Neurodidaktik - Kristian Folta-Schoofs - E-Book

Neurodidaktik E-Book

Kristian Folta-Schoofs

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Beschreibung

Dieses Buch führt Wissenschaftler und Studierende, professionell Handelnde und interessierte Eltern in wesentliche Inhalte und Methoden einer grundlagen-, anwendungs- und praxisorientierten Neurodidaktik ein. Verständlich und interessant werden die mit unterschiedlichen Lernprozessen einhergehenden neuroplastischen Veränderungen des Gehirns und die daraus erwachsenden Möglichkeiten und Begrenzungen für die Lehr-/Lern-Praxis und ein hirngerechtes Lernen> dargestellt. Dr. Kristian Folta-Schoofs lehrt und forscht als Professor für Neurodidaktik am Institut für Psychologie der Universität Hildesheim. Als Mitglied der Sprechergruppe am Kompetenzzentrum Frühe Kindheit Niedersachsen verantwortet er den Forschungsbereich Neurodidaktik & Neurobiologische Grundlagen des Lernens>. Dr. Britta Ostermann ist Erziehungswissenschaftlerin und Lehrerin. Sie war viele Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und geschäftsführende Leiterin der Abteilung Fort- und Weiterbildung am Centrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung (CeLeB) der Universität Hildesheim tätig. Frau Ostermann begleitet inklusive Entwicklungsprozesse in Bildungseinrichtungen und berät zu Themen der inklusiven Lehrerbildung, der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft sowie der pädagogischen Beziehungen.

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Die Autoren

Dr. Kristian Folta-Schoofs lehrt und forscht als Professor für Neurodidaktik am Institut für Psychologie der Universität Hildesheim. Als Mitglied der Sprechergruppe am Kompetenzzentrum Frühe Kindheit Niedersachsen (www.fruehe-kindheit-niedersachsen.de) verantwortet er den Forschungsbereich »Neurodidaktik & Neurobiologische Grundlagen des Lernens«. Unter Berücksichtigung von neurowissenschaftlichen, erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen und Methoden untersucht er in interdisziplinär angelegten Studien, unter welchen Voraussetzungen erfolgreiches Lernen – von der Geburt bis zum hohen Erwachsenenalter – gelingen kann. Dr. Folta-Schoofs ist Mitglied der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft (NWG), der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPS) sowie Gründungsmitglied der European Society for Cognitive and Affective Neuroscience (ESCAN).

Dr. Britta Ostermann ist Erziehungswissenschaftlerin und Lehrerin. Sie war viele Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und geschäftsführende Leiterin der Abteilung Fort- und Weiterbildung am Centrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung (CeLeB) der Universität Hildesheim (www.uni-hildesheim.de/celeb/) tätig. Dort oblag ihr die geschäftsführende Leitung des internationalen Weiterbildungsmasters »Inklusive Pädagogik und Kommunikation«. Frau Dr. Ostermann begleitet inklusive Entwicklungsprozesse in Bildungseinrichtungen und berät Behörden, Städte und Schulen zu Themen der inklusiven Lehrerbildung, der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft sowie der pädagogischen Beziehungen. Sie ist seit 2013 Mitglied der Arbeitsgruppe »Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen«.

Kristian Folta-Schoofs & Britta Ostermann

Neurodidaktik

Grundlagen für Studium und Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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Illustrationen: Henrike Jaroschek

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029711-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-029712-8

epub:   ISBN 978-3-17-029713-5

mobi:   ISBN 978-3-17-029714-2

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Einleitung

Anspruch des vorliegenden Lehrwerkes

Konzeption und Aufbau des vorliegenden Lehrwerkes

1 Inhalte und Methoden der Neurodidaktik

1.1 Lernziele des Kapitels

1.2 Historische Wurzeln und Anfänge der Neurodidaktik

1.3 Zentrale Nachbardisziplinen

1.4 Grundlagen-, Anwendungs- und Praxisorientierung

1.5 Methoden der Neurodidaktik

1.5.1 Kriterien zur Beurteilung wissenschaftlicher Methoden

1.5.2 Laborexperimentelle Forschung und Feldforschung

1.5.3 Somatische Interventionen und Verhaltensinterventionen

1.5.4 Korrelative Methoden

1.5.5 Quantitative Befragungs- und Beobachtungsmethoden

1.5.6 Qualitative Befragungs- und Beobachtungsmethoden

1.5.7 Die neurodidaktische Forschungstrias

1.6 Kritik, Skepsis und Voreingenommenheit

2 Neurophysiologische Grundlagen

2.1 Lernziele des Kapitels

2.2 Aufbau des Nervensystems

2.3 Neurone und Gliazellen

2.4 Das Ruhemembranpotenzial eines Neurons

2.5 Exzitatorisch und inhibitorisch postsynaptische Potenziale

2.6 Entstehung und Weiterleitung von Aktionspotenzialen

2.7 Signalübertragung an Synapsen

2.8 Bedeutung von informationstragenden neuronalen Signalen

3 Strukturelle und funktionale Neuroanatomie

3.1 Lernziele des Kapitels

3.2 Einführung in die Anatomie des menschlichen Gehirns

3.2.1 Anatomische Richtungs- und Lagebezeichnungen

3.2.2 Hirnhäute, Ventrikel und Blutgefäße

3.3 Hauptabschnitte des menschlichen Gehirns

3.3.1 Myel- und Metencephalon

3.3.2 Mesencephalon

3.3.3 Diencephalon

3.3.4 Telencephalon

3.4 Anatomie und Funktionalität des cerebralen Cortex

3.4.1 Frontallappen

3.4.2 Parietallappen

3.4.3 Okzipitallappen

3.4.4 Temporallappen

4 Entwicklung des Gehirns und seiner Leistungen

4.1 Lernziele des Kapitels

4.2 Vorgeburtliche Gehirnentwicklung

4.3 Nachgeburtliche Gehirnentwicklung

5 Lernen und Gedächtnis

5.1 Lernziele des Kapitels

5.2 Lerntheorien

5.2.1 Nicht-assoziatives Lernen

5.2.2 Assoziatives Lernen

5.2.3 Sozialkognitives Lernen

5.2.4 Kognitives Lernen

5.3 Gedächtnis

5.3.1 Atkinson-Shiffrin-Modell

5.3.2 Arbeitsgedächtnis

5.3.3 Langzeitgedächtnissysteme

5.3.4 Neurobiologische Grundlagen des Gedächtnisses

6 Die emotionale Seite des Lernens

6.1 Lernziele des Kapitels

6.2 Emotionen als Ausdruck der Gemütsverfassung

6.3 Emotionales Spiegeln

6.3.1 Spiegelneurone (Mirror neurons)

6.3.2 Peinlichkeitserleben

6.4 Flow-Erleben

6.5 Stress und Stresserleben

6.5.1 Effekte von Stress auf Neuroplastizität, Kognition und Verhalten

6.5.2 Stressregulation und Bedeutung von Entspannung

7 Rahmenbedingungen für erfolgreiches Lernen

7.1 Lernziele des Kapitels

7.2 Ernährung

7.2.1 Makronährstoffe

7.2.2 Mikronährstoffe

7.2.3 Antioxidative Nährstoffe

7.2.4 Neurobiologische Effekte eines ausgewogenen Schulfrühstücks

7.3 Bewegung und körperliche Aktivität

7.3.1 Bewegung und körperliche Aktivität in der frühen Kindheit

7.3.2 Effekte des Sportunterrichts auf Motorik, Kognition und Schulleistung

7.3.3 Neurobiologische Effekte von Bewegung und körperlicher Aktivität

7.4 Bindung und Beziehungserfahrung

7.4.1 Bindungstheorien

7.4.2 Neurobiologische Grundlagen von Bindung und Bindungsverhalten

8 Pädagogische Beziehungen in inklusiven Kontexten

8.1 Lernziele des Kapitels

8.2 Inklusionsverständnis der Neurodidaktik

8.3 Beziehungen in Praxisfeldern von Erziehung, Bildung & Sorge

8.3.1 Pädagogische Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden

8.3.2 Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Lehrenden

8.3.3 Hindernisse beim Aufbau einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft

8.3.4 Realisierung einer erfolgreichen Erziehungs- und Bildungspartnerschaft

Literaturverzeichnis

Register

Einleitung

 

 

 

Anspruch des vorliegenden Lehrwerkes

Bei der Neurodidaktik handelt es sich um eine in stetiger inhaltlicher und methodischer Weiterentwicklung befindlichen Wissenschaftsdisziplin, die interdisziplinär die Zusammenhänge zwischen den neurobiologischen Bedingungen des Menschen und seiner Lernfähigkeit untersucht, um daraus Handlungsempfehlungen und Interventionen für die Praxis von Erziehung, Bildung, Weiterbildung und Sorge (bzw. Pflege) ableiten zu können.

Die Schlüsselidee dieses Ansatzes bildet dabei die in den Neurowissenschaften vorherrschende Überzeugung, dass Fähigkeiten des Lernens und des Gedächtnisses erst durch eine genaue Kenntnis der mit den verschiedenen Lernprozessen einhergehenden neuroplastischen Veränderungen des Gehirns (und den daraus erwachsenden Möglichkeiten und Begrenzungen für die Lehr-/Lern-Praxis) umfassend verstanden sowie lernergerecht und inklusiv (nach dem Motto: »Nobody left behind!«) gefördert werden können.

Obwohl die Erkenntnisse der Neurowissenschaften bereits heute bedeutende Implikationen für praktisches Handeln in pädagogischen Kontexten aufzeigen, haben die verschiedenen Fachdisziplinen der Erziehungswissenschaft erst unlängst begonnen, die Relevanz von neurobiologischen Erkenntnissen für die eigene Forschungsdisziplin zu reflektieren und zu diskutieren. Angesichts dieses Umstandes gewinnt die Neurodidaktik aufgrund ihrer Selbstverpflichtung, eine Brücke zwischen den Neurowissenschaften, der Erziehungswissenschaft und der Psychologie schlagen zu wollen, durch die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungsfragen sowie ihre interdisziplinäre und interparadigmatische Forschungsausrichtung nicht nur bei Studierenden, sondern vor allem bei den in Institutionen von Bildung, Weiterbildung und Sorge tätigen Praktikern zunehmend Beachtung und Zustimmung.

