Neuronengewitter - Ursula Frühe - E-Book

Neuronengewitter E-Book

Ursula Frühe

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Beschreibung

ADHS wird oft als Zappelphilipp-Syndrom oder Modekrankheit bezeichnet und damit verharmlost. Wie belastend und nervenraubend es ist, ein oder mehrere Kinder mit ADHS zu erziehen, weiß Ursula Frühe aus ihrem Alltag mit zwei betroffenen Söhnen, der sie an ihre eigene Belastungsgrenze gebracht hat. Erfrischend direkt berichtet Ursula Frühe von Pulverfässern auf zwei Beinen, dem täglichen Kampf um die Hausaufgaben und von Feierabenden, die den Namen nicht verdienen. Und räumt mit gesellschaftlichen Vorurteilen und Schuldzuweisungen, die betroffenen Familien zusätzlich zu schaffen machen, auf. Trotz aller Verzweiflung, die mit ADHS einhergeht, steht am Ende die Botschaft, dass es Hilfe gibt: für die betroffenen Kinder, aber genauso für die gesamte Familie.

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Seitenzahl: 365

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Ursula Frühe

Neuronengewitter

Mein Kind, seine ADHS und was uns gerettet hat

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Höchst verschieden

Einleitung: Warum es noch ein Buch über ADHS braucht

Kapitel 1: Geburt

Kapitel 2: Schuld

Kapitel 3: Schule

Kapitel 4: Ritalin und Co.

Kapitel 5: Multimodale Therapie

Kapitel 6: Bewegung

Kapitel 7: Gegenanzeigen

Kapitel 8: Pubertät

Kapitel 9: Erwachsenwerden

Kapitel 10: Endstation?

Kapitel 11: Wendepunkt

Kapitel 12: Zukunft

Ein guter Abgang ziert die Übung, deshalb steht am Schluss das Wichtigste:

Anhang

ÜBER DIE AUTORIN

ÜBER DAS BUCH

IMPRESSUM

HINWEISE DES VERLAGS

I believe the children are our future Teach them well and let them lead the way Show them all the beauty they possess inside Give them a sense of pride to make it easier Let the children’s laughter remind us how we used to be

Aus: »Greatest Love of All«, Titelsong der Filmbiografie über Muhammad Ali1

Für meine Jungs

Vorwort

von Prof. Dr. Andreas Reif

An kaum einer Erkrankung scheiden sich so sehr die Geister wie an ADHS. Jeder weiß etwas zu sagen, sei es die Schwester des Bankberaters, der Schwimmlehrer oder die zufällige Bekanntschaft im ICE, Sitz 83 in Wagen 21. Und jeder hat eine andere Meinung dazu: »Modeerkrankung«, »kommt alles vom Internet«, »muss mal raus auf die Wiese«, »Erfindung der Pharmamafia«, »muss man Neurofeedback machen, half der Schwester der Freundin meiner Nichte ganz toll«… und vieles andere mehr. Diese Deutungshoheit über die Erkrankung erleben Eltern von betroffenen Kindern und selbst betroffene Erwachsene andauernd. Aber nicht nur diese – auch als Experte, als Arzt, der tagtäglich mit ADHS-lern (mir sei der flapsige Ausdruck gestattet – vielen Betroffenen ist er lieber als das sperrige »an ADHS leidende Patienten«) zu tun hat, darf man sich andauernd mit Urteilen, Vorurteilen und Aburteilungen herumschlagen. Meiner Freundin Daniela geht das nicht so. Sie ist ihres Zeichens Strahlentherapeutin in der Onkologie, hantiert mit gigantisch großen und teuren Strahlenkanonen herum, mit denen sie auf diverse Tumoren zielt. In den seltensten Fällen muss sie über die angemessenen Strahlendosen diskutieren oder über das richtige Bestrahlungsfeld. Und wenn, dann entweder mit sehr seltsamen Menschen oder Atomphysikern.

