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Noch nie wurde so viel Fleisch gegessen wie heute und die Folgen der überbordenden Fleischproduktion für Tiere, Umwelt und Klima sind katastrophal. Alternativen werden gesucht. Kann »neues Fleisch«, das nicht an Tieren, sondern in Nährlösungen wächst, eine solche sein? Wird eine Fleischrevolution alles auf den Kopf stellen oder ist am Ende doch alles nur heiße Luft?
Der Journalist Hendrik Hassel nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise in die Labore und Produktionsräume, in denen heute am »neuen Fleisch« gearbeitet wird. Anschaulich und spannend erzählt er von erstaunlichen Entwicklungen in den Niederlanden, Israel, Russland, China und den USA.
Ein engagiertes Buch, das die enormen Chancen der aktuellen Entwicklungen aufzeigt und gleichzeitig die Herausforderungen thematisiert.
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Seitenzahl: 187
Hendrik Hassel
NEUES FLEISCH
Essen ohne Tierleid – Berichte aus der Zukunft unserer Ernährung
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlaggestaltung: Roland Huwendiek Grafik-Design, Berlin
Umschlagmotiv: © Viktor 1 / nurruddean / Shutterstock
ISBN 978-3-641-25019-5V001
www.gtvh.de
INHALT
VORWORT:
Das Versprechen
EINLEITUNG:
In der Fleischbrauerei
KAPITEL 1:
Der alte Mann und das Fleisch
KAPITEL 2:
»Ich ersetze die Kuh«
KAPITEL 3:
Ein Stall in San Francisco
KAPITEL 4:
So wie damals der Käse
KAPITEL 5:
Patente – zwischen Weltrettung und Privatbesitz
KAPITEL 6:
Großes Potenzial
KAPITEL 7:
Die Zwei-Millionen-Dollar-Substanz
KAPITEL 8:
Der Preis des Fleisches
KAPITEL 9:
Werden wir es essen?
KAPITEL 10:
Der unmögliche Burger aus Pflanzen
KAPITEL 11:
»Der Mensch lebt nicht vom Gemüse allein!«
MEINE 12 THESEN
NACHWORT:
Fleisch ohne Nebenwirkungen
ANMERUNGEN
»Es war die beste Zeit,
es war die schlimmste Zeit.«
Charles Dickens
VORWORT:
Das Versprechen
Zugegeben, es ist eine absurde Vorstellung: Fleisch zu essen, ohne Tiere dafür zu töten.
Als das Forschungsteam um den niederländischen Professor Mark Post im Jahr 2013 den weltersten künstlich hergestellten Burger servierte, zeigte es der Welt: Eine andere Art der Fleischproduktion ist möglich. Was bisher nur Science-Fiction war, wurde eine echte Möglichkeit.
Es war nicht nur ein Triumph der Wissenschaft. Es war so viel mehr. Mark Post präsentierte ein Versprechen. Das Versprechen, dass wir in Zukunft keine Tiere mehr schlachten müssen, um Fleisch zu essen, und dass die Umweltfolgen der Massentierhaltung Geschichte werden könnten. Doch bis heute ist es bei der bloßen Möglichkeit geblieben. Bis heute wurde dieses Versprechen nicht eingelöst.
Für das Buch hatte ich die Gelegenheit, in eine neue Welt einzutauchen. Eine Welt aus Zellen und Nährlösungen, aus mutigen Prognosen und einer ungewissen Zukunft. Eine Welt, in der Forschungsteams die Fleischherstellung revolutionieren wollen. Immer wieder schlugen Türen zu, andere gingen auf.
Ich traf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Konferenzen und diskutierte mit ihnen Zukunftsszenarien. Ich besuchte Firmen in den Niederlanden, in Israel und in den USA. Ich sprach mit Investoren über die Chancen und Risiken einer neuen Fleischproduktion.
Während meiner Recherche musste ich immer wieder an die Worte denken, die mir Shir Friedman, Mitbegründerin des israelischen Start-ups SuperMeat, sagte. Als sie zum ersten Mal von der neuen Art, Fleisch herzustellen, erfuhr, dachte sie: »Wenn das keine Science-Fiction ist, dann ist das krass.«
Wenn den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das gelingt, dann schauen wir gerade dabei zu, wie Geschichte geschrieben wird. Wir könnten erleben, wie Schlachthäuser überflüssig werden und die Zeit der neuen Fleischherstellung beginnt.