An der Stiftung Universität Hildesheim wurde im Jahr 2013 am Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften eine Universitätsprofessur für Neurodidaktik eingerichtet, um der zunehmenden Bedeutung von neurobiologischen Erkenntnissen und Methoden für die fachgerechte Ausbildung von Studierenden in den verschiedenen Studiengängen der Erziehungs- und Sozialwissenschaften sowie des Lehramts ausreichend Rechnung zu tragen. Von Beginn an war es dabei ein Anliegen aller Beteiligten, die Neurodidaktik mit neurowissenschaftlichen, erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Teilgebieten zu vernetzen, um auf diese Weise eine sinnvolle Verzahnung von Erkenntnissen und Methoden der Neurodidaktik, Neurowissenschaften, Erziehungswissenschaft und der Psychologie erreichen zu können. Dies sollte der Konzeption und Durchführung von anwendungs- und praxisorientierten Forschungsprojekten in Praxisfeldern von Erziehung, Bildung, Weiterbildung und Sorge Vorschub leisten. Der Weg zu einem erfolgreichen interdisziplinären Miteinander war keinesfalls unbeschwerlich. Schnell zeigte sich die Notwendigkeit einer umfassenden gemeinsamen Bearbeitung und Reflexion von Fachbegriffen, theoretischen Bezügen und Methoden, die für Mitglieder der einzelnen Disziplinen selbstverständlich waren, von Mitgliedern der Nachbardisziplinen aber falsch verstanden oder inhaltlich unzureichend durchdrungen werden konnten. Durch regelmäßige gemeinsame Reflexionen am »runden Tisch« gelang es aber zunehmend, die Sichtweisen der anderen Disziplinen zu verstehen und eine gemeinsame Schnittmenge zu definieren, von der aus man den gemeinsamen Forschungsprozess beginnen konnte. Die vorläufige Bilanz der gemeinsamen Bemühungen verdeutlicht, dass das Ziel einer interdisziplinären und interparadigmatischen Verzahnung der Neurodidaktik gelingen kann.

Zugegebenermaßen stellt die in Hildesheim vorgenommene inhaltliche und methodische Konkretisierung und Weiterentwicklung der Neurodidaktik, einschließlich ihrer interdisziplinären Verzahnung und der Ausweitung des Methodenspektrums auch auf qualitative Datenerhebungs- und Datenanalyseverfahren, eine in dieser Form deutschlandweit bislang einmalige Situation dar. Es ist zu wünschen, dass weitere Hochschulen diesem Vorbild folgen und sich am Ausbau der Neurodidaktik als einer interdisziplinär lehrenden und forschenden Wissenschaftsdisziplin beteiligen.

Im Gesamt der wissenschaftlichen Disziplinen handelt es sich bei der Neurodidaktik um eine vergleichsweise junge Forschungsdisziplin, die bislang noch auf keine substanzielle Forschungstradition zurückblicken kann. Insofern ist es keineswegs erstaunlich, dass die Inhalte und Methoden der Neurodidaktik, im Vergleich zu ihren etablierten Nachbardisziplinen, immer noch vergleichsweise unbestimmt wirken. Es ist unser Anspruch, mit dem vorliegenden Lehrwerk einen Vorstoß zu unternehmen und die Neurodidaktik, aufbauend auf den Erfahrungen an der Universität Hildesheim, als grundlagen-, anwendungs- und praxisorientierte Wissenschaft inhaltlich und methodisch so zu bestimmen, dass sie dem eigenen Anspruch in Bezug auf die praktische Relevanz ihrer Erkenntnisse gerecht werden kann.

Konzeption und Aufbau des vorliegenden Lehrwerkes

Neurodidaktik richtet sich vor allem an folgende Zielgruppen

1.  Wissenschaftler und Studierende, die sich in die inhaltlichen und methodischen Grundlagen einer interdisziplinär und interparadigmatisch aufgestellten Neurodidaktik einarbeiten wollen.

2.  Professionell Handelnde, die in Bereichen der Lernförderung oder in Institutionen von Bildung, Weiterbildung und Sorge tätig sind und nach neuen Ideen für die Lehr-Lern-Praxis suchen.

3.  Interessierte Eltern, die mehr über die körperliche und psychische Entwicklung ihrer Kinder sowie über entwicklungs- und lernförderliche Bedingungen erfahren möchten.

Neurodidaktik ermöglicht einen verständlichen Einstieg in das Forschungsfeld

•  Vermittlung von zentralen Inhalten, Fragestellungen und Methoden einer grundlagen-, anwendungs- und praxisorientierten Neurodidaktik.

•  Vermittlung von allgemeinen Prinzipien der neuronalen Reizverarbeitung.

•  Vermittlung von grundlegenden anatomischen Strukturen und Verbindungen im menschlichen Gehirn, die mit Erlebens- und Verhaltensleistungen, insbesondere der Lernleistung, in Zusammenhang stehen.

•  Vermittlung von wesentlichen Prinzipien der Hirnentwicklung und ihrer begrenzenden Wirkung auf Möglichkeiten, Formen und Inhalte des Lernens.

•  Darstellung der psychologischen und neurobiologischen Grundlagen von Lernen und Gedächtnis.

•  Diskussion der Bedeutung von emotionalen Prozessen und intuitivem Verhalten sowie der Effekte von Stress und Entspannung auf die Leistungsfähigkeit und das körperliche und psychische Wohlbefinden.

•  Darstellung von grundlegenden Zusammenhängen zwischen Ernährung, Gehirnfunktionen sowie Erlebens- und Verhaltensleistungen.

•  Darstellung der Auswirkungen von Bewegung und körperlicher Aktivität auf neuronale Prozesse, affektives Erleben, die kognitive Leistungsfähigkeit und die Schulleistung.

•  Diskussion der Bedeutung von Bindung und Bindungserfahrung sowie einer professionellen Beziehungsgestaltung für das Lernen und die Entwicklung.

Inhalte

Zu Beginn dieses Lehrwerkes erhalten Sie eine Einführung in wesentliche Inhalte und Methoden der Neurodidaktik. In Abgrenzung zu ihren zentralen Nachbardisziplinen soll herausgearbeitet werden, wie sich die Neurodidaktik als eigenständige Forschungsdisziplin konsolidieren und den Ansprüchen an die Praxisrelevanz ihrer Erkenntnisse genügen kann. Nach einer umfassenden Einführung in die Grundlagen der Neurophysiologie, der strukturellen und funktionellen Neuroanatomie sowie der vor- und nachgeburtlichen Hirnentwicklung, wollen wir uns in disziplinübergreifender Perspektive mit grundlegenden Prinzipien und Mechanismen des Lernens und Gedächtnisses befassen. Hierbei soll auch die Bedeutung von emotionalen und motivationalen Prozessen für erfolgreiches Lehren und Lernen beleuchtet werden. Zudem wollen wir anhand von Praxisbeispielen erläutern, welche zentralen Rahmenbedingungen das Lernen des Menschen beeinflussen. Hierbei soll auch diskutiert werden, welche Rolle einer ausgewogenen Ernährung, geeigneten Formen von Bewegung und körperlicher Aktivität, einer positiven frühkindlichen Bindungs- und Beziehungserfahrung sowie der pädagogischen Beziehungsgestaltung in Institutionen von Erziehung und Bildung zukommt. Wo immer es sich in diesem Lehrwerk anbietet, werden wir unter dem Hinweis »Merke« auf bedeutende Implikationen der dargestellten Erkenntnisse für die Neurodidaktik, das soziale Lernen, die Vermittlung von Lerninhalten sowie die Gestaltung von Lernumgebungen und Lernmaterialien hinweisen.

Konzeption

Die Inhalte des vorliegenden Lehrwerkes sind auf den Kenntnisstand von Studierenden des ersten Semesters abgestimmt, die noch über kein oder bislang nur geringes neurobiologisches, erziehungswissenschaftliches und/ oder psychologisches Vorwissen verfügen. Die ausgewählten neurobiologischen Grundlagen zur Physiologie, Anatomie und Entwicklung des menschlichen Gehirns werden in einer Weise bearbeitet, die es Ihnen erlaubt, allgemeine Prinzipien und konkrete Empfehlungen für die Gestaltung von Lernumgebungen und Lernmaterialien sowie eine lerner- bzw. gehirngerechte Vermittlung von Lerninhalten abzuleiten.

Die Erarbeitung der für ein umfassendes neurodidaktisches Verständnis unverzichtbaren neurobiologischen, erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Grundlagen des Lernens wird – zugegebenermaßen – mit einiger Anstrengung verbunden sein. Für ihre Mühe werden Sie mit faszinierenden Einsichten zur Konstruktion und Funktionsweise der menschlichen Psyche belohnt. In der Auseinandersetzung mit den Inhalten dieses Lehrwerkes werden Sie zunehmend besser verstehen, wie Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und (unter gegebenen Bedingungen) auf ihre Umwelt einwirken. Sie werden lernen, wie Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Handlungen, die den Lernprozess (förderlich oder störend) begleiten, durch Strukturen und Prozesse des Gehirns hervorgebracht und gesteuert werden. Dieses Wissen wird Sie in die Lage versetzen, eigenständig erste praktische Implikationen der dargestellten Inhalte für die familiäre Erziehung und institutionelle Bildung, Weiterbildung und Sorge abzuleiten. Ganz nebenbei lernen Sie neurowissenschaftliche, neuropsychologische und medizinische Fachbegriffe kennen, die Ihnen den interdisziplinären Dialog (auf Augenhöhe) mit Medizinern, Psychologen und Naturwissenschaftlern erleichtern.

Kapitelüberblick und Literatur

Jedem Kapitel ist eine stichpunktartige Zusammenfassung der wesentlichen Lernziele vorangestellt, die es Ihnen erlaubt, die dargestellten thematischen Schwerpunkte in den Gesamtzusammenhang jedes Kapitels einzuordnen.

Die in diesem Lehrwerk dargestellten Inhalte basieren auf publizierten wissenschaftlichen Erkenntnissen und orientieren sich an einem bio-psycho-sozialen und ressourcenorientierten Menschenbild, das die Verschränkung biologischer, psychologischer und sozialer Prozesse anerkennt und »entpathologisierend« (bzw. salutogenetisch, d. h. an der Gesundheit eines Menschen orientiert) die Potenziale des Lerners in den Blick nimmt. Aus Gründen der Lesbarkeit verweisen wir in den einzelnen Kapiteln nur auf wesentliche Bezugsquellen, die am Ende des Lehrwerkes in einem Literaturverzeichnis zusammengefasst sind.

Vertiefende Diskussion

Nach jedem einzelnen Kapitel empfehlen wir Ihnen eine Pause, die Sie nutzen können, um das Gelernte gemeinsam mit Freunden, Verwandten und Bekannten vertiefend zu diskutieren.

Unser Dank

Wir möchten uns ganz herzlich bei Frau Dr. Daniela Schoofs und Frau Dr. Jasmin Kizilirmak bedanken, die uns bei der Manuskripterstellung unterstützten. Frau Henrike Jaroschek und Frau Lucie Koch lieferten wertvolle Hinweise zu einer verständlichen und lernförderlichen Darstellung der Lerninhalte. Frau Henrike Jaroschek zeichnet auch für die Illustrationen des vorliegenden Lehrwerkes verantwortlich. Für ihre gelungenen Abbildungen, die zum Gesamteindruck des Buches ganz maßgeblich beitragen, gilt ihr ein besonderer Dank. Ganz herzlich möchten wir uns auch bei Frau Annika Grupp vom Kohlhammer-Verlag für ihre Geduld, die mehrfach gewährten Aufschübe sowie die wertvollen Hilfestellungen bedanken.

Hinweis auf den geschlechtsbezogenen Sprachgebrauch

Aus Gründen einer vereinfachten Lesbarkeit verzichten wir auf die doppelte Verwendung von weiblichen und männlichen Personenbezeichnungen und gebrauchen stattdessen die männliche Form.

Wir wünschen uns sehr, dass wir mit Neurodidaktik viele Eltern, Studierende, Wissenschaftler und Praktiker in Feldern von Erziehung, Bildung, Weiterbildung und Sorge für das faszinierende Forschungs-, Lehr- und Praxisgebiet Neurodidaktik begeistern und dabei unterstützen können, familiäre Erziehung und institutionelle Bildung, Weiterbildung und Sorge individuell, ressourcenorientiert und gesundheitsförderlich zu gestalten.

 

Hildesheim im Januar 2019

Kristian Folta-Schoofs und Britta Ostermann

1          Inhalte und Methoden der Neurodidaktik

 

 

 

1.1       Lernziele des Kapitels

 

Das erste Kapitel dieses Lehrwerkes führt Sie in die Neurodidaktik als Wissenschaftsdisziplin ein, indem wesentliche Grundannahmen, Fragestellungen und Methoden in Abgrenzung zu zentralen wissenschaftlichen Nachbardisziplinen vorgestellt werden.

Dieses Kapitel umfasst die folgenden Themen:

•  Historische Wurzeln und Ursprung der Neurodidaktik.

•  Entwicklung der Neurodidaktik zu einem interdisziplinären Forschungs- und Handlungsfeld.

•  Stellenwert der Neurodidaktik in Abgrenzung zu ihren zentralen Nachbardisziplinen.

•  Zentrale Grundannahmen, Fragestellungen und Methoden einer interdisziplinär forschenden Neurodidaktik, die sich als gleichermaßen grundlagen-, anwendungs- und praxisorientierte Wissenschaft versteht.

•  Allgemeines Begründungswissen, wie Praxisfelder in Erziehung, Bildung, (lebenslanger) Weiterbildung und Sorge von Erkenntnissen der Neurodidaktik profitieren und durch dieses Wissen ihr Handeln professionalisieren können.

1.2       Historische Wurzeln und Anfänge der Neurodidaktik

Ursprung der Didaktik

Mitte des 17. Jahrhunderts formulierte der Philosoph, Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius(1592–1670) in seiner Didactica magna(»Große Unterrichtslehre«; Comenius, 1657) eine erste systematische Didaktik (von altgriechisch: διδάσκειν, didáskein, ›lehren‹), die er als » Lehrkunst« (als Wissenschaft vom Lehren) bezeichnete und von der Mathetik als » Lernkunst« (als Wissenschaft vom Lernen) abgrenzte (Comenius, 1657, 1954). Seine Didaktik umfasst sehr innovative und weitreichende Überlegungen zur Gestaltung von Bildung und Erziehung. Seine bildungspolitischen Forderungen nach einer das Wesentliche umfassenden Allgemeinbildung sowie einer von sozialer Herkunft, Geschlecht oder Behinderung unabhängigen Chancengleichheit (Didactica magna, Caput XI, Sp. 49: »omnes omnia omnino excoli« – »Allen alles in Rücksicht auf das Ganze zu lehren«; Comenius, 1657; Übersetzung in Comenius, 1954) haben, ebenso wie seine Forderungen nach einer zwangs- und gewaltfreien Erziehung und Unterrichtung, die auf die Fähigkeiten der Eigenmotivation und Selbststeuerung von Lernenden abzuzielen habe (Titelseite des Orbis sensualium pictus: »Omnia sponte fluant, absit violentia rebus« – »Alles fließe aus eigenem Antrieb, Gewalt sei fern den Dingen«; Comenius, 1658; Übersetzung in Comenius, 1954), bis heute nichts von ihrer gesellschaftlichen Aktualität und Bedeutung eingebüßt.

Anfänge der Neurodidaktik

Der Begriff Neurodidaktik (engl.: Neurodidactics) wurde im Jahr 1988 von Gerhard Preiß, einem an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau tätigen Professor für Didaktik und Mathematik, in die öffentliche Diskussion eingeführt, » um die Wichtigkeit zu betonen, die Ergebnisse der modernen Hirnforschung für die Didaktik zu erschließen und deren pädagogische Anwendbarkeit zu prüfen« (Friedrich, 2005; S. 8). In den 1990er Jahren beschrieb der Erziehungswissenschaftler Gerhard Friedrich(* 1959) die Neurodidaktik als

»Handlungs- und Forschungsgebiet, das insbesondere die Zusammenhänge zwischen neurobiologischen Bedingungen und Lernvorgängen des Menschen zu erkennen und zu beschreiben versucht, um daraus pragmatische Erkenntnisse für die Allgemeine Didaktik abzuleiten.« (Friedrich, 1991, S. 32).

Die Neurodidaktik nimmt alle Lernvorgänge in den Blick, die den Menschen zu zeitlich kurz- oder längerfristigen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial befähigen, was den Erwerb von Wissen sowie jede Form der Veränderung von Denk- und Gedächtnisprozessen, Motiven oder Einstellungen einschließt. Dabei fokussiert die Neurodidaktik in besonderer Weise auf die neurobiologischen Grundlagen des Lernens.

Merke

Die Neurodidaktik untersucht die Zusammenhänge zwischen den neurobiologischen Bedingungen des Menschen und seiner Lernfähigkeit, um daraus Handlungsempfehlungen und Interventionen für das Lehren und Lernen in Praxisfeldern von Erziehung, Bildung, (lebenslanger) Weiterbildung und Sorge (bzw. Pflege) abzuleiten.

Gerhard Preiß konkretisiert diese Schlüsselidee mit den nachfolgenden Worten:

» Die Neurodidaktik geht von der Lernfähigkeit des Menschen aus und sucht nach den Bedingungen, unter denen sich Lernen am besten entfaltet. Die Schlüsselidee ist dabei die Überzeugung, dass Plastizität des Gehirns und Lernfähigkeit in unauflöslicher Beziehung zueinander stehen. Die Ergebnisse der Hirnforschung machen es möglich, diese Beziehung zu erforschen. Aufgabe der Neurodidaktik ist es, die neurobiologischen Erkenntnisse für die Didaktik aufzuarbeiten, um sie auf den Prozess menschlicher Erziehung und Bildung anzuwenden.« (Zahlenland Prof. Preiß; www.neurodidaktik.de/de/leitgedanken/; letzte Prüfung: 17. April 2018)

Neuere Entwicklungen in der Neurodidaktik

Mit seinem Lehrbuch »Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen« lieferte der Pädagoge Ulrich Herrmann(* 1939), emeritierter Professor für Pädagogik an der Universität Ulm, einen sehr umfassenden Überblick über wissenschaftliche Fragestellungen und Inhalte einer modernen Neurodidaktik (Herrmann, 2006). Die Schulpädagogin Margret Arnold(* 1967) begründete in ihrer Dissertation die besondere Relevanz von Emotionen für die Neurodidaktik und das Verständnis von Lehr-/Lernprozessen (Arnold, 2002). Über diese Werke hinausgehend, mangelt es aber bis heute an einer inhaltlich und methodisch weitergehenden Bestimmung bzw. Konkretisierung neurodidaktischer Inhalte und Methoden, insbesondere vor dem Hintergrund von aktuellen Entwicklungslinien in der Erziehungswissenschaft (z. B. zu Themen der Heterogenität und Inklusion), der Psychologie (z. B. zu Themen der Achtsamkeit und der Ressourcenorientierung in der psychologischen Diagnostik und Therapie) sowie den Neurowissenschaften (z. B. zu den neuen Paradigmen und Fragestellungen der Sozialen Neurowissenschaft). Die gegenwärtige Unbestimmtheit von Inhalten und Methoden sollte als Chance verstanden werden, im Dialog der Wissenschaften die inhaltlichen und methodischen Grundpfeiler der Disziplin gemeinsam zu definieren und weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass Marion Grein(* 1966), Linguistin im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Universität Mainz, und Heiner Böttger(* 1961), Professor für die Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die Neurodidaktik unlängst für den speziellen Gegenstandsbereich des (frühen) Sprachenlernens spezifizierten (Grein, 2013; Böttger, 2016).

1.3       Zentrale Nachbardisziplinen

Bereits in den 1990er Jahren betonte Gerhard Friedrich, dass die Neurodidaktik als Brücke zwischen der Erziehungswissenschaft und den Neurowissenschaften zu konzipieren sei, deren Forschungsbemühungen » ein auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angelegtes Unterfangen« (Friedrich, 2003) darzustellen habe (siehe auch Preiß, 1992, 1996; Friedrich, 1995, 2005; Friedrich & Preiß, 2003). Heute zählen, neben den grundlagen- und handlungsorientierten Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft und der Neurowissenschaften, vor allem auch die verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie zu den zentralen Nachbardisziplinen der Neurodidaktik.

Erziehungswissenschaft

Bis in die 1970er Jahre hinein verstand sich die Pädagogik als Wissenschaft von der Erziehung, bis sie sich im 20. Jahrhundert als Erziehungswissenschaft neu definierte (Terhart, 1991; Tenorth, 2000; Lenzen, 2007) und den Fokus ihrer Untersuchungen vom schulisch-unterrichtlichen Lehren und Lernen auf alternative Lehr-/Lern-Kontexte bzw. Lernräume (z. B. frühkindliche Förderung, Bildung an Hochschulen, lebenslange Aus-, Fort- und Weiterbildung in beruflichen Kontexten, Pflege bzw. Sorge in sozialen Einrichtungen), Lernziele bzw. Lerninhalte (z. B. Förderung von sensorischen und motorischen Fähigkeiten, Persönlichkeitsentwicklung, Wertevermittlung, Vermittlung von kulturellem Wissen und kulturellen Kompetenzen, soziale Teilhabe oder Gesundheitserziehung) und Lernformen (z. B. multisensorisches Lernen, Lernen in Bewegung, Lernen mit digitalen Medien) erweiterte.

Einer zeitgemäßen und breiten Definition folgend, befasst sich die gegenwärtige Erziehungswissenschaft mit wissenschaftlichen Fragen im Kontext von lebenslanger (Weiter-)Bildung, Erziehung, Lernen und der pädagogischen Beratung von Menschen. Hierbei berücksichtigt sie verschiedene Ebenen der Analyse und Reflexion, beispielsweise die Ebene der individuellen Biographien, der pädagogischen Interaktionen in unterschiedlichen Sozialisationsfeldern, die Ebene von institutionellen und organisatorischen Strukturen bis hin zur Ebene der gesellschaftlichen Bedingungen pädagogischen Handelns.

