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Angesichts des Wandels hin zu einer digitalen Welt sollten Forschungsrichtungen, die sich mit Sprache/n befassen, mit ihrem jeweiligen Potenzial neu betrachtet und stärker miteinander verknüpft werden. Im Kontext des Fremdsprachenunterrichts kommen fachdidaktische und sprachwissenschaftliche Forschungsrichtungen zusammen, z.B. bei der Verknüpfung von Ansätzen aus der Mehrsprachigkeitsdidaktik und der Linguistic-Landscape-Forschung. Bei beiden nimmt die Sichtbarkeit bzw. Wahrnehmung von Sprache/n eine bedeutende Rolle ein. Der Französischunterricht kann hierbei dadurch profitieren, dass mittels digitaler Medien ein Zugang zur Fremdsprache auch ohne unmittelbaren Kontakt zu einem fremdsprachlichen Gegenüber vermittelt werden kann. Die Beiträge des vorliegenden Bands tragen dazu bei, den Austausch zwischen Fachwissenschaft, Fachdidaktik und der konkreten schulischen Praxis vor dem Hintergrund der Digitalisierung fördern.
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Lukas Eibensteiner / Amina Kropp / Johannes Müller-Lancé / Claudia Schlaak (Hrsg.)
Neue Wege des Französischunterrichts
Linguistic Landscaping und Mehrsprachigkeitsdidaktik im digitalen Zeitalter
© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 2197–6384
ISBN 978–3-8233–8486–1 (Print)
ISBN 978–3-8233–0353–4 (ePub)
Angesichts des Wandels von der rein analogen zu einer zunehmend digitalen Welt sollten verschiedene Forschungsrichtungen, die sich mit Sprache/n befassen, mit ihrem jeweiligen Potenzial noch einmal neu und vor allem stärker miteinander verknüpft betrachtet werden. Im Kontext des Fremdsprachenunterrichts kommen nicht nur fachdidaktische, sondern auch unterschiedliche sprach-, kultur- und literaturwissenschaftliche Forschungsrichtungen zusammen. So kann für den Bereich der Sprachwissenschaft als Beispiel die Mehrsprachigkeits- und Linguistic Landscape-Forschung angeführt werden. Bei beiden nimmt die Sichtbarkeit bzw. Wahrnehmung von Sprache/n eine bedeutende Rolle ein.
Der Französischunterricht kann inzwischen mittels digitaler Medien den Zugang zur Fremdsprache bzw. zu der sprachlichen Vielfalt im Land der Fremdsprache auch ohne unmittelbaren Kontakt zu einem fremdsprachlichen Gegenüber anhand konkreter Beispiele (Fotos usw.) vermitteln. Daraus ergeben sich Möglichkeiten des Einsatzes von Materialien der Linguistic Landscape-Forschung sowohl für die kritische Reflexion von Sprachkontaktsituationen, z.B. im Hinblick auf die sprachliche Situation autochthoner und allochthoner Minderheiten, als auch für die Behandlung inter- bzw. transkultureller Fragestellungen. Auch für spracherwerbsbezogene Aufgabenstellungen, die mehrsprachige Potenziale nutzen, wie z.B. im Bereich Grammatik- und Wortschatzerwerb, kann auf Materialien der Linguistic Landscape-Forschung zurückgegriffen werden.
Spätestens seit den Corona-bedingten Schulschließungen im März 2020 und dem damit einsetzenden Distanz- bzw. später Wechselunterricht sind digitalisierte Lehr- und Lernprozesse zentraler Bestandteil des Unterrichts und bis heute – selbst wenn der Präsenzunterricht in den Schulen wieder vollumfänglich umgesetzt wird – nicht mehr wegzudenken. Eine zukunftsfähige Schule bzw. ein nachhaltiges Bildungssystem kann es sich heute nicht mehr leisten, digitales Lehren und Lernen zu ignorieren – eine regelrechte Zeitenwende, wenn man bedenkt, dass Spiewak noch 2014 feststellte, dass die „digitale Welt […] vor dem Schultor auf[höre]“ (Spiewak 2014, 2).
Im Hinblick auf die Lehr- und Lernorganisation hat sich in den letzten Jahren eine Vielzahl an digitalen Anwendungen etabliert. Im Fremdsprachenunterricht selbst lassen sich u.a. interaktive Plattformen, Lernapps oder webbasierte Tools zum Erwerb der Zielsprache finden. Ob kollaborative Schreibprozesse mit Etherpads wie zumpad.zum.de, Vokabellernen mit Vokabellernapps wie Quizlet (https://quizlet.com/latest), monologisches Sprechen mit Online-Tools wie www.voki.com oder auch fremdsprachliche Podcasts und Youtube-Videos im Unterricht zum Einsatz kommen: Die Vielfalt der digitalen Möglichkeiten für den Fremdsprachenunterricht erscheint fast unendlich. Auch für die Kommunikation mit räumlich entfernten Gesprächspartner*innen bzw. Lerngemeinschaften, die für den interkulturellen Austausch und die Anwendung der Zielsprache wertvoll ist, waren während der Corona-Pandemie digitale Anwendungen die einzige Möglichkeit, diese Kontakte aufrechtzuhalten. Wenn man an digitale Implikationen im Lehr- und Lernprozess denkt, fällt allerdings auf, dass innovative Technologien bisher im Unterrichtsprozess selten zum Einsatz kommen. Virtual Reality-Lernszenarien (VR) werden – vermutlich aufgrund technischer und finanzieller Herausforderungen – kaum eingesetzt, obwohl hier für den interaktiven und kollaborativen Austausch beim Fremdsprachenlernen ein enormes Potenzial besteht. So könnten Social-VR-Umgebungen etwa zum Einsatz kommen, um Kontakte mit Lerngemeinschaften zu intensivieren oder gemeinsame Aktivitäten mit Lernenden, die die zu erlernende Zielsprache als Muttersprache beherrschen, in virtuell angelegten „authentischen“ Kommunikationssituationen zu erleben.
Bisher konnte nicht eindeutig empirisch geklärt werden, welchen Effekt digitale Anwendungen auf das Fremdsprachenlernen bzw. konkret auf den Lernerfolg haben. Als Beispiel können die verschiedenen Studien zu Quizlet angeführt werden: So wurden beim Einsatz von Quizlet hinsichtlich eines positiven Effekts beim Vergleich zum analogen Lernen mit Karteikarten keine einheitlichen Resultate festgestellt. Es gab positive Auswirkungen auf den Lerneffekt, aber auch gegenteilige Tendenzen (cf. u.a. Başoğlu / Akdemir 2010; Dizon 2016; Dizon / Tang 2017; Lander 2015 oder Nikoopour / Kazemi 2014). Im Allgemeinen sind allerdings beim Einsatz von digitalen Anwendungen für das Fremdsprachenlernen vor allem positive Tendenzen im Bereich der Motivation und auch bei der Förderung des autonomen Lernens festzustellen (cf. z.B. Anjaniputra / Salsabila 2018; Chien 2015; Schlaak / Vogel 2020 oder Gabriel / Grünke / Schlaak 2022).