Hendrik Hassel
Berlin, im Sommer 2019
EINLEITUNG:
In der Fleischbrauerei
Wenn Fleisch ohne Tiere wachsen kann, dann braucht es keine Mastanlagen mehr. Es wird Brauereien geben. Dort können wir dem Fleisch beim Wachsen zusehen.
»Es ging so einfach nicht mehr weiter«, sagt er und schaut auf den Boden. Der niedersächsische Unternehmer Stephan Hansen war früher Tierhalter von 60.000 Hühnern, heute ist er Fleischbrauer. Die Mastanlage hatte er von seinem Vater übernommen, sich damit arrangiert, dann darüber geärgert und umgelenkt. Er war einer der Ersten, die hier in der Region auf das Brauen von Fleisch umstellten. Er galt lange als Spinner, bis es ihm immer mehr nachmachten.
Heute gibt er eine Führung durch seine Brauerei. Anfangs war das Interesse groß, doch der Ansturm hat sich gelegt. Eine Schulklasse aus der benachbarten Ortschaft ist gekommen, um zu sehen, wie ihr Fleisch wächst.
Hansen betritt die erste Halle, geht vorbei an den Kontrollbildschirmen. Früher wurden in der Halle die Tage für die 20.000 Tiere mit Kunstlicht verlängert. Je länger das Licht schien, desto schneller wuchsen die Hühner. Tageslicht kam nicht in den Stall. Für die Fleischbrauerei wollte er das ändern. Die Wände links und rechts sind mit großen Fenstern versehen, wo sich am Wochenende die Kinder der Nachbarschaft die Nasen plattdrücken.
In der Halle stehen zwölf runde Kessel, jeweils zwei nebeneinander. Hansen nennt sie Fleischkultivatoren. Kleinere Rohre in verschiedenen Farben kommen vom Vorraum aus der Wand und verlaufen an der Decke quer durch die Halle. In den rosa Rohren sind Aminosäuren, in den grünen Vitamine und in den orangenen Glukose.
Er läuft zwischen den ersten beiden Brauereitanks vorbei. »Hier wächst es«, sagt er mit ruhiger Stimme. Fast so, als wolle er es nicht aufwecken. Das, was früher in den Tieren passierte, geschieht jetzt in den Edelstahlcontainern. Dort bekommen die Hühnerzellen die Nährstoffe, die sie benötigen, um zu wachsen und sich zu teilen. Muskelstrang für Muskelstrang entsteht hier die Basis für Wurst, Hühnerbrust und Chicken Nuggets.
Durch Luken schauen die Kinder in den Kultivator. Nicht wirklich spannend. In den Tanks liegen die Muskelfasern in rosa Flüssigkeit. Stephan Hansen zeigt auf seinem Telefon ein kurzes Video. Eine Zeitraffer-Aufnahme, vier Wochen in zehn Sekunden. Da sieht man tatsächlich die Muskelmasse wachsen. »In 30 Tagen waren damals meine Hühner so groß, dass ich sie abholen ließ, um die Tiere schlachten zu lassen«, sagt Hansen. Das ist jetzt nicht mehr nötig, das Fleisch wächst nun außerhalb der Tiere.
Nach der Führung verlässt Stephan Hansen die Halle, läuft über den Hof und geht in sein Arbeitszimmer. Er schaut auf die Uhr. Es ist 14.25 Uhr. Was ist heute noch zu tun? Er schaut in seinen Kalender, öffnet die Seite des heutigen Tages, Mittwoch, der 3. Mai 2045. Noch ein Mal Kontrollreport des Computers für die Temperaturen in den Kesseln überprüfen, die Abholung für das Fleischwerk fertig machen, dann Feierabend.