Allgemeine Erziehungswissenschaft, Allgemeine Didaktik und Fachdidaktiken

Grundsätzlich unterscheidet man in der Erziehungswissenschaft zwischen Theorie und Praxis sowie Forschungs- und Handlungsfeldern von Bildung und Erziehung. Als grundlagenorientierte Teildisziplin der Erziehungswissenschaft strebt die Allgemeine Erziehungswissenschaft eine umfassende systematische Beobachtung sowie historisch und theoretisch reflektierende Darstellung der Bildungs- und Erziehungswirklichkeit an (Petersen, 1962; Langeveld, 1966; Röhrs, 1979; Brezinka, 1978), um auf Basis solcher Beobachtungen und Einsichten allgemeine Erziehungs- und Bildungszusammenhänge verstehen und erklären zu können. Im Unterschied dazu, wendet sich die Allgemeine Didaktik – unabhängig von spezifischen Lehrinhalten – grundlegenden Prinzipien, Regeln, Lehr- und Lernmodellen sowie allgemeinen Begründungsfragen von Bildungsprozessen zu (Dolch, 1965). Außerhalb der Erziehungswissenschaft befassen sich die Fachdidaktiken mit angeleitetem Lehren und Lernen in Bezug auf konkrete Inhalte, Materialien und Methoden eines spezifischen Unterrichtsfaches oder Lernfeldes (Friedrich, 2009).

Schulpädagogik bzw. empirische Schul- und Unterrichtsforschung

Als handlungs- und anwendungsorientierte Teildisziplin der Erziehungswissenschaft bemüht sich die Schulpädagogik (bzw. empirische Schul- und Unterrichtsforschung) darum, fundierte Vorschläge zu formulieren, wie die Bildungs- und Erziehungspraxis in Institutionen von Bildung und Erziehung förderlich gestaltet und optimiert werden kann (Ulich, 1972; Benner, 1977; Wulf, 1977; Klafki, 1985). Dabei setzt sie sich auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen (z. B. der Digitalisierung der Gesellschaft, Globalisierung bzw. demographischen Veränderung) auseinander und reflektiert die Veränderung von Normen (d. h. gesellschaftlichen Überzeugungen zu der Frage, was gute Bildung, Erziehung und Sorge ausmacht), sozialen Zielen (d. h. soziale Annahmen zu der Frage, womit sich Menschen inhaltlich auseinanderzusetzen haben, um an der Gesellschaft teilhaben und ihr dienen zu können) und Werten (z. B. Demokratie, Toleranz, Integration, Inklusion, Gesundheit und Wohlbefinden).

Neurowissenschaften

Die Neurowissenschaften verschreiben sich einer umfassenden Erforschung des Nervensystems und seiner Funktionen. Unter dem gemeinsamen Dach der Neurowissenschaften vereinen sich, vergleichbar zur Situation in der Erziehungswissenschaft, eine Vielzahl von Teildisziplinen, die sich in ihren konkreten Betrachtungsebenen, Fragestellungen und Methoden mitunter deutlich voneinander unterscheiden.

Kognitive und affektive Neurowissenschaft

Die Kognitive und affektive Neurowissenschaft fokussiert auf die Untersuchung der genetischen, molekularen, hirnanatomischen und hirnphysiologischen Zusammenhänge, die kognitiven und affektiven Prozessen zugrunde liegen. Dabei umfasst der Begriff der Kognition (von lateinisch: cognoscere, ›erkennen‹, ›erfahren‹, ›kennenlernen‹) alle dem Bewusstsein im Prinzip zugänglichen mentalen Prozesse der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, Lernens, Denkens, Problemlösens, der Sprache und der Fähigkeit zur Koordination und Kontrolle von zielgerichteter Motorik (d. h. von Fähigkeiten zur Handlungsplanung und Handlungssteuerung). Kognitive Prozesse führen in ihrem komplexen Zusammenspiel zu psychischen Leistungen, die den Menschen in besonderer Weise dazu befähigen, bewusst, verantwortlich und selbstbestimmt zu handeln. Im Gegensatz dazu, stellen Affekte (von lateinisch: affectus, ›Stimmung‹, ›Leidenschaft‹, ›Begierde‹) in der Regel nicht bewusst zu kontrollierende Formen der Gemütserregung bzw. Gefühlsbewegung dar. Typischerweise gehen solche Affekte (z. B. Freude, Verzweiflung, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung, Interesse, Scham, Schuld oder Verachtung) mit unterschiedlichen und für die jeweilige Emotion spezifischen Qualitäten, Intensitäten und Dauern von körperlichen Veränderungen (z. B. Erröten, Blutdrucksteigerung, Schwitzen) einher, die den Lernprozess eines Menschen begleiten und auf diesen förderlich oder hinderlich einwirken können. In der Regel sind Kognitionen und Affekte wechselseitig aufeinander bezogen. Einerseits können Kognitionen affektive Zustände hervorrufen oder modulieren (Lazarus, 1991), andererseits können Affekte als Komplexitätsreduktoren wirken (Schiepek, 1999) und den Menschen zu spezifischen Verhaltensweisen motivieren (Loewenstein & Lerner, 2003). Nach Ciompi (2002) gelten Affekte sogar als die entscheidenden »Energielieferanten« aller kognitiven Dynamik (Nielsen, 2014).

Soziale Neurowissenschaft

Während im Feld der Kognitiven und affektiven Neurowissenschaft das einzelne (sozial isolierte) Gehirn untersucht wird, trägt die Soziale Neurowissenschaft (engl.: Social Neuroscience) der Dynamik und sozialen Bedingtheit interpersonellen menschlichen Erlebens und Verhaltens Rechnung. Hier wird das Gehirn als soziales Organ verstanden (Bentall, 2004), das alleine – und ohne anhaltende Beziehungserfahrungen mit der Umwelt – keine relevanten Beziehungsmuster oder Selbstkonzepte entwickeln kann (Nielsen, 2014). Daher untersucht die Soziale Neurowissenschaft, wie sich zwei oder mehr Gehirne in ihrer Funktionsweise wechselseitig beeinflussen (Krach et al., 2016). Den Forschungsfokus bildet die Frage, » […] wie sich soziale Erfahrungen neuronal abbilden und – im zirkulären Verständnis – im sozialen Kontext wieder verhaltenswirksam werden.« (Nielsen, 2014, S. 110). Die Erkenntnisse der Sozialen Neurowissenschaft erlauben es (wesentlich besser als bisher), sich relevanten Fragen des sozialen bzw. gesellschaftlichen Miteinanders zuzuwenden und neurobiologisch zu untersuchen, wie gruppendynamische Prozesse gesteuert werden, wie Menschen die Gefühle ihrer Mitmenschen wahrnehmen oder wie sie lernen, auf soziale Signale zu reagieren.

Psychologie

Mit dem Aufbau des weltweit ersten Instituts für experimentelle Psychologie begründete Wilhelm Wundt(1832–1920) die Psychologie (von griechisch: psyche, ›Leben‹, ›Seele‹) als systematische Wissenschaft, die sich der exakten experimentellen Beobachtung sowie der Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Modifikation von grundlegenden Funktionen (bzw. Mechanismen) menschlicher Erlebens- und Verhaltensweisen verschreibt (Zimbardo, 1988; Wolfradt, 2014; Bermeitinger et al., 2016). Zu solchen grundlegenden Funktionen zählen Prozesse der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, Lernens, Denkens, Problemlösens, der Sprache, Emotion, Motivation sowie der Planung und Kontrolle zielgerichteter motorischer Aktionen (von Funktionen also, die in ihrer Gesamtheit unter den Begriff der Kognition zusammengefasst werden können). Als höchst pluralistische Wissenschaft vereint die Psychologie zahlreiche Teildisziplinen, von denen die Allgemeine Psychologie, Bio- und Neuropsychologie, Entwicklungs- und Sozialpsychologie sowie die Pädagogische Psychologie eine besondere Nähe zur Neurodidaktik aufweisen.

Allgemeine Psychologie

Die Allgemeine Psychologie untersucht psychische Leistungen und deren Wechselwirkungen in Bezug auf das menschliche Erleben und Verhalten. Solche Leistungen stellen makroskopische Umschreibungen bzw. Hilfskonstruktionen für kognitive und affektive Funktionen dar (vgl. Ulrich, 2009; Mausfeld, 2010), weswegen sie auch als psychische Konstrukte bezeichnet werden. Sie dienen dazu, die Komplexität menschlicher Erlebens- und Verhaltensweisen auf wesentliche Bausteine des Verhaltens zu reduzieren, um sie dadurch einer empirischen Untersuchung und Beobachtung zugänglich zu machen. Damit ein Verhalten möglichst eindeutig seinen auslösenden Bedingungen und den beteiligten psychischen Leistungen zugeordet werden kann, nutzt die Allgemeine Psychologie die Methode des Experiments (von lateinisch: experimentum, ›Versuch‹, ›Probe‹, ›Erfahrungsbeweis‹). Da Experimente ein möglichst hohes Ausmaß an Kontrolle über die Untersuchungssituation voraussetzen, finden sie in eher unnatürlichen und »steril« wirkenden Laborumgebungen statt, in denen potenziell störende Untersuchungseinflüsse durch geeignete Experimentaldesigns und Techniken (z. B. die repräsentative Auswahl von zu untersuchenden Personen, die zufällige Zuordnung von Personen zu Untersuchungsbedingungen oder die Parallelisierung von Personen unterschiedlicher Untersuchungsgruppen in Bezug auf wesentliche Variablen, wie beispielsweise das Alter oder Geschlecht) vollständig eliminiert oder kontrolliert werden können.

Biopsychologie

Während die Allgemeine Psychologie psychische Funktionen und deren Wechselwirkungen in Bezug auf das menschliche Erleben und Verhalten untersucht, fokussiert die Biopsychologie auf ein sehr genaues Verständnis der Zusammenhänge zwischen den neurobiologischen (u. a. genetischen, epigenetischen, neuronalen, hormonellen, biochemischen und molekularbiologischen) Prozessen im Gehirn eines Menschen, den daraus hervorgehenden kognitiven und affektiven Funktionen sowie den aus dem Wechselspiel solcher Funktionen (und ihrer neurobiologischen Entsprechungen) resultierenden Erlebens- und Verhaltensleistungen. Biopsychologische Erkenntnisse können auf verschiedenen Analyse- und Komplexitätsebenen gewonnen werden, beispielsweise auf:

•  der Ebene von Genen und ihrer Regulation durch Genexpression,

•  der Ebene von Gehirnstrukturen und Gehirnfunktionen,

•  der Ebene von psychischen Funktionen bzw. Konstrukten,

•  der individuellen Verhaltensebene,

•  der Ebene der Interaktion zwischen zwei Individuen (der sog. dyadischen Interaktion),

•  der Ebene von komplexem Sozialverhalten in Gruppen.

Für die neurobiologische Beschreibung von psychischen (d. h. kognitiven und affektiven) Leistungen greift die Biopsychologie auf die von der Allgemeinen Psychologie bereitgestellten psychischen Konstrukte zurück. Erst auf der Grundlage dieser makroskopischen Beschreibungen ist es ihr möglich, sich auf die Suche nach neuronalen Entsprechungen (sog. neuronalen Korrelaten) der dem beobachtbaren Erleben und Verhalten zugrundeliegenden »inneren« Bausteine des Psychischen zu begeben. Dabei erkennt die Biopsychologie an

» […] dass das Psychische eine höherstufige Ebene in der natürlichen Organisation bildet, die zugleich aber dennoch mit ihren physischen Grundlagen eine voneinander unablösbare Einheit darstellt. Man könnte auch sagen, dass nach Maßgabe psychischer Eigenschaften aus dem diffusen Geflecht neuronaler Strukturen überhaupt erst funktionale Einheiten gebildet werden. Das Psychische ist gewissermaßen das strukturbildende und formende Prinzip auf allen Ebenen der natürlichen Organisation des Gehirns.« (Wolfradt & Lüdmann, 2016, S. 189–190).