Woher kommt das? Daniela hat genau wie ich Medizin studiert und dann eine Facharztausbildung absolviert, so wie ich fünf Jahre lang. An der Ausbildung kann es also nicht liegen. Das hat schon mit den Erkrankungen zu tun, die wir behandeln. Krebserkrankungen gelten als »richtige« Erkrankungen, für die man nichts kann (Ausnahme: Lungenkrebs, weil: Raucherkrankheit!) und den betroffenen Patienten gehört unser ganzes Mitleid; der große, selbst an einem Hirntumor leidende Wolfgang Herrndorf hat nicht zuletzt deshalb Krebs als »Mercedes der Krankheiten« bezeichnet. Außerdem hat man ein klares, medizinisches Krankheitsmodell vor Augen: genetisches Risiko, Mutation der DNA aus unterschiedlichen Gründen, Zelle teilt sich unkontrolliert etc. Ganz linear, ganz kausal, sodass auch die medizinischen Interventionen diesem linearen und kausalen medizinischen Modell folgen (und entsprechend groß ist auch die Forschungsförderung). Psychische Erkrankungen, grosso modo, werden anders bewertet und betrachtet. Jeder hat Gefühle und Gedanken und eine entsprechende Innensicht; diese Innensicht, übertragen auf andere, erklärt für viele vermeintlich das Entstehen und den Verlauf psychischer Krankheiten. Man interpretiert, deutet hinein, deutet aus, und schafft somit auf Anhieb stimmige Erklärungsmodelle. Aha, die Arbeit verloren, gleichzeitig Schulden und Stress mit der Frau wegen des Hausbaus? Kein Wunder, dass eine Depression besteht, oder gar Suizidalität. Als Kind immer wieder vom Vater vorm bösen Nachbarn gewarnt worden? Natürlich entsteht daraus eine soziale Phobie. Die Mutter ein gefühlloses, kaltes Biest, das sich nur um ihr Aussehen sorgt? Da ist es doch folgerichtig, dass die Tochter an Autismus leidet.

Nur: Solche Erklärungen tragen nicht, denn immer finden sich Gegenbeispiele und immer sind andere Erzählungen denkbar. Ein-sicht ins Ich kann für den Einzelnen hilfreich sein, keine Frage, aber sie erklärt nicht im wissenschaftlichen Sinne das Entstehen einer Erkrankung. Hier müssen wir schon genauer hinsehen, uns mehr Mühe geben: Umwelt und Biologie interagieren, und oft ganz anders, als man sich das ganz naiv vorstellt. Das gilt für Psychosen und Depressionen und ganz besonders für ADHS. Da die Erkrankung früh beginnt und da sie Symptome aufweist, die wohl jeder kennt (wer war mal nicht unaufmerksam beim Gottesdienst? Wer hat als Kind nicht mal Erwachsene unterbrochen, wenn man dringend etwas loswerden wollte?), werden unmittelbar von vielen Erziehung und Umwelt in der Entstehung der Erkrankung überbewertet – Stichworte Erziehungsversagen, Mediennutzung, moderne Umwelt – und als Lösung Dinge angeboten wie drei Wochen Urlaub auf der Alm. Nur: Der moderne Mensch wohnt halt nicht auf der Alm und verbringt sein Leben in der Regel nicht damit, mit den Ziegen auf der Wiese umherzutollen. Nicht die moderne Umwelt macht krank, aber in der modernen Umwelt haben es ADHS’ler viel, viel schwerer.

Das war nicht immer so. Vor der Sesshaftwerdung des Menschen, also vor ca. zehn- bis zwanzigtausend Jahren, waren ADHS-Verhaltensweisen durchaus gefragt im menschlichen Verhaltensrepertoire. Schnell Risiken einzugehen, sich nicht mit vermeintlich Langweiligem abzugeben, instinktiv zu handeln: Das konnte unseren Altvorderen unter Umständen das Überleben sichern. So sind unsere Vorfahren mehrfach erstaunlichste Wege gegangen in Zeiten der Not. Um es vielleicht ein wenig drastisch und überspitzt auszudrücken: Unsere ADHS-Vorfahren haben der Menschheit die Existenz gerettet. Mit Beginn der Landwirtschaft und damit einhergehender langfristiger Planung war Impulsivität aber dann nicht mehr en vogue; gefragt waren vielmehr Ausdauer, Beharrung, Belohnungsaufschub – auf die nächste Ernte, den nächsten Herbst. Und so gerieten die ADHS-Gene unter negativen evolutionären Druck, nahmen in der Frequenz ab, sind aber eben immer noch da. In jedem von uns, in unterschiedlichem Ausmaß.

Und heute? Auf der einen Seite ist konzentriertes Arbeiten, Fokussierung, langes Hinarbeiten auf ein Ziel (durch weiterführende Schule, Studium usw.) unerlässlich, um ein »erfolgreiches Leben« zu führen. Und genau das fällt dem ADHS’ler schwer. Auf der Wiese herumspringen und die Katze ärgern? Wunderbar. Doppelstunde Latein? Schwierig. Aber es ist eben nicht so, dass die Doppelstunde Latein die ADHS verursacht, sondern sie macht es dem ADHS’ler halt einfach schwer. Auf der anderen Seite ist das moderne Leben voller Verlockungen für den ADHS’ler, da sofortige und schnelle Belohnung geboten wird: Likes auf Social Media, der nächste Level beim Zocken, prozessierte Fertignahrung … die Liste ist lang. Man rekapituliere: Der arme ADHS’ler kommt mit einer Genetik auf die Welt, die vor 15000 Jahren prima war, aber in der heutigen Welt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ins Desaster führt. Unsere heutige Welt macht es dieser Biologie wahnsinnig schwer, gut zurechtzukommen; die Patienten müssen dauernd gegen eine Umwelt ankämpfen, für die sie eigentlich nicht gemacht sind. Das ist ziemlich anstrengend, für die Betroffenen und gerade auch die Eltern – die ja wissen, wie man es eigentlich machen müsste, allein, das in das Kind reinzubekommen, das fällt schwer. Nicht weil es nicht will, sondern weil es nicht kann.