Werden wir tatsächlich Fleisch brauen wie Bier? Oder Wurst wachsen lassen wie Salat? Das ist doch nur Science-Fiction und hat wenig mit unserer Welt zu tun. Alles frei erfunden. Fleisch ohne Schlachthäuser, das ist eine Utopie. Ausgeschlossen, dass wir so in Zukunft Fleisch herstellen werden. Oder etwa nicht?
KAPITEL 1
Der alte Mann und das Fleisch
Der 5. August 2013 war ein historischer Tag. Der erste Burger aus Zellkulturen wurde der Weltöffentlichkeit präsentiert. Eine etwas verrückte Idee wurde eine echte Möglichkeit: Fleisch kann ohne Schlachthäuser hergestellt werden. Doch wie kam es dazu?
An dem Tag, an dem die Idee Fleisch wurde, saß der 90-jährige Willem van Eelen zuhause in den Niederlanden und schimpfte. Hunderte Kilometer entfernt in London war die Weltpresse geladen, um zu sehen, wie der erste In-vitro-Burger in der Pfanne gewendet und verspeist wurde. Es war der 5. August 2013 und der Durchbruch jahrelanger Forschung.
Um die 300 Journalisten waren vor Ort und drängten sich durch den Eingang der Lobby in den Präsentationssaal der »Riverside Studios«. Die Bühne war bunt ausgeleuchtet, wie bei einer Samstagabendshow im Fernsehen. Die geladenen Experten sprachen über die Textur, den Biss und den Geschmack und wie er aussieht, der welterste Burger, für den kein Tier geschlachtet wurde. »Die Konsistenz ist perfekt«, sagte die eine. »Es fühlt sich im Mund wie echtes Fleisch an«, sagte der andere1. Das Event zeigte der Welt: Eine andere Fleischproduktion ist möglich. Zeitungen schrieben von dem teuersten Burger, den es je gab. Um die 300.000 Euro soll der 100-Gramm-Patty gekostet haben2.
Der zuhause gebliebene Willem van Eelen verstand das Theater nicht. Seit über 20 Jahren arbeitete er an dem neuen Fleisch. War es doch seine Idee! Er war der Pionier dieser Bewegung, er hatte das Projekt angestoßen, das jetzt in London stolz den Burger präsentierte. Und jetzt war er in der britischen Hauptstadt nicht mal dabei.
Für ihn war das reine Geldverschwendung. Wer brauchte schon so einen Presse-Stunt? Viel dringender wurde das Geld für weitere Forschung benötigt. Das Fleisch sollte längst in den Supermarkt-Regalen liegen und nicht bloß in den Zeitungen zur Sprache kommen. Zu Lebzeiten wollte er sehen, wie seine Idee vom unblutigen Fleisch Realität wird. Die Zeit lief davon. Ihm lief sie davon. Die anderen Projektpartner waren jünger, er schon über 90 Jahre alt. Es waren seine letzten Jahre.
Wie konnte Willem van Eelen zum Wegbereiter der Fleisch-Revolution werden – er, der nie in der Lebensmittelbranche gearbeitet hatte? Eine Geschichte erzählt er immer wieder:
Als junger Mann war er im Zweiten Weltkrieg in der holländischen Kolonie Indonesien Kriegsgefangener Japans geworden und litt dort Hunger. Eines Tages hatte sich ein Hund in dem Stacheldraht des Zauns verfangen. Er muss schrecklich gejault haben. Die japanischen Soldaten machten Schießübungen an dem verzweifelten Tier. Bis Willem van Eelen ihn aus dem Zaun befreite. Als er den Hund in seinen Händen in das Lager trug, wurde ihm das Tier von den Mitgefangenen entrissen und sofort aufgegessen. Die Grausamkeit des Hungers, aber auch das Tierleid brannte sich tief in sein Gedächtnis ein. Damals kam ihm der Gedanke zum ersten Mal: Warum können wir Fleisch nicht wie Pflanzen wachsen lassen?
Später als Student, immer noch von der Erfahrung des Hungers stark geprägt, wurde ihm an der Universität im Labor ein Stück Gewebe gezeigt. In Nährlösung eingelegt, wurde es am Leben gehalten. Es wuchs nicht, war aber auch nicht tot. Während die anderen Studierenden sich für die medizinischen Fragen interessierten, konnte Willem van Eelen nicht anders, als darin etwas Essbares zu sehen. Für ihn stellte sich die Frage: Warum ist es nicht möglich, das Gewebe nicht nur am Leben zu halten, sondern auch wachsen zu lassen?