Neuropsychologie

Die Neuropsychologie erforscht die Folgen von entwicklungsbedingten neuronalen Veränderungen oder von klar definierten Hirnschädigungen (z. B. nach einem Schlaganfall, einem Schädel-Hirn-Trauma oder im Zuge von Hirntumoren oder Infektionen des Gehirns) für die Integrität psychischer Leistungen sowie das Erleben und Verhalten eines Menschen. Im Mittelpunkt der neuropsychologischen Forschung steht somit die Beschreibung von Hirnstruktur-Funktionszusammenhängen (d. h. Zusammenhängen zwischen anatomischen oder physiologischen Auffälligkeiten in abgegrenzten Hirnbereichen und den damit einhergehenden Veränderungen von psychischen Leistungen). Hierzu werden bevorzugt Patienten untersucht, die lokal begrenzte hirnanatomische Fehlentwicklungen oder umgrenzte Hirnschädigungen (Läsionen) aufweisen, die mit modernen Methoden der anatomischen (strukturellen) Hirnbildgebung präzise verortet und vermessen werden können. Ergänzend wird der Funktionszustand von spezifischen kognitiven und affektiven Leistungen mit Hilfe von computergestützten neuropsychologischen Testbatterien (z. B. zur Überprüfung von Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisfunktionen), Papier-Bleistift-Tests (z. B. zur Überprüfung der visuell-räumlichen Wahrnehmungsleistung) oder körperbezogenen Verhaltensaufgaben (z. B. zur Überprüfung der Fähigkeit zur Imitation von emotionalen Gesichtsausdrücken) erfasst. Die Kombination von hirnstrukturellen Daten und Daten aus psychologischen Leistungsmessungen erlaubt die Formulierung von konkreten Hypothesen und Funktionsmodellen, die beschreiben, auf welche Weise und in welchem Ausmaß spezifische Formen von Fehlentwicklungen oder Schädigungen des Nervensystems mit definierbaren Veränderungen von psychischen Leistungen sowie Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten einhergehen.

Entwicklungs- und Sozialpsychologie

Im Fokus der Entwicklungspsychologie steht die Beobachtung und Erklärung der entwicklungsbedingten Veränderungen von Erleben und Verhalten, die im Zuge der Individualentwicklung eines Menschen (der Ontogenese) von frühester Kindheit an und bis ins hohe Erwachsenenalter hinweg zu beobachten sind (Oerter & Montada, 1995; Daum et al., 2016). In Ergänzung dazu, erforscht die Sozialpsychologie das Erleben und Verhalten von einzelnen Menschen in sozialer Interaktion mit einem weiteren Menschen (sog. dyadische Interaktionen), in Bezug auf eine Gruppe von Menschen (sog. Gruppenverhalten) oder in Bezug auf die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Erzeugnissen von Individuen oder Gruppen (z. B. im Zuge des kulturellen Lernens; vgl. Stroebe et al., 1997).

Pädagogische Psychologie

Unter allen handlungsorientierten psychologischen Teildisziplinen (darunter beispielsweise die Arbeits- und Organisationspsychologie, Klinische Psychologie oder Rehabilitationspsychologie) weist die Pädagogische Psychologie eine besondere inhaltliche Nähe zur Neurodidaktik auf. Sie fokussiert ihre Forschung auf pädagogische Situationen, einschließlich der durch solche Situationen potenziell oder tatsächlich ausgelösten pädagogisch relevanten Effekte, die von der Gesellschaft einer bestimmten Epoche als wünschenswert definiert wurden (d. h. mit vorherrschenden normativen Erziehungs- und Unterrichtszielen in Übereinstimmung stehen). Dabei verknüpft sie erziehungswissenschaftliche und psychologische Fragestellungen mit dem Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse für praktische Felder von Erziehung, frühkindlicher Bildung und schulischem Unterricht nutzbar zu machen (Gage & Berliner, 1986; Weidenmann & Krapp, 1993).

1.4       Grundlagen-, Anwendungs- und Praxisorientierung

Seit ihren Anfängen versteht sich die Neurodidaktik als interdisziplinäre Wissenschaftsdisziplin, die Zusammenhänge zwischen den neurobiologischen Bedingungen des Menschen und seiner Lernfähigkeit untersucht, um daraus Handlungsempfehlungen und Interventionen für die Praxis von Erziehung und Bildung ableiten zu können (siehe Preiß, 1992, 1996; Friedrich, 1995, 2003, 2005; Friedrich & Preiß, 2003):

»Eine ›Neurodidaktik‹ kann eine Brückenfunktion zwischen den Hauptpfeilern Neurobiologie und Didaktik einnehmen. Die Konstruktion und der Bau solch einer Brücke kann nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen.« (Friedrich, 2005, S. 240).

Merke

Neurodidaktische Forschung erfordert den interdisziplinären Austausch und die gemeinsame Reflexion von Fragestellungen, Methoden und Ergebnissen.

Es ist wichtig zu betonen, dass sich die Neurodiaktik ausdrücklich nicht als Teildisziplin der Neurowissenschaften (im Sinne einer »Educational Neuroscience « oder eines » Brain-based Learning« bzw. » Brain-based Teaching«; z. B. Jensen, 2008; OECD, 2007) verstanden wissen möchte. Durch ein eigenes Profil und eine enge Verzahnung mit ihren Nachbardisziplinen kann die Neurodidaktik auf vielfältige Weise profitieren:

•  Die Allgemeine Erziehungswissenschaft, Schulpädagogik (bzw. empirische Schul- und Unterrichtsforschung) und die Pädagogische Psychologie können als handlungsorientierte Wissenschaften definieren, welche konkreten Bereiche von Erziehung, lebenslanger (Weiter-)Bildung und Sorge eine besondere Relevanz für die Gesellschaft und das einzelne Individuum aufweisen.

•  Die Allgemeine Psychologie kann die für biopsychologische bzw. neurowissenschaftliche Untersuchungen erforderlichen makroskopischen Beschreibungsebenen und psychologischen Konstrukte bereitstellen.

•  Die Biopsychologie, Neuropsychologie sowie die verschiedenen Teildisziplinen der Neurowissenschaften (insbesondere der Kognitiven und affektiven Neurowissenschaft sowie der Sozialen Neurowissenschaft) können die methodischen Zugänge und Theorien liefern, die für die Generierung von neurobiologischem Grundlagenwissen zu Lern- und Gedächtnisprozessen wesentlich sind.

•  Theorien der Entwicklungs- und Sozialpsychologie erlauben eine weiterführende Einordnung des neurobiologischen Grundlagenwissens in psychologische Entwicklungstheorien und Theorien des sozialen Miteinanders.

•  Die Allgemeine Didaktik und die Fachdidaktiken können darin unterstützen, die pädagogische Relevanz einzelner Maßnahmen zu beurteilen und konkrete Handlungsempfehlungen für die Lehr-/Lern-Praxis abzuleiten.

Merke

Jede der zentralen Nachbardisziplinen der Neurodidaktik verfügt über spezifisch inhaltliche und methodische Zugänge zur grundlagen- und praxisorientierten Erforschung und Evaluation von Lehr-/Lern-Prozessen, die in der Neurodidaktik zusammengeführt werden sollten. Dazu hat sich die Neurodidaktik als interdisziplinär arbeitendes Forschungsgebiet zu konsolidieren. Neurowissenschaftler, Erziehungswissenschaftler und Psychologen sollten sich gemeinsam lehrend, forschend, diskutierend und reflektierend mit dem Gegenstandsbereich »Lernen« in Anwendungsfeldern von Erziehung und lebenslanger (Weiter-)Bildung befassen. Die interdisziplinären Bemühungen sollten von dem gemeinsamen Ziel motiviert werden, bestehende Theorien und Konzepte zum erfolgreichen Lehren und Lernen weiterzuentwickeln und darüber hinaus auch neue Erkenntnisse für Praxisfelder von Erziehung, Bildung, Weiterbildung und Sorge zu generieren.

Mehrwert der Neurodidaktik

Durch den Rückgriff auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse und die Verwendung von neurowissenschaftlichen Methoden grenzt sich die Neurodidaktik inhaltlich und methodisch deutlich von der Schulpädagogik (bzw. empirischen Schul- und Unterrichtsforschung) und der Pädagogischen Psychologie ab. Das Wissen um die neuronalen und psychologischen Mechanismen, die verschiedenen Lernformen des Menschen zugrunde liegen, eröffnet der Neurodidaktik neue und umfassende Möglichkeiten der Beschreibung von Voraussetzungen und Begrenzungen des Lernens. Diese Erkenntnisse können – interdisziplinär bearbeitet – zu konkreten Handlungsempfehlungen und Interventionen für die Didaktik führen:

»Die junge Wissenschaft der Neurodidaktik versucht den schwierigen Schritt von der Beschreibung und Diskussion neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zur didaktischen Konkretion über den didaktischen Transfer zu unterrichtlichen Handlungen.« (Böttger, 2016, S. 18).

Wenn Friedrich (2006) kritisch anmerkt, dass neurobiologische Aussagen aus prinzipiellen Gründen für den Gegenstandsbereich der Didaktik zu unspezifisch seien, vernachlässigt er den Umstand, dass neurobiologische Erkenntnisse nur vor dem Hintergrund von psychologischen Konstrukten sinnvoll interpretiert werden können (Uttal, 2000, 2001), die in der Regel bereits in makroskopische psychologische Theorien menschlichen Erlebens und Verhaltens eingebettet sind. Erkenntnisse der kognitiven und affektiven Neurowissenschaft oder der Sozialen Neurowissenschaft können durch ihre Verflechtung mit psychologischen Theorien nicht unspezifischer sein, als die Konstrukte, auf die sie sich beziehen. Diese Tatsache eröffnet der Neurodidaktik die Möglichkeit, neurowissenschaftliche Erkenntnisse sinnvoll mit erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Theorien zu verzahnen, um auf diese Weise zu einer Präzisierung von psychologischen Konstrukten sowie den Theorien und praxisorientierten Programmen, die sich solcher Konstrukte bedienen, beizutragen (für eine umfassende kritische Diskussion zu möglichen Begrenzungen der Aussagekraft neurodidaktischer Forschungsergebnisse für die Beantwortung von praktisch-relevanten Fragen sei auf die nachfolgenden Arbeiten verwiesen: Alferink & Farmer-Dougan, 2010; Schumacher, 2007; Stern et al., 2014).

Merke

Der neurodidaktische Forschungsprozess sollte in stärkerem Ausmaß als in der Erziehungswissenschaft und der Psychologie von der Überzeugung geleitet sein, dass ein umfassendes Verständnis von Lehr-/Lern-Prozessen und eine erfolgreiche Übertragung dieser Erkenntnisse in die Praxis nicht ausschließlich durch die Fokussierung auf eher abstrakte (makroskopische) Eigenschaften der Psyche (d. h. auf der Ebene von psychischen Leistungen bzw. Konstrukten) zu erlangen ist, sondern die neuronalen Korrelate kognitiver und affektiver Funktionen und die mit jeder Form des Lernens einhergehenden neuronalen Veränderungen im Gehirn von Lernenden in besonderem Maße zu beobachten und umfassend zu beschreiben sind. Diese Überzeugung sollte aber nicht dazu verleiten, die Neurodidaktik als Teildisziplin der Neurowissenschaften (im Sinne einer »Educational Neuroscience « oder eines » Brain-based Learning« bzw. » Brain-based Teaching«; z. B. Jensen, 2008; OECD, 2007) zu verstehen.

Einer breiten Auffassung folgend, sollte man die Neurodidaktik als gleichermaßen grundlagen-, wie anwendungs- und praxisorientierte Wissenschaft verstehen.

Neurodidaktik als grundlagenorientierte Wissenschaft

Als grundlagenorientierte Wissenschaft ist es Aufgabe der Neurodidaktik, mit Hilfe von systematisch angelegten und streng kontrollierten Experimenten das allgemeine Wissen zum Gegenstandsbereich »Lernen« zu systematisieren und zu erweitern – und zwar unabhängig von der Frage, ob sich aus diesem Wissen unmittelbare oder für die Zukunft denkbare Anwendungsmöglichkeiten für die Praxis von Erziehung, (Weiter-)Bildung und Sorge ableiten lassen. Der Mehrwert neurodidaktischer Grundlagenforschung besteht darin, das mikroskopische Wissen zu neurobiologischen Grundlagen des Lernens mit »klassischen« makroskopischen Theorien und Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft und der Psychologie zu verzahnen, um so auf eigenständige Weise Theorien, Theorieelemente und Hypothesen zu Gelingensbedingungen erfolgreichen Lehrens und Lernens ableiten und experimentell überprüfen zu können. Hierbei erlaubt die Kenntnis der neurobiologischen Grundlagen des Lernens die theoretische Formulierung von sehr präzisen Vorstellungen über erzieherische Handlungsmöglichkeiten (Scheunpflug, 2001, S. 10).

Neurodidaktik als anwendungsorientierte Wissenschaft

Als anwendungsorientierte Wissenschaft ist es Aufgabe der Neurodidaktik, die Ergebnisse aus eigener Grundlagenforschung mit den Ergebnissen aus neurowissenschaftlicher, erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Grundlagenforschung zu neuen integrativen Erklärungs- und Verstehensmodellen (sog. »Neurodidaktischen Modellen «; siehe dazu auch Friedrich, 2005, S. 240ff) zu verknüpfen. Dabei ist die Gültigkeit solcher Modelle in Praxisfeldern von Erziehung und Bildung (d. h. in der konkreten Erziehungs- und Bildungswirklichkeit) experimentell zu belegen.

Merke

Idealerweise erlauben neurodidaktische Modelle die Ableitung von allgemeinen Grundsätzen und praxisnahen spezifischen Hypothesen, wie Lernen zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten der Entwicklung sinnvoll unterstützt und gefördert werden kann. Dieser Anwendungsbezug neurodidaktischer Forschung ist bedeutsam, wenn den Modellen didaktische Relevanz für die Praxis von Erziehung, Bildung, Weiterbildung und Sorge zukommen soll (vgl. Friedrich, 2005, S. 22).

Neurodidaktik als praxisorientierte Wissenschaft

Die Neurodidaktik muss sich an ihrer Relevanz für Praxisfelder von Erziehung, (Weiter-)Bildung und Sorge bzw. der Relevanz für die Gesellschaft und das soziale Miteinander beurteilen lassen. Daher ist es als praxisorientierte Wissenschaft ihre Aufgabe, aus neurodidaktischen Modellen praxisnahe Lehr-/Lern-Konzepte und konkrete Interventionen und Handlungsempfehlungen abzuleiten (vgl. Böttger & Sambanis, 2016). Diese Konzepte, Interventionen und Empfehlungen sollten zur Optimierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen sowie zur lernförderlichen und lernergerechten Gestaltung von Lernumgebungen und Lernmaterialien beitragen und – im Sinne der Forderung nach Inklusion – keinen Menschen ausgrenzen (Ainscow et al., 2006; Hinz & Boban, 2009; Amrhein, 2011; Lütje-Klose & Löser, 2013; Sturm, 2013; Folta-Schoofs et al., 2017).

Entwicklung von Lerntechnologien

Da Lernen im Zeitalter der Digitalisierung zunehmend medienunterstützt erfolgt und die Bedeutung der Medien für schulische und außerschulische Lehr-/Lern-Prozesse weiter wächst (Gogolin et al., 2000), hat sich die praxisorientierte Neurodidaktik aktiv in die Entwicklung von mobilen und apparategestützten (z. B. Smartphone- oder Tablet-basierten) Lernapplikationen (z. B. Albrecht et al., 2013) einzubringen. Auch in Bereichen von Pflege bzw. Sorge können neurodidaktische Erkenntnisse die Entwicklung von assistierenden Kommunikationsinstrumenten sinnvoll unterstützen.

Evaluation und Wirksamkeitsstudien

Als praxisorientierte Wissenschaft ist es Aufgabe der Neurodidaktik, die Wirksamkeit der abgeleiteten Konzepte, Interventionen und Handlungsempfehlungen sowie den Nutzen von Lerntechnologien im konkreten Praxisfeld wissenschaftlich umfassend zu evaluieren (Friedrich, 2005). Dabei sollte eine größtmögliche Nähe zur konkreten Erziehungs- und Bildungswirklichkeit hergestellt werden.

Professionalisierung

Jenseits aller forschender Tätigkeit ist von einer praxisorientierten Neurodidaktik zu fordern, dass Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen nicht nur an den Hochschulen, sondern auch in außeruniversitären Vorträgen, Weiterbildungen und Workshops vermittelt werden, um auf diese Weise zur Professionalisierung von erzieherisch und pädagogisch Handelnden beizutragen. Nur auf diese Weise lässt sich ein tiefergehendes Verständnis und eine breite öffentliche Akzeptanz für die Umsetzung von Maßnahmen erzielen, die auf den ersten Blick der gewohnten Praxis von Erziehung und Unterrichtung zu widersprechen scheinen.

1.5       Methoden der Neurodidaktik

1.5.1     Kriterien zur Beurteilung wissenschaftlicher Methoden

In Abgrenzung zu ihren Nachbardisziplinen sollte sich die Neurodidaktik in besonderer Weise darum bemühen, jeden einseitigen (und in der Regel einschränkenden) Bezug auf spezifische Forschungstraditionen und Forschungsparadigmen zu vermeiden. Vielmehr sollte vor Beginn jeder Untersuchung kritisch geprüft werden, welche konkreten methodischen Verfahren bzw. welche Mixed-Methods-Ansätze (Teddlie & Tashakkori, 2006; Kuckartz, 2012; siehe dazu auch die kritischen Anmerkungen von Symonds & Gorard, 2010) den spezifischen Anforderungen einer geplanten neurodidaktischen Untersuchung und zur Beantwortung der jeweiligen Fragestellungen und Hypothesen dienlich sind. Zu den wesentlichen Kriterien, an denen sich die konkrete Auswahl und Beurteilung von wissenschaftlichen Methoden in der neurodidaktischen Forschung orientieren sollte, zählen die ethische Vertretbarkeit, Invasivität, Praktikabilität, Ökonomie sowie die zeitliche und räumliche Auflösung einer Methode.

Ethische Vertretbarkeit

Vor Beginn einer Untersuchung, insbesondere wenn diese mit und an Säuglingen, Kleinst- oder Kleinkindern oder Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung durchgeführt werden soll, sind Überlegungen zur Rechtfertigung und Notwendigkeit der geplanten wissenschaftlichen Fragestellung, zur Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der eingesetzten Methoden und zu den juristischen und organisatorischen Rahmenbedingungen (z. B. Datenschutz, Probandenaufklärung, Freiwilligkeit der Teilnahme, Zustimmung der Erziehungsberechtigten oder der gesetzlichen Betreuer) unerlässlich. Das geplante Untersuchungsvorgehen sollte vor Beginn gegenüber einer unabhängigen Ethikkommission, der im Regelfall Mitglieder von verschiedenen Fachdisziplinen einer Hochschule angehören, ausführlich dargestellt und begründet werden. Die Ethikkommission berät die Antragsteller in ihrem Forschungsvorhaben und bescheinigt, im Fall der Erfüllung aller Anforderungen, die rechtliche und ethische Unbedenklichkeit der geplanten wissenschaftlichen Studie. Im Fall von ethisch bedenklichen Aspekten kann die Ethikkommission auch Vorschläge unterbreiten, durch welche Maßnahmen die Ziele der Studie in rechtlich und ethisch unbedenklicher Weise erreicht werden können. Ethikkommissionen finden sich an Universitäten und Universitätskliniken sowie bei den großen Fach- und Berufsverbänden (z. B. der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, DGPs).

Invasivität

Der Begriff »invasiv« wird zur Beschreibung von Untersuchungsmethoden verwendet, die in die Integrität und Unversehrtheit des Körpers eingreifen. Insbesondere in den Anfängen der Medizin wurde aufgrund von fehlenden technischen Möglichkeiten vielfach auf maximal-invasive Studien an geöffneten Schädeln lebender Patienten zurückgegriffen (Böttger, 2016). Zu den weniger invasiven Studien an Menschen zählen beispielsweise die Methode der Computertomographie (CT; eine auf Röntgenstrahlen basierende Methode zur anatomischen Hirnbildgebung), die Injektion einer radioaktiv markierten Substanz im Rahmen der Positronen-Emissions-Tomographie (PET; eine auf radioaktiven Zerfallsprozessen beruhende Methode der funktionalen Hirnbildgebung) oder auch die pharmazeutische Gabe eines Wirkstoffes (z. B. die orale Verabreichung von Hydrocortison-Tabletten zur Simulierung von physiologischen Stresszuständen).

Praktikabilität

Die Praktikabilität einer Methode wird in der Regel durch die Probandenstichprobe und durch Begrenzungen des Untersuchungskontextes bestimmt. Beispielsweise wäre es nur unter größtem Aufwand denkbar, ein hyperaktives Kind in einer Apparatur zur Hirnbildgebung (umgangssprachlich »Hirnscanner« genannt) zu testen, in dem von dem Kind über einen Zeitraum von 20 bis 30 Minuten absolute körperliche Ruhe und Unbeweglichkeit gefordert werden, damit wissenschaftlich auswertbare Bilder des Gehirns entstehen können.

Ökonomie

Neben der Praktikabilität bestimmen ökonomische Gesichtspunkte (d. h. der Aufwand an Mühe, Zeit, Geld und Personal) die Entscheidung für oder gegen die Verwendung einer bestimmten Methode. Vor Beginn einer neurodidaktischen Studie sollte man den zeitlichen Aufwand und die zu erwartenden personellen Kosten (z. B. für wissenschaftliche und technische Mitarbeiter oder Hilfskräfte), betriebstechnischen Kosten (z. B. für Strom oder Kühlmittel) und sonstigen Kosten (z. B. für Verbrauchsstoffe, Fragebögen, Lizenzen oder Probandengelder) kritisch gegenüber dem zu erwartenden wissenschaftlichen Nutzen abwägen.

Räumliche und zeitliche Auflösung einer Methode

Unter räumlicher und zeitlicher Auflösung einer Methode versteht man die Messgenauigkeit, mit der neuronale Strukturen und Prozesse dargestellt werden können. Vor Beginn einer neurodidaktischen Untersuchung ist es notwendig, sich zu überlegen, welche räumliche und zeitliche Auflösung einer Methode für die Beantwortung einer konkreten wissenschaftlichen Fragestellung erforderlich ist.

Räumliche Auflösung

Die räumliche Auflösung bezeichnet die Fähigkeit einer Methode, räumliche Zusammenhänge darzustellen. Beispielsweise können hirnbildgebende Verfahren, wie sie in einem Krankenhaus zur Diagnose von Gehirntumoren eingesetzt werden, aufgrund ihrer räumlichen Auflösungsgrenze einen Tumor erst darstellen, wenn dieser mindestens eine Größe von zwei bis vier Millimetern aufweist! Ein negativer Befund einer Messung im Hirnscanner bedeutet demnach nicht, dass das Gehirn eines Patienten gesund ist.

Abb. 1.1: Schülerin an einem stationären 1250 Hz Eye-Tracker.

Zeitliche Auflösung

1.5.2     Laborexperimentelle Forschung und Feldforschung

Für ihre Forschung stehen der Neurodidaktik eine Reihe von Methoden aus den Nachbardisziplinen der Neurowissenschaften und der experimentellen Psychologie zur Verfügung, die in der Regel zu den quantitativen Forschungs- und Datenanalysemethoden gerechnet werden. Quantitative Forschungs- und Datenanalysemethoden orientieren sich an repräsentativen Probandenstichproben. Sie erfassen quantifizierbare (d. h. in Zahlen ausdrückbare) Daten in systematischer und zwischen einzelnen Probanden vergleichbarer (d. h. standardisierter) Weise. Dadurch können die Ergebnisse einer solchen Messung im Anschluss an die Datenerhebung einer umfassenden statistischen Auswertung zugänglich gemacht werden. Die persönliche Distanz zwischen dem Untersucher und seinen Probanden hat bei Verwendung von quantitativen Methoden grundsätzlich gewahrt zu bleiben. Dies ist erforderlich, da die persönliche Nähe die Gefahr für potenzielle Störeinflüsse erhöht, die durch das Verhalten des Untersuchers in die Untersuchungssituation eingebracht werden könnten (z. B. indem Untersucher große Begeisterung für die eigene Forschung ausstrahlen).

Laborexperimentelle Forschung

Den Klassiker unter den quantitativen Forschungsmethoden stellt die experimentelle Laborstudie (randomized controlled trial, RCT; vereinfacht auch Laborexperiment genannt) dar. In einem Laborexperiment wird eine Untersuchungsbedingung (die sog. unabhängige Variable oder UV) systematisch erzeugt sowie variiert und der Effekt dieser Variation auf eine abhängige Variable (auch AV genannt) beobachtet, während alle übrigen systematisch oder unsystematisch am Geschehen beteiligten Einflussfaktoren (sog. moderierende Variablen oder Störvariablen) ausgeschaltet (eliminiert), konstant gehalten oder in anderer Form, beispielsweise durch Randomisierung oder Parallelisierung von Probanden, kontrolliert werden. Randomisierung bedeutet dabei, dass die zu untersuchenden Probanden zufällig auf die systematisch herzustellenden Untersuchungsbedingungen (Variationen der UV, z. B. die Zuteilung zu einer Experimental- und Kontrollgruppe) verteilt werden. Parallelisierung meint, dass Probanden hinsichtlich wesentlicher Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht, Händigkeit oder Bildungsgrad) vergleichbar auf unterschiedliche Untersuchungsgruppen aufgeteilt werden, so dass sich die Untersuchungsgruppen in diesen Merkmalen nicht mehr voneinander unterscheiden.

Die hohe Standardisierung und Kontrolle über die Untersuchungssituation ermöglicht in Laborexperimenten, wie sie für eine grundlagenorientierte Neurodidaktik typisch sind, dass eine beobachtbare Veränderung der AV als kausale Folge der experimentellen Variation (bzw. Manipulation) der UV interpretiert werden kann. Daher werden experimentelle Laborstudien zu den kausalen quantitativen Forschungsmethoden gezählt, die eine hohe interne Validität (d. h. Präzision der Bedingungskontrolle) aufweisen und als methodisches Ideal der empirischen Kausalforschung (als »Königsweg zur Erkenntnis«) gelten.

Feldforschung

Natürliche Lernumwelten und Lernbedingungen lassen sich in laborexperimentellen Untersuchungen, wie sie für eine grundlagenorientierte Neurodidaktik typisch sind, nicht hinreichend genug simulieren. Daher bedient sich eine anwendungs- und praxisorientierte Neurodidaktik der verschiedenen Methoden der Feldforschung, in deren Rahmen Feldexperimente oder Feldstudien durchgeführt werden können. Mit dem Präfix » Feld« wird, im Gegensatz zu der Umgebung eines universitären Forschungslabors oder eines radiologischen Untersuchungsraumes einer Klinik, eine Umwelt bezeichnet, in der das Erleben und Verhalten eines Menschen unter natürlichen (d. h. lebenswirklichen oder zumindest lebensnahen) Bedingungen beobachtet werden kann (Lewin, 1946, 1948, 1953). Bereits im vergangenen Jahrhundert propagierte Kurt Tsadek Lewin(1890–1947) den Einsatz von Methoden der Feldforschung zur Beantwortung von praxisnahen psychologischen Fragestellungen und Hypothesen. Frustriert von einer ausschließlich auf die experimentelle Grundlagenforschung ausgerichteten Sozialpsychologie, begründete er in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Handlungs- und Aktionsforschung (engl.: action research; Lewin, 1946, 1948, 1953), deren Hypothesen praxisnah formuliert und deren Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Verantwortung für die Lösung von gesellschaftlichen Problemfeldern gerecht werden sollten (Haag et al., 1972; Ulrich, 1980, Schusser, 1981). Ansätze der Handlungs- und Aktionsforschung verstehen das Wirken im Feld als gemeinsamen Lern- und Veränderungsprozess, dem bereits ein eigener Wert beizumessen ist. Dieser Ansatz, der in der heutigen Psychologie kaum noch Beachtung erfährt, erscheint für eine anwendungs- und praxisorientierte Neurodidaktik, die ihre Forschung auf konkrete Veränderungen in der Praxis ausrichtet, durchaus vielversprechend.

Feldexperimente

Feldexperimente übertragen die Logik des grundlagenwissenschaftlichen Laborexperiments auf natürliche Situationen. Dies erfordert vom Untersucher, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um auch im Feld eine höchstmögliche Standardisierung, systematische Bedingungsvariation und Kontrolle über die Untersuchungssituation und den Ablauf der Untersuchung (d. h. eine möglichst hohe interne Validität der Untersuchung) zu gewährleisten. Da sich Untersuchungs- und Randbedingungen sowie Störvariablen in anwendungsnahen Untersuchungskontexten nie umfassend kontrollieren lassen, zeichnen sich die Ergebnisse eines Feldexperiments (im Vergleich zu einem Laborexperiment) durch eine vergleichsweise geringe interne Validität aus. Daher eignen sich Feldexperimente besonders für anwendungsorientierte neurodidaktische Untersuchungen, in denen Ergebnisse, die zuvor in Laborexperimenten (d. h. unter Bedingungen hoher interner Validität) erhoben wurden, in einem nächsten Schritt unter realitätsnahen Bedingungen repliziert werden sollen, um auf diese Weise die externe Validität (d. h. Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf Situationen außerhalb der konkreten Untersuchungssituation) zu erhöhen.

Feldstudien

Feldstudien erlauben es im Rahmen der praxisorientierten Neurodidaktik, die für reale Umwelten charakteristischen Vorgänge und Gegebenheiten umfassend zu beobachten und zu beschreiben. Im Gegensatz zu Feldexperimenten nimmt der Untersucher unmittelbar am Untersuchungsgeschehen teil und bindet die im Feld befindlichen Akteure aktiv in den Forschungsprozess ein, um auf diese Weise die Akzeptanz für neue Lehr-Lern-Praktiken zu erhöhen.

1.5.3     Somatische Interventionen und Verhaltensinterventionen

Somatische Interventionen

Somatische Interventionen stellen eine besondere Form von Laborexperimenten dar. Sie untersuchen kausale (Ursache-Wirkungs-)Beziehungen zwischen der experimentellen Variation bzw. Manipulation von einer oder mehreren somatischen (bzw. physiologischen) Variablen (beispielsweise Veränderungen in der Konzentration von Sexualhormonen im Verlauf des natürlichen weiblichen Zyklus) und den Effekten dieser Variation bzw. Manipulation auf eine oder mehrere Verhaltensvariablen (beispielsweise auf die visuell-räumliche Wahrnehmungsleistung oder die Leistung in einer Gedächtnisaufgabe). Zur Verhaltensmessung kommen häufig psychophysische Methoden zum Einsatz. Dazu zählen die computergestützte Messung von Reaktionszeiten oder die Erfassung der Häufigkeiten von korrekten oder falschen Antworten. Im Wahrnehmungsbereich können auch Signalentdeckungs- bzw. Detektionsschwellen (die Reizintensität, mit der ein Reiz gerade noch wahrgenommen werden kann) oder auch sensorische Diskriminationsschwellen (Differenz der Reizintensität, die gerade noch ausreicht, um zwei Reize überzufällig voneinander zu unterscheiden) gemessen werden.

Verhaltensinterventionen

Neben somatischen Interventionen stellen Verhaltensinterventionen eine weitere Form von Laborexperimenten dar. Sie untersuchen kausale Effekte der Variation von einer oder von mehreren Verhaltensvariablen (beispielsweise die Durchführung eines computergestützten Lern- und Gedächtnistrainings) auf die Veränderung von somatischen (bzw. physiologischen) Variablen (beispielsweise die Größe eines Hirnareals, die neuronale Aktivität von Nervenzellen oder die Konzentration von Stresshormonen im Speichel). Zur Messung von somatischen Variablen kommen in der Regel psychophysiologische Verfahren zum Einsatz, darunter Untersuchungen der Augenbewegungs- und Pupillencharakteristik (Abb. 1.1), elektrokardiographische Untersuchungen sowie Hautleitwiderstands-, Atem-, Temperatur- oder Puls-Messungen.

1.5.4         Korrelative Methoden

Neben somatischen Interventionen und Verhaltensinterventionen stellen korrelative Methoden eine weitere bedeutende Säule der neurodidaktischen Forschung dar. Korrelative Methoden werden eingesetzt, um einen vermuteten (häufig linearen) Zusammenhang (Korrelation) zwischen Variationen einer Variablen (z. B. dem Ausprägungsgrad eines Verhaltens) mit Variationen einer anderen Variablen (z. B. der Intensität eines physiologischen Prozesses) zu untersuchen. Da die Richtung des zu untersuchenden Zusammenhangs in der Regel unbekannt oder experimentell nicht hinreichend genug begründet ist, erlauben korrelative Untersuchungen keine klare Trennung von AV und UV. Zudem können Korrelationen nichts über die Richtung des Zusammenhangs bzw. die konkrete Verursachung aussagen (erlauben somit keine kausalen Ursache-Wirkungs-Aussagen). Im Rahmen von grundlagenorientierten neurodidaktischen Untersuchungen kommen typischerweise korrelative Methoden zum Einsatz, die den Zusammenhang zwischen Verhaltensvariablen und neurophysiologischen Prozessen beleuchten. Zu solchen funktional korrelativen Methoden zählen elektrophysiologische und funktional hirnbildgebende Methoden.

Abb. 1.2: Schülerin mit EEG-Haube und Aktivelektroden.

Elektroencephalographie bzw. Elektroencephalogramm (EEG)

Das EEG (Abb. 1.2) stellt eine nicht-invasive elektrophysiologische Methode dar. Kognitive und affektive Prozesse führen im Gehirn von Menschen zu charakteristischen elektrischen Aktivitätsmustern (Spannungsschwankungen) von mehreren tausenden von Nervenzellen (sog. Pyramidenzellen), die sich im unmittelbar unterhalb der Schädeldecke liegenden Hirngewebe (der so genannten Großhirnrinde, die das Innere des Gehirns wie einen Mantel umgibt) verortet befinden. Diese mit mentalen Prozessen einhergehenden elektrischen Massenpotenziale (Summenpotenziale) der Nervenzellen (deren Amplituden sich im Mikrovolt-Bereich bewegen) kann ein EEG mit einer geeigneten Verstärkung selbst durch den Schädelknochen und die Kopfhaut hindurch sehr zeitgenau (im Millisekundenbereich) registrieren (Pinel, 1997, S. 114).

Messvorbereitung

Für eine EEG-Messung werden eine Anzahl von Mess-Elektroden (in der Regel zwischen 21 und 256 Elektroden) an standardisierten Stellen der Kopfhaut aufgebracht (Birbaumer & Schmidt, 2006). Die korrekten Elektrodenpositionen sind hierbei durch spezielle Elektroden-Steckplätze (Adapter), die an den passenden Stellen in einer Elektrodenkappe (eine Art »Badekappe«, die der Kopfgröße der Probanden entspricht) eingefasst sind, vormontiert. Die Elektrodenkappe muss von vorne (anterior) nach hinten (posterior) so ausgerichtet werden, dass sich die mittlere Elektrodenposition (die Cz-Position) genau in der Mitte einer imaginären vertikalen Linie befindet, deren Endpunkte das obere Ende des Nasenrückens (den sog. Nasion) sowie eine fühlbare Einsenkung des Schädelknochens am Hinterkopf (den sog. Inion) bilden. Zudem muss die Kappe seitlich (lateral) so ausgerichtet werden, dass sich die mittlere Elektrodenposition genau in der Mitte einer imaginären horizontalen Linie befindet, die vom linken bis zum rechten Ohrläppchen verläuft. Nach der korrekten Ausrichtung der Elektrodenkappe ist sichergestellt, dass sich die Elektrodenadapter an den korrekten Stellen der Schädeloberfläche befinden. Um mit den EEG-Messungen beginnen zu können, muss nur noch eine Referenzelektrode an einer Stelle des Kopfes angebracht werden, die möglichst nicht durch aufgabenbezogene Hirnaktivität beeinflusst wird (z. B. auf der Nasenspitze, am Ohrläppchen oder auf der Kopfhaut über dem Mastoidknochen, der sich hinter der Ohrmuschel befindet). Mit Hilfe der EEG-Registrierelektroden kann die elektrische Aktivität in bestimmten Bereichen der Großhirnrinde (relativ zur Referenzelektrode) mit sehr hoher zeitlicher Auflösung (typischerweise zwischen 250 bis 1000 Hz) registriert werden. Dazu ist es notwendig, den elektrischen Widerstand (die Impedanz), der zwischen dem neuronalen Entstehungsort der elektrischen Massenpotenziale und der leitenden Unterseite der auf der Kopfhaut aufliegenden Elektrode besteht, mit Hilfe eines elektrisch leitenden Gels (eines Elektrolytgels) auf einen Wert von unter 5 Kilo-Ohm (kΩ) zu verringern.

Spontan-EEG

In einem kontinuierlich registrierten EEG (sog. Spontan-EEG bzw. Ruhe-EEG) lassen sich elektrische Spannungsverläufe (sinusoidale Amplituden- und Frequenzveränderungen) in der Zeit darstellen. Diese Amplituden- und Frequenzveränderungen spiegeln die »Grundaktivierung« der Nervenzellen wider. Sie lassen sich im Spontan-EEG »online« (d. h. parallel zur Datenaufnahme) verfolgen und anhand ihres charakteristischen Schwingungs- bzw. Frequenzbereichs häufig schon mit dem bloßen Auge voneinander unterscheiden und abgrenzen. Typischerweise gehen hohe Spannungsamplituden mit geringen Frequenzen und niedrige Amplituden mit hohen Frequenzen bioelektrischer Hirnaktivität einher.

Die für ein Spontan-EEG typischen Frequenzbänder, die mit bestimmten psychischen Zuständen assoziiert werden können (z. B. Wachheit, kognitive Anstrengung, Müdigkeit, Annäherungs- oder Vermeidungsmotivation), wurden von dem Entwickler der Elektroencephalographie, dem Neurologen Hans Berger(1873–1941), als Delta-, Theta-, Alpha-, Beta- und Gammawellen beschrieben (Berger, 1929).

Typische Frequenzbänder im Spontan-EEG

Deltawellen: ca. 1 bis 4 Hz. Deltawellen lassen sich bei gesunden Erwachsenen nur während der Phase des Tiefschlafs (Slow-Wave-Sleep, SWS) beobachten. Bei Kindern treten sie aber auch im Wachzustand auf. Bei Erwachsenen kann das Auftreten von Deltawellen im Wachzustand auf eine Hirnschädigung hinweisen.

Thetawellen: ca. 4 bis 7 Hz. Thetawellen sind gehäuft im Kleinkindalter zu beobachten und nehmen bis zum Jugendalter ab. Bei Erwachsenen lassen sie sich vorwiegend in der Phase des Übergangs zum Einschlafen beobachten.

Alphawellen: ca. 8 bis 13 Hz. Alphawellen stellen den Grundrhythmus eines ruhenden Gehirns im entspannten Wachzustand dar und lassen sich besonders deutlich bei geschlossenen Augen beobachten.

Betawellen: ca. 13 bis 30 Hz. Betawellen treten unter der Einwirkung von Sinnesreizen sowie bei mentaler, emotionaler oder körperlicher Aktivität (bzw. geistiger Beanspruchung) auf.

Gammawellen: > 30 Hz. Gammawellen sind bei sehr anspruchsvollen kognitiven Tätigkeiten zu beobachten, die eine besonders fokussierte (bzw. konzentrierte) Aufmerksamkeit erfordern.

Ereigniskorrelierte Potenziale

Merke

Kontinuierliche EEG-Untersuchungen (Spontan-EEG) und ereignisbezogene EEG-Messungen (EKP-Messungen) stellen in der neurodidaktischen Grundlagenforschung eine sehr sinnvolle Ergänzung zur Messung von somatischen Variablen oder Verhaltensvariablen dar und ermöglichen einen Einblick in neuronale Prozesse, die sich einem externen Beobachter nicht unmittelbar durch Verhaltensbeobachtung erschließen.

Ethische Vertretbarkeit, Invasivität und Praktikabilität

Bei der Elektroencephalographie handelt es sich um eine nicht-invasive Registriermethode, die selbst bei Neugeborenen, Kleinst- und Kleinkindern eine gesundheitlich unbedenkliche Messung der neuronalen Hirnaktivität ermöglicht. Zudem weist diese Methode, insbesondere bei Verwendung von Aktivelektroden, eine hohe Praktikabilität auf. Im Gegensatz zu den traditionellen Passivelektroden verfügt die neue Elektrodengeneration (sog. Aktivelektroden, Abb. 1.2) über eine in die Elektrode eingefasste elektronische Hardware, mit deren Hilfe auch Elektrodenwiderstände von unter 20 kΩ zu reliablen Messungen führen. Durch die Verwendung der anwendungsfreundlichen (leider auch kostspieligen) Aktivelektroden reduziert sich der zeitliche Aufwand einer Messvorbereitung (zur Reduktion von Elektrodenwiderständen) von ca. 30 Minuten (bei Verwendung von Passivelektrodensystemen mit 32 Elektroden) auf ca. 15 Minuten (bei Verwendung eines Aktivelektrodensystems mit einer vergleichbaren Anzahl von Elektroden). Aus diesem Grund empfehlen wir für Anwendungen im Feld der grundlagenorientierten Neurodidaktik aus Praktikabilitätsgründen immer die Verwendung von Aktivelektroden – insbesondere wenn EEG-Untersuchungen an Kindern geplant sind.

Ökonomie

Die Beschaffung eines modernen (und den deutschen DIN- und Medizingerätestandards entsprechenden) EEG-Systems, das kontinuierliche und ereignisbezogene Messungen erlaubt, verursacht Anschaffungskosten zwischen 20.000 und 50.000 Euro. Damit ist das EEG eine vergleichsweise ökonomische Methode, wozu auch die geringen Unterhalts- und Betriebskosten beitragen. Diese Ökonomie der Methode ermöglicht auch bei begrenzten experimentellen Budgets (wie sie im Feld der Neurodidaktik eher üblich sind) eine sehr kostengünstige Messung von größeren Probandenstichproben.

Zeitliche und räumliche Auflösung

EEG-Messungen weisen eine sehr gute zeitliche Auflösung im Millisekundenbereich auf. Jedoch registrieren EEG-Elektroden nicht die Aktivität einzelner Nervenzellen, sondern von ganzen Zellverbänden (Neuronenclustern), deren elektrische Felder als Summenpotenziale von der Oberfläche der Kopfhaut registriert werden. Zudem können diese Massenpotenziale aus technischen Gründen nur von Hirnrindenbereichen erfasst werden, die parallel zur Oberfläche des Schädelknochens verlaufen. Daher ist es selbst unter Verwendung von zusätzlichen