch das scharfe Zischen einer Espressomaschine. Er wandte sich einer langen Reihe von Zeitschriften zu. Mit irgendwelchen Adelsgazetten und Klatschblättern wollte er sich ebenso wenig aufhalten wie mit den vermeintlich investigativen Politmagazinen, deren Schlagzeilen ihm schon im Internet zu viel wurden. Er fokussierte den Blick auf wissenschaftliche Blätter aus Philosophie, Physik und Psychologie. Da, Denken & Verstehen war ein recht umfangreiches kleinformatiges Heft, das als Schwerpunkt »Seele« im Titel führte: »Von der Wahrheit der Seele zur Freiheit der Seele«. Er griff nach dem Heft und ging zum Verkaufstresen. »Einen Espresso, bitte, klein und stark.« Zügig zählte er ein paar Euro auf den Tresen.
»In Eile, wie immer.« Die Verkäuferin lächelte.
»Nein, eigentlich nicht.« Kökkenmöddinger rieb sich die Stirn. Er hatte es nicht eilig, aber das Gefühl, keine Zeit zu haben, saß tief in ihm drin. »Sie haben mich ertappt. Es fühlt sich nur immerzu so an, als sei man in Eile.«
Erst jetzt bemerkte Kökkenmöddinger einen weiteren Kunden, der hinzutrat. Offenbar war er mit der Auswahl von Zigarren beschäftigt gewesen und nun zu einem Ergebnis gekommen.
»Hiervon nehme ich eine Kiste«, sagte er mit dröhnendem Bass. »Die größte, die Sie haben.«
Kökkenmöddinger wunderte sich sogleich, wie er diesen Mann hatte übersehen können. Er war mindestens so groß wie er selbst und von ebenso kräftiger Statur. Sein weiter Mantel und der breitkrempige Hut ließen ihn sogar noch etwas stattlicher wirken.
Der Mann nickte ihm zu. »Sie haben da gerade etwas sehr Weises gesagt. ›Es fühlt sich nur immerzu so an, als sei man in Eile.‹ Das muss ich mir merken.«
Kökkenmöddinger grinste schief. »Ja, eigentlich sind wir alle ganz anders. Wir kommen nur so selten dazu, wir selbst zu sein.« Er nahm den kleinen Espressobecher und wandte sich zum Gehen.
Kaum hatte er sich vor dem Geschäft auf einer Bank niedergelassen und einen heißen Schluck genommen, verstellte ihm jemand die Sonnenstrahlen.
»Sie sind ja ein wahrer Philosoph.« Der Typ aus dem Laden nahm neben ihm auf der Bank Platz. »Ich darf mich doch zu Ihnen gesellen?«
»Sicherlich.« Kökkenmöddinger blinzelte in die Sonne. »Aber erwarten Sie nicht zu viel. Philosophie ist nur mein Medikament gegen schlechte Stimmungen.«
Der Mann lachte dröhnend. »Wenn das mal kein Placebo-Präparat ist.« Er zückte eine Zigarre und schnitt das Mundstück mit einer Taschenguillotine an. »Da habe ich etwas Besseres.« Er riss ein Streichholz an und streichelte gekonnt mit der Flamme die Zigarre. Dann steckte er sie in den Mund und brannte sie paffend und dampfend an.
Amüsiert beobachtete Kökkenmöddinger dieses Schauspiel. Der mächtige Schnurrbart des Mannes gab ihm die Aura eines dampfenden Walrosses. Kökkenmöddinger schielte auf seine Zeitschrift. Der Titel machte ihn neugierig. Das hatte schon lange kein Druckerzeugnis dieser Art mehr geschafft. Er leerte den Espressobecher und erhob sich. »So, ich muss weiter.« Mit einem Nicken deutete er hinüber zu seinem Wagen.
»Ist das Ihr Taxi?« Der Mann stieß Rauch aus.
»Ja.« Kökkenmöddinger drückte den Türöffner.
Der andere stand ebenfalls auf. »Sind Sie frei?«
Kökkenmöddinger schmunzelte. »Ja, ich bin frei. Da geht es mir nicht anders als der menschlichen Seele im Allgemeinen. Ich bin frei, weil mir gar nichts anderes übrigbleibt.«
»Sie sind nicht nur ein Philosoph«, stellte der Zigarren-Mann fest. »Sie kommen auch wie gerufen. Ich brauche Sie.«
Kökkenmöddingers Schmunzeln wurde breiter. Na also, da war doch sein erster Fahrgast. Er hielt ihm die hintere Tür auf. »Bitte sehr.«
Der Mann nahm samt dampfender Zigarre und Vorratskiste auf dem Rücksitz Platz. »Hervorragend. Bringen Sie mich zu meinem Auto.«
Kökkenmöddinger klemmte sich hinters Steuer und betrachtete den Mann im Rückspiegel. Er sah aus wie ein Al-Capone-Double. »Und wo steht Ihr Auto?«
»Keine Ahnung.« Der Mann zuckte die mächtigen Schultern. »Wir müssen es gemeinsam suchen.«
Kökkenmöddinger lachte. Das wurde ja immer besser. Mit ein bisschen Glück wurde es eine halbe Tagestour, bis dieser Mann sein Auto fand. »Wo haben Sie es denn zuletzt gesehen?«
»Es muss vor einem Jazzlokal stehen. Vor irgendeinem dieser Clubs, durch die wir letzte Nacht gezogen sind.« Er paffte. »Ich habe nicht mitgezählt. Blueskonzerte, Sie verstehen? Irgendwann musste ich den Wagen stehen lassen.«
»Oh, da gibt es aber eine Menge Lokale, die in Frage kommen.« Kökkenmöddinger ließ den Wagen an und schaltete die Musik ein.
»Clapton«, stellte der Fahrgast fest und ließ sich im Sitz zurücksinken. »Haben Sie die Bluesversion von ›After Midnight‹ von Clapton und J. J. Cale?«
»Aber sicher.« Kökkenmöddinger nickte und wählte das verlangte Musikstück. »Die beiden habe ich mal live erlebt.«
»Hier in Dresden?« Der Blues-Fan beugte sich vor und blies ihm den Qualm in den Nacken.
»Nicht direkt.« Kökkenmöddinger ließ das Fenster herunter. »Das war in San Diego.«
Bier, Beefsteak und Blues
»Hier ist weit und breit keine dunkle Limousine«, stellte Kökkenmöddinger fest, als er den Wagen zwischen der Synagoge und dem östlichen Aufgang zur Brühlschen Terrasse stoppte. »Sind Sie sicher, dass Sie im Bärenzwinger waren? Hier sind nicht immer Veranstaltungen.«
Sein Fahrgast verließ den Rücksitz und zückte eine weitere Zigarre. Es musste die vierte sein, seit er das Taxi vor dem Zeitschriftenladen bestiegen hatte. »Doch, doch, das kommt mir sehr bekannt vor.«
Das hatte er bereits gesagt, als sie vor dem ersten Jazzclub gehalten hatten, bei den diversen anderen Lokalen und zuletzt in der Lingnerstadt, die sie minutiös rund um den Motown Club nach geparkten Limousinen abgesucht hatten. Kökkenmöddinger beschlich der Verdacht, dass der Mann mehr als nur einen vorübergehenden Filmriss sein Problem nannte.
»Haben Sie schon in Erwägung gezogen, dass man Ihr Auto vielleicht abgeschleppt hat?« Kökkenmöddinger war ausgestiegen und reckte und streckte sich.
Der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Also wiederholte Kökkenmöddinger seine Frage.
»Nein.« Er blies Rauch in die Luft. »Ich kann Ihnen versichern, dass dem nicht so ist.«
»Ach, und wie können Sie da so sicher sein?« Kökkenmöddinger folgte dem Mann, der nun zum Eingang des Bärenzwingers hinunterschlenderte.
»Es ist so«, erklärte er knapp. »Glauben Sie mir.«
Kökkenmöddinger schnaufte. Gut, ihm sollte es recht sein.
Sie standen vor der verschlossenen Tür und studierten den Aushang. Tatsächlich, hier hatten an den vergangenen beiden Abenden Veranstaltungen stattgefunden. Die Bandnamen sagten Kökkenmöddinger nichts. Vermutlich regionale Gruppen.
»Schade, geschlossen.« Der Mann streckte den linken Arm vor. Unter dem Ärmel seines dunklen Mantels kam eine klobige Uhr mit riesigem Ziffernblatt zum Vorschein. »Wie wäre es mit einem Imbiss?«
Kökkenmöddinger lächelte. Dafür war er immer zu haben. »Wollen Sie dann noch weitersuchen?«
»Unbedingt. Ich mache keine halben Sachen«, erwiderte sein Fahrgast prompt.
»Gut.« Kökkenmöddinger sah sich kurz um. »Wir haben alle in Frage kommenden Lokalitäten auf der Altstädter Elbseite und sämtliche Eric-Clapton-CDs abgehakt. Ich schlage also vor, wir nehmen uns die andere Elbseite vor. In der Neustadt liegen die Clubs dichter beieinander. Dort bekommen wir auch etwas zu essen.«
»Und hoffentlich etwas Anständiges zu trinken.« Der Mann lachte dröhnend. »Nach ein paar Drinks erinnere ich mich wahrscheinlich besser an die letzte Nacht.« Er beugte sich im Taxi vor. »Haben Sie Muddy Waters?«
Kökkenmöddinger wählte einen Tonträger aus dem Speicher. So seltsam dieser Fahrgast auch war, musikalisch schwammen sie auf einer Wellenlänge.
Sie lauschten der markigen Stimme Muddys keine fünfzehn Minuten lang, da hatte Kökkenmöddinger das Taxi über Carolabrücke und Albertplatz in die Neustadt gelenkt. Hier herrschte noch mäßiger Betrieb, aber immerhin bereitete sich das Kneipenviertel Dresdens selbst an einem Sonntag wie heute auf das Nachtleben vor. Kökkenmöddinger regelte die Lautstärke herunter.
»Wir werden ein paar Schritte laufen müssen«, erklärte er seinem Fahrgast, während er das Taxi durch die Görlitzer Straße hinauf Richtung Alaunpark fuhr. Dabei hielt er weiterhin Ausschau nach einer dunklen Limousine. Davon gab es hier nicht allzu viele. »Was für ein Kennzeichen hat Ihr Wagen denn?«
»Sie fragen mich Sachen.« Der Fahrgast lachte. »Da muss ich nachschauen.«
Kökkenmöddinger hielt neben einer Parklücke und ließ das Taxi rückwärts rollen. Es war verdammt eng in der dicht beparkten Einbahnstraße. Er musste dreimal ansetzen und den Winkel korrigieren, bis der Wagen ordentlich in der Lücke stand.
»Da, ich habe es.« Der Mann wühlte in einer großformatigen Brieftasche. »MK-49-CC-12.«
»Bitte?« Kökkenmöddinger stieg aus. Konnte der Mann nicht richtig lesen? Oder brachte er nur Ziffern und Buchstaben durcheinander? »Kommen Sie aus dem Märkischen Kreis?«
Der Mann lachte schallend, während er sich vom Rücksitz erhob. »Sagen wir es mal so: Ich komme aus merkwürdigen Kreisen.« Dann wanderte sein Blick die Straße hinauf. »Also hier steht die Scheißkarre schon mal nicht. Egal, ich brauche etwas zu beißen.«
Kökkenmöddinger deutete auf einen Pub. »Schauen Sie, die haben geöffnet. Bestimmt bekommen wir dort auch etwas zu essen.«
»Nevermore«, sagte der seltsame Fahrgast.
»Nicht?« Kökkenmöddinger stutzte. Kräftiges Bier, deftiges Essen … Sollte er den Mann so falsch eingeschätzt haben?
»Doch, doch, sehr gut.« Er nickte. »Nevermore heißt der Laden. Sind Sie Fan von Edgar Allan Poe?«
Nun war es an Kökkenmöddinger, laut zu lachen. »Ach so. Ja und nein. Also Poe habe ich auch schon gelesen. Aber ich ziehe philosophische Texte der Kriminalliteratur vor.« Er hielt seinem Fahrgast die Tür auf. »Ich bezweifle allerdings, dass das ein Poe-Pub ist.«
»Die Auswahl an Bieren ist jedenfalls ordentlich.« Er hob seinen Hut an und grüßte in das Lokal. Augenblicklich waren alle Augen auf sie gerichtet.
Kökkenmöddinger beobachtete schmunzelnd, dass man ihnen sofort einen großen runden Tisch in einer gemütlichen Ecke anbot, einen Aschenbecher brachte und seinem imposanten Begleiter Hut und Mantel abnahm. Auch ohne Kopfbedeckung blieb der Mann eine mächtige, ehrwürdig ergraute Erscheinung. Sein Schnurrbart wirkte ohne Hut sogar noch eine Spur markanter.
»Wir hätten gern Bier«, gab er sogleich Auskunft und lachte dröhnend. »Es geht doch nichts über ein kühles Helles nach getaner Arbeit.«
Kökkenmöddinger setzte nur hinzu: »Für mich bitte alkoholfrei.«
Die Kellnerin notierte sich die Bestellung. »Möchten Sie etwas essen? Soll ich Ihnen die Karte bringen?«
»Ja und nein.« Der illustre Fahrgast lachte erneut. »Können Sie uns nicht einfach etwas empfehlen? Ich lege meine Wahl da lieber in Ihre Hände, als mich auf die Versprechen einer Speisekarte zu verlassen.«
Kökkenmöddinger war intensiv mit den Angeboten beschäftigt, die man mit Kreide auf einer Tafel notiert hatte. Erst jetzt gewahrte er zwischen Schnitzel und Sülze, dass die Kellnerin ausgesprochen attraktiv wirkte. Eine etwa dreißigjährige schlanke Brünette mit leuchtenden Augen und entzückenden Grübchen. Deshalb also gockelte sein Fahrgast so herum.
»Dann empfehle ich Ihnen eine unserer Spezialitäten.« Sie zeigte ein sympathisches Lächeln. »Nehmen Sie den Balkanteller.«
»Um Gottes willen!« Der Schnurrbart zuckte. »Alles, aber bitte keinen Balkan! Ich bin froh, wenn ich damit nichts zu tun habe.«
Die Bedienung schaute fragend von einem zum anderen, und Kökkenmöddinger schnaufte. Ihm wurde das langsam zu blöd. Er wollte etwas essen und das so schnell wie möglich. »Also, ich nehme den Balkanteller, wenn möglich mit Bratkartoffeln.«
Die hübsche Frau notierte und wandte sich wieder dem imposanten Bartträger zu. »Für Sie vielleicht ein Bäffschtek?«
»O ja, das ist eine tolle Idee!« Er nickte begeistert. »Und dazu bitte auch Bratkartoffeln.« Er blickte ihr unverhohlen aufs Hinterteil, als sie jetzt mit wippendem Gang Richtung Tresen verschwand. »Entzückend, nicht wahr?« Er stieß Kökkenmöddinger leicht in die Seite.
»Mmmh.« Kökkenmöddinger schämte sich etwas für seinen Fahrgast; vermutlich gerade weil er die Kellnerin ebenfalls sehr attraktiv fand.
»Sagen Sie mal, was ist das eigentlich, ein Bäffschtek?«
Kökkenmöddinger grinste breit. »Gemeint ist ein Beefsteak, also Hackbraten oder auch eine große Frikadelle.«
»Aha! Eine lustige Sprache ist das, dieses Sächsisch.« Der Fahrgast lachte. »Sie klingen allerdings nicht, als ob Sie von hier sind. Kommen Sie von drüben?«
Kökkenmöddinger stutzte. »Drüben? Sie meinen die gebrauchten Bundesländer?«
Der Fahrgast nickte, dass sein Schnurrbart bebte.
Kökkenmöddinger schüttelte den Kopf. »Nein. Genau genommen komme ich gar nicht aus Deutschland. Ich bin Däne.«
»Ah …« Der Bartträger sah ihn neugierig an. »Wo haben Sie denn Ihren Akzent gelassen? Der dänische Akzent ist toll, den müssen Sie nutzen. Der kommt sicher rasend gut an bei den Frauen.«
»So?« Kökkenmöddinger dachte an Jelena. Sie hatte ihm bisher die schönsten Komplimente für seine hochdeutsche Aussprache gemacht. Nun ja, sie setzte durch ihren Radiojob vielleicht andere Prioritäten. »Ich weiß nicht, ob das notwendig ist.«
»Haha.« Der Fahrgast klopfte ihm auf die Schulter. »Natürlich ist das notwendig. Schöne Frauen sind immer notwendig für uns Männer. Es geht doch nichts über eine schöne Frau.«
Kökkenmöddinger räusperte sich.
In diesem Moment ertönte eine Melodie. Das war doch … Kökkenmöddinger lauschte auf. Das war doch die elektronische Variante eines Johnny-Cash-Songs.
Sein Begleiter tastete die Taschen seines Sakkos ab, während der Sound kurz verebbte, um dann wieder laut zu werden.
»Ring of Fire.« Kökkenmöddinger grinste.
»Genau … Da ist es.« Er zog ein Smartphone hervor und sah aufs Display. »Sorry, da muss ich drangehen. Meine Frau …« Er nahm mit einer Fingerbewegung das Gespräch entgegen. »Mein Liebling, wie schön! Wie geht es dir, meine Beste? … Da hast du aber Glück … Ja, Glück, dass du mich erreichst … Ja, Schatz, du kannst es dir nicht vorstellen, was heute los ist!« Er zwinkerte Kökkenmöddinger zu. »Schätzchen, es jagt eine Besprechung die andere, du weißt doch, wie das ist, Schatz … Ja doch, den ganzen Tag … Seit heute Morgen … ein Termin nach dem anderen, einfach furchtbar!« Er zwirbelte sich den Bart. »Man kommt nicht einmal dazu, auf die Toilette zu gehen. Du kennst das doch … Sag mal, mein Hase, hast du dir gestern etwas Schönes gegönnt? Was Hübsches gekauft und eine Massage bekommen? … Das ist gut, das … Ja, dann lass dir doch noch etwas Leckeres zu essen aufs Zimmer bringen, schau einen schönen Film und … Ja, nein, warte nicht auf mich. Bei mir kann es heute spät … Ja, genau. Wir müssen noch die Ergebnisse von gestern Abend auswerten. Da ist viel zusammengekommen …« Er lachte auf, und es blieb unklar, ob das Lachen der Gattin oder dem Mithörer galt.
Kökkenmöddinger rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Was für eine seltsame Scharade.
»Ja, meine Beste. Ich habe dir ja gesagt, das wird hier leider kein Urlaub, auch nicht am Wochenende … Ja, das auch … Küsschen … Schlaf schön, hörst du, mein Liebes, und träum schön … von mir natürlich, ja … Ja, ich dich auch … Nein, Schatz, ich dich mehr … Ja, Küsschen!« Er beendete das Gespräch, legte das Smartphone zur Seite und seufzte vernehmlich. »Frauen sind so entzückende Wesen. Wenn sie nur nicht immer so anstrengend wären. Und so anhänglich.«
Kökkenmöddinger zog die Augenbrauen hoch und dachte an Jelena. Seiner Meinung nach hätte seine schöne Mitbewohnerin ruhig etwas anstrengender und anhänglicher sein dürfen.
Nun wurde das Bier serviert. Sein Fahrgast erhob das Glas, während Kökkenmöddinger noch alkoholfreies Gebräu aus der Flasche in sein Glas beförderte.
»Ach ja, die Damen! Immerzu brauchen sie Aufmerksamkeit.« Der Bartträger prostete ihm zu. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Kökkenmöddinger ist mein Name.« Auch er erhob das Glas.
»Ullmann-Brixdorf.« Er lachte. »Und ich dachte, mein Name sei kompliziert. Wie war das? Köddenmökken?«
»So ähnlich.« Kökkenmöddinger schmunzelte, wiederholte seinen Namen und buchstabierte ihn.
»Sie sollten mit dänischem Akzent sprechen«, riet Ullmann-Brixdorf erneut. »Das macht Frauen ganz kribbelig.«
Kökkenmöddinger räusperte sich. »Was lässt Sie vermuten, dass ich das möchte?«
»Na, sowas …« Der Schnurrbart zitterte unter einer Lachsalve, und gleich darauf unterbrach die attraktive Kellnerin den angefangenen Satz mit zwei überladenen Tellern.
Kökkenmöddinger lief das Wasser im Mund zusammen, als er Würstchen, Fleisch, Cevapcici, Käse und allerhand Salat und Gemüse gewahrte.
Sein Begleiter stieß ein wohliges Raunen aus. Dann deutete er auf Kökkenmöddingers Teller. »Balkan, ganz typisch!« Er nickte anerkennend. »Ein buntes Durcheinander, manches zerhackt und durchgedreht und jede Menge arme Würstchen.«
Kökkenmöddinger grinste schief. »Sie sind wohl Experte.«
»Allerdings.« Er schaufelte Kartoffeln auf seine Gabel. »Beeilen Sie sich, bevor die Gurken die Tomaten angreifen, weil sie mit den Zwiebeln paktieren. Diese Oliven … lebendige Handgranaten. Der Balkan war, ist und bleibt ein Pulverfass.«
Kökkenmöddinger langte heftig zu. Der Mann schien tatsächlich Experte zu sein. Trotz oder gerade wegen seines Sarkasmus wirkte er themensicher. Doch genau da setzten plötzlich Instrumente ein, und Applaus hob an. Die Gäste des Nevermore begrüßten eine Band. An eine Unterhaltung war bei dieser Lautstärke nicht mehr zu denken.
Kökkenmöddinger kaute genüsslich. Ullmann-Brixdorf tat es ihm gleich. Die Band coverte einige Stücke von den Blues Brothers. Das Essen war wirklich hervorragend. Im Gegensatz dazu fehlte der Musik allerdings etwas. Der Balkanexperte legte kritisch die Stirn in Falten. Am Essen konnte es auch bei ihm nicht liegen. Binnen weniger Musikstücke hatte er seine Riesenfrikadelle samt Bratkartoffeln verputzt.
Beim etwas ruhigeren »Shotgun Blues« schien es ihm zu reichen. »Den meisten Deutschen fehlt einfach das Feeling für den Blues.«
Kökkenmöddinger nickte. »Erstaunlich, wo ihr Deutschen doch sonst so kompetent das Negative seht.« Er nahm den letzten Schluck Bier. »Kommen Sie, im Auto habe ich eine Originalaufnahme. Die haben wir uns verdient.«
Ullmann-Brixdorf lachte auf. »Das sind verlockende Aussichten.« Er winkte der Kellnerin.
Wilde Nacht …
Die Blues Brothers waren erklärte »Soul Men« und Kökkenmöddinger mit seinem Latein fast am Ende. Nur draußen im Industriegebiet an der Heeresbäckerei waren noch ein oder zwei Clubs, in denen es Livemusik gab. Sie hatten allerdings nicht unbedingt Gäste, die sich mit dem Taxi chauffieren ließen, so dass er keineswegs sattelfest in seinen Ortskenntnissen war. Er regelte die Lautstärke der Musik herunter.
»Sind Sie sicher, dass der Club, vor dem Ihr Auto steht, hier in Dresden ist?«, fragte Kökkenmöddinger, als sie Richtung Norden fuhren.
»Nein, keineswegs.« Sein Fahrgast blies Zigarrenrauch durch das Taxi. »Wir müssen eben in alle Clubs hineingehen. Dann werde ich mich schon erinnern.«
Kökkenmöddinger seufzte. Genau das taten sie seit den Abendstunden. Nach dem Nevermore hatten sie jedes Lokal in der Neustadt besucht, das im Entferntesten mit Musik zu tun hatte. Manchmal für seine Begriffe sogar sehr, sehr entfernt. Sein Fahrgast war da weniger empfindlich, um nicht zu sagen: Mit jedem weiteren Bier sanken seine Ansprüche an den Krach, den Menschen mit Instrumenten zu fabrizieren vermochten. Er hatte einen ebenso erstaunlichen Durst wie verblüffende Trinkfestigkeit bewiesen. Während Kökkenmöddinger schon vom alkoholfreien Bier – das in Masse auch nicht ganz umdrehungsfrei blieb – auf Tee umgestiegen war, hatte Ullmann-Brixdorf nicht nur literweise Bier, sondern auch den einen oder anderen Whiskey genossen. Und selbst das hatte seinem imposanten Auftreten keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Mit Witz und Charme hatte er die offensichtlich sehr interessierte Damenwelt unterhalten. Es musste diese verruchte Al-Capone-Aura sein, die ihm ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit verlieh.
Kökkenmöddinger war einigermaßen erleichtert, dass es nun so aussah, als nähme diese Auto-Odyssee ein baldiges Ende. Es blieb ja nur noch das Areal auf dem Industriegelände, um die beschriebene Limousine zu finden.
Der Verkehr war mitten in der Nacht ruhig. Kökkenmöddinger lenkte den Wagen nach rechts ins Industriegebiet. Im fahlen Mondlicht und dem Schein der – offensichtlich neuen – Straßenlaternen konnte er erkennen, dass hier in den letzten Jahren eine Vielzahl an Bautätigkeiten stattgefunden hatte. Wo früher lediglich vorübergehend alte Hallen als Lagerplätze genutzt worden waren, gab es jetzt Firmenschilder, Containerbauten und abgesperrte Parkplätze.
Er bog nach links ab, verlangsamte kurz die Fahrt, doch bei der Menge Unkraut am Straßenrand konnte er vermuten, dass die Bahngleise hier inzwischen ins Leere führten.
»Das kommt mir hier alles sehr bekannt vor«, ließ sich sein Fahrgast vernehmen.
Kökkenmöddinger unterdrückte ein Gähnen. »Dann besteht ja Hoffnung.«
»Hoffnung besteht immer.« Ullmann-Brixdorf wirkte entspannt. »Wir haben es außerdem nicht eilig.«
Kökkenmöddinger schnaufte leise. Der Mann besaß wirklich eine beachtliche Kondition.
Kökkenmöddinger schaltete das Fernlicht ein. Sonntagnachts war hier nichts los. Vermutlich waren die Musikschuppen ohnehin nur an Freitagen und Samstagen besucht. Im Lichtkegel erkannte er ein Fahrzeug, das am Straßenrand stand. Er wollte gerade wieder abblenden, als plötzlich ein Motor aufheulte, Bremsen quietschten und ein Fahrzeug von links über die Kreuzung schlitterte. Kraftvoll trat Kökkenmöddinger auf die Bremse, rutschte ein Stück weiter und riss das Lenkrad nach rechts, um einen Aufprall zu verhindern. Doch es gelang nur fast. Mit einem durchdringenden Quietschen rutschte der andere Wagen am linken Kotflügel des Taxis entlang. Der Scheinwerfer zerbarst.
»Pokkers!« Kökkenmöddinger schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Er öffnete die Tür und zog sie gleich wieder zu, als ein weiterer Wagen schlitternd auf der Kreuzung zum Stehen kam.
Verblüfft sah Kökkenmöddinger im Lichtkegel seines unversehrten Scheinwerfers, dass ein junger Mann aus dem zweiten Wagen stieg, den Fahrer des ersten Wagens vom Fahrersitz zog, ausholte und mit geballter Faust zuschlug.
»Hey, hey!« Kökkenmöddinger sprang aus dem Taxi. »Was soll denn das?« Er stellte sich zwischen die beiden.
Jetzt kam ein Typ aus dem wartenden Wagen dazu. Der Schläger herrschte ihn an: »Warum hast du Sackgesicht nicht gemeldet, dass hier was im Anmarsch ist?«
»Ey, Alter, das ist’n Taxi, ey«, entgegnete er.
»Bist du doof, ey?« Der Schläger tippte sich an die Stirn. »Die Zivilbullen werden auch härter, ey.«
»Bullen, so, so.« Kökkenmddinger schüttelte den Kopf. Dann zog er ein Taschentuch hervor und hielt es dem Geschlagenen vor die blutende Nase. »Die werden wir jetzt natürlich tatsächlich brauchen. Ihr habt mein Taxi beschädigt.«
»Wir?« Die Schlägertype baute sich drohend vor ihm auf. »Du bist meinem Kumpel hier in die Karre gefahren.«
Kökkenmöddinger zog die Augenbrauen hoch. »So, so, wir duzen uns also, Bürschchen?« Auch er richtete sich zu voller Größe auf und überragte den Rüpel immerhin um lohnenswerte Zentimeter. »Und deshalb hast du ihm vorsichtshalber gleich mal ins Gesicht geschlagen?« Er sah mitleidig auf den Lädierten hinunter. »Der Kleine hier hat mir die Vorfahrt genommen. Mehr nicht.«
»Was? Alter, das hätte ich gesehen«, sagte der Typ, der aus dem wartenden Auto gestiegen war. »Du hast ihn angebummst, und er ist mit der Fresse voll vors Lenkrad geknallt.«
»Genau.« Der Schläger grinste blöde.
Die beiden traten näher an ihn heran. Kökkenmöddinger schnaubte verächtlich. Er verspürte ein unangenehmes Hungergefühl, wie immer, wenn er sich ärgerte.
»Wenn du weiter Stress machst, alter Mann, gibt’s was auf die Fresse, klar?!« Der Schläger ballte seine tätowierte Faust.
Kökkenmöddinger deutete auf seine Hände. »Hast du die beschriften müssen, damit du weißt, wo rechts und wo links ist?«
Der Typ schaute ihn wild an. »Was willst du von mir, hä?«
In diesem Moment flog eine Autotür ins Schloss, und kurz darauf trat Kökkenmöddingers Fahrgast hinzu.
»Aus dem Weg!«, donnerte er in die Runde.
Die jungen Männer schreckten zurück und beobachteten mit offenen Mündern, wie Ullmann-Brixdorf sich langsam und genüsslich eine Zigarre anbrannte. »Wollt ihr euch etwa mit uns anlegen, ihr kleinen Drecksbengel?« Er lachte böse auf und fuhr mit der Hand in seine rechte Manteltasche. »Schön vernünftig bleiben, Bürschchen.«
Kökkenmöddinger bemerkte, dass der Geschlagene sich zu seinem Kumpel hinüberbeugte. Er blickte ängstlich um sich. Vermutlich sah er auch ohne seine Blessuren nicht viel besser aus, schoss es Kökkenmöddinger durch den Kopf.
Der Junge zupfte am Ärmel seines Kumpels. »Ey, Vorsicht. Der Typ hat ’ne Knarre«, zischte er.
»Ach, halt die Fresse!«, gab der Schläger zurück.
»Was hast du gesagt?« Ullmann-Brixdorf klang gereizt. »Muss ich dir Manieren beibringen?« Er spielte mit der Hand in der Manteltasche, und Kökkenmöddinger sagte beiläufig:
»Jungs, ich würde es nicht darauf ankommen lassen.« Dann wandte er sich seinem imposanten Fahrgast zu. »Das wirkt hier alles ziemlich illegal.« Er schnüffelte Benzinmief und verbranntes Gummi. »Außerdem brauchen wir die Polizei. Schon wegen der Versicherung.«
Ullmann-Brixdorf blies Zigarrenqualm durch die Nase. »Die Polizei also. Das klingt langwierig und bürokratisch, nicht wahr?« Er warf ein fieses Grinsen in die Runde. »Blechschaden, nicht beachtete Vorfahrt mit überhöhter Geschwindigkeit, Körperverletzung …«
»Ey, was denn …«, maulte der Schläger.
»Schnauze, jetzt rede ich!«, wies Ullmann-Brixdorf ihn barsch zurecht. »Ihr veranstaltet hier illegale Autorennen, was? Vermutlich habt ihr nicht einmal Führerscheine. Und die Autos sind geklaut …«
»Nein, nein!«, quietschte der Junge mit der blutenden Nase dazwischen.
»Halt die Fresse!« Das war wieder der Schläger. Hinter seiner flachen Stirn arbeitete es sichtlich.
»So, Schluss jetzt!« Ullmann-Brixdorf wippte auf seinen Fersen, was ihn noch größer wirken ließ. »Ihr habt jetzt genau zwei Möglichkeiten: Wir hängen das an die große Glocke, was mein Kollege hier korrekterweise sicher tun würde. Das ist nämlich ein Guter!« Er deutete auf Kökkenmöddinger und zog dann ausgiebig an seiner Zigarre. »Oder wir regeln das auf meine Weise.« Sein Schnurrbart vibrierte. »Die Balkan-Methode, ihr versteht?!«
Der Geschlagene jammerte, und der angebliche Augenzeuge drehte sich um. »Mir reicht’s, ich mach heeme.« Mit wenigen Schritten war er bei seinem Auto und ließ den Motor an.
Ullmann-Brixdorf machte einen Schritt auf den Schläger zu. »Na, da ist doch mal einer richtig flott im Köpfchen.« Er nickte anerkennend. »Los, worauf wartet ihr? Kratzt die Kurve, ihr Drecksbengel!«
»Aber …« Der Schläger sah seinen Kumpel an.
Der duckte sich gleich wieder. »Komm schon, lass uns abhauen«, sagte er mit zitternder Stimme.
