Kotmörtel - Thomas Kapielski - E-Book

Kotmörtel E-Book

Thomas Kapielski

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Beschreibung

Frowalt Hiffenmarkt aus Grollstadt-Sauger arbeitet rechtschaffen als Vertreter für eigentümliche Sanitärartikel, folgt einem starken Drang, an Bahnhöfen Reden zu halten und unterhält in Meppen ein Schreibrefugium, von dem nicht einmal seine Frau weiß.

Der arglose Mann gerät auf so alberne wie unaufhaltsame Weise ins Gefängnis. Täglich wird er von einem offenbar nur für ihn zuständigen, räsonierwütigen Kommissar verhört. Wir erfahren davon in seinen Häftlingsaufzeichnungen, die ihre erschütternde Wahrkraft größtenteils einer ihm seit je zugewandten Brummspezies verdanken: einer Art Kotfliege (Scathophaga), die nach Sonnenuntergang Hiffenmarkts Hirn und Gedankenwelt überfällt und Schriftspuren hinterlässt ...

Ein Sittenthriller aus der bösen neuen Zeit, als das Schwadronieren noch geholfen hat.

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Thomas Kapielski

Kotmörtel

Roman eines Schwadronörs

Suhrkamp

i. Teil: Der Alltag

Es schwinden es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahrlang ins Ungewisse hinab.

(Joh. Chr. Fr. Hölderlin)

1. Kapitel

Würmer

Ach, werte, mir treu verbliebene Leser! Von den Gipfeln und letzten Erhebungen der Lebensmitte geworfen altere ich – sogar hörbar! Hört Ihr es auch schon, wie ich, nächtens knistern und knacksen? Es ist wie im Tal, wo man es bei Frost oben in den Gebirgen reißen und brechen hört, weil Stein und alte Tannen bersten. – Ob’s bei mir vom Amboß (diesem Gehörknöchelchen) oder von sonst welchen Knorpeln oder von den Gelenken, den Kaldaunen herauf oder extern von den Kissen her knistert und knastert, bleibt unklar – jedenfalls steht’s unleugbar in Verbindung mit dem unleugbaren Alterungsprozeß. – Also knirscht es bei mir wohl eher oben im Giebel (wo mein Getriebe wohnt) und gezähmter (noch) im ganzen leibhaftigen Rest!

Ich lausche diesem Knirschen, bisweilen ist es ein sachtes Prasseln (gar Morsen?), mit amüsiertem Gleichmut; es läßt sich jedenfalls nicht dechiffrieren oder irgend anders ausdeuten und stört auch nicht weiter, ja, es wiegt mich zuweilen sogar in den Schlaf, wenn es so sanft knistert wie Papierblumen im leichten (Ventilator-) Wind oder wenn’s prasselt wie Regen draußen in kalter Nacht, der es im Bette ja stets noch behaglicher macht – sogar im Gefängnis unter diesen amtlichen Bettdecken hier, worauf die hiesigen Gewalten die Aufschrift haben einweben oder – was weiß ich denn? – aufsticken lassen: »Haftanstalt Grollstadt-Sauger«

Überdies und hierfür oder (konzertant besehen:) zum Altersknirsch hinzu bekam ich dann begleitend (nach der Haft, muß ich nunmehr ergänzen) von irgendeiner Deutschen Bundesanstalt monatlich 632,63 spendiert – sogenannten »Knatter«, auch »Knaster« (so paßt’s zum nächtlichen Geknister) oder auch »Schotter«, andere wieder bevorzugen »Eunuchen« oder sagen »Euronen« oder im Sozialfalle »Euter«. – Nun wie auch immer, die bekomme ich allesamt hinzu orchestriert zum nächtlichen Altersgeknirsche. (Ich hör’s ja auch gern! – aber das verdoppelte Geräusch in alter D-Mark wäre mir lieber!)

Welchselbige 630 Bundes-Euter und Knatter-Eulen (haha!) oder Deutsch-Adler (hoho!) ich mir freilich doch selbst und zeitlebens sauer ab- und aufgespart und damals wie heute ordnungsgemäß – für höhere Zwecke noch als diese! – versteuert und irgendwo immer zwangsweise eingezahlt habe. Und nun rücken sie die nach und nach (stark gestückelt und) gönnerhaft wieder raus … Bei meinen Abgaben seinerzeit sollte es großzügig und immer schön flott und brutto zugehen – und das ist es auch! Denn es gilt, meiner Gesittung gemäß, mit stark altchristlichem Einschlag:

»Wer zwei Mäntel hat, gebe einen ab, damit auch der zwei habe, der nur einen hat!«

Man hatte mir mitgeteilt, daß es sich bei der Kohle um eine »Wiedergutmachung« (so hatte es in der Post gestanden) bzw. um so etwas wie ein »außerordentliches Altersruhegeld« (so hatten sie am Telefon gesagt) handele – wobei im ersten apostolisch amtspostalischen Dreiwort befremdlich bleibt, was mit den paar Piepen »wieder« – wieder?! war es denn je? – »gut« gemacht werden kann? Da reicht doch ne Mille nich hin!

Und im anderen (telefonischen, »außerordentlichen«) Dreiwort verursachte mir die »Ruhe« viel Grübeleien; etwa frage ich mich oftmals zu Bett, während des knirschenden Knatterns oder prasselnden Knatterknirschs (hoho!), ob das Wort mehr als wie ein Ruhekissenwort die Altersruhe betont – zum Sterbetrost? Oder vielmehr ein Ruhegeld meint, also Ruhigstellung der Alten mittels Geld? So was wie: staatsfinanzierte Sedierung der Moribunden und Schmerzgramen, im Sinne von ›Gebt endlich Ruhe jetzt!‹? – Ich bin unsicher. Mich beunruhigt dieser (telefonische) Terminus mehr noch als der andere, gutwollende (postalische).

Kunststück! – bei flankierend 1200 Eupelchen »Mietbeunruhigungsgeld«, wie wir sargkastisch sagen, und zwar per mensem, allmonatlich! – Und richtig, Sie haben gut gelesen, nämlich: »sarg-kastisch«! So sagen wir, so schreiben wir nämlich!

Und was ist mit dem Rest? – »Davon leb’ ick!« wie wir hier, in den ärmlichen Grollstadt-Saugerschen Marken, ebenso unverwüstlich wie leichenbitter daherreden.

Gleichwohl wollen wir uns freudig und dankbar erzeigen! Ihr werdet mich hierüber oder anderer Übel wegen nicht und nie jammern hören, geneigte Leser! (Auch zahlt nun, da ich mich in Gefangenschaft befinde, meine Frau die Miete und für die Zelle kommt vorerst der Steuerzahler auf, haha!)

Zwar ermangelt es uns so langsam an Hoffnung, aber wir wehklagen trotzdem nicht. Das steht allein jenen unter uns zu, die Petitionen und dergleichen unterschreiben und Wimpel aus dem Fenster hängen, um Zeichen zu setzen, wie sie so tapfer wie nimmermüd’ zu trompeten belieben – leider oft genug unter Ermangelung korrekter Zeichen-, aber Überschüssen an verpeilter Zielsetzung!

Nein, für einen Frowalt Hiffenmarkt – jawohl, Frowalt Hiffenmarkt, der bin ich! – ist’s nicht und nie statthaft zu nörgeln – niemals! (Oder nirgends, nie?!) Einerlei, wir beschweren uns nicht. Wir lamentieren nicht, wir fordern nicht – wir machen!

Und ächzen allenfalls. Klar doch, wenn wir ständig Ärger auf uns ziehen oder etwa schuldlos im Gefängnis rumsitzen. Aber davon und weiteren Beschwernissen erzählen wir später mehr …

Was heißt übrigens »wir«? – Mir sind Sippen und Herden unerträglich, Vereine und Parteien meide ich so strikt wie Fußballstadien und Wartezimmer; sie alle sind überbevölkert und mir ganz unbekömmlich; mein ganzes Wesen ersehnt die Einsamkeit, die andere Menschen so fürchten. Nur die Frau, meine Dietlinde, die mag ich gern um mich haben, sie hat bis auf eine gelegentliche Frühstücksgesprächigkeit und den Hang zum Telefon ein ruhiges, bekömmliches Wesen. Die Kinder waren (vorerst) verscheucht und hatten zum Teil selbst schon Kinder, einen Hund konnte ich immer hindern, nur Meerschweinchen nicht, aber die waren auch längst vertrieben oder erloschen.

Bisweilen sitze (oder saß!) ich allerdings doch ganz gern – aber einsam! – in Geselligkeit, bevorzugt in geräumigen und nicht zu vollen Gaststätten oder auch im Zug, wo man mich in Ruhe dasitzen und schweigen läßt.

Hier nun, in meiner Gefängniszelle auf der alten Veste Sauger – nun ja, es war eigentlich nur das Präsidium unten in Grollstadt und dort der überschauliche Gefangeentrakt, aber doch ein Gefängnis! –, da war es mir darum sogar recht wohl, wenn auch wenig kommod, was mich nicht kümmerte, und es sollte sich legen und wohnlicher werden. Immerhin, der mich verhörende Kommissar Röhr ersetzte die gelegentliche Gesprächigkeit meiner Frau zu Genüge und der schweigsame Wachtmeister Knorr bediente mein gelegentliches Verlangen nach einsamer Geselligkeit unter Menschen durch sein stummes und dickes ›nur so‹ Dabeisein und Wesen.

Warum aber spreche ich denn nun von »wir«, wenn ich allein mich oder »ich« meine? – Einen Majestätsplural zu verwenden steht mir ganz fern und nicht zu, und stünde er, so miede ich ihn und schämte mich seiner! (– Oder gewöhnt man sich dran? – Hm …)

Nein, das »Ich« zu meiden, verberge ich mich gern hinter einem verstaubten Bescheidenheitsplural, welcher doch wiederum recht vornehm und antiquitätisch »Pluralis modestiae« benannt wird. – Wie eine barocke Truhe steht er da, aber wir brauchen sie oder ihn eben. Mitunter befinden wir gar, er und sie, Plural wie Truhe, passen sogar recht gut zusammen und auch zum Knistern, zum Nachtknirsch und insgesamt auch hierher und zu mir! Ja, wir vier – also er und sie und das und ich und alles in eins – gehören zu mir!

Und nachts träumte ich schon, ich sei in einer solchen Truhe behaglich eingeschlossen als wie ein Muschelwesen. Ganz so, wie sie es im Fernsehpuppenfilm Urmel für die Kinder und Eltern zeigen, wo alles Getier gern auf einer Insel in Großmuscheln wohnt, döst und zeitweise auch abtaucht und schmollt.

Sie bzw. er gehöre zu mir, schrieb ich eben, im Satz vor den seelentruhig dahindösenden Muschelbewohnern. Und – rumms! – da war’s auf einmal da! Brutal blöd und zudringlich, klebrig: der wippend einmarschierende Schlager mit überfallartig grausem Gereime:

»Éhr gehört zu mihr

wie mei Namäh an dä Thüüür …«

Mämä-määä-mä mü-hüü, hoho! – So wurmte es mir nun rhythmisch-flott im Ohr herum, immer den Rosenberg ruff und runta, und ließ nicht ab und locker! Das wollte sich den Tag lang nicht lösen und verscheuchen lassen – furchtbar! Imma ruff und runta!

Das steht jetzt hier so knapp und flüchtig notiert, verehrte Leser, aber der Mist wollte mir dann noch zwei weitere, endlos durchlittene Tage (und Nächte!) lang nicht aus dem Kopf – und nun, da ich den Blödsinn erinnere und notiere, ist er sofort wieder da, der widrig leimige Ohrenschmalzwurm! – Also hoff’ ich von Herzen, daß er Sie nicht auch befällt, verehrte und (dann hoffentlich weiterhin) gewogene Leserschaft!

Und nebenbei: Summt und sagt man diesem Schnulz-Couplet nicht gar homosexuelle Subdominanten bzw. Obertonpaarungen nach? – Gibt es da tiefliegend aufsprießende Subtexturen gar? – Hm. Man wird es wieder alles gründlich bedenken und wird letztmöglich doch wieder Freud lesen müssen?

Darum ist ja die Frage »Tut’s noch weh?« auch so perfide, denn: Um ehrlich zu antworten, muß der soeben vergessene Schmerz wachgerüttelt werden! Der Befragte horcht also in sich rum und weckt seine erschöpft schlummernden Qualen auf, damit sie Auskunft geben, und macht sie damit obendrein noch grantig.

Durch eine – angeblich! – fürsorgliche Frage, verwandelt sich der Schmerzvergessene im Nu zurück in einen schmerzgramen Pönitenten und Wehleider. Es ist darum gewiß nicht verkehrt, dem Mitleiden und Fürsorgen zu mißtrauen, wie es Nietzsche auf seine durchgängig grantige Weise tat, denn das Mitleiden (und womöglich sogar er, Nietzsche, selbst?) birgt nämlich – zugegeben! – gewollt oder ungewollt bösartige Absichten!

Das ist wie bei der umgedrehten oder »negativen Psychoanalyse« (wie sie mein Kommissar Röhr vermutlich genannt hätte, der sich als gebildet in vielen Belangen erwies und angeblich sogar mal Theologie und irgendwas mit Polito- oder Psycho-, jedenfalls was mit -logie studiert hatte), welche Analyse, nach schiefem Freudschen Rezepte, die ganzen Hysterien und Macken nicht nur wachruft, sondern durch das Rumstochern geradezu verursacht, in die Welt setzt und überdies übel aufhetzt. Die verkehrte Analyse bringt das Unbewußte auf falsche Gedanken und braut (ganz arglos, ja »unbewußt«) Dynamit, das dann beizeiten (lustvoll) hochgeht! Sie weckt im Unbewußten – dem brisanten Truhe- und Muschelwesen – lange verborgenes Unheil, das sie ins Bewußtsein hinaufzerrt und dann als Ungeist aus der angebohrten Muschel entläßt, wo es Unfug treibt. Die Analyse lindert diesfalls nicht, sondern facht umgekehrt Unheil an und stiftet schwärende Schäden, innen wie außen.

So läuft das wohl meist. Ich kenne Leute, die hat die Analyse schwer beschädigt und obendrein arm gemacht! Und dann haben sie in ihrer Verzweiflung zur (frisch entkorkten) Flasche gegriffen – und es ging ihnen besser! – Also warum nicht gleich in den Weinladen ums Eck?

Überdies: In seiner Kapsel oder Muschel hielte der vergessene Sprengstoff weiterhin Ruhe – in seiner Truhe stört er keinen, weder Truhe noch Welt. Eventuell poltert’s leise, ein paar leichte Macken im Innern noch, dazu nervöses, ingeniöses Lidzucken – mein Gott, was soll’s!?

Aber nein! Die Truhe muß erbrochen, der Fusel entkorkt werden. – Jetzt knallt’s allen um die Ohren! Und das Volk fängt das Saufen, das Stechen und Hauen und Raufen an …

Damals während meiner gewöhnlichen, allgemein harmlos-häuslichen Beschwernisse noch – Herr, was hätte ich die (manchmal) gern wieder! –, fragte mich meine liebe Frau Dietlinde eines trüben, scheußlichen Morgens einmal ganz unvermittelt:

Was für mich der Sinn des Lebens sei?

Mir fiel zuerst allerhand ein, das mich ständig kleinflammig kujonierte: nie recht zur Ruhe gelangen, sich vorwiegend fad befinden, gescheitert, unbeheimatet sein, ziellos, lustlos, trostlos und sinnlos. – Vollentfremdeter Grollstädter eben!

Dietlinde stand verlegen und traurig vor mir:

»Das soll dein Lebenssinn sein, Frowalt?«

Ich blieb wortlos, war selbst erschrocken, hob die Schultern.

Sie nahm’s persönlich und weinte sehr.

Ich liebkoste sie, aber ihr ging’s doch genauso schlecht. Und so saßen wir lange wortlos schluchzend beisammen und hielten uns fest und drückten uns.

Gibt es denn überhaupt einen Sinn? – Dann muß er ganz unscheinbar sein. Es wird so etwas wie der ewige Umlauf sein, Verfall und Erneuerung, Tod und Geburt; im zu erduldenden Menschleben auch so was, wie Sisyphos es durchmacht; dann die Jahreszeiten, Jahresketten, die Entwicklungsgänge der Pflanzen. Auch die animalischen Kreisläufe: Fressen, Ausscheiden, Atmen. Koitieren. Dann Knisterknirsch und Knacke, Kacke, Tod!