Viele Jahre vergingen, bevor ihm der Gedanke erneut durch den Kopf ging. Es war nach dem frühen Tod seiner Frau. Es war auch das erste Mal, dass er die Idee seiner Tochter Ira erzählte. »Das müsste vor vierzig Jahren gewesen sein. Ich war damals eine Teenagerin«, berichtet sie heute. »Er war erschüttert. Durch den Tod meiner Mutter verlor er seine Muse und seine Inspiration.« Van Eelen hatte mit seiner Frau zusammengearbeitet, sie betrieben verschiedene Cafés in Amsterdam.
Um den Tod seiner Frau zu begreifen, begann er alle medizinischen Journale und Fachzeitschriften zu lesen, die er in die Finger bekam. Und er stieß auf einen Bericht, wie künstliches Gewebe für Organtransplantationen hilfreich sein könnte. Sofort erinnerte er sich an das Stück Gewebe, das er als Student in der Nährlösung gesehen hatte. Und er erinnerte sich an die Frage, die ihm damals gekommen war.
Lange dachte er über die Idee nach und sprach mit Bekannten darüber. »Mein Vater hatte spezielle Freunde«, erinnert sich seine Tochter. »Sie hatten lange, philosophische Gespräche, ich setzte mich als Kind gerne dazu und hörte ihnen zu.« Damals in den 80er-Jahren waren die Umweltfolgen von Tierhaltung noch kein Thema. Das dominierende Thema für van Eelen war der Welthunger und dass Hunger zu Kriegen führen könnte. Aber es ging ihm auch um Tierschutz. »Es war ein Thema, mit dem mein Vater immer sehr kämpfte«, sagt seine Tochter. »Wir waren keine Vegetarier. Wir waren da etwas widersprüchlich: Uns war bewusst, wie die Tiere behandelt werden, und wir wussten, dass das nicht in Ordnung ist.« Es ist ein Konflikt, den es mit seinem neuen Fleisch nicht mehr geben würde.
Willem van Eelen war zwar nicht der Erste, der die Idee hatte, Fleisch außerhalb von Tieren wachsen zu lassen. Was ihn aber von anderen unterschied: Er wollte es nicht bei einer Idee belassen. Er wollte, dass sie Realität wird. »Ein paar Jahre nachdem mein Vater zum ersten Mal davon erzählte, sah ich ihn auf einmal das Haus verlassen«, sagt Ira van Eelen. »Er setzte sich in sein Auto und fuhr los.« Der Witwer wollte Antworten finden und war fest entschlossen, die Welt zu verändern. Er suchte Leute, die mit ihm seine Idee umsetzen wollten, überzeugte Ärzte und Wissenschaftler, sich sein Anliegen überhaupt erst mal anzuhören. Van Eelen brauchte Partner für seine Idee, seine Vision. Denn er wusste: Alleine konnte er das unmöglich schaffen.
»Damals war ich als Teenager nicht sonderlich interessiert, was mein Vater so treibt«, sagt Ira van Eelen. »Rückblickend bin ich mir sicher, dass er viele Enttäuschungen in der Zeit hinnehmen musste.« Willem van Eelen telefonierte viel, und später lernte er von seiner Tochter, den Computer zu bedienen. Er hatte Ersparnisse von seiner Frau, ließ ein Patent schreiben, gab viel Geld dafür aus und gründete später sogar eine eigene Firma.
»Er war ein Idealist«, sagt Henk Haagsman, einer der Ersten, die Willem van Eelen von seinem Vorhaben überzeugen konnte. Haagsman war damals Professor für Veterinärwissenschaften und arbeitete zu den Auswirkungen von Stress auf die Tiere in Schlachthäusern und Mastanlagen. Seine Forschung machte ihn unbeliebt bei den Fleischfirmen. Er sagt: »Aufgrund der Interviews, die ich gab, war ich eine Persona non grata für die Fleischindustrie. Deswegen kontaktierte mich van Eelen, es war genau der richtige Zeitpunkt.« Haagsman wurde wissenschaftlicher Leiter des Projektes.
Kulturfleisch, Forschungseinrichtung Maastricht
Die allgemeine Projektleitung übernahm der Lebensmitteltechniker Peter Verstrate, der bei einer Fleischfirma arbeitete. Er erinnert sich noch gut an die erste Begegnung mit Willem van Eelen: »Er war ein vornehmer, großer, grauhaariger Mann mit dem Auftreten eines Professors.« Ohne Termin tauchte er auf. Stand im Flur der internationalen Fleischfirma Sara Lee Foods und wartete ...
Willem van Eelen brauchte jemanden wie Peter Verstrate. Nachdem er bereits Henk Haagsmann und andere Forscher überzeugt hatte, musste er nur noch jemanden aus der Fleischindustrie gewinnen, um die beantragten Forschungsgelder zu bekommen.
»Als er zu erzählen begann, dachte ich, er sei verrückt«, sagt Peter Verstrate. Dann erinnerte er sich an die Forschung seiner Frau. Sie ist Biologin, und bei einem Besuch in ihrem Labor sah er durch ein Mikroskop, wie sich Zellen eines Herzmuskels bewegten, lebendig waren. »Ich dachte dann ziemlich bald: Der Typ ist ganz und gar nicht verrückt«, erzählt Verstrate. »Das könnte die ganze Fleischindustrie verändern.« Ihn ließ das Gespräch nicht mehr los. Er versuchte, seine Firma zu überzeugen. Zu seinen Vorgesetzten sagte er: »Ich habe keine Ahnung, wohin dieser Zug fährt und ob er am Ende überhaupt in einen Bahnhof einfährt, aber ich schlage vor, wir kaufen ein Ticket.«
Für seine Vorgesetzten war es eine verrückte Idee, doch seine Firma Sara Lee Foods sagte – wenn auch widerwillig – zu. Bedingung war, dass Verstrate die Forschung anonym, ohne den Namen der Firma, machte. War die Expedition zu verrückt für die damalige Zeit?
2005 wurden die Forschungsgelder bewilligt, zwei Millionen Euro. Ira van Eelen erinnert sich: »Als sie das Geld für die Forschung bekamen, war mein Vater überzeugt, dass sie das Fleisch in zwei oder drei Jahren produziert hätten.« Welch ein Irrtum.
Heute wird Kunstfleisch vor allem mit einem Namen verbunden: Mark Post. Der Professor sitzt in der Mittagspause in seinem Büro der Universität Maastricht und trinkt aus einem Tetra-Pack Bio-Milch. Dazu isst er ein belegtes Weißbrot mit Wurst und Käse. »Ich dachte, das ist eine vielversprechende Idee, aber auch sehr gewagt und verrückt«, sagt er rückblickend über die Anfänge des Projekts.
Mark Post
Der Tag im August 2013, als sie den weltersten Burger aus Kunstfleisch präsentierten, machte Mark Post berühmt. Seitdem ist er »Mr. Cultured Meat«, das prominente Aushängeschild für die Idee des künstlichen Fleisches. Dabei wurde er eher zufällig Teil des Forschungsteams. Eine Wissenschaftlerin des Projektes war krank geworden und musste ersetzt werden. Da fragte man ihn ...
Die ersten Jahre waren zäh. Das Forschungsprojekt lief 2009 nach fünf Jahren aus. Der Lebensmitteltechniker Verstrate gesteht: »Das Ziel war, am Ende eine Technologie entwickelt zu haben, die die Fleischherstellung ermöglichte. Das Ziel hatten wir nicht erreicht.« Der Folgeantrag wurde nicht bewilligt. »Es war nicht wegen fehlender Ergebnisse«, sagt Mark Post. »Die Argumentation war, dass die Geldgeber nicht sahen, dass Fleischfirmen die Idee aufnahmen.« Viel zu früh wurde der Geldhahn zugedreht, so Post, es brauchte noch mehr Forschung. »Ich konnte das nicht akzeptieren. Ich hatte Forschungsgelder für viel verrücktere und unrealistischere Ideen bekommen.«
War alles umsonst gewesen? Wie sollte es jetzt weitergehen ohne Geld? Das Forscherteam machte einen Deal: Mark Post war verantwortlich für ein Labor der Universität. Er hatte dort eine gewisse Freiheit, das zu tun, was er wollte – solange es in seinem Themengebiet lag. So beschloss das Projektteam, die Forschung fortzuführen, auch ohne Fördergelder, wenn auch auf Sparflamme.
In den Jahren übernahm Mark Post die Kommunikation mit der Presse. Die Interviewanfragen waren seinem Kollegen Henk Haagsman zu viel geworden. Es waren immer wieder die gleichen Fragen. »Journalisten kamen aus der ganzen Welt zu uns. Ich konnte nicht mehr normal arbeiten«, sagt Haagsman. Eines der ersten Interviews, die Mark Post gab, war für die britische Times. Haagsman erinnert sich: »Mark sagte, dass Kunstfleisch produziert werden könne. Die Technologie sei da. Es fehle nur das Geld.« In der Zeitung stand dann, das Projekt suche weitere öffentliche Gelder, um die Technologie weiterzuentwickeln3. »Das ging um die Welt«, sagt Haagsman. »Weil es in der Times war, war es bald auch in allen anderen Zeitungen.«
Irgendwann klingelte bei Mark Post das Telefon. Eine Stiftung aus den USA rief an, von der er noch nie gehört hatte: die »Brin Wojcicki Foundation«. Es war die Stiftung des Google-Mitgründers Sergey Brin und seiner damaligen Frau Anne Wojcicki. Mark Post wusste damals nicht, wer Sergey Brin ist. Sie wollten wissen: Kann das Fleisch hergestellt werden, egal zu welchem Preis?
Mitarbeiter der Stiftung besuchten Mark Post in Maastricht. Am Ende sagten sie: Macht weiter, wir geben euch das Geld. »Unsere Idee war, eine Wurst aus Schweinefleisch herzustellen«, sagt Mark Post. »Während wir die Wurst der Öffentlichkeit präsentieren, sollte das Schwein, von dem die Fleischprobe genommen worden war, glücklich auf der Bühne herumlaufen.« Doch die Amerikaner dieser Stiftung interessierten sich nicht für Wurst. Es sollte ein amerikanisches Produkt werden. Die Stiftung machte sehr bald deutlich: Wir wollen kein Schweinefleisch, wir wollen einen Burger. Also Rindfleisch und damit auch kein Schwein auf der Bühne.
Kulturfleisch, heute noch im Labor und morgen in großen Tanks
Die Stiftung aus Amerika gab sich sehr spendabel. Tatsächlich wurde nicht nur ein Burger produziert, sondern gleich drei. »Der Koch sollte einen zubereiten können, bevor er auf der Bühne den Patty braten muss«, sagt Post. »Dann brauchen wir noch einen als Back-up, falls er auf den Boden fällt. Dazu brauchen wir aber nicht 300.000 Dollar, sondern eine Million!« »Dann bekommt ihr eben eine Million«, stimmten die Amerikaner zu. So ließen die Forscher in den nächsten Jahren drei Burger wachsen.
Nachdem der Burger in London präsentiert wurde, ging das Geld wieder aus. »Das war sehr unglücklich«, sagt Mark Post. »Die Stiftung sagte, sie würde uns weiter finanziell unterstützen, aber letztendlich tat sie das nicht.« Wieder standen die Wissenschaftler mit ihrer kleinen Revolution alleine da, ohne Gelder, um weiterzuarbeiten.
Mark Post ist sich unsicher, warum das Projekt nicht weiter unterstützt wurde. »Ich denke, das hat mit der Vorstellung im Silicon Valley zu tun: Wenn du ein Produkt hast, bring es auf den Markt. Alles, was wir hatten, war ein Beweis, dass es funktionierte. Aber das war noch nicht das tatsächliche Produkt. Dieses Zögern kommt nicht gut an in Amerika. Dort läuft es eher so: Sag allen, dass du das Produkt in zwei Jahren auf dem Markt hast. Das ist aber nicht mein Stil.« Sie verloren Zeit. »Wir hatten einen Vorsprung von drei Jahren zu allen anderen«, sagt Post. Diesen Vorsprung konnten sie nicht halten. Sie waren nicht mehr die Einzigen, die an dem neuen Fleisch arbeiteten. Firmen aus den USA wurden aktiv. Eine Konkurrenzsituation war entstanden, und ihre Marktführung war verloren.
Spätestens nach dem Event in London war das Verhältnis zwischen Mark Post und Willem van Eelen nicht mehr gut. Vielleicht schimpfte van Eelen über das Event, weil er sich übergangen fühlte? Zu gern hätte er das neue Fleisch mal probiert. Wäre es zu viel verlangt gewesen, ihm einen Bissen zu überlassen? Ihm als Wegbereiter, der nicht mehr viele Lebensjahre vor sich hatte? Wie hätte ihm sein Lebenstraum geschmeckt?
Unklar ist bis heute, ob Willem van Eelen nach London eingeladen wurde. Er selbst bestritt es. Mark Post behauptet das Gegenteil. »Ich müsste die Einladungen noch irgendwo haben.« Aber nicht nur das nervte van Eelen. Er fühlte sich nicht genug wertgeschätzt als Initiator des Projektes. Er war in den Medien praktisch unsichtbar geworden. Dort ging es nur noch um Professor Post. »Das würde mir auch nicht gefallen«, gibt Mark Post zu.
Es war ein langer Kampf, bis der Burger in London präsentiert wurde, aber auch ein langer Konflikt mit van Eelen. »Er war ein Sturkopf, der dachte, ein Wissenschaftler zu sein«, sagt Henk Haagsman über ihn. Er gilt als einer der vertrauten Personen der Projektgruppe, der ihm immer etwas näherstand als die anderen: »Ich glaube, van Eelen und ich sind immer gut klargekommen. Das war nicht mit allen so. Mark Post machte seine Arbeit, und er war damit nicht zufrieden.«
Mark Post muss ein bisschen lachen, als er sagt: »Wir mussten ihn vor seinen verrückten Ideen beschützen.« Beste Freunde waren sie nicht. »Er liebte oder er hasste dich. Dazwischen gab es nicht viel. Ich glaube, bei mir hat es mit Liebe angefangen und mit Hass geendet.«
Am 24. Februar 2015 starb Willem van Eelen im Alter von 91 Jahren. Eineinhalb Jahre nachdem in London das neue Fleisch das Licht der Welt erblickt hatte. »Ich mochte Willem van Eelen. Ich habe viel Zeit mit ihm in Amsterdam verbracht«, sagt Peter Verstrate. »Wir fantasierten über die Zukunft. Er war voller Tatendrang und immer getrieben.«
Wer alt ist, hat keine Geduld. Zumindest dann nicht, wenn man eine kleine Revolution plant und sie selber noch erleben möchte. Als seine Idee von einer modernen Fleischherstellung konkreter wurde, war Willem van Eelen bereits 80 Jahre alt. Präsidenten gehen da in den Ruhestand, Großeltern in das Altersheim. Willem van Eelen hingegen legte sich mit den ganz Großen an: den Fleischkonzernen. Vielleicht war er spät dran. Doch er versuchte es trotzdem. »Für meinen Vater war es niemals eine Frage, ob er es tun sollte. Es war einfach etwas, was er tun musste«, sagt Ira van Eelen. »Andere sagten über meinen Vater, er sei besessen gewesen. Vielleicht war er das. Aber dann ist es eine gute Sache, besessen zu sein. Auch wenn er bis zum Ende frustriert war, es bleibt eine Erfolgsgeschichte!«
Es fehlen Gelder, um die Forschung effektiv voranzutreiben ...
Was wäre gewesen, wenn Willem van Eelen damals nicht das Haus verlassen hätte mit dem naiven Wunsch, die Fleischherstellung auf den Kopf zu stellen? Was wäre gewesen, wenn er weniger insistierend gewesen wäre? Es vielleicht probiert, aber irgendwann nach Rückschlägen wieder sein gelassen hätte? Wäre die Forschung heute genauso weit?