»Los jetzt, bevor ich es mir anders überlege!« Ullmann-Brixdorf wandte sich an Kökkenmöddinger. »Ich übernehme den Schaden. Ich kann mir Ärger mit den Bullen nicht erlauben.«
Kökkenmöddinger atmete tief durch. »So, so …«
»Kommen Sie, wir sind schließlich hier, um meine Scheißkarre zu finden.« Er stieg ins Taxi, und Kökkenmöddinger folgte ihm widerwillig. Diese Situation schmeckte ihm ganz und gar nicht. Aber es war sicherlich die schnellste Möglichkeit, in dieser Nacht doch noch zum Schlafen zu kommen. Eine Unfallmeldung hätte für ihn auch nur Ärger bedeutet, nachdem er gar nicht offiziell im Dienst war. Er kontrollierte den Kotflügel; nur der äußere Scheinwerfer hatte etwas abbekommen. Das wäre mit einem halben Tag in der Werkstatt erledigt.
Kaum saß er wieder hinter dem Steuer, rollte auf einmal eine ganze Kolonne aus tiefergelegten und getunt dröhnenden Golfs und BMWs an. Diese Typen hatten sich hier tatsächlich zu einem heimlichen Autorennen getroffen. Nun allerdings begab sich die Kolonne gesittet in Richtung Hauptstraße. Ob sie wohl begriffen, dass sie Scheiße gebaut hatten?
Kökkenmöddinger seufzte. »Finden Sie es richtig, das diesen Idioten durchgehen zu lassen?«
»Haben Sie Kinder?«, lautete die Gegenfrage.
Kökkenmöddinger verneinte. Wenn er diese Vorstadtrüpel betrachtete, war er sogar ganz froh darüber. »Sie?«
»Und ob«, seufzte der Fahrgast. »Viel zu viele, wenn Sie mich fragen …«
Kökkenmöddinger fragte lieber nicht weiter nach. Er hatte langsam die Nase voll von all dem hier und wollte nur noch in sein Bett. »Wir drehen jetzt eine letzte Runde um die Lokalitäten herum. Falls wir Ihren Wagen hier stehen sehen, werden wir ihn morgen abholen. Ich verstoße heute nicht noch einmal gegen ein Gesetz«, sagte er bestimmt, steuerte das Taxi geradeaus und fuhr eine Runde, indem er die rechts und links abgehenden Sackgassen ignorierte. Die Gebäude blieben dunkel, und die meisten Gelände lagen hinter geschlossenen Toren. Nicht einmal parkende Autos waren zu sehen.
»Ich kann es wirklich nicht gutheißen, dass diese Vorstadtrüpel mit ihren Autorasereien davonkommen«, ließ Kökkenmöddinger seinen Gedanken freien Lauf. »Was dabei alles passieren kann. Und was dabei bereits alles passiert ist!« Er schüttelte verärgert den Kopf. »Man ist damit beschäftigt, die Gesetze dahingehend zu ändern, dass illegale Autorennen strafrechtlich verfolgt werden sollen.« Er begann, sich in Rage zu reden. »Eigentlich schlimm, dass diese Gesellschaft alles gesetzlich regulieren muss. Schlimm, dass Menschen so dumm sind. Nein, dass so viele Menschen so dumm sind … Ich meine, es gehört nicht allzu viel Grips dazu, sich vorzustellen, dass Autorennen gefährlich sind. Andererseits gibt es Idioten, die hauptberuflich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit bei ohrenbetäubendem Lärm und absoluter Luftverpestung im Kreis fahren. Und es gibt noch größere Idioten, die diese Idioten als Helden feiern und die sich diesem Lärm und Dreck gefährlich nah auf Zuschauertribünen aussetzen. Und es gibt noch idiotischere Idioten, die ihre Wochenenden vor Bildschirmen verbringen, um sich diesen kindischen, lebensgefährlichen und arschteuren Quatsch anzuschauen … Wenn ich es mir recht überlege, ist bei weniger begabten Gehirnen die Freude an nächtlichen Autorennen außerhalb der Stadt fast noch eine intelligente und soziale Reaktion … Was meinen Sie?«
Als keine Antwort kam, warf Kökkenmöddinger einen Blick in den Rückspiegel: Sein Fahrgast lehnte, die erloschene Zigarre im Mundwinkel, mit geschlossenen Augen im Sitz.
»Herr Ullmann-Brixdorf?« Kökkenmöddinger fuhr auf die Stauffenbergallee zu.
Sein Fahrgast reagierte mit leisen Schnarchgeräuschen.
Kökkenmöddinger seufzte. Sein Gehirn bäumte sich nur mühsam gegen die Müdigkeit auf, und seine Blase meldete Pinkelbedarf an. Kurzentschlossen lenkte er das Taxi auf die Stauffenbergallee und gab Gas in Richtung Waldschlösschenbrücke. Er würde den schlafenden Bluesfreund einfach in seinem Gästezimmer einquartieren.
Verzöger- und Verzauderungen
Am Vormittag schlenderte Kökkenmöddinger mit der Brötchentüte in der Hand durch Johannstadt zurück nach Hause. Er hatte entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten eine Ausgabe der Tagespost gekauft. Das Boulevardblatt war nicht seine bevorzugte Lektüre, doch angesichts des wartenden Lesestoffs über die Seele wollte er sich nicht zu ausführlich mit den tagesaktuellen Neuigkeiten aufhalten. Ein paar bunte Bilder und vereinfachende Schlagzeilen kamen ihm da ganz gelegen.
Er hatte gerade die Artikel von »Angst vor der Rente« über »Gefährliche Körperverletzung« bis »Zukunft des Tourismus« überflogen, als ihn ein Nachbar vor dem Hauseingang abfing. Es war ein alter Herr aus dem Erdgeschoss, der gern ein wenig plauderte. Und da diese Gelegenheiten wegen Kökkenmöddingers Arbeitszeiten selten waren, ließ er ihn gewähren. Schließlich hatte sein Übernachtungsgast noch geschlafen, als er vorhin zum Bäcker gegangen war. Kein Wunder nach der letzten Nacht. Kökkenmöddinger hatte es einige Mühe gekostet, den imposanten Herrn Ullmann-Brixdorf aus dem Auto und in den Aufzug und schließlich ins Gästezimmer zu bugsieren.