Aber da ist kein Verlaß! Denn die präzise und immer unverbrauchte Wiederkehr des Mondes und der Gestirne bleibt auf Ewigkeit nicht konstant. Früher überwachten ja extra noch Töchter des Zeus als Horen das geregelte Leben und die Ordnung und daß »die Sonne ihre Maße nicht überschreitet«. Aber damit ist Schluß! Jedenfalls sorgten sich die Alten schon vor ewigen Zeiten, ob alles glatt- und gleichlaufen wird, und darum haben sie Zeustochter Eunomia (nebst gleichrangigen Hilfskräften) bestellt und zur passenden Kuratorin ernannt. – Aber die sind im Rahmen des neuzeitlichen Göttersterbens auch lange tot! Und jetzt wird’s brenzlig … Denn all diese Gleich- und Umläufe und großen Zuverlässigkeiten werden eines fernen Tages zu eiern anfangen und vor sich hinschwitzen als »Rote Riesen«, um alsbald zu explodieren und in »Schwarzen Löchern« hinter »Schwarzschilden« zu verschwinden – unter großem, nobelpreiswürdigem Röntgengestrahle! – Oder wie der ganze ewig-endlose Wahnsinn ferner heißt und noch ferner heißen oder sein mag.

2. Kapitel

Fliegen

Mehr noch als »Die Ewige Wiederkehr« hatte mich immer die »Unschuld des Werdens« betört und überredet, wobei es hier freilich verfehlt, wie ich finde, eine Schuld oder Unschuld ins Werden hineinzudenken. – Dem Weltall ist doch egal, ob ich Hämorrhoiden habe oder ob oben irgendeine Milchstraße versauert! Beide gehören sie ganz sündlos dazu, so wie im Großen und im Ganzen auch diese Urknalls – von denen ich etliche vermute! – Oder denken Sie, werte Leser, auch im Kleinen an die Pfandflaschen, die Fernsehgebühren, die Quallen, Viren oder Brummfliegen.

»Was, Frowalt? Brummfliegen?« fragen Sie mich, werte Leser?

»Ja doch!« rufe ich. Denn: Alles was ist, ist wie es ist und wird, wie es wird. Also ja, auch Brummfliegen gehören dazu! Oder die Fernsehgebühren und die Quallen und alles …

In diesem Sinne schreibe ich mir Tag für Tag, je nach Seelennot, entweder beschwörend die Kraftparole »Et illud transit!« oder abwinkend »Geht auch vorbei!« auf die vordere Innenwand meiner Hirnstube (wo das knirschende Getriebe wohnt) – ähnlich wie dieser Holländer Gadamer und sogar der Lüneburger Heidegger es in kniffligen Zeiten tun und getan haben sollen. Es bleibt unklar, wer von ihnen damit anfing, sich auf diese billige Weise Mut einzureden und die Welt gelassen zu nehmen – ich jedenfalls höre nicht auf damit! Denn es stimmt ja, also hilft’s wohl auch.

Apropos Brummfliegen. Um meinen Schädel brummen und brausen öfters so kotfliegenartige Kopfzerbrecherchen und suchen, wie auch die lästigen Ohrwürmer, durch die Öffnungen an meine Hirnsäfte zu gelangen, wobei sie sich daran nicht nur vollsaugen und sattsaufen, um ihre Beute in der Morgendämmerung wer weiß wohin fortzutragen, sondern diese Fliegenbagage hinterläßt, wenn sie plündert und räubert, immerfort kostbarste Abfälle! Sie koten (scheißen), speien und schwitzen – und beflügeln mich damit! Sie brummen zu meinem Knistern und Knattern in Einklang und jubeln mir überdies noch göttlichste Harmonien unter, wenn ich in meinem Gelaß erschöpft rumliege und nachdenke. – Sie beschenken mich mehr, als daß sie mein Aas benagen und Hirnsäfte zapfen. Zuletzt gewinne ich dabei!

Diese Brummflieger kommen, wer weiß woher, bevorzugt auf mich, wenn ich schlaflos liege, im Wachkummer sozusagen und meist im Bett, und ganz oft und zahlreich überfallen sie mich im Klappbett der Mepper Refugiumskammer, die auf ihre Art eine geradezu amtierende Kummerkammer mit Fliegenterrarium bereitstellt. Daheim in Grollstadt-Sauger schwärmen sie ins Schlafzimmer, wenn ich mutterseelenallein neben meiner Frau Dietlinde, die von ihnen verschont bleibt und schläft, meine täglichen Sorgen umgrabe. Da kommen sie mich besuchen, da überfallen sie mich.

Und hier nun, in meiner Gefängniszelle, wo mich der Schlaf auch ständig flieht und kein Vorhang den Mond hemmt, fühlen sich die Kotfliegen, wie es scheint, geradezu sauwohl und sind gieriger als je zuvor! Ob es überall immer die gleichen Aasfliegen sind, vermag ich nicht zu erkennen; die Fliegen jedenfalls erkennen und kennen mich gut, und hier im Gefängnis, da sind sie noch triebhafter als sonst. Ich plante schon, sie mit meinem Stuhlgang und Essensresten an- und abzufüttern, damit sie meinen Bregen nicht noch vollends plündern und besser mehr koten und abtriefen, vulgo: viel scheißen und schenken (was ja verwandt klingt).

In der Gastwirtschaft oder im Zug gehen mir die Brummfliegen aus dem Wege, selbst wenn ich dort döse und ohne recht einzuschlafen nur dumpf und döse-dämlich dahocke – also anfällig wäre! Aber sie mögen es dort nicht; sie wollen intimer gelockspeist und geludert werden, am liebsten des Nachts vermittels luzid-erschöpfter oder erschöpft-luzider Schlaflosigkeit. Kommissar Röhr nennt das »Insomnie«, haha!

Nun waren mir die einfallenden Ohrwürmer stets nur nutzlos und lästig, aber die Kopfbrummer nötigen mich, vieles gründlicher zu begrübeln und zu ergründeln – und so kam das dann immer auch meinen Aufzeichnungen und Bahnhofvorplatzreden zugute und den Mepper Kalamitäten, die ich im Mepper Refugium schreibe und aufbewahre, und natürlich meinen Gottesbeweisen, die ihrerseits (als Taschenbüchlein) in der Welt umherschweifen und Leute angreifen. – All das und meine ganzen Gedankengebäude bestehen also letztlich: erstens aus Lesegeröll, zweitens aus »Insomnie«-Abfällen und drittens aus dem üppig anfallenden Kotmörtel der Brummfliege!

Aus diesen drei Zutaten baue ich meine schmucken Luftgebäude. Und so bilde ich mir wohl zu Recht ein, daß diese quälenden Nächte und kotfliegenartigen Überfälle mir insgesamt mehr zum Vor- als zum Nachteil gereichen. – Ob aber etwa die Pfandflaschen und Quallen mich auch beschenkten, wenn ich ganz auf sie angewiesen wäre? – Das weiß ich nicht! Die Pfandflaschen schon, aber anders (mehr als sichere Geldanlage). Und man müßte für die Quallen ein Wasserbett anschaffen und täglich tauchen und nachsehen, wie es ihnen geht und was sie zu sagen haben – nein, das möchte ich nicht! Ich habe ja meine Fliegen.

Also weiter im allerhöchsten Fliegenflug: So es Gott also nicht gäbe, wäre dann ja eine enorme Planlosigkeit des Werdens zugange, aber auch wenn es Ihn gäbe, wären Seine Ratschlüsse unergründlich im Sinne einer »Negativen Theologie«, wie Kommissar Röhr es einmal bedeutungsvoll nannte, um im Grunde nur zu sagen, daß sich davon und darüber grundsätzlich nichts sagen lasse.

Und so glimmen immer nur die vollendeten Tatsachen und ihre Erklärungen recht plausibel nach, so daß sie gar geistvoll oder kausal einleuchtend scheinen und uns Menschen verführen, Sinn in den Weltlauf hineinzudeuten, vernunftgemäße Fortentwicklungen zu erkennen und daraus töricht nach vorn zu schlußfolgern und Zukunftspläne auszuhecken. – Dabei leuchtet doch nur ein, was eben so und nicht anders passierte, was nun mal so und nicht anders gewesen war und was seit gestern und heute früh schon im Helldunkel der Vergangenheit entschwunden ist. – Wie oft hätte alles anders kommen können! – Welche Zufälle, welche Launen haben den ewig schwankenden Gang der Welt bestimmt! Aber am Ende ist es dann so, wie es ist.

»Aus der Geschichte lernen!« wird oft trompetet. Meist nur, um weiter gewissenlos rumzupfuschen, denn das heißt doch am Ende nur: Alles wieder falsch machen …

Nach vorn bleibt eben alles offen und stets überraschend und anders. Kein Blatt ist gleich und der nächste Tyrann wird auch anders sein – er brüllt sehr wahrscheinlich nicht, wird eher den smarten Flüsterer und Einflüsterer geben. Jedenfalls, scharmant und berauschend wird der neue Schuft (oder eine Schurkin gar!) am Horizont aufgehen müssen, wie ein Erzengel und Retter in reiner Gestalt, um als erstes und endlich die unselig ewigen Bösen zu zerschmettern und abzuwürgen, damit ewiger Frieden auf Erden einkehre und deren konfiszierte Klein- bzw. Voluminösvermögen auf uns regnen mögen, bis endlich auch ein rundumerneuerter Helmut Kohl wiederkömmt und für Ordnung sorgt in Gestalt des bunten Dalai Ben Obama bin Stalin und der (oder die) dann die Angelegenheiten wieder mäßigt oder verschärft oder einfach besser macht oder so!

»Was sagst Du zu meiner These, Dietel?« fragte ich meine Frau Dietlinde ›diesbezüglich‹, haha!

»Unsere nächste Kanzlerin«, meinte sie, »wird schon dafür sorgen, daß mögliche Falten ordentlich ausgebügelt werden! Also reg Dich nicht wieder künstlich auf, Frowalt!«

»Du bist gut, Dietel! Du hast Nerven!« sagte ich. – Mein Dietelchen ist nun mal stark von Daseinsvertrauen und Lebensfreude durchwoben …

Andererseits, ganz regellos läuft es ja auch nicht um und um in der Welt, sofern die berühmten Naturgesetze beständig und ewig gelten sollten, und das tun sie derzeit. – Ob aber auch ad infinitum? Oder überdies gar post finitum? In den ›Schwarzen Löchern‹? Im Nichts gar? – Wo doch gar nichts ist. Und ob das auch ante urknallmäßig noch alles so gesetzmäßig rund läuft wie jetzt post-mäßig? – Knifflige Sache!

Ich werde Röhr während des Verhörs gelegentlich anschleimen und doof fragen, ob es, wo es doch »Negative Theologie« gebe, wohl auch »Negative Epistemologie« (ganz doof-bemüht gesprochen) oder (extra doof verlallt:) »Negative Wissenschaftsplillesofie oder so wat Ähnliches« gebe? (Wo man dann prinzipiell wieder nichts wissen kann, was ich längst weiß, haha!) Und das wird er dann wohl auch gern beantworten, und ich werde wieder gucken wie ein Deckel, nee, Dackel – oder beides, denn Verschreiber sind zu achten und achtbar! – wie ein abgemästeter Gullydackel quasi!

Ich erinnere mich des Gullydeckels oder -dackels wegen gern eines sogenannten »Schlammsaugwagens« in Mönchengladbach, dem ich nach einer Bahnhofsvorplatzrede vom Kaffee gegenüber aus zuschaute, wie er seinen langen Rüssel in einen solchen offenen Deckelgully einführte, um ihn mit endloser Geduld und unter Einhaltung aller noch geltenden Naturgesetze mit hierdurch verursachten Geräuschen auszusaugen. – Beinahe so, wie meine Kotbrummer es tun! Die Schönheit, ja Poetik (ja Erotik!) der Szene und ihre irdene Einfachheit und Plausibilität waren umwerfend! Ja, sind es bis heute! Und aus den Schlämmen und Schlackehefen im Schlammtank des Schlammsaugwagens sprießen später dann überall auf den Feldern unsere beliebten Weißkohlköpfe, Dessertweine oder Spargeln, weil man gern und gut damit düngt. Bei mir gedeihen auf ähnliche Weise die Kalamitäten.

Allein, auch in diesen und gar jenen kniffligen Angelegenheiten beklagen, ermangeln und bemeckern wir weder etwas am Lauf der kleinen Dinge noch am großen Weltenlauf – ja im Gegenteil! –, wir mühen, ja freuen uns, alles zu nehmen, wie’s ohnehin kömmt und auch sportlich genommen werden muß! Und sei’s in Gestalt eines Saugwagenschlamms …

Im Leben muß man zusehen, daß man mit der vorhandenen Situation klarkommt, also meinerseits: geb. am 16.9.1950 in Grollstadt-Sauger, soundso beschaffen die Eltern; Sonnensystem, Erde, nunmehr 21. Jahrhundert, Holozän, Zwischeneiszeit; Willy Brandt; später beständige Kohl-, dann Merkel-Regierung; unterdessen Bürsten, Pinsel und Brummfliegen; Fußballtoto und Bahnhofsreden; Meppen, New York, Schweinfurt; akut Röhr und Knorr und Salzgitter bzw. Stahlgitter, haha!

So was sucht sich keiner aus. Jeder muß in gegebenen Verhältnissen klarkommen. Es gibt ein paar Entscheidungen, die man darin treffen kann, daß man es gut macht oder auch miserabel; bestenfalls meistert man es und macht was daraus. Manche lehnen lieber gleich alles ab und grämeln kränkelnd an der Unrechtswelt dahin. Das kommt für mich, der ich durchaus vieles mißbillige, niemals in Frage! Ich folge der Maxime: nicht rumgreinen! sondern – fuck noch eins: Mache, Mensch! arbeite! – »Numquam lamentari (et lametta, hic et haehae!) – sed fac! labora!« – o. s. ä.; vulgo: Don’t worry, work!

Insofern bin ich wohl bis heute (und immer heute) ein halber Gestriger (›Kürchenlateiner‹), einer, der weiß, daß er in ein vorgegebenes Leben gesetzt – oder von Mutter Heideggern (hoho!) geworfen – worden: ist. Diese schlichte Einsicht ist meine Erdung, um den Situationen gewachsen zu sein, die mit mir von gestern herkommen und jetzt weitergeführt werden müssen. Diese Herkünfte nennt man gemeinhin auch Sprache, Kultur, Brauchtum, Benehmen usw. Es sind Nachlässe der Vorfahren, die als Vorbedingungen und Voraussetzungen von den Eltern und Mitmenschen auf uns kommen. – Obzwar in diesen turbulenten Zeiten ja alles daran anfängt, zu wackeln und brüchig zu werden. Aber auch damit muß man zurechtkommen! Denn es wird nun nicht mehr nur Beständiges, Geregeltes überliefert; der akute Traditionsüberdruß und das übermäßig Unregelmäßige werden alsbald selbst Tradition und Regel, was man einigermaßen verrechnen kann, wenn man bedenkt, daß ohnehin nichts endlos währt!

Nichtsdestotrotz schätze ich pünktliche Züge, regelmäßige Mahlzeiten, Stromversorgung und die bewährte, treuliche Ehe mit Dietlinde! Auf keinen Fall will ich einem unsinnigen Fortschritt hinterherhecheln! (Ich bleibe stehen; dann liege ich vorn, wenn der Fortschritt in der nächsten Runde hinter mir liegt!) – Liebgewordener und bewährter Gewohnheiten wegen halte ich mich lieber eigensinnig am Gestern fest und spreche zu den Ultraheutigen etwa so:

»Um ein tüchtiger Hiesiger-Jetziger zu sein, Ihr Vordringlich-Übermorgigen und Ultraheutigen, bin ich besser ein besserer Jetzig-Morgig-Gestriger! Haha!«

»Sagt so die Brummfliege?« fragen mich die bis hier folgsamen Leser und: »Flüstern die Kotbrummer Dir so was ein, Frowalt?«

»Ja«, antworte ich, »so in etwa reden sie mit mir und ich mit ihnen!« – etwa dergestalt:

»Mein liebes Brummfliegengeschwader vom edlen Geschlecht der äonenalten Muscoidea! Heute will ich Euch einiges offenbaren und bitte Euch, mir gedeihliche Losung zu hinterlassen!«

»So schütt’ es nur aus, Frowalt, Dein schwerfälliges Menschherz!« summen sie da gefällig.