Obwohl sich in den letzten Jahren hinsichtlich des Einsatzes digitaler Anwendungen im Fremdsprachenunterricht enorm viel entwickelt hat, muss auch vor dem Hintergrund der oben angesprochenen nicht einheitlichen Erkenntnislage darauf hingewiesen werden, dass die digitalen Medien nicht nur um ihres medialen Reizes willen eingesetzt werden sollten (cf. Bär 2019, 12–13). Wichtig sind aus der Perspektive des Fremdsprachenunterrichts mit seinen knappen Stundenzumessungen digitale Anwendungen, die sprachlichen Input und Output tatsächlich in den Vordergrund stellen. Darüber hinaus erscheint es nützlich, weitere linguistische Forschungsrichtungen, wie etwa die Linguistic Landscape-Forschung oder die Mehrsprachigkeitsforschung, einzubeziehen, deren digitale Entwicklungen zu berücksichtigen und hierzu vermehrt interdisziplinäre Forschungen zu betreiben.
Unsere lebensweltliche Umgebung ist von visuellen Zeichen geprägt, die Inhalte auf direkte oder indirekte Art übermitteln (cf. Krompák 2018, 246). Die traditionelle Linguistic Landscape-Forschung (dt. ‚sprachliche Landschaften‘; fr. paysage linguistique) beschäftigt sich vor allem mit schriftlicher Sprache im öffentlichen Raum (cf. Backhaus 2007; Landry / Bourhis 1997). Aktuell wird allerdings häufig dafür plädiert, alle Zeichen des öffentlichen Raumes (d.h. auch nichtsprachliche Zeichen) zu berücksichtigen (semiotic landscapes; cf. z.B. Jaworski / Thurlow 2010). Eine solch breite Definition schließt auditive Sinneseindrücke (linguistic soundscapes) oder bewegliche Zeichen (z.B. skinscapes wie Tätowierungen) mit ein (cf. Scarvaglieri et al. 2013, 62). Auch eine Ausweitung auf den virtuellen öffentlichen Raum (virtual/online linguistic landscapes; cf. Malinowski 2018, 877; Kallen et al. 2020) und auf semi-öffentliche Bereiche wie die Schule (schoolscapes; cf. Brown 2012) wird intensiv diskutiert. Unabhängig davon, wie man Linguistic Landscape (LL) definiert, bleibt das Hauptziel dieses Forschungsfeldes, die Zeichen des (semi-)öffentlichen Raumes möglichst detailliert zu dokumentieren und so für die Analyse soziolinguistischer, sprach(en)politischer, pädagogisch-didaktischer etc. Fragestellungen nutzbar zu machen.
Der Nutzen der LL für den Fremdsprachenunterricht wurde vor allem im Bereich der Englischdidaktik, aber auch von Autor*innen, die sich mit Deutsch als Fremd- und Zweitsprache beschäftigen, diskutiert. In der Literatur werden vor allem Vorteile betont, die sich auf die Erweiterung der Möglichkeiten, Sprache in authentischen Kontexten außerhalb des Klassenzimmers zu lernen, beziehen (cf. z.B. Cenoz / Gorter 2008 und im vorliegenden Band; Gorter 2018; Janíková 2017; Krompák 2018). Dabei ist die Erkundung der LL dank neuer digitaler Medien nicht ausschließlich auf den öffentlichen Raum der realen Welt beschränkt; vielmehr können LL-Spaziergänge auch im virtuellen Raum mithilfe von Applikationen (z.B. die Lingscape- oder LoCALL-App) oder Google Street View durchgeführt werden. Die im Rahmen derartiger LL-Spaziergänge erhobenen Daten (in der realen Welt meist Fotos; im virtuellen Raum ggf. Screenshots) können als Ausgangspunkt / Impuls für die Förderung zahlreicher Kompetenzen dienen: die interkulturell-kommunikative und die funktional-kommunikative Kompetenz, die Text- und Medienkompetenz sowie Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz. Hinsichtlich der funktional-kommunikativen Kompetenz sei beispielsweise darauf hingewiesen, dass es sich bei LL um authentischen Input handelt, der im Sinne eines noticing (cf. Schmidt 1990) bewusst wahrgenommen und u.a. für den Erwerb sprachlicher Mittel herangezogen werden kann (eine unbewusste Aneignung im Sinne von inzidentellem Lernen ist prinzipiell ebenfalls möglich; cf. z.B. Cenoz / Gorter 2008). Auch im Sinne einer Förderung der Sprachlernkompetenz kann die bewusste Nutzung der LL dienlich sein, indem beispielsweise die Verwendung als Sprachlernstrategie vermittelt wird (Eibensteiner im Druck). Neben diesen allgemeinen, in den Bildungsstandards der KMK (2012) genannten Kompetenzbereichen, wurde außerdem darauf hingewiesen, dass die LL zur Förderung der pragmatischen Kompetenz sowie zu einer Verbesserung im Umgang mit multimodalen und mehrsprachigen Zeichen beitragen können (cf. Cenoz / Gorter 2008). Die Analyse der sprachlichen Diversität des öffentlichen Raumes im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts kann außerdem zu der Frage führen, wer Teilhabe an der sprachlichen Gestaltung hat/haben darf und wer ausgeschlossen wird (z.B. sprachliche Diskrimination). Derartige Reflexionen können zur Ausbildung einer critical cultural awareness i.S. Byrams (2021) führen.
Obwohl diese und weitere Aspekte für den Einsatz der LL im Unterricht der romanischen Sprachen sprechen, finden sich in der deutschsprachigen fremdsprachendidaktischen Literatur im Bereich der Romanistik bisher kaum einschlägige Arbeiten zu diesem Thema. Der vorliegende Band widmet sich diesem Desiderat. Diesbezüglich sollen insbesondere Möglichkeiten herausgearbeitet werden, wie LL im Französischunterricht eingesetzt werden können, um Mehrsprachigkeit sichtbar zu machen und plurilinguale Kompetenzen bei den Lernenden auszubilden bzw. zu fördern.