»Wie gut, dass ich Sie treffe«, verkündete der Alte aus dem Erdgeschoss nach dem üblichen Grußgeplänkel. »Ich wollte schon bei Ihnen anklingeln.«
»Was ist denn passiert?« Kökkenmöddinger klemmte sich die Tagespost zwischen Brust und Kinn und fingerte nach seinem Schlüssel.
»Ihr Taxi, schauen Sie!« Er deutete auf den parkenden Wagen. »Da hat heute Nacht jemand Ihr Fahrzeug demoliert.«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Kökkenmöddinger schmunzelte.
»Diese Vandalen schleichen nachts um die Häuser und zerstören fremdes Eigentum«, ereiferte sich der Nachbar. »Schlimm, schlimm, schlimm! Das haben wir nun davon …«
Kökkenmöddinger stutzte. »Was haben wir wovon?«
»Na, die ganzen Ausländer«, sagte der alte Mann im Brustton der Überzeugung. »Die kommen hierher, weil sie denken, hier ist alles ganz toll, und jeder schwimmt im Geld. Und dann ist es nicht so toll, und jeder muss viel arbeiten. Das kennen die doch gar nicht!«
»Ach so?« Kökkenmöddinger öffnete die Tür und blieb im Eingang stehen. »Und deshalb meinen Sie, dass Ausländer wohl mein Taxi demoliert haben?«
»Natürlich.« Der Nachbar nickte. »Autos, noch dazu deutsche Qualitätsautos, das kennen die doch gar nicht. Das ist eine andere Kultur, eine andere Mentalität, da haben die keinen Respekt.« Er machte einen Schritt auf Kökkenmöddinger zu. »So schaut es nämlich aus!«
»Ich glaube, da muss ich Sie jetzt auf ganzer Linie enttäuschen«, entgegnete Kökkenmöddinger freundlich, aber bestimmt. »Ich habe da ganz und gar andere Erfahrungen gemacht. Und das mit dem Taxi waren sächsische Rotzbengel, die weder Umgangsformen noch Rechtsbewusstsein haben und in der Tat keinerlei Respekt.« Er registrierte grinsend das staunende Gesicht des alten Mannes. »Und mal so ganz unter uns: Ich bin selbst einer von den ganzen Ausländern. So schaut es nämlich aus!«
Er ließ den verblüfften Nachbarn vor der Tür stehen und stieg in einen der wartenden Aufzüge. Während der Aufzug sich in Bewegung setzte, warf Kökkenmöddinger erneut einen Blick in sein Revolverblatt. Immerhin hatte er zwölf Stockwerke lang Zeit für das abgedruckte Lamentieren über die »Generation Gewalt« – ein ausgesprochen oberflächlicher Artikel über junge Fußballfans; als ob die älteren harmloser wären … Er runzelte die Stirn. Der kurze Text rangierte an erster Stelle unter der Rubrik »Die Vandalen sind unter uns«, die durch verschiedene Sachbeschädigungen und Körperverletzungen ergänzt wurde. Der Verfasser bezeichnete Vandalismus als »neuen Volkssport«. Kökkenmöddinger seufzte. Von »Vandalen« hatte sein ausländerfeindlicher Nachbar auch gesprochen. Bildung hätte gegen solcherlei Borniertheit enorm geholfen. Schließlich waren die Vandalen ein germanisches Volk, das im fünften Jahrhundert Rom geplündert hatte; und zwar nicht in blinder Zerstörungswut, sondern gezielt und systematisch, ohne unnötiges Blutvergießen … Oh, »brennendes Auto auf Industriegelände«. Der Aufzug hielt, und seine Türen öffneten sich mit einem langgezogenen Pliiing. Kökkenmöddinger schlenderte lesend zur Wohnungstür. Man hatte im Industriegebiet im Dresdner Norden ein ausgebranntes Auto gefunden und vermutete einen Zusammenhang mit jugendlichem … na klar, Vandalismus! Ob das in Zusammenhang mit den Vorstadtrüpeln und ihren hirnlosen Autorennen stand?
Kökkenmöddinger schloss die Wohnungstür auf und lauschte. Sein Gast schien zu telefonieren.
»Aber Mäuschen, das habe ich … Nein, das habe ich dir doch erklärt … Ja, natürlich … Aber sicher … Ganz genau … Und dann … Nein, nicht heute, nein … Nicht jetzt und nicht hier … Ich bitte dich, ich muss arbeiten, das weißt du doch … Ich bin doch nicht zum Vergnügen hier in Dresden … Genau, sei lieb, mein Schatz …«
Kökkenmöddinger schüttete die Brötchen in den Brotkorb und goss Kaffee auf. Dann begann er, den Tisch zu decken.
»Schatz, ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Ich bin jetzt hier im Konferenzraum angekommen.« Der Gast kam in die Küche, nahm Kökkenmöddinger die Kaffeekanne aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. »Du hast ja keine Vorstellung … Eben, woher auch? Du musst … Nein!« Er nahm Kökkenmöddinger die Butterdose ab. »Du musst mir schon vertrauen, mein Schatz … Die Unterlagen, ja … Wie? Ach so, ja, ja, die Unterlagen habe ich alle bei mir.«
Kökkenmöddinger verteilte Teller und klapperte mit dem Besteck. Dann schenkte er Kaffee ein. »Milch oder Zucker oder beides?«