»Nun denn, Fliegen! Ein besitzstandswahrender Fortschrittler mit Pensionierung oder Universitätsstelle oder beim Rundfunk bin ich nicht! Wäre ich wohl gern. (Wer nicht?) Ich bin ein schlichter Bürstendrücker, Kalamitator (ein gelernter Kalamitäten-Schreiber also) und geschickter Tippico-Artist, weiter nichts. An den sicheren Bestand meiner 630 Beruhigungsgeld glaube ich nicht! Ich mühe mich, mein Leben selbst zu meistern, und nehme die 630. Große Sorgen mache ich mir weiter nicht. Ich weiß, was Euer emsiges Fliegenleben wert ist, und finde, es wiegt nicht mehr als meins! Die Vögel fressen, die Menschen klatschen Euch; wir Menschen schikanieren und schlachten uns gegenseitig. Solches Töten gehört sich nicht, befinden wir Hiffenmarkts! Eure Flugkunst bewundern wir! Vermutlich bin ich also so etwas wie Ihr, ein unzeitgemäßer Konfusionär nämlich. Freilich für mich allein und nicht im Schwarm.«

So spreche ich zu meinen Fliegen. Und da fragten sie gleich nach: »Was will der denn, Frowalt? Der unzeitgemäße Konfusionär?«

»Der Konfusionär braucht geordnete Verhältnisse. Er will ruhig und rechtschaffen leben, arbeiten, ein Auskommen haben! Er will wissen, grübeln, frei meinen und lesen, was er will! Er möchte Frau und Kinder um sich haben in erschwinglicher Wohnung. Er will Freiheit! Mehr will der Konfusionär nicht!«

»O weh, Frowalt!« brummseln sie da: »Das ist wenig und doch viel zu viel, zu einer Zeit, da nahezu alles geht!«

»Hm.«

»Und ein Übermorgiger, was ist denn das für einer, Frowalt?« fragten mich die Brummfliegen weiter.

»Nun«, erklärte ich ihnen, »der Morgige sagt beispielshalber: Wir müssen bescheidener leben, damit wir morgen besser leben als heute. Heute noch hängen wir das Schild ›Morgen Freibier!‹ auf! Das hängt dann jeden Tag da.«

»Heute ›Morgen Freibier!‹« glucksten die Schwärme gewieft.

»Der Übermorgige aber sagt«, dozierte ich fort, »daß es uns heute und morgen ohnehin schlechtgeht und daß es uns gar noch schlechter gehen muß, damit wir künftig in ewigen Paradiesen wohnen! Also laßt uns noch morgen das Schild ›Übermorgen Freibier!‹ aufhängen! Jenseits in Utopia gilt’s dann!«

Die Fliegen feixten wüst umher und höhnten: »Morgenmorgen!«

»Ja, feixt nur, Fliegen!« gebot ich. »Von früher und den Eltern her weiß ich, daß ich an heute denken muß, um morgen weitermachen zu können. Es geht ja doch weniger ums Weltende als ums Monatsende!«

»Ja, augenblicklich, jetzo, jetzund fliegenflüglich!« summsten, saugten und schissen sie vor ulkigstem Behagen!

»Und darum habe ich damals und stets« – und das verrate ich nun auch Ihnen, besonnene Leser! – »während meiner Berufstätigkeit immer auch etwas gespart und gut beiseite gelegt!«

Was Sie, werte Leserschaft, nun bitte nicht – wie alle sonst für gewöhnlich – belächeln möchten! (Bis eines Tages allen noch das Lachen vergeht, haha!) Diese Notgroschen – oder Notcents? – nein, besser Notgroschen! – halfen der Familie und mir dann oft! Auch in Haft sind Ersparnisse hilfreich.

»Und die Ultraheutigen?« fragten die Fliegen nervös: »Was ist mit denen?«

»Die verjuxen und verprassen fristlos alles und prompt, wie Ihr!«

Die Brummfliegen flogen kichernd und leichtfertig davon – drehten aber mit eins bei:

»Halt, das vergaßen wir Dir zu sagen, Frowalt! Der Große Schorsch, der Dichter, den Du gut kennst«, summten sie, »der dichtete einst ahnungsvoll diese Zeilen für Dich:

›Endchrist endchrist du wurdest zum spott

Statt deiner kommt der Fliegengott.‹

Kennst Du das, Frowalt? Es gilt Dir!«

»Nein, liebe Fliegenschar! Kannte ich nicht.«

»Es geht weiter, Frowalt! Höre:

›Larven aus faulenden hirnen gekrochen

Sind nun ins leben hereingebrochen.‹

Diese Zeilen des Großen Schorsch schenken wir Dir, für heute! Und nun lebe wohl, Frowalt! Bis morgen abend!«

»Danke, danke! Adieu!«

Und sie flogen hinweg. Da erst gewahrte ich deren hinterlassene Losung – für mich! Und begrübelte: Woher weiß der Große Schorsch das? und: Woher wissen die das? – Nun, es sind eben Fliegen; sie kommen viel rum und wissen viel …

Also wissen wir, was zu tun ist und was sich gehört! Wir wehklagen und utopieren weiterhin nicht (nur heimlich noch jammern wir ab und an in die gußeiserne Toilettenschüssel der Gefängniszelle oder in Freiheit in jede beliebige andere – warum, verrate ich später …), nein, wir klabüstern und kratzen hier klaglos ein weiteres Büchlein sogar noch zusammen, bestehend aus solchen Grübeleien wie diesen eben, bestehend aus meinen Bahnhofsvorplatzreden, des weiteren aus den geheimen Mepper Kammerschriften, den schon erwähnten Kalamitäten, und zuletzt aus den aktuellen Kerkernotizen (»Ut mine Festungstid«), welche wiederum aus Fliegen- und Schreibresten bestehen. All das fegen wir mit Fleiß und Leidenschaft hier zusammen, komponieren es gut durch und setzen es frisch aufbereitet, keck und gebunden in die kalte Welt hinaus, Euch zu Füßen, Leser!

Freilich nur, wenn sich’s der treuliche Verlag abermals aufschwätzen läßt und rausbringt. Weil, warum sollte er? – Nun, Euch zu Nutz und Frommen sollte er! Euch zu pinseln, zu umschmeicheln, Leser! Auch wenn Ihr es gar nicht lest, wie so viele heute nicht mehr lesen! Dann stellt es eben irgendwo hübsch auf, das tiefsinnig, farbfrohe Stück! – Was soll’s!? Alles Kotmörtel nur!

Und um uns gleich ehrlich zu machen: Wir mühen uns im Grunde allein, Euch, verehrte, übriggebliebene Buchkäufer, abermals ein Scheinchen abzutrutzen (hähä!), um unser Zehrgeld, unsere Gefängniskost, unsere Selbstachtung etwas wenigstens aufzukäschern und um zuallererst die Umsätze, die bedürftige Wirtschaft insgesamt und am Ende eben damit auch Euch zu befördern!

Ach, was red’ ich? – Alles längst geritzt!

Da liegt es ja vor Euch, als:

Der Lehmannsche Bote, ein ›Roman‹ von Frowalt Heimwée Hiffenmarkt, So & Sonstwo Verlag Berlin 2020 – Ha! Das sind wohl jetzt wir hier?!

Ich hatte lange erwogen, ob meinem Namen nicht besser ein mittiges »H.« anstünde – anstelle des kompletten »Heimwée«? (Den Drittnamen ›Irrgang‹ lasse ich ohnehin sein; er könnte mir schaden! Wenn die Kritiker »Irrgang« lesen, denken sie ungünstig weiter, nämlich dergestalt: »Irrgang, mein Gott! Da kommen gleich Irrtum, Düsternis und Niedergang ins Spiel. Oder Verschwörung gar. Jedenfalls alles typisch Hiffenmarkt und typisch Irrgang!« denken die, und das brauchen wir nicht!)

Am Ende habe ich mich aber für »Heimwée« (ausgeschrieben) entschieden. Denn Mozarts »Amadé« klingt stets so apart, daß ich … nun ja, wir Künstlernaturen sind eitel. – Dafür haben wir nie Geld und sterben früh. Macht aber nichts, weil wir berühmt werden und auch gar kein Geld zum Altwerden besitzen!

Falls nun aber Irrgang doch noch in die Mode kommen und ungeheuer schick und günstig werden sollte, dann sehen wir bei den Dritt- und Fünftauflagen weiter! Dann eben doch mit Irrgang vorn – warum auch nicht?!

Denn ich dachte zeitlebens immer auch praktisch, gewogene Käufer und Leserinnen, und diesfalls eben so: Was bitte hätte ich hier in der Haft sonst tun sollen? Etwa täglich am Gitter feilen? Das hätte ich machen können; bei der Qualität des Stahls und bei den hier beschränkten Arbeitszeiten wäre das sorgfältige Hinbiegen und Zurechtfeilen eines soliden Buches kaum weniger zeitaufwendig – und beides kann schiefgehen!

Aber selbst ein schiefgehendes Buch … aaah!! – Da sehe ich es wieder vor mir: ›Schiefgehendens‹, haha! – Geradeso wie damals die Geliebte und die Schafe meiner Jugendzeit, die einst unbekleidet und schön schief am friesischen Deichhang entlangsprangen und sich leicht fallen ließen, hähä! Ich habe es ausführlich beschrieben! (Kalamitäten, Band 3. – O ha!) Und damals auch nicht erst groß rumgefeilt! Einfach losgelegt, alles aufgeschrieben! Und? – Bumm! Buch fertig!

Denn das ist doch wenigstens was! – Ein Buch! Eine bleibende Dichtung! Zumal mir Kommissar Röhr ja tagtäglich beides, das Buch und die bleibende Dichtung, nahezu komplett einflüsterte, ja in Teilen praktisch diktierte. Wodurch ich rasch vorankam mit den Schreibarbeiten und im Grunde wenig schiefgehen konnte! (Und so ein Werk ist ja immer auch ein unterlassener Sprung vor den Zug …)

Das zersägte Gitter aber hätte ich am Ende noch ersetzen und bei verlängerter Haft ewig abzahlen müssen. (Oder meine Frau? Oder der Staat, höhö!) Die Haft wäre infolgedessen verschärft worden, und dann wäre es infolgedessen ja doch noch ein Buch geworden, aber ein noch bitter-reuigeres und ein räudiges dickeres obendrein (und eine Zumutung wohl auch).

Außerdem – viel anderes konnte ich gar nicht! Möglich (zumindest denkbar) wäre hier in Haft noch ein wenig Aquarellpinseln gewesen (aber da sey Gott vor!) oder Sackpfeife blasen (wie früher mal recht artig) oder vielleicht noch (wenn ich’s gekonnt hätte) Kartenlegen (Patience und so Scheiß), oder Liegestütze und Sandsackboxen etwa? – Nein, alles nichts als Zeitverderb!

Also ein Buch! Mehr ging hier ohnehin nicht. Meine gewöhnliche Brotarbeit, meine Dienstreisen (und meine geheimen einträglichen Toto- und Tippico-Zustupferln) waren von hier aus unmöglich oder ohnehin strikt verboten. Nur das Fernsehen und normales (diskretes) Wichsen waren erlaubt – von wegen: Menschenrechte! Und Lesen, Schreiben, das wurde sehr befürwortet – von wegen: Entfaltung der Persönlichkeit, Entwicklung der Vernunft, Rückfindung und so fort …

Also, warum einförmige Sägearbeiten, Aquarell oder Fernglotzen und nicht gleich ein fideles Büchlein und ab und an etwas Menschenrecht mit Entfaltung ohne Liegestütze?

3. Kapitel

Herr Gott, Mensch!

Mal grundsätzlich und nebenbei: Was hat Er, Gott, der mich schuf, hiermit bezweckt, daß er mich gegen Ende, da ich ohnehin schwächer und schwächer wurde, nun nur noch hat piesacken und fortknistern mögen? (Anderen, hört man, geht’s richtig gut! – Werden die bevorzugt?)

Aber auch das muß ich tapfer wegstecken, und ich erkläre es mir so: Er, Gott, ließ einen fahren (so einen Stinker wie mich, hoho!) in die Welt hinaus – immer natürlich in Aggregatzuständen Seiner Wahl, klar! – oder auch einfahren (ins Gefängnüs und andere Schrecknüsse hinein!) – einfach nur so! – Oder zum Spaß? Aus höherer Blähsucht, als Dero Gnaden und E. Ew. Magnifizenz et Flatulenz? O ha!?

Zugegeben, blöde Fragen und reichlich verspätetes und reichlich verdrilltes Theodizee-Gewölle, welches ja wohl wieder mal prinzipiell unbeantwortbar … ä … wie Fliegenschiß.

Mit Gottesbeweisen habe ich mich schon reichlich früh und oft versucht und rumgeschlagen und hierzu gar zwei Bände im weltklugen Berliner Rosé Verlag (allerdings in der mir allein eröffneten Sparte »Rosé für Doofé«, die soweit ganz gut ankam!) veröffentlichen dürfen, welche zwei Bändchen damals auch sehr gut liefen, aber in der Sache keinen Fortschritt brachten, und, wie jeder Fachmann inzwischen weiß, haben klügere Köpfe noch (als ich einer) auch allerhand versucht, um Gott zu beweisen – stets auch bezaubernd einfach oder sehr labyrinthisch gedacht –, freilich immer vergeblich!

Bis Kant dann kam und den Spaß völlig verdarb und Schluß war! Angeblich geht’s nun nicht mehr. (In Anbetracht dessen habe ich mich 1998 und 1999, als junger Mensch noch, mit meinen verspäteten und aussichtslosen Bemühungen ja doch wohl ganz gut geschlagen, oder?)

Nun, ich werde es nicht weiter versuchen, und mein Fazit gebe ich hier und heute kund – und habe das auch oft schon öffentlich, anläßlich einiger meiner Bahnhofsvorplatzreden, etwa in Ulm an der Baustelle oder in Zapfendorf am Münzfernsprecher neben dem Fahrkartenautomaten, verkündet, bevorzugt in Süddeutschland, wo man Gott in Teilen noch zugetan ist – bloß hört ja nie einer zu!

All meine diesbezüglichen Gedanken und Schriften habe ich also noch ein letztes Mal gut abgewogen und durchgegoren und endlich zu folgendem Kern- und Wahrspruch destillieren und verdichten (ja gar ›verdichtern‹, haha!) können, wie er genau so auch in den Kalamitäten, Band (weiß ich jetzt nicht), steht, dergestalt:

»Sobald es Gottesbeweise gibt, ist es vorbei mit dem Glauben, denn der bedarf keinerlei Begründung und keiner Beweise.« Punkt.

Hä?! – Nicht schlecht, oder? Was!?

Ja, und bumm! – denn das war’s schon! Das ist die Lösung und der Weisheit letzter Schluß! (Meines Erachtens jedenfalls …) – Das ist nun mein ›Satz vom Glaubensbegründungsbedarf‹! Es ist der vielleicht epochalste Satz all meiner tief durchdachten und öffentlich gehaltenen und immer reichlich sentenzgesättigten Bahnhofsvorplatzreden. – Nur beachten Sie bitte, verehrte Leser, daß ich allein feine Merksätze verschenke, aber nie Parolen in die Welt trompete! Ich gebe keine Rezepte aus und auch keine Leitsätze!

Letztmals, soweit ich recht erinnere, sprach ich den ›Satz vom Glaubensbegründungsbedarf‹ vor Jahren noch einmal nördlich, am Umsteigebahnhof Schlump zu Hamburg, wo man von Hoheluftbrücke nach Rauhes Haus Richtung Billstedt bzw. Mümmelmannsberg umsteigt. Ein sehr eiliges Publikum dort! Es ist immer ratsam, an solchen Rennstrecken hoch angereicherte und stark verdichtete Sätze ins Volk zu werfen, zumal wenn es alles verkappte Calvinisten sind und unduldsame Hanse-Spießer. Ihr bißchen Reeperbahn und das massenhaft aus dem üblichen Rahmen fallende Privat-Swingertum mit ›Partner-Hopping‹ halten sie für libertär und nonkonform, haha! – Daß ich nicht lache! Dabei machen sie alle schön mit da. Und alle das gleiche! Und hierbei sogar gleich an- bzw. ausgezogen! – Konforme Spießer sind das! Weiter nichts!

Daß in Schlump wieder keiner aufhorchte, ließ mich erstmals bitter empfinden. Aber noch lauter brüllen hilft gar nichts, dann halten sie einen für meschugge und werden noch eiliger vor Angst und Mitleid.

Nach dieser Niederlage von Schlump mochte ich das Reden am liebsten ganz in die Rapuse schießen; dann aber dachte ich, es sei doch tunlich, meine Rede künftig einfacher und zeitgemäßer zu gestalten und nur noch leicht verdauliche und gezuckerte Worte wie Schokochips ins Volk zu schnipsen. – Irgendwie hing ich ja doch stark an der dämlichen Rednerei! Und redete mir auch solches ein: »Mein lieber Frowalt! Besser doch Gold-Reden und keiner hört zu als Silber-Schweigen und alle horchen auf und hören nur nichts!« dachte ich mir so spitzfindig wie angebittert. Und so konnte es einstweilen weitergehen.

Meinen großen Satz aber, den »Von der gänzlichen Unnot einer Gottesbegründung« (wie ich ihn jetzt eben erst umtaufte und fortan benenne), sparte ich mir schmollend auf bis heute – und bis eben hier jetzt. Bitte schön, da haben Sie ihn nun, werte Leser! – Freilich, es wird ihn fortan keiner mehr hören und keiner muß ihn sich merken! Darf aber … und möge dann nur ja recht zitieren, wenn er zitiert! (Sonst möge er zittern!)

»Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompaß« bei den Rundreisen des spekulativen Grüblers, wie ich einer bin, »im Felde übersinnlicher Gegenstände«, wie ich es irgendwo gelesen habe.

Einer aber von gesundem Menschenverstand, und derer sind gottlob viele, der macht, was zu tun ist, zieht seiner Wege ganz praktisch und angemessen und ebenfalls mit zureichend Vernunft, aber er irrt nicht, so wie ich, einem wimmelnden Fliegengeschmeiß im Hirnkasten hinterher und spekuliert auch nicht wie von Sinnen.

Anfangs lebte und dachte ich ja noch auf diese alt-gediegene und überall vorherrschende Weise gesund vor mich hin; jenes vernunftgläubige – ja war’s denn überhaupt vernünftiges und nicht vielmehr vernunftabergläubisches? – Kotfliegengebrumme und Begrübeln kam dann alsbald mit der Geschlechtsreife sehr ausgeprägt und ausgerechnet bei mir zum Ausbruch! Es quoll auf wie Lava! Oder kam wie ein Angriff überirdischer Fliegengeschwader mit Hirnbrausen auf mich!

Anschließend folgte alles bei mir nur noch einem blinden Willen, der sich im Dampfbad jugendlicher Daseinsgier suhlte, welche mich bis heute, ermattet zwar, umtreibt, so sinnenfremd wie wütend und anhaltend redselig. Nur schlaffer eben.

Schopenhauer (»Suppenhauer« sagt Kommissar Röhr) und die Freud-Bücher (»Genußgift« sagt er) verdarben mich dann vollends; mit 18, 19, 20 Jahren war das. – Diesen lese ich selten noch, jenen in stets steckenbleibenden Anläufen – freilich sehr vergnüglichen.

»Lieber Gott, wo sind eigentlich die mir verheißenen dicken Titten und das ganze dazugehörige Drumirumi-Untenrum bei der Frau, bzw. bei den mir von Dir verheißenen und zustehenden Frauen hingekommen?« – So arglos und direkt sprach ich Gott mit fünfzehn an.

Im Laufe des nächsten Lebensjahres verlagerte sich die Frage ins Anklagende: »Wer zum Teufel genießt das mir Zustehende an meiner Statt und mit welchem Recht und warum überhaupt?« – Woher diese (meine) Ansprüche damals? Und heutzutage allgemein stärker noch in der Jugend, wie man hört!

Obzwar, man wird ja im Alter – leider Gottes! (was, scheint’s, vom Leid Gottes, und zwar nicht Seines, sondern von Seinem uns bescherten Leid kommt! leider!) – auf recht matte Weise abermals puberal wirrwild und brunsttoll, wird man! Und wird noch einmal stark spätläufig und sexualgierig und obendrein knirschig im Kopp. – Was keimt da nach, so ›johannestriebmäßig‹? Und warum? – Herr im Himmel!? Was soll das?

Röhr sagte während eines Verhörs, als ich ihm meine Spätkeimung offenbarte, nur »Prolepsie!« und schwieg dann vielschichtig nachsinnend. – Ja, was soll man damit wieder anfangen?

Damals, mit spätestens siebzehn wußte ich, längst schon vorsichtiger (agnostischer) und erfahrener (Selbstversorger, vulgo: Wixer) geworden, mir selbst zu entgegnen: »Titten, Frowalt? Und Untenrumi, haha!? Was denkst du denn, du Dummerchen? Das ist Dem doch piepegal da oben! Den gibt’s doch vielleicht gar nicht! Mußt du dich jedenfalls selbst kümmern, Frowalt!«

Später baute ich diese frühen und frappanten Fragen und Antworten gern in meine modernisierten Bahnhofsreden ein, die kindlicher und allgemeinverständlicher auf TV-Niveau gehalten waren, auch oder gerade ihrer sexuellen Würze wegen. Freilich ist mir im Laufe der Jahre als Bahnhofsvorplatzredner auf drastische Weise klargeworden, wie abgestumpft die Leute in dieser und eigentlich jeder Hinsicht geworden sind. Im Kern reagieren sie nur noch auf optische Reize, am besten auch scheibchen- bzw. kurzfilmchenweise serviert, giga- bzw. gaga-showmäßig arrangiert und alles schön augengefällig säuisch immer. (Mit Musik geht allerdings kaum noch was besser; die können die Leute nicht mehr ertragen!)

Ein Beispiel: Wollte man etwa der Keuschheit unbedingt eine Lanze brechen (und mir dabei die Stange halten, haha!), so stünde es besser damit, wenn eine Frau oder besser noch mehrere dies öffentlich aufführten, indem sie etwa interaktiv nackig zwischen den Leuten herumsprängen mit kurzen Parolen vermittels dicker Kajalstifte auf die bloße Brust gemalt: »Chaste clad!« oder »Dress chaste!« oder so hippes Zeug, das kaum verstanden, aber »cool rüberkommen« wird! – Tja, und darum gibt es so was längst schon und kommt gut an und gleich auch ins Fernsehen.

Meine klassische Rede bewirkt in solcher Hinsicht nichts und wirkt wohl auch überkommen (wie ein Auslaufmodell), aber ich bleibe dabei! Denn das Nacktturnen vor Leuten stünde mir nicht gut an! (Wie sähe das auch aus?!) – Also nichts damit und aus, Punkt! Bzw. amen!

Ein gewiß immer noch kleiner, aber vor allem hier in Europa wachsender Teil der Weltbevölkerung nimmt ja fest an, daß es gar keinen Gott gibt, und ich kann das nachvollziehen. – Welche Instanz soll man dann aber noch befragen? Wem Verantwortung, Schicksal und Schuld beimessen!? – Den andern Menschwürmchen etwa? Allgemein? Oder weil sie anders oder moralisch verwerflich sind? – Damit sich dann alle ideologisch oder konfessionell hochspezialisiert anfeinden, totschlagen oder rausreden können?

Ach, Ihm, Gott, ist’s ja doch egal, ob Ostwind, ob Westwind – wie’s Ihm beliebt! Er darbt nie, Er spielt nur – wenn’s Ihn denn gibt!? Und man kann es ja einfach, so auch Röhr im Verhör, gemeinhin nicht wissen – eben nur glauben! (Sag ich doch immer!)

Und so gibt es Ihn womöglich doch – und doch nicht! Das riecht nach Kompromiß. Und damit suchten bereits die merkwürdigen Ptolemäer Unvereinbares zu versöhnen und fanden, in Hinblick auf die Frage, ob sich alles um die Sonne oder um die Erde drehe, den Ausweg vermittels ominöser Schattenmessungen, die das Ergebnis lieferten, daß sich die Planeten zwar um die Sonne drehen, diese sich aber gewiß um die Erde. – Ein Kompromiß! – »Geht doch!«

Ja, eben nicht! Der moderne Mensch muß entschiedener vorgehen und sich mit Paradoxien rumschlagen und abfinden und sich dann auch mit ihnen anfreunden, anders läßt sich sonst bald gar nichts mehr erklären und ertragen. Das entlastet auch vom ständigen Zwang, ständig alles und weiß der Teufel noch was entscheiden oder unterscheiden zu müssen.

Und darum gibt es Gott und gibt es Ihn eben nicht. Punkt! – So einfach! Goethe meinte ja auch schon: »Wir können einem Widerspruch in uns selbst nicht entgehen; wir müssen ihn auszugleichen suchen. Wenn uns andere widersprechen, das geht uns nichts an, das ist ihre Sache.«

Finde ich auch! Meist schlägt man sich aber doch mit anderen herum, weil sie es nicht seinlassen können, einem zu widersprechen, selbst wenn man mit seinen Widersprüchen unter sich bleiben möchte und dringend Ruhe braucht …

Es schießen überall Ideen ins Kraut, mit denen sich nichts anderes anfangen läßt, als sie ununterbrochen zu diskutieren. Manchmal wird einiger Blödsinn davon nicht nur diskutiert, sondern sogar umgesetzt. – Und wieder werden ewig Probleme diskutiert, die es gar nicht gäbe, hätte man sie nicht selbst ins Leben gesetzt …

Es bleibt abzuwarten, ob sich unsere Zivilisation gegen eine Horde mit politikwirtschaftlichen Diplomen bewaffneter Vollhorste wird erfolgreich verteidigen können. Es kann ja wohl nicht sein, daß unsere Demokratie die beste Gewähr bietet, daß die Macht nicht mehr in anständige und ehrenwerte Hände fällt. – Wer das allerdings sein sollte, weiß ich auch nicht.

Viele wissen ja heute nicht, was sie wollen, aber doch stets, was ihnen gefallen möchte – leider ändert sich das ständig. Also schwanken sie spähend umher (wie durch Supermärkte oder Modemagazine), was wohl gefälliger noch und angesagter wäre oder was nun ganz abzulehnen sei, und suchen dann dies und das danach aus. Sie suchen nicht nach dem, was nötig, tauglich und richtig für sie wäre, denn es könnte aufsässig oder altmodisch oder irgendwie blamabel und unkorrekt wirken, sondern sie wollen es aerodynamisch haben – wie alle! – und wohlfühlig nett, und vor allem muß es angesagt sein: modern, up to date, à jour, hip oder wie man das gerade am coolsten sagt. – Sonst kriegen sie es mit der Angst, daß sie was falsch machen und abgehängt werden!

Alle sind sie auf dem laufenden, weil (und wenn) sie wissen, was läuft, aber sonst wissen sie gar nichts! Meine verzwickten Paradoxe kämen diesen wind- und wankelmütigen Menschen vielleicht ganz recht – da bräuchten sie sich wieder nicht zu entscheiden und sie hätten einen schicken Aufschub und brächten gar noch die Paradoxe in Mode – was längst auch geschehen ist, allerdings mehr in Künstlerkreisen, die allerdings auch stündlich größer und größer und windschnittiger werden … Denn Boheme ist schwer in. (Nicht nur in Schwerin, haha!)

Als damals öfter Sendungen über so eine Rednerecke in irgendeinem englischen Heidepark im Fernsehen kamen, wollte es scheinen, als ob mir nun ab und an doch Menschen zuhörten, wenn ich meine Bahnhofsvorplatzreden hielt. Ich bemerkte das erst nicht, weil ich es gewohnt war, daß die Leute keinesfalls zuhörten, und so konnte ich mich stets auf mein Reden konzentrieren und war nie veranlaßt, mit Rückkoppelungen, also mit Applaus, Begeisterung oder mit Murren und Pfiffen, umzugehen.

Schade eigentlich! Denn das erst macht eine gute Rede oder Predigt aus, daß sie einerseits unbeirrt bleibt und sagt, was zu sagen ist, aber andrerseits muß die Rede sich hierbei auch feinnervig dem Publikum anschmiegen, der Redner muß es genau abhorchen, damit er geschickte Modifikationen einflechten kann, um seine Botschaft gehöriger noch zu übertragen und um so dann den Triumph unter heftigem Beifall oder Schmährufen davonzutragen.

Plötzlich also geschah es, während ständig diese Heide-Park-Redner-Sendungen im Fernsehen liefen: Da blieben einige Leute während meiner Bahnhofsvorplatzreden stehen, zögerten aber, ob sie bleiben und richtig zuhören sollten. – Wieder wußten sie nicht recht, was sie wollten! Denn in Mode war der Stehredner durch die TV-Sendungen noch nicht (und auch nie, gottlob!) gekommen, sonst stünden überall Redner herum und erzählten Blödsinn, und es gäbe bald mehr von ihnen als Zuhörer, oder besser Zuschauer, denn die Leute gucken doch nur, ob es jetzt angesagt sein könnte, stehenzubleiben. Und wenn schon welche dastehen, stellen sich noch welche dazu. Dann wissen sie, daß es ihnen gefallen will, und sie hören sich jeden Blödsinn an. – »Stets schwankende Gemüter / wackeln wankelmütig um / und um / und um …«

Nee, nee, jetzt bloß kein »Wiedebumm!« und »Haha!« hinten dran! – Einmal wenigstens will ich ernst bleiben, um der Sache willen, haha!

»Holla, Ernst!?« höre ich da wen höhnen: »So heißt also dein komischer Schlammsaugwagen ›Ernst‹ wohl, was, Frowalt? Haha?!«

»Weg da! Kuscht euch, ihr übelkotendes Fliegengeschmeiß! Wir wollen nun in uns gehen, um Klarheit zu schaffen, damit …«

Nach wehevollem Ringen um das Richtige, Wahre und Eindeutige wußte ich nun endlich, was ich will, und hatte mich klar für den »Fall paradox« (wie ich das janusartige Wesen, die nagelneue Phänotype taufte) entschieden – daß es Ihn also gibt und nicht gibt. Ich meine jetzt nicht den Blödsinn oder Zuhörer, sondern Gott! (Und die Phänotype, haha!) – So einfach.

Uns aber – gibt es! Ganz eindeutig! Wir wackeln und pendeln, ohne gefragt worden zu sein, im All umher wie zittrige Halme. Die Zeit ist uns bemessen auf wenige, (scheinbar) nicht enden wollende Jahre. Wir sind, und dann sind wir wieder nicht mehr, aber wir sind und sind nicht – nicht zugleich, nicht gleichzeitig! So wie Er, den es jederzeit gibt und gleichzeitig nicht gibt. Bei uns kommt erst das eine, dann das andere, bei Ihm alles oder gar Alles zugleich. Was bei Ihm und uns dahintersteckt, weiß auch keiner, außer Er vielleicht (teilweise) – aber das kann man wieder »prinzipiell« (so Röhr und ich) nicht wissen. – Und so schwierig ist das dann wieder …

Der »Fall paradox« betrifft aber nicht nur Ihn, Gott, und höhere oder verzwackte Dinge, denn den Blödsinn etwa oder den Zuhörer gibt es nämlich auch und auch nicht zugleich! – Beispiel: Ich rede ja öffentlich keinen Blödsinn! Aber keiner hört zu. Irgendein Papst oder Kandesbunzler redet gleichzeitig nur Blödsinn! Hat aber unzählige Zuhörer, gleichzeitig! – Schwieriger Fall: ein »Fall paradox«! So einfach!

Mit Röhrs »prinzipiell negativen« Angelegenheiten verhält es sich im Prinzip einfacher und zugleich noch vertrackter, denn was zu kennen und zu nennen das wichtigste (ja, Wichtigste) wäre – Gott, Tod, Lebenssinn und dergleichen! –, erweist sich als das Unwißbare, als das Unnennbare – wobei verkomplizierend hinzukommt, daß die Mystiker etwa das Unwißbare zu wissen glauben, aber ihr Wissen nicht unzweideutig (also einfach) zu benennen wissen. – Verzwickt und zugedreht, nicht wahr?

Diese ganze vertrackte Knäulerei aber – mit den vielen, vielen Vieldeutigkeiten und mit den vereinten Unvereinbarkeiten und den unzweideutigen Unabänderlichkeiten und sonstigen -keiten und mit all den Pendelmenschen und TV und der Atomphysik und dem All und das Alles! – Das ist es ja, was dann des Nachts um mich herum brummt und knistert wie Papierschlangengift und ausgerechnet mich immer kirre macht! Als schwieriger Fall (selbst) wieder …

Ist doch kein Wunder?! – Oder eben doch eins und zugleich keins?

4. Kapitel

Drahtkäfig

Punkt 12 Uhr