Und nun kommt Lieschen Müller oder Otto Meier (und der eine oder andere selbst ernannte »Neurowissenschaftler«, der aber noch nie einen Patienten gesehen hat) daher und salbadert, dass alles Schuld der Eltern und der Gesellschaft sei, man müsse sich mal zusammenreißen, solle sich nicht so anstellen, und so weiter und so fort. Das hilft nun überhaupt nicht weiter, im Gegenteil: Schuldgefühle bei Eltern und Kindern, Scham, Minderwertigkeitsgefühle. Um nur einige der negativen Folgen zu nennen. Geholfen wird damit niemandem.

Was müsste denn aber geschehen? Zum einen die richtige Einordnung von ADHS, dessen Ursachen und dessen Therapie, in der Breite – von der Schule bis ins Feuilleton. Auch Krebs war vor 50 Jahren eine stigmatisierte Erkrankung; das hat sich glücklicherweise durch viele Aufklärungskampagnen geändert und genau das muss auch bei psychischen Erkrankungen passieren. Auf der anderen Seite braucht es das menschliche Verständnis, warum sich ADHS’ler so verhalten, wie sie es tun, und wie man mit ihnen umgeht – und was es heißt, ein Kind (oder gar mehrere) mit ADHS großzuziehen. Und zu diesem Verständnis trägt dieses Buch in ganz großartiger Weise bei. Es zeigt die anstrengenden und die lustigen und die manchmal kuriosen und oft fordernden Seiten eines Lebens mit ADHS bzw. eines Lebens mit einem ADHS’ler; es gibt Einblick in die Innenwelt einer besorgten Mutter und zeigt, wie es ist, wenn man all die Bälle in der Luft halten muss, die einem das Elternsein im Allgemeinen und die ADHS im Besonderen so zuspielt. Ich glaube, jeder, der dieses Buch gelesen hat, versteht ADHS und das Leben mit ADHS-Kindern besser und auch, dass diese Erkrankung kein Ergebnis schlechter Erziehung oder mangelnder elterlicher Anstrengung ist; sondern vielmehr, dass Elternsein mit ADHS-Kindern viel mehr Kraft kostet und viel komplizierter ist als das Großziehen eines »Mappenmädchens« (ein schöner Begriff, dem ich in diesem Buch zum ersten Mal über den Weg gelaufen bin).

Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser dieses Buches also mitnehmen, dass ADHS niemandes Schuld ist; dass ADHS sowohl den Betroffenen als auch den Bezugspersonen (Eltern, später im Leben Partnerinnen und Partnern) gerade in der modernen Welt das Leben schwerer machen, als es sowieso schon ist; dass man aber durchaus etwas »gegen ADHS« machen kann; vor allem aber auch, dass ADHS’ler sehr oft sehr bereichernde, charmante, lustige Menschen sind, die unser aller Leben interessanter machen. Ohne sie wären wir vielleicht sogar längst ausgestorben, mit Sicherheit aber wäre unser Leben viel ärmer ohne sie.

Andreas Reif, Frankfurt am Main

Höchst verschieden

Zwei meiner drei Jungs haben ADHS. Und zwar vom Typ „Wildfang“, also mit ausgeprägten Merkmalen der Hyperaktivität sowie Impulsivität ausgestattet, sodass der verträumte Typ ohne das »H« (ADS) in diesem Buch wenig Erwähnung findet. Ich habe »nur« Söhne und kann demzufolge nichts von den Fallstricken aus dem Leben mit AD(H)S-Töchtern berichten. Einige Dinge werden sich aber sicher überschneiden.

Jeder Mensch hat das Recht, individuell gesehen zu werden. Nichts ist übertragbar, alles ist einzigartig wie der digitale Fingerabdruck im neuen Reisepass. Jeder Mensch mit ADHS hat zudem Chamäleon-Qualitäten mit einem bunten Spektrum wechselnder Farben. Neben den zur Diagnose gehörenden Kriterien wie Unaufmerksamkeit, Hyper- oder Hypoaktivität und Impulsivität kursieren viele Attribute, die Menschen mit ADHS gemeinhin angeheftet werden: »ADHS-ler« seien anstrengend, chaotisch, sprunghaft, laut, exaltiert, extrem, aber eben auch künstlerisch begabt, mitreißend, komisch, energiegeladen und charismatisch. Es ist eine unzulässige Vereinfachung, bei einer derart heterogenen Personengruppe mit einem so schillernden Symptomen-Komplex kollektiv von »den ADHS-lern« zu sprechen. Doch lässt sich die große Schnittmenge nicht leugