Neue Sezessionistische Heizkörperverkleidungen - Thomas Kapielski - E-Book

Neue Sezessionistische Heizkörperverkleidungen E-Book

Thomas Kapielski

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Beschreibung

Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski ist Kapielski. Und der neue Kapielski ist der neue Kapielski ist der neue Kapielski ist der neue Kapielski. Auch hier. Auch diesmal. Über 200 Seiten nie zuvor gelesener Kapielski-Prosa samt nie zuvor gesehenen Kapielski-Fotos. Durchweg in erhaben strenger, eigens neu sezessionierter Form. Für die es deswegen noch keinen Namen gibt. Außer: Kapielski-Form. Oder: Kapielski-Hochform (um genau zu sein).

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»Schon seit Tagen durchsuchte ich meine häusliche Baugrube nach einem Packen Niederschrift und fand ihn nicht. Also werde ich mir alles noch einmal schreiben, dessen gewärtig, daß mir das Bündel in die Hände fallen wird, sobald der Neubau fertig ist. Es soll abermals ein feines, turbulentes Bauwerk entstehen, innen wie ein ägyptisches Termitenhochhaus, das von einem schwierigen Schwarm bevölkert wird. Darin summt alles verschieden und gleichbedeutend. Ein wohlklingendes Gespinst, prall wie eine wimmelnde, fangvolle Reuse …«

Thomas Kapielski, 1951 geboren und wohnhaft in Berlin. Im Suhrkamp Verlag veröffentlichte er zuletzt: Mischwald (edition suhrkamp 2597)

Thomas Kapielski

Neue Sezessionistische Heizkörperverkleidungen

Suhrkamp

Fotos: Thomas Kapielski

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77130-3

www.suhrkamp.de

Noch vor Anbruch der Nüchternheit bleicht Morgengraun die Schwärze. Die Nacht wälzt sich von den Schlaflosen und Albträumern gemach hinweg nach Westen. Nun wimmern und frieren sie dort im Nachtschweiß, wenn alle Tagwerke und dunklen Lustbarkeiten abgerissen. – Hier aber brach ein frostblauer Saum die frühen Halme. Und wenn sonach der ewige Tag sein müdes Haupt im Osten hebt, uns in frische Mühsal zu treiben, dann jauchzen und trompeten nur Vögel und Hupen. Es schallt kein Festtagsgeläute weit und breit, mich in die Andacht zu tragen, um Heil und Heilung zu bitten, ganz so, wie der Himmel es geben will. Mutig und bange, träge und rege gelobe ich wie alle Tage in gewohntem Widerspiel: Abermals das Nötige zu verrichten, jeden geschenkten Tag zu vergelten, den Geboten zu folgen und Satzungen, die sich bewährten. Weiters erwarte ich duldsam die nächste und die letzte Nacht. Heute aber hoffe ich Zuversicht und Frühstück zu empfangen in Gestalt eines Milchreises mit Birnenschnitzen und Zimtzukker. Gegen Abend werde ich mir Bouletten mit Stampfkartoffeln und Erbsen auftragen, dazu stärkendes Bier. – Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot! Wer in der Karwoche Erbsen ißt, der sollte alsbald Leichen im Hause finden. Bis dahin zerdichten wir uns, dies zu hindern, zügig in Stücke und redlich in Fetzen! Weiters begünstigen wir künftig Bohnen, in denen die gütigen, nicht die blähenden Ahnen wohnen. – Nütze die Zeit, denn die Tage sind schlimm! Der Morgen sorgt, und der Abend zehrt.

Neuerdings treibt nächtens Schweiß mir aus, ein Grindmal schwärt, und Harn drängt alle Stunden. – So lag ich im künstlichen Kummer, döste und sann: Aderlaß oder Abtrieb kann man diese Ausflüsse nicht nennen, eher noch Austrieb – von was aber? Oder sind es Weihegüsse? Reinwaschungen? Benn hat sich oft gefragt, woher das Sanfte und Gute komme, und hat, bis er gehen mußte, keine Antwort darauf gefunden. Ich ermittle weiter. Mein Verdacht zielt auf das Weib; ihr entsprießt die Barmherzigkeit! Der Frau schenke ich ohnehin alle Huld; ihretwegen tobt und schwärmt man ja! Sie ist der Familie, des Krals und der Gemeinde Hüterin und innere Schirmung und stiftet so deren Gesittung; womit sie freilich die Mißgeschicke des Familiären ins Weltweite, Politische trägt: Wohnungsenge und zärtlichen Starrsinn, rührseligen Zukunftsglauben und unmäßige Gutmütigkeit. Damit läßt sich kein Staat machen; der braucht Mut, kalte Vernunft, Mobilität und allerhöchste Empfehlung. Das waren einst Tugenden des Mannes, des Soldaten und Priesters. – Entkräften dies die Zwillingsschwestern Eris und Eris, die streitsüchtige und die wettstreitende? Widerlegen dies die befehlshabende Athene und die amtierende Merkel? – Wohl kaum. Die Hierarchie ist die Ordnung, die ihren bestimmenden Ursprung (archē) aus Heiligem und Höchstem (hieron) ableitet; das Beste was man haben kann, ist das Heil im Anfang und von Anfang an. Hierokratien wieder sind ungut und aufgepreßt; alles, dem -kratie (kratos, Krätze) anhängt, zeugt von Machtergreifung und Gewalt. – Von ferne hörte ich heute bis hier im Westend die Irrenhäusler wie rasend an den Gittern rütteln; von innen jene, die hinaus wollten, von außen, die um Einlaß winselten. Ein Käfig ist die gottlose Welt, innen wie außen. Man selbst weiß auch nicht, was und wohin man möchte, noch wer und wo man ist. Einst hatte man dem Generalfeldmarschall von Wrangel gedroht, man werde seiner Gattin etwas antun, wenn er sich erdreisten wollte, nach Berlin einzumarschieren, um die Aufstände der Plebs niederzuwerfen. Beim Einmarsch an der Spitze seiner Truppen wandte sich Wrangel seinem Adjutanten zu und fragte diesen heiter: »Ob se ihr jetze woll uffjehangen haben?« Eine Renate von hier wiederum bezeigte sich jüngst einmal ganz ähnlich, »denn schließlich bin ick als mein eigenes Individuum für mir selbst verantwortlich!« Solche Leute sind Charakterfestungen! – Mich molestierte nun obendrein noch Kopfweh, aber ich unternehme in der Sache nichts. Und so geht es wohl, wie alles, vorbei.

Wenn jener reichen Ernte der mutmaßenden wie praktischen Gelehrsamkeit und Weltanschauung, die hier vor unseren Augen reift, Erwähnung getan würde, täte es mir gefallen. Es ist ein Geschenk an wenige; sie dürfen das Meine wie das Ihre küssen und werden dessenungeachtet die Verkanntesten ihrer Zeit gewesen sein. Allein, ich verdächtige den anderen Teil menschlicher Afterweisheit, die Absicht zu hegen, das ohnehin bröckelige meiner Existenz noch zermahlen zu wollen. Und so wird die Wucht meiner Darlegungen nur den Gipsereien, den Konditoreien und ewigen Staubsedimenten zugute kommen. – Aber gut, warum denn nicht? Denken und begreifen wir eben tektonisch, touriert und stuckiert! – »Fetter, grüne, du Laub!« – Schärfer, sense, du Blatt! Die scharfe Rasur unterlasse ich akut, aus Überdruß. Wenn es anfängt zu beizen, mähe ich das Vlies mit dem Moser-Haarschneider über der Wurzel; mit einem Aufsatz kupiert er mir obendrein das Haupt, auf dem nur wenig Gefieder noch austreiben mag. Lebensfroh und unverwüstlich wachsen mir allein noch Stoppeln und allerhand Borsten an Ohr und Nase. – Was unterschätzte ich Garst und Komik des letzten Lebensaktes! Daß die ältesten, gut erhaltenen Leichenfunde in Europa, so der Mann aus dem Eise des Ötztals und zahllose Moorleichen, die von Bunsloh etwa oder Osterby, oder die Männer von Grauballe und Tollund, daß sie allesamt gemordet oder hingerichtet wurden, sagt auch genug. Tacitus weiß darüber hinaus Genaueres von den Germanen: »Proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt.« – Verräter und Überläufer hängen sie an Bäumen auf; Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Entehrte (verisimilis: culasse? Hinterlader?) versenken sie im Sumpf und Morast, wobei sie noch Flechtwerk darüber werfen. Dort bilden sich nebenbei wieder Sedimente! Das Weistum empfahl bei Hochverrat auch das Ausdärmen. Es ist die blutige Wiege der Anatomie und Deutkunst. Schwert und Dolch tilgen allein die Makel des Adels, ohne Entehrung. – Sie nötigen indes keine Auskünfte ab.

Mobilmachung!« – An Tagen, da Reisen anstehen, verdichtet sich mir alles nur darauf, und ich bleibe unruhig, schlafe schlecht, erstelle sorgsam Listen, was zu packen und was nicht zu vergessen sei. In mir hallt nach, daß die Reisen meiner Eltern und Großeltern allein mit Flucht, Vertreibung, Truppenbewegung oder Verschickung einer Tuberkulose wegen zu tun hatten. Zum Vergnügen reisten sie nicht oder erst spät und zu spät. Gleich werde ich nach München herausfahren müssen; ich mache es meines Berufes wegen, benehme und befinde mich aber, als würde man mich an die Front oder in die Roßkur befehlen. – Und so saß ich nun des Morgens unausgeschlafen und reisefertig am Tisch neben der Tasche und wartete, daß es losging. – Mein Gott! Ich saß am Saum, am trennscharfen Abriß aller je gewesenen kosmischen Epochen, aller je gewesenen Zeitalter und Stunden und Atemzüge. Alles, was je war, ging bis eben vorbei. Lange vor mir tobten all die Schlachten, die bei Salamis wie die auf den Seelower Höhen und die um Moira bei Metaxy. Beide Eltern sind längst mir gestorben, auch Freunde, Bekannte, ferner unzählige, namenlose Andere. Kindheit und Jugend: dahin! Mehr als die Hälfte der mir zugemessenen Zeit: zerronnen! Noch die vergangene, nichtssagende, schlaflose Nacht: auf ewig verloren! Und ich? – Ach je, ich saß am ruhlosen Schlußstein auf meinem Jetztstuhl am Tisch neben der Tasche, inmitten der nie vollendeten Weltenbaustelle, vor mattem Abglanz heutiger Zukunft und: wartete! Zauderte am Tisch sitzend wie ein kranker Katechont, dauerte in teilnahmsloser Unruhe, meine Ungeduld hemmend. Gerne hier, wo ich war, nicht gerne, wo ich hin mußte. Warum saß ich in Ungeduld? – Weil ich los mußte! So verharrte ich neben einer gleichmütigen Tasche in der verkorkten Drangsal und Ödnis eines langwierigen Moments. Auf einem Stuhl in der Küche neben der Tasche. – Und wer weiß, ob nicht irgendwann eine metaphysische Physik plausibel zu machen weiß, daß es den Zeitstrang so gar nicht gibt! Und die Zukunft längst feststand, unterdes die Vergangenheit ewig zweifelhaft und offen gewesen sein wird?

Draußen wich finsteres Grau bläulichem; dann brach über der Traufe ein Streifen scharlachkranke Erdbeerfarbe auf. Da schließlich erhob ich mich und trat vor meine Regale hin und sprach wie folgt zu den Büchern: »Ihr Eideshelfer höchsten Ranges! Dem, der Gott liebt, ziemt es, das Vergangene als gut anzusehen und sich zu bemühen, aus dem Zukünftigen das Beste zu machen! Und darum warte ich nicht weiter, sondern gehe los. Lebt wohl, ihr reglosen Behältnisse!« – Und siehe: endlich lief die Zeit, indes ich als hingetragener, selbstversandter Leib in einem U-Bahnzug dahinfuhr: Zum Flughafen, dem Berlin-Tegeler, der gut durchdacht ist, rasch erfaßbar, gangbar und naheliegend. Er soll demnächst am graugrünen Wesen genesen, also zugesperrt werden. – »Traumwelt werde! Fiat utopia, pereat mundus – und gehe die Welt darüber zugrunde.« Dies Land möchte wohl bunt sein: Nun ja – sofern nur alle Farben grün tönen! – Als vorzüglicher noch wollte mir stets das Flugfeld Tempelhof gefallen. Ich fuhr dort oft mit dem Fahrrad hin, schloß am Portal ab und flog davon. Tage später kurbelte ich beschwingt nach Hause. Gleich gegenüber gab es die Landjuwel-Fleischerei Genz und eine Berliner Kindl-Kneipe, nebenan noch Zeitungen in einer harmlos bedeckten, mithin gewinnversprechenden Lotto-Annahmestelle. Dort ließen sich vor dem Flugwagnis noch fünf Mark Zuversicht einsetzen. Hätte man sie nicht, diese zähe Zuversicht, täte so etwas keiner: tippen, fliegen, fortfahren. Wer weiß? – Fliegen und fliehen liegen nah beieinander. Bier und Wein, das sind Mythen und Sakramente, Tröster und Refugien – aber doch kein Alkohol! Theoretische Arbeit, so Hegel an Niethammer, bringe mehr zustande in der Welt als praktische, und sei »erst das Reich der Vorstellungen revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus«. Das Erkiesen einiger Zahlen zum Zwecke des Gunstgewinns fußt auf Spekulation. – Was fehlt mir denn eigentlich? Immer etwa das, wovon ich am meisten spreche?

Auf diese Kugel bin ich gesetzt, in diesen Landstrich gepflanzt und vaterseits preußisch geprägt – ordentlich also, sparsam, pünktlich, tugendstrebig, in Teilen mit Vernunft versehen; im übrigen Bleianspitzer! – und mutterseits schlesisch vermindert geprägt – schüchtern wohl und verzagt, etwas beständig und fest, kaum treuherzig, gar nicht umständlich, leider ohne schlesische Geduld. Kein Verrat noch Bestechung wird mich entlohnen, flüchtig anderswo zu siedeln als im Brandenburger Land. – Oberfranken ausgenommen! Grünberg, Waldmühl, Opitz und Scheffler sind genommen, mir aber weiter beigesellt. Was endlos dauert, dauert irgendwann: Berlin habe ich so lange bewohnt, bis es mir zuwider wurde. Die Stadt ist verbeult, verbogen; mich hat sie gekrümmt. Gewagte, falsche Formen, Hyperbeln etwa, schätze ich gering; mich begeistern und umfangen rotierende Ellipsen, eiernde und waltende Weltovale. Auf einem Globus wohne ich, füglich gepflanzt, sachte gedreht. Erde heißt die Welt im Ganzen, eine Handvoll davon ebenso: Erde. Auch Land kann ein großes heißen oder ein Stück nur. Leben benennt Alles oder das eine und geringste. In Eintracht zwiespältig (concordia discors) seien mein Wesen und Wohnort, wie auf Horaz’ Weisung. Wo aber Rettung ist, wächst auch die Gefahr. Es entstehen unschwer üble Begierden, wenn sich ein Land hergibt. Rand wird dann Mitte. Habgier entbindet Meuten und Raub; es folgt die blutige Teilung der Beute. Das ist die hohe Zeit der geschichtsberüchtigten Despoten, der gewieften Stumpfgeister, der Gier. Die blutgeschwellten Weltenströme werden nie versiegen. »Wenn dieses üble Gebilde durch Ansammlung verkommener Menschen so ins Große wächst, daß Orte besetzt, Kolonien gegründet, Städte erobert, Völker unterworfen werden, nimmt es ohne weiteres den Namen Reich an, den ihm gewiß nicht verworfene Habgier, sondern erlangte Straflosigkeit verleiht.« So weiß es Augustinus im Gottesstaat und aus eigener Anschauung; die Stadt, in der er starb, war von Vandalen belagert. Wo freche Räuberhaufen herrschen, da pressen und quälen sie und ihre Zubläser Stadt und Land. Die groben nehmen alsbald die Laster der feinen Leute an, diese hingegen die Roheit ihrer Bezwinger. Die Erdbeschaffenheit verwandelt sich dadurch: die Flüsse laufen seicht oder sie rasen wütend über ihre Ufer; die Berge zerbersten oder sie fallen in Schlünde. Die Meere holen tief Luft und nehmen Anlauf, das Übel zu ertränken. – Ja? Ach was! Das tun sie nie. Sie lassen alles und Alles laufen.

Da hörte ich mich an einem Dienstag morgens auf eigenen Fittichen dem kalten Winde davonjagen. Straßen, Autos, Bäume, alles überzog ein Schmelz, ein Glast und Flor (aōtos); das war kein Zuckerseim, sondern Rauhreif, heller und glänzender als Glas. Schellings »innerer Freund« trug mir die Tasche. – Mit herculischen Berühmtheiten verkehre ich nicht. Meine Vermutung geht dahin: Herakles war ein abartiger Mistkerl; er raubte, quälte, rottete aus, er vergewaltigte, wütete, leitete Flüsse um. Neuerdings wüten weit unwürdigere Scheusale in der heimischen U-Bahn – die Blutbahnen der Stadt zu stocken? Oder entbinden Unduldsamkeit und Ungeduld gepaart mit Dünkel Totschlag? Wenn die alles überwölbende Macht, der wir vertrauen müssen, das ordnende Gleichmaß abweist und seiner Herrschaft enträt, dann meint sich bald der am größten, welcher am wüstesten tut. Und was, wenn sich Niedertracht und Übel als das Beständigere erweisen und die Ruchlosen sich durchsetzen? Wie schadenfroher Darwinismus, als survival of the sledgehammer? – Daß alles sich einzig um sie dreht, ist das Unleidigste an der Gewalt; es fällt dann schwer, klare Gedanken zu fassen und minderer Dinge zu achten. In den Jahrzehnten kam es häufig vor, daß ich Menschen in der Bahn traf und grüßte, die ich zu kennen meinte; es waren aber Fremde! Und wenn ich sie ansprach, Verwunderte. Einige sahen auch schon einen Mann, der so aussähe wie ich! – Soll ich ihn töten, wenn ich ihn treffe? Was, wenn es Damien Hirst ist, der mir ähnlich sieht? Sind Doppel- und Wiedergänger Gefährten oder Feinde? – Ein sonderbares Gegenbild verblüffte einmal Goethe zu Pferde auf einem Fußpfad gen Drusenheim: »Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold.« Der Spuk war vorüber, als er sich aus diesem ungefähren Traume schüttelte. – Auf Reisen trage ich gern Dunkelbraun und falbes Grün; Gold meide ich. Neuerdings werden Pflaster und Verbände mit Silber bedampft, weil es die Heilung beschleunigen kann. Mich feit das Mondmetall als derbe Gliederkette, deren ich mich manchmal schäme, weil sie nach Lude riecht.

Bismarckstraße: Umsteigen! Also stieg ich aus und um. – Man spiele Lotto nur mit Widerporst, wähle Zahlen über Einunddreißig, keine Monatszahlen und Geburtstage also, meide Muster und tue somit das wenige mit Bedacht, das getan werden kann. Allein, solches wissen auch andere, und so verflacht hierbei die Gunst im Glück abermals. Der größte Vorteil erwachse aus dem Spiel, das man gar nicht spiele, verrät Girolano Cardano im Liber de Ludo Aleae, im Buch vom Würfelspiel seit 1524. Das also kann auch längst jeder berücksichtigen! Obzwar ich mich keinen nichtigen Dingen hingegeben haben will – wodurch mein Herz nur einsichtslos verfinstert würde, bis es einmal gilt und der Tag kommt, der ein abwägender, ein entscheidender sein wird; obzwar und wiewohl … – Der Töricht in mir wollte trotzdem würfeln! Ach, und weil ja die Stimmung des Herzens die Seele einfärbt, genehmige, ja auferlege ich mir zuzeiten Leicht- und Blödsinn! – Allerdings würde es heute ohnedies knapp werden, mit dem Tun des Tippens; darum wollte ich gleich, wenn die Zeit reichte, auf dem Flughafen suchen, ob auch dort Lotto zu spielen sei. – Flugs flog schon die U-Bahn herein; die Türen fauchten auf. Einer ging raus, ich rein. Ein Rotlicht blökte mahnend, die Türen klatschten zu; wir stoben davon. Ein Kind weinte um irgend etwas; die Mutter sagte ihm: »Damit erreichst du doch nichts!« – Ja, mein Gott! Eben darum weint es ja! Als meine Mutter dem Kinde, das ich war, bisweilen zärtlich ins Ohr blies, durchfluteten mich Wonneschauer. Falls die Geliebte später ebenso tat, war die Wonne gleich und schwüler noch. Ohrenbläserei nannten die Alten das heimliche Übelreden gegenüber den Freunden eines Anderen; für mich bleibt sie ein Himmelshauch auf Erden, für immer. Wer nichts will, ist vielleicht zufrieden, aber nicht frei! – Oder ist, wer nichts will, möglicherweise frei und dennoch nicht zufrieden? Oder ist nur frei, wer nichts will und gerade hierin Zufriedenheit findet? Wenn ich leide, bezeugen mir die Elemente ihr Mitleiden, und ich bitte sie: »Sagt mir etwas von euch!« Und mit lauter Stimme rufen sie: »Ipse fecit nos! Er hat uns erschaffen!« – »Also sogar auch euch?« frage ich Stühle und Bahnsteige, Tränen und Ohrenhauche? – »Ja, sogar auch uns!«