Angesichts sprachlich und kulturell heterogener Klassen kommt einem sprachenübergreifenden und -vernetzenden Fremdsprachenunterricht eine zunehmend große Bedeutung zu. Die Nutzung von sprachlichem Vorwissen für den Erwerb neuer sprachlicher Kompetenzen ist auch ein Kerngedanke der Mehrsprachigkeitsdidaktik, die seit über 30 Jahren für die Integration von bereits vorhandenen Wissensbeständen und Lernerfahrungen in den Unterricht der (romanischen) Schulfremdsprachen plädiert (cf. Meißner / Reinfried 1998; Meißner 2007; 2010). Im Sinne einer „Transferdidaktik“ (Meißner 2007, 90) lassen sich vor allem die Verwandtschaftsbeziehungen und die damit einhergehenden zwischensprachlichen Ähnlichkeiten im Rahmen des Fremdsprachenerwerbs fruchtbar machen, wie sie etwa für Sprachfamilien gegeben sind. Entsprechend stellen die romanischen Sprachen ein großes Potenzial für den Aufbau weiterer sprachlicher Kompetenzen bereit. Dieses Potenzial muss aber auch „sichtbar“ gemacht werden, damit der Transfer als Strategie tatsächlich angewandt wird (cf. Gabriel et al. 2015, 89). Dabei hat das Französische eine besondere Rolle inne: Zunächst einmal bildet es aufgrund seines curricularen Stellenwerts besonders häufig eine Brücke in weitere romanische Sprachen (cf. Klein 2002; Schädlich 2019, 425). Diese Brücke besteht allerdings häufig nur auf dem Papier, nämlich in der Orthographie. Lautlich hingegen hat das Französische sich so weit vom Lateinischen und seinen romanischen Schwestersprachen entfernt, dass die Zusammenhänge oft nur schwer erkennbar sind (cf. Müller-Lancé 2019a, 171). Dies legt es nahe, auch schriftliche Texte in angemessener Weise zu berücksichtigen (cf. Müller-Lancé 2019b, 319), und genau diese liefert uns lebensnah die LL-Forschung. Weiterhin bietet das Französische als internationale Bildungssprache lexikalische Zugänge zu zahlreichen Lehnwörtern in den in Deutschland dominierenden Herkunftssprachen und daneben phonetische Parallelen zum Türkischen und Chinesischen (cf. Kropp / Müller-Lancé im Druck).
Ein besonderes Augenmerk der traditionellen Mehrsprachigkeitsdidaktik liegt entsprechend auf der Interkomprehension, die primär rezeptive Transferkompetenzen in den Fokus rückt und sich als „Kernstück der Mehrsprachigkeitsdidaktik“ (Doyé / Meißner 2010, o.S.) versteht (cf. auch Klein / Stegmann 2000). Im Interkomprehensionsunterricht kann die gezielte Nutzung von individuellem sprachlichem Vorwissen auf Seiten der Lernenden nicht nur lernökonomische Effekte zeigen, sondern zugleich zu einer höheren Motivation und Lernerautonomie beitragen (cf. z.B. Behr 2007; Bär 2009; die Beiträge in Doyé / Meißner 2010); dies steht im Einklang mit den Prinzipien des neokommunikativen Unterrichts, der im Sinne von Lernerzentrierung und Ganzheitlichkeit die Aspekte Interkulturalität und Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Vordergrund rückt (cf. Meißner / Reinfried 2001). Darüber hinaus entsprechen Sprachenvernetzung und Sprachenvergleich einem auf language awareness ausgerichteten Fremdsprachenunterricht, der auf metasprachliche, -kognitive und -kommunikative sowie soziolinguistische Kompetenzen abzielt und entsprechend zwischensprachliche Reflexion auf unterschiedlichen sprachbezogenen Ebenen fördert (cf. Gnutzmann 2017). Nicht zuletzt liegen auch im Hinblick auf den Zugewinn (meta)sprachlicher Kompetenzen in der Zielsprache neuere empirisch ausgerichtete Studien zu mehrsprachigkeitsdidaktischen Interventionen vor (z.B. Eibensteiner / Kropp / Müller-Lancé im Druck; Kropp / Müller-Lancé / Eibensteiner 2022).
In den letzten Jahren hat sich die romanistische Mehrsprachigkeitsdidaktik dahingehend zu einer „aufgeklärten Mehrsprachigkeit“ weiterentwickelt, dass sie u.a. die Berücksichtigung von Familien- bzw. Herkunftssprachen und schulischer Fremdsprachen wie dem Englischen sowie die „(Re-)Integration der produktiven Fertigkeiten“ (Reimann 2016, 18) und die Entwicklung transkultureller kommunikativer Kompetenz in den Vordergrund rückt (cf. auch Reimann 2015 und im vorliegenden Band). Mit diesem erweiterten, integrierenden Paradigma wird sowohl der zunehmenden sprachlich-kulturellen Heterogenität der Lernergruppen Rechnung getragen als auch die lange vorherrschende Fokussierung auf rezeptive Kompetenzen und die Nutzung schulischer Fremdsprachen als primäre Brücken- bzw. Transfersprachen aufgebrochen.
Multipler Sprachenerwerb bzw. Sprachenentwicklung stehen auch im Fokus neuerer Ansätze innerhalb der Tertiärsprachenforschung, die sich auf dynamisch-komplexe Sichtweisen von Mehrsprachigkeit beziehen und die Vernetzung der Sprachen als Spezifikum von Mehrsprachigen modellieren (cf. z.B. Herdina / Jessner 2002; Jessner / Allgäuer-Hackl 2015). Aus dieser Interaktion der Sprachen resultiert die besondere „multicompetence“ (Cook 1992, 580) Mehrsprachiger, die sich z.B. „in terms of metalinguistic awareness“ (Cook 1992, 564) von der Kompetenz Einsprachiger unterscheidet. Entsprechend gehen diese Ansätze von „additive effects of bilingualism“ (Cenoz 2003, 71) aus, d.h. von Vorteilen mehrsprachiger Lernender für den Erwerb weiterer Sprachen. Als neuerer Zugang zum sprachenübergreifenden Sprachenerwerb kann nicht zuletzt auch das didaktisch-kommunikative Prinzip des translanguaging gelten, über welches die fluide Sprachpraxis mehrsprachiger Individuen Eingang in den Unterricht finden soll (cf. García 2009, 304–308; García / Wei 2014, 51–53). Die Etablierung multilingualer Sprechpraktiken ermöglicht dabei nicht nur, die Normalität von Sprachmischungen anzuerkennen, sondern vor allem sämtliche verfügbare sprachliche Ressourcen für die Konstruktion sprachlichen Wissens auszuschöpfen (cf. auch Cenoz / Gorter 2017; Dietrich-Grappin 2017).
Die Digitalisierung bietet im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeitsdidaktik und multiplem Sprachenerwerb insofern neue Spielräume, als sie etwa die Nutzung mehrsprachiger Medien und Erstellung sprachübergreifender Unterrichtsmaterialien wesentlich vereinfacht (cf. Bastian / Aufenanger 2017; Larbig / Spang 2017) und die Dokumentation der Mehrsprachigkeit mittels authentischer Eindrücke aus dem zielsprachlichen Land, z.B. durch die vergleichende Analyse von Blogs oder Instagram-Profilen, näher an die Lernenden heranholt. Ebenso lassen sich authentische Sprachkontaktsituationen anhand digitaler Linguistic Landscapes (etwa über Google Street View oder spezielle Apps wie Lingscape) zum Gegenstand eines sprachenvernetzenden und -reflektierenden Unterrichts machen (s.o.). Nicht zuletzt ermöglichen digitale Anwendungen, den sprachenvernetzenden Sprachenerwerb aktiv zu begleiten und / oder autonome Lernphasen zu unterstützen (zum Erwerb der französischen Prosodie durch türkisch-deutsche Bilinguale mittels unterschiedlicher digitaler Formate s. Gabriel / Grünke / Schlaak im vorliegenden Band). Einen besonders vielversprechenden Ansatz im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit stellen dabei VR-Lernszenarien dar, weil sie die Möglichkeit eröffnen, mittels 360°-Videos authentische mehrsprachige Lernumgebungen zur Verfügung zu stellen, in die Lernende visuell und auditiv eintauchen können (s.o.).
Der vorliegende Band möchte sich – wie beschrieben – sowohl linguistischen wie auch fachdidaktischen und explizit praxisorientierten Fragestellungen widmen und den Austausch zwischen Fachwissenschaft, Fachdidaktik und der konkreten schulischen Praxis im Kontext digitaler Zusammenhänge fördern. Für die Beiträge ergeben sich daher unter anderem folgende übergreifende Themenschwerpunkte bzw. Fragestellungen:
Welche Chancen bietet die Digitalisierung zur Verknüpfung der unterschiedlichen Forschungsrichtungen?
Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Mehrsprachigkeitsdidaktiker*innen und Linguistic Landscape-Forscher*innen im Zeitalter der Digitalisierung mit ihren Möglichkeiten und Werkzeugen produktiv gestaltet werden?
Welche Möglichkeiten der Sprachvernetzung im Französischunterricht (sowohl schulische als auch herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit) ergeben sich durch die Digitalisierung?
Welche Veränderungen zeigen sich durch die Digitalisierung im Bereich der Zweit- und Drittspracherwerbsforschung?
Wie verändert sich die Linguistic Landscape-Forschung (sowohl aus einer fachwissenschaftlichen als auch aus einer fachdidaktischen Perspektive) durch die digitale Welt?
Inwiefern kann der Französischunterricht durch Erkenntnisse der Linguistic Landscape-Forschung „authentischer“ gestaltet werden? Wie werden Sprachkontaktsituationen im Französischunterricht dadurch zugänglicher gemacht (z.B. mithilfe digitaler Anwendungen)?
Wie kann die Nutzung neuer Medien als Werkzeug eines authentischen Französischunterrichts konkret aussehen? Inwiefern können z.B. Soziale Medien eingesetzt werden, um eine plurilinguale Kompetenz zu fördern?
Inwiefern können Mehrsprachigkeitsdidaktik und die Verwendung von Linguistic Landscapes im Kontext des inklusiven Lehrens und Lernens von der Digitalisierung profitieren?
Der Sammelband ist in zwei Teile gegliedert: Während sich der erste Block der Mehrsprachigkeitsdidaktik im digitalen Zeitalter widmet, wird im zweiten Block ein Schwerpunkt auf Linguistic Landscape-Aspekte im Fremdsprachenunterricht gelegt.
Der Band wird eröffnet von Daniel Reimann mit seinem Überblicksartikel „Ein mehrdimensional-integrierendes Modell der Mehrsprachenaneignung als Vorschlag zur theoretischen Weiterentwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik“, in dem er die seit den 1990er Jahren bekannten Konzepte der Mehrsprachigkeitsdidaktik zusammenfasst und deren Ansätze bzw. Grundideen in ein mehrdimensional-integrierendes Modell fremdsprachenunterrichtlich beförderter Mehrsprachenaneignung in deutschen Schulsystemen (MiMfM) überführt. Hierbei strebt Reimann an, die schulische Mehrsprachenaneignung zu systematisieren und ihre Potenziale für einen zunehmend digitalisierten Fremdsprachenunterricht zu nutzen.
Hierauf folgt der Beitrag von Christoph Gabriel, Jonas Grünke und Claudia Schlaak „Using digital tools to foster the acquisition of L3 French prosody in an autonomous learning process: An intervention study with German-Turkish learners“, in dem Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie digitale Programme dazu genutzt werden können, das häufig ungenutzte Potenzial mehrsprachiger Schüler*innen für den Französischunterricht fruchtbar zu machen. Hierzu zeigen sie zunächst prosodische Parallelen zwischen dem Türkischen und dem Französischen auf (Intonation, Rhythmus) und veranschaulichen dann mithilfe einer Interventionsstudie mit deutsch-türkischen Lerner*innen, inwieweit sich bei der Auseinandersetzung mit entsprechenden digitalen Materialien metasprachliche Erkenntnisse ausbilden, die sich positiv auf Lernmotivation und Transfer beim Französischlernen auswirken.
Im Weiteren erläutert Elke Höfler in ihrem Artikel „Videos der Influencer*innen ‚lesen‘: BookTubes als Unterrichtsressource zwischen Unterhaltung und Information“, wie das Potenzial von YouTube für das Lehren und Lernen von Sprachen nach dem kompetenzorientierten Ansatz im 21. Jahrhundert genutzt werden kann. Insbesondere versucht sie, den vierfachen Schriftsinn der christlichen Bibelinterpretation als Grundlage für die Analyse von YouTube-Videos anzuwenden, um so die Videos kritisch zu hinterfragen und hinsichtlich verschiedener Verständnis- und Leseebenen zu analysieren. Dies veranschaulicht sie anhand der Analyse eines BookTube-Videos der französischen YouTuberin Bulledop.
Der Beitrag „À la recherche des mots d’emprunt: Digital die lexikalischen Spuren des Französischen in den Herkunftssprachen entdecken“ von Christian Koch zeigt, wie Lernende Zugang zu unterschiedlichen Sprachen finden und aufgrund ihrer eigenen sprachlichen Kenntnisse einen Transfer zwischen den verschiedenen Sprachen herstellen können. Hierbei wird ein Schwerpunkt auf lexikalische Aspekte gelegt, wobei z.B. die Bedeutung des Türkischen, Russischen, Persischen und Vietnamesischen für das Französische betrachtet wird. Neben der Vorstellung verschiedener digitaler Tools, die dabei helfen, Lehnwörter leichter zu erschließen, werden u.a. auch digitale Anwendungen zur Erkennung und Transliteration erfasst. Koch schließt den Beitrag mit verschiedenen didaktischen Handlungsempfehlungen für unterschiedliche Lernniveaus.
Im letzten Artikel des ersten Blocks beschäftigt sich Janina Reinhardt in ihrem Beitrag „Paralleltexte im Französischunterricht: Mehrsprachige Textversionen in realen und digitalen Umgebungsräumen bewusst machen und nutzen“ mit Didaktisierungsmöglichkeiten von Paralleltexten, die sich z.B. in realen und virtuellen Linguistic Landscapes finden. Anhand konkreter Beispiele zeigt sie auf, wie durch die Integration öffentlich zugänglicher Paralleltexte in den Fremdsprachenunterricht Sprachressourcen erschlossen, Sprachpolitik sichtbar gemacht sowie Sprachbewusstsein und Lernautonomie gefördert werden können. Diesbezüglich stellt sie zwei Aufgabenbeispiele für den Französischunterricht vor und diskutiert diese.
Im zweiten Block des Bandes wird der Schwerpunkt auf die Verbindung von Mehrsprachigkeitsdidaktik und Linguistic Landscape-Forschung gelegt. Durk Gorter und Jasone Cenoz geben in ihrem Beitrag „Linguistic landscape as a pedagogical tool for language teaching“ einen Überblick über Ausprägungen der florierenden Linguistic Landscape-Forschung und machen am Beispiel verschiedener mehrsprachiger Gebiete mit Französisch als dominanter oder als Nachbarsprache deutlich, wie der Unterricht von Französisch als Fremd- oder Zweitsprache von authentischem Sprachmaterial profitieren kann, das die Sprachlandschaften zur Verfügung stellen, insbesondere wenn Text und Bild kombiniert werden. Dieser Mehrwert betrifft einerseits das Sprach(en)bewusstsein, andererseits aber auch sprachliche Ebenen wie Orthographie, Morphologie und Syntax.
Anschließend analysieren Lisa Marie Brinkmann und Sílvia Melo-Pfeifer mit ihren Ausführungen zu „Linguistic Landscapes in Multilingual Pedagogies: International teachers’ beliefs on the use of linguistic landscapes in the foreign language classroom“ die Überzeugungen (beliefs) von Lehrer*innen hinsichtlich der Verwendung von Linguistic Landscapes im Fremdsprachenunterricht als Mittel zur Förderung von Mehrsprachigkeit. Dazu werten sie Daten mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse aus, die im Rahmen von mehrsprachigen Online-Diskussionsgruppen während einer Lehrerfortbildung zu Linguistic Landscapes erhoben wurden. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Lehrkräfte das Potenzial von Linguistic Landscapes für den Fremdsprachenunterricht erkennen und Mehrsprachigkeit im Allgemeinen als wertvolle Ressource wahrnehmen.
Lukas Eibensteiner beschäftigt sich in seinem Beitrag „Förderung von Sprach(en)bewusstheit durch den Einbezug herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit im Französischunterricht: Potenziale der Linguistic-Landscape-Forschung“ mit der Verzahnung von Linguistic-Landscape-Forschung und Fremdsprachendidaktik im Hinblick auf die Integration von herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit in den schulischen Französischunterricht. Anhand ausgewählter Beispiele, die im Rahmen von Linguistic-Landscape-Spaziergängen durch die Stadt Mannheim erhoben und didaktisch-methodisch aufbereitet wurden, wird aufgezeigt, wie sich Sprachlandschaftsdaten für die Thematisierung und Reflexion von herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit und die Förderung von Sprach(en)bewusstheit fruchtbar machen lassen.
Der zweite Block und damit auch der Sammelband schließt mit dem Artikel von Anja Mitschke „Der kompetenzerweiternde Input der Sprachlandschaft in Aosta (Italien): Das Potenzial der Place Émile Chanoux für die Sprachenaneignung“. Aus einer primär sprachwissenschaftlichen Perspektive wird am Beispiel der Place Émile Chanoux (Aosta) das große Potenzial von Linguistic Landscapes für die Aneignung multilingualer und kultureller Kompetenzen im schulischen Fremdsprachenunterricht aufgezeigt. Mit Blick auf die Nutzung von authentischem Sprachmaterial stellt der Beitrag diese besondere von der Kopräsenz des Italienischen und Französischen geprägte Sprachenlandschaft vor und ordnet sie soziolinguistisch in den Sprachminderheitenkontext des Aostatals (Französisch, Frankoprovenzalisch) ein. Die Analyse der Sprachlandschaftsdaten fokussiert die vielfältigen soziolinguistischen, thematischen und sprachstrukturellen Inhalte, auf welche die Aufmerksamkeit der Lernenden gezielt gelenkt werden kann, um eine differenzierte Vorstellung etwa von Mehrsprachigkeit oder Frankophonie sowie sprachliche Kompetenzen auf verschiedenen Niveaustufen zu vermitteln.
Abschließend sei an dieser Stelle unseren Beiträger*innen und den Mitarbeiter*innen des Verlages gedankt. Auch möchten wir uns bei den Reihenherausgeber*innen Andrea Rössler und Daniel Reimann für die Publikation in der Reihe Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung sowie bei unseren Hilfskräften Melanie Gellrich, Clarissa Hetzler, Marlen Wernecke und Nathalie Zimmermann für die Unterstützung bei der Publikation und die produktive Zusammenarbeit bedanken.
Ein Vorschlag zur theoretischen Weiterentwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik
This article is an attempt to further develop and supplement previous concepts of multilingual didactics, as they have been increasingly conceived since the 1990s, with a view to current developments in multilingual didactics in the traditional sense (interlinking of foreign languages in schools) and with a view to the changed situation of more and more linguistically heterogeneous classrooms, and to transfer them into a coherent model of multilingual didactics. The contribution refers explicitly to the context of the German school systems and adopts a perspective on Romance languages, but could possibly also be adapted in other German-language school systems and by other (foreign) language subjects.
Der Beitrag stellt den Versuch dar, bisherige Konzepte zur Mehrsprachigkeitsdidaktik, wie sie verstärkt seit den 1990er Jahren entwickelt wurden, mit Blick auf aktuellen Entwicklungen der Mehrsprachigkeitsdidaktik im traditionellen Sinn (Vernetzung von Schulfremdsprachen) und mit Blick auf die veränderte Situation sprachlich zunehmend heterogener Klassenzimmer weiterzuentwickeln, zu ergänzen und in ein zusammenhängendes Modell der Mehrsprachigkeitsdidaktik zu überführen. Dabei werden auch aktuelle Aspekte der Mediennutzung im Alltag und der Mediendidaktik in Zeiten zunehmender Digitalisierung reflektiert. Die Untersuchung bezieht sich dabei zunächst explizit auf den Kontext der deutschen Schulsysteme und nimmt eine romanistische Perspektive ein, könnte aber ggf. auch in anderen deutschsprachigen Schulsystemen und von anderen (Fremd-)Sprachenfächern adaptiert werden. Im vorliegenden Aufsatz wird erstmals versucht, den skizzenartig schon länger vorliegenden Entwurf eines umfassenden Modells schulischer Mehrsprachenaneignung zu systematisieren. Im ersten Teil des Beitrags erfolgt mit wissenschaftshistorischer Perspektivierung ein Forschungsbericht über die Entwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik seit den 1990er Jahren (Abschnitt 2), bevor – nunmehr in (wissenschafts-)theoretischer Perspektivierung – Dimensionen der mehrsprachigkeitsdidaktischen Bemühungen vor allem seit den 2000er Jahren betrachtet werden und mit der „aufgeklärten Mehrsprachigkeit“ ein jüngerer theoretischer Ansatz vorgestellt wird (Abschnitt 3). Im Anschluss werden ausgewählte und für den schulischen Bereich relevante Modelle der Mehrsprachigkeit diskutiert (Abschnitt 4), bevor in Abschnitt 5 das hier vorgeschlagene mehrdimensional-integrierende Modell fremdsprachenunterrichtlich beförderter Mehrsprachenaneignung in deutschen Schulsystemen (MiMfM) eingeführt wird. Dazu werden zunächst verständnisrelevante Grundbegriffe geklärt (Abschnitt 5.2), bevor das Modell als solches vorgestellt wird (Abschnitt 5.3). Abschließend wird die Bedeutung des Modells im Kontext eines zunehmend digitalisierten Fremdsprachenunterrichts reflektiert (Abschnitt 6).
Mehrsprachigkeit ist seit Jahrzehnten eines der zentralen sprachen- und bildungspolitischen Anliegen der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union, Mehrsprachigkeitsdidaktik seit nunmehr beinahe drei Jahrzehnten eines der zentralen Forschungsfelder der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik (einführend z.B. Reimann 2018a, bes. 29, 39–46). Der romanistischen Fremdsprachendidaktik kam bei der Entwicklung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze bezogen auf schulischen Fremdsprachenunterricht insofern eine Vorreiterrolle zu, als die romanischen Sprachen – von wenigen Ausnahmen im Bereich der slavischen Sprachen sowie den aufgrund der Sprachverwandtschaft der jeweiligen Zielsprachen mit dem Deutschen nicht unmittelbar vergleichbaren Konstellationen des Niederländisch- und Dänischunterrichts abgesehen – die einzige Sprachenfamilie darstellen, aus der regelmäßig mehr als eine Fremdsprache im Laufe einer Schullaufbahn erlernt werden kann (z.B. Französisch als zweite und Italienisch oder Spanisch als dritte Fremdsprache) (cf. Reimann 2020a, 535).
Zugleich wird immer wieder festgestellt, dass die Anliegen der Mehrsprachigkeitsdidaktik noch immer zu wenig Eingang in die (Schul-)Praxis gefunden haben. Allerdings wird sich Schule in zunehmendem Maße auch an der Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze messen lassen müssen, nicht zuletzt, seit durch Aufnahme der Bereiche Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz in die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012, 11, 23sqq.) grundlegende Bausteine der Mehrsprachigkeitsdidaktik zu Kompetenzzielen des Fremdsprachenunterrichts in der Oberstufe erhoben wurden (zur Verbindung der Konzepte cf. Morkötter 2005).
In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Veränderungen in der Schüler- (und Lehrer-)schaft ergeben, aufgrund derer Mehrsprachigkeitsdidaktik „neu gedacht“, d.h. theoretisch und konzeptionell weiterentwickelt, weiter beforscht und unterrichtspraktisch ausgestaltet werden muss. Insbesondere ist hier auch die sprachliche Heterogenität der Schülerschaft zu nennen, welche die Lernvoraussetzungen im Fremdsprachenunterricht mit bedingt (z.B. Hu 2003; Volgger 2012) und in der Lehrerausbildung mitberücksichtigt werden muss (cf. z.B. Benholz et al. 2017; Reimann et al. 2018; Strobl et al. 2019; Reimann / Cantone 2021). Mehrsprachigkeitsdidaktik kann sich also nicht mehr nur auf Vernetzung von Schulfremdsprachen untereinander beziehen, sondern muss die Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler integrieren (z.B. Schmelter 2015). Eine besondere Konstellation besteht, wenn als Fremdsprache eine Herkunftssprache gewählt wird (vulgo: „Muttersprachler/innen“ im Fremdsprachenunterricht, cf. grundlegend z.B. bezogen auf das Italienische Cantone 2020a; bezogen auf junge Erwachsene ab 20 Jahre cf. auch Kittler 2015; mit Blick auf schulische Kontexte Cantone 2020b; Reimann 2020b und 2021 sowie im Druck).
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, einen Überblick über die neuere Geschichte der Mehrsprachigkeitsdidaktik aus romanistischer Perspektive zu geben. Insgesamt hat sich die jüngere Mehrsprachigkeitsdidaktik im weiteren Sinne im deutschsprachigen Raum seit den 1990er Jahren intensiv entwickelt. Ausgehend von vereinzelten Vorläufern wie beispielsweise den Beiträgen Abel (175), Barrera-Vidal (1972), Oehler (1972), Ernst (1975) und Zapp (1979 sowie 1983), zeichnet sich in den 1980er Jahren ein verstärktes Interesse für Spezifika des Lernens und Lehrens dritter und spät beginnender Fremdsprachen ab (z.B. Christ 1985), das im sog. Bochumer Tertiärsprachenprojekt, in dem Spezifika des Italienisch- und Spanischunterrichts zu ergründen versucht werden, kulminiert (cf. die zusammenfassende Ergebnisdarstellung in Bahr et al. 1991).
In den 1990er Jahren legen insbesondere Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried die Grundlagen für die Entwicklung einer „Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit“ (cf. z.B. Meißner 1991 und 1993; Meißner / Reinfried 1998; weiterhin z.B. Martinez / Reinfried 2006; einführend z.B. Meißner 2008). Weitere Veröffentlichungen reflektieren Potenziale und Erträge der Mehrsprachigkeitsdidaktik aus schulpraktischer Sicht und mit Blick auf die Lehrerbildung (z.B. Hildenbrand / Martin / Vences 2012). Parallel entwickelt sich im Kontext der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache die sogenannte „Tertiärsprachendidaktik“ weiter, die insbesondere die Sprachenfolge „Deutsch nach Englisch“ und ihre didaktisch-methodischen Implikationen untersucht (z.B. Hufeisen 1991; Hufeisen / Lindemann 1998).
In den späten 1990er und in den 2000er Jahren konzentriert sich die Forschung vor allem auf den Bereich der Interkomprehension (cf. z.B. Meißner 2005), also die Entwicklung rezeptiver Kompetenzen (v.a. Leseverstehen) auf der Grundlage umfassenderer Kompetenzen in anderen (hier v.a. romanischen) Sprachen. Ausgangs- und Referenzpunkt ist das Frankfurter Projekt EuroCom (cf. Klein / Stegmann 2000), das entsprechende Pendants in romanophonen Kontexten kennt (z.B. Galatea; Galanet; EuRom 4 / EuRom 5; Interlat; InterRom; für eine Übersicht cf. Caddéo / Jamet 2013, bes. 141–181; cf. exemplarisch Bonvino 2011) und trotz seiner hochschuldidaktischen Konzeption auch in den schulischen Bereich zu transferieren versucht wurde (z.B. Klein 2004). Es entstanden in der deutschsprachigen Fremdsprachenforschung mehrere umfassende empirische romanistisch-interkomprehensionsdidaktische Studien (z.B. Bär 2009; Mordellet-Roggenbuck 2011). Zugleich gab es, ausgehend von EuroCom, entsprechende Parallelprojekte im Bereich der germanischen und der slavischen Sprachen. Eine aktuelle Perspektivierung der Interkomprehensionsdidaktik, auch mit Blick auf jüngere Entwicklungen, u.a. im Bereich der Evaluation von Interkomprehensionskompetenz, bietet etwa der Band Hülsmann / Ollivier / Strasser 2020. Mitunter wird auch – über die o.g. interkomprehensionsdidaktischen Arbeiten im engeren Sinne hinaus – die Perspektive von Schülerinnen und Schülern empirisch erfasst (z.B. Reimann 2002; Neveling 2017).
Im Gießener Interkomprehensions- bzw. Mehrsprachenverarbeitungsmodell spielt die Annahme eines Didaktischen (Mehrsprachen-)Monitors eine zentrale Rolle (z.B. Meißner 2004). Darin wird davon ausgegangen, dass bei jeder Begegnung mit verwandten oder typologisch nahen Sprachen spontane interkomprehensive Prozesse und Hypothesen über Sprachzusammenhänge möglich sind, die als Spontan- oder Hypothesengrammatik bezeichnet werden (Ebene des Kurzzeitgedächtnisses). Auf diese Weise generiertes Mehrsprachen-Wissen wird in diesem psycholinguistischen Ansatz in einen Mehrsprachenspeicher des Langzeitgedächtnisses überführt. Um eine langfristige Speicherung und regelmäßige Aktivierung entsprechender Sprachverarbeitungsstrategien zu ermöglichen, werden gezielte interkomprehensionsdidaktische Interventionen im Unterricht als unabdinglich erachtet. Diese sollen zur Entwicklung eines Didaktischen Monitors führen. Tatsächlich konnte schon Marx belegen, dass explizites mehrsprachenbezogenes Training entsprechende Prozesse begünstigen kann (z.B. Marx 2005; 2008). Auch jüngere Studien konnten den Wert mehrsprachigkeitsdidaktischer Interventionen auch jenseits der inzwischen historischen Gießener Modellbildung bestätigen (z.B. Eibensteiner 2021). In der Tat scheint die Interkomprehensionsdidaktik vor allem für den seinerzeit auch überwiegend beschriebenen Anfangsunterricht sinnvoll nutzbar zu machen sein. In einer umfassenden Studie konnte etwa Christian Koch u.a. aufgrund von Sprachdaten romanophon polyglotter Sprecherinnen und Sprecher zuletzt zu dem Ergebnis gelangen, dass Phänomene des Transfers mit zunehmender Sprachkompetenz in den einzelnen Sprachen eines Individuums weniger bedeutend zu werden scheinen und dass die Sprachen eines Individuums mit zunehmender Sprachkompetenz voneinander autonom zu werden scheinen (Koch 2020, bes. 433–437).
Seit den 2010er Jahren zeichnet sich eine zunehmende Öffnung der traditionellen romanistischen Mehrsprachigkeitsdidaktik auch zum Englischen hin ab (z.B. Leitzke-Ungerer / Blell / Vences 2012; Bär 2012; Schöpp 2015; zahlreiche Beiträge von Eva Leitzke-Ungerer, z.B. Leitzke-Ungerer 2015). Der Englischunterricht nimmt seinerseits seine Verantwortung als inzwischen überwiegend erste Fremdsprache, die Zugänge zum Erlernen weiterer Fremdsprachen eröffnen kann und soll, wahr und die Englischdidaktik beginnt, diesen Aspekt empirisch zu beforschen (z.B. Jakisch 2015). In der Schweiz wurde u.a. das Transferpotenzial vom Englischen zur zweiten Fremdsprache Französisch in deutschsprachigen Kantonen in einem umfassenden empirischen Projekt untersucht (cf. z.B. Manno / Egli Cuenat 2020 sowie die abschließende Veröffentlichung Manno et al. 2020). Die Lateindidaktik leistet ihrerseits einen Beitrag zur Mehrsprachigkeitsdidaktik, indem sie über traditionelle, exemplarische Unterrichtsmodelle zur Vernetzung der alten und der modernen Fremdsprachen hinausgehend (z.B. Einzelbeiträge wie Fischbach 1981; Knittel 1981; Metzger / Ulrich 1995; cf. auch den Band Nagel 1997 sowie Themenhefte wie Der Altsprachliche Unterricht 4, 2005: Latein und Romanische Sprachen, 1, 2016: Latein und Spanisch) fundierte Studien mit Blick auf das Vernetzungspotenzial zwischen Sprachen vorlegt (z.B. Siebel 2017) und das Potenzial des Lateinunterrichts zur Sprachförderung insgesamt, gerade auch für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler, beforscht (z.B. Kipf 2014; Große 2017). Punktuell wurde auch aus romanistischer Perspektive die Bedeutung des Lateinischen für mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze unterstrichen (z.B. Müller-Lancé 2001; 2004). Tatsächlich konnte bereits Müller-Lancé 2003 (22006) an studentischen Probanden zeigen, dass insbesondere auch fundiertere Lateinkenntnisse zu einem erhöhten Transfer aus dem Lateinischen führen (z.B. Müller-Lancé 2006, 266) – was als ein Argument für Latein als erste Fremdsprache herangezogen werden kann (cf. Müller-Lancé 2006, 468).
Neben zahlreichen vereinzelten Unterrichtsvorschlägen vor allem in Zeitschriften für die Unterrichtspraxis und punktuellen Aktivitäten in den meisten Lehrwerken der letzten Generationen haben inzwischen einige wenige große Entwicklungsprojekte zu ganzen Lehrwerken geführt, die Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik systematisch in Sprachlehrgänge zu integrieren versuchen. Mit Blick auf den Brückenschlag von altsprachlichem Unterricht zu den romanischen Sprachen ist für den schulischen Bereich hier die Baseler Lehrwerkreihe Aurea bulla zu nennen (Müller et al. 2016sqq.; cf. Wesselmann 2020). Für den Transfer innerhalb der romanischen Sprachen wurde in Österreich die Serie paralleler Lehrwerke Descubramos el español / Découvrons le français / Scopriamo l’italiano vorgelegt, die jeweils für das Erlernen einer romanischen Sprache v.a. als zweiter oder dritter Fremdsprache (Oberstufe) unter systematischem Rückgriff auf Vorkenntnisse in einer der beiden anderen romanischen Sprachen konzipiert sind (Holzinger et al. 2012; Rückl et al. 2012 und 2013) und punktuell über den rezeptiven Ansatz der Interkomprehensionsdidaktik hinausgehen (cf. Reimann 2016, 18f). Einen neuen Meilenstein für die romanistische Mehrsprachigkeitsdidaktik stellt auch die Erstellung des Kernwortschatzes der romanischen Mehrsprachigkeitsdidaktik (KRM) durch Franz-Joseph Meißner dar (z.B. Meißner 2016; 2018).
Ebenfalls verstärkt seit den 2010er Jahren zeichnet sich sichtbar eine Erweiterung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze um eine grundlegend zweite Dimension neben der Vernetzung von Schulfremdsprachen untereinander ab, namentlich die oben bereits erwähnte Berücksichtigung sogenannter Herkunftssprachen lebensweltlich bedingt mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler im Fremdsprachenunterricht (zu diesem Paradigmenwechsel cf. z.B. Reimann 2018a, bes. 29sqq.; 2019a). Grundlegend zu Herkunftssprachen als Sprachlernvoraussetzung kann auf den Beitrag Baur / Chlosta 2010 verwiesen werden. Einschlägige Forschungsergebnisse zu herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit wurden in mehreren Studien vorgelegt (cf. z.B. Hu 2003; Volgger 2012; Méron-Minuth 2018) und einzelne Fragestellungen in thematischen Sammelbänden (z.B. Fernández Ammann / Kropp / Müller-Lancé 2015; Schlaak / Thiele 2017; Willems / Thiele / Kramer 2019) oder in Zeitschriftenbeiträgen vertieft (z.B. zum Spanischen z.B. Granados / Siems 2014; Reimann / Siems 2015; Reimann 2017a; zum Französischen Thiele 2015; Reimann / Tziotzios 2018). Auch ein großes, laufendes, DFG-gefördertes Projekt widmet sich dieser Fragestellung, namentlich Franzimo – Französisch als 2. Fremdsprache: interkulturell und mehrsprachigkeitsorientiert2 (cf. z.B. Schmelter 2015; Göbel et al. 2021). Der Sonderfall von Schülerinnen und Schülern, deren Herkunftssprache zugleich die Zielsprache des Fremdsprachenunterrichts ist, wurde in der deutschsprachigen Fremdsprachenforschung bislang nur in der slavistischen Fachdidaktik vertieft untersucht (einführend z.B. Brehmer / Mehlhorn / Yastrebova 2017). Zu einem romanistischen Pilotprojekt cf. die Beiträge Reimann 2020a sowie García García (2019; 2020 und im Druck) für den besonderen Kontext des Bilingualen Unterrichts. Herkunftssprachlicher Unterricht in den romanischen Sprachen selbst ist hingegen in Deutschland bisher nur unzureichend erforscht, am umfassendsten ist noch das Bild, das sich aus den Beiträgen des Bandes Melo-Pfeifer 2016 zum Portugiesischen ergibt.
Auch die Perspektive von Lehrkräften wird zunehmend als grundlegender Baustein einer Weiterentwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik beforscht. Im Bereich der romanistischen Fremdsprachenforschung wird hier neben der Gruppe der Lehrkräfte in Ausbildung (s.o., Reimann et al. 2018; Reimann / Cantone 2021) z.B. in den Beiträgen Neveling 2012 und 2013 (Fokus Schulfremdsprachen) sowie Heyder / Schädlich 2014 und 2015 (Fokus Herkunftssprachen) auch die Sicht bereits praktizierender Lehrkräfte untersucht (cf. Kropp 2020).
Immer wieder wurde versucht, mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze in umfassendere Entwürfe zu bündeln. Im Rahmen dieses einleitenden Forschungsberichts können etwa erwähnt werden: der schweizerische Ansatz einer integrativen bzw. integrierten Sprachendidaktik seit 1998 (cf. das Themenheft Babylonia 4, 1998: Gesamtsprachenkonzept; zu mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen aus der Schweiz aus der Außenperspektive einführend cf. Morkötter / Schröder-Sura 2019; aus der Innenperspektive jüngst z.B. Manno / Egli Cuenat 2018 und 2020; Manno / Egli Cuenat / Le Pape Racine / Brühwiler 2020), das Gesamtsprachencurriculum von Hufeisen seit 2005 (cf. Hufeisen 2005), das österreichische „Curriculum Mehrsprachigkeit“ von Reich / Krumm 2013 sowie weitere, sprachsensiblen Unterricht in allen Fächern fokussierende Ansätze wie etwa das Projekt PlurCur des Europäischen Fremdsprachenzentrums des Europarats (cf. Allgäuer-Hackl et al. 2015; einführend zu übergreifenden mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen cf. Hufeisen 2018; Meißner 2020). Ein auf europäischer Ebene bedeutender Ansatz, der verschiedene mehrsprachigkeitsdidaktisch relevante Forschungs- und Handlungsfelder vereint, ist das Konzept der „Pluralen Ansätze zu Sprachen und Kulturen“ des Europäischen Fremdsprachenzentrums des Europarats (cf. Melo-Pfeifer / Reimann 2018a; weiterhin einführend z.B. Candelier 2008 und das Themenheft Babylonia 2, 2015: Les approches plurielles des langues et des cultures