Und da standen wir Fahrtgenossen dann klamm am Jakob-Kaiser-Platz, an der trostlosesten unter den trostarmen Bushaltestellen dieser Stadt, und warteten, von Autobahnbrücken und Lärm umstellt, mit matten Blicken den Bus herbei. Unterdes zogen über uns in Scharen Krähen ihre Bahn durchs dumpfblutige Morgenrot, und Tauben lahmten um Futter am gefrorenen Boden zwischen Abfall umher. – Wie wohl fühlen sich die Tiere? Frühe Fröhlichkeit erweckt oft nur die Sommersonne bei heiteren Gemütern. Abends freilich sind solche Unbeschwerten erschöpft und zuweilen todtraurig. Auf einem Ast, den ich vom Küchentisch aus im Auge behalte, krallt sich, so es dämmert, eine müde Kohlmeise fest; morgens aber verrichtet sie unablässig frohlockende Schwerstarbeit: »Ö; i-ö, i-ö, i-ö, i-ö; ä!« so singt sie unermüdlich. Beim Warten und Erwarten dauere ich gedankenleer und stehe ungültig und öde da wie auf zugigen Bahnsteigen. – Das wäre das Schlimmste: im nächsten Leben eine Haltestelle, ein kleines, dämliches Wartehäuschen, ein öffentlicher Aushang in Erwitte oder Anröchte. Mit der im Fahren vorbeiziehenden Landschaft ziehen alsdann Gedanken auf; darum schaue ich gern aus Zugfenstern und Fahrzeugen. – Ich erinnere den alten, lebensklugen Berber, der sich damals in den weitläufigen Toiletten der Tempelhofer Flughalle verschämt die Füße mit dem dort verfügbaren Warmwasser wusch und nebenbei auch noch kleine Wäsche einweichte. Ich nickte dem Treber gleichgesinnt zu und mahnte: »Nur unter Eingeweihten läßt es sich leben!« Und das meiste, empfahl ich, solle man ohnehin für sich behalten! – »Diesen Born hier verrate ich keinem!« ließ er sich da vernehmen: »Sonst drängt noch jedweder Kojote in dieses Caldarium!« – Es gab eben auch hier die Dummen und die Klugen, und diese werden einen Dreck tun, sich mit jenen gemein zu machen! »Seien Sie gewarnt!« gab ich ihm Bescheid: »Die Behörden wollen auch hier nächstens dichtmachen.« – Da wandte er sich wieder seinen Füßen zu, die er so demütig wusch wie die eines anderen und sprach: »In diesem Landstrich gibt es noch andere Häfen, auch welche mit Lavabos und beheizt.« – Kein Mensch! flehte ich da, kein Mensch, ob arm, ob reich, darf sich das eigene Gelingen als Schande ins Gewissen pressen lassen!

Aus alles überwölbendem Wolkengroll stob plötzlich ein Blitz auf mich! –: Auch die Bomberflotten und Elendslegionen hinterließen allezeit wie Alarichs und Geiserichs Rotten Ruinen und Stumpfsinn! Der Tod findet Abglanz im Schlaf; Mantik und Schauung finden Abbild im Traum; das Paradies findet Widerglanz in schönen Gärten; Gold und Silber schimmern verheißend in Sonne und Mondglanz. Eine schorfige Keule wirft Abbild von Verwüstung und Ungeist. Es gilt wider den Hauer zu löcken! Genie sei die Gabe, geschickt zu entlehnen; es zeichne sich eher durch die Gnade des Findens als Erfindens aus, ahnt einer, der dem Dionysius huldigt. Das Pendel meines Bedachts schwingt hin und her, von Geistesträgheit gebremst, vom Seelenschwung gestoßen: So schlägt es aus vom Makellosen zum Dreck und zurück zum Guten und wieder zum Abstoßenden. – Wie bloß kleiden sich die Menschen dieser Zeit? Warum geben sie sich laut und grob? Nichts machen sie mehr schön! Pfusch und Pfuhle des Unflats beizen alles grau oder grell. Stadt und Kloake werden eins. Viele wohnen wie zwischen Abraum in Polsterwüsten und Betonkartons. – Alle aber beten sie den Schutzgott der Umwelt an! Das Sprechen gellt und belfert. Der Geistrest zürnt oder greint. Zeichen des Blödsinns ritzen Haut und Wände. Kunst kommt von Konto, Kot oder Kotzen. – Wie kann ein schlichtes, dienlich Ding, ein Teller etwa, unschön sein? Es kann! Morsch und faul das Land; der Staat entrückt. Dem Volk ein wenig matte Lasterlust und Sündenglut am Bildschirm. Die Seelenschönheit beißt der Haß weg. Und was sie alles hassen: Fliegen gar, sich selbst und wehrlose Stäube! »Wenn jemand den Menschen befähle, alles Häßliche zusammenzutragen, und dann wieder davon zu nehmen, was sie je für schön hielten, bliebe kein Stück zurück!« So bemerkte ein Sophist vor zweitausendfünfhundert Jahren. »Die schönste Welt aber (kallistos kosmos), die gleicht ohne Zweifel, mit dem Schöpfer selbst verglichen, einem Kehrichthaufen!« Darin war sich Heraklit sicher. Aber selbst aus den unförmigsten Überresten und allem Unrat können Gestalten geschaffen werden, die himmlischem Wesen und höchster Ordnung nicht zuwiderlaufen. – Wird uns darum vielleicht vandalische Gewalt retten? Nein, sie ist ebenso verderbt, nur anders: dumpf und archaisch. Wer mich totschlägt, ist noch nicht ausgemacht. Wenn ich aber erschlagen sein werde, wird ein Pendel durch die Milchstraße schwingen: vom Licht (phōs) her und jauchzend hin zur Herrlichkeit (doxa), in Ewigkeit! Amen und Aus! So.

»Endstation! Flughafen Tegel: Alle aussteigen!« – Aufforderung zum Aussteigen. Der Busfahrer trug einen Ohrring und mochte so wohl längst und einst Aussteiger gewesen sein. Also stiegen auch wir aus. Die Uhr zeigte: von Haus zu Hafen achtzehn Minuten. Unterdes einige gefügte Denkwürdigkeiten; die merkwürdigste, im Bus noch rasch verträumte, so beschaffen: Aristoteles! – Der senkte seinen Blick zur Erde in Erinnerung, und in Erwartung warf er ihn himmelwärts. Euklid aber zog, Menandern ähnlich, die Brauen hinauf und senkte das Haupt, wenn er einer hübschen Dame ansichtig wurde, die passabel schien. Ambrosius wieder soll allein Frauen, die ihn ekelten, gewagt haben anzuschauen, nämlich so, als ob sie ihn entzückten; das war sein ihn selbst strafender Blick! – Woher wissen wir so etwas überhaupt? Ich jedenfalls senke den Blick in Erinnerung und sehe himmelwärts, wenn ich an meinen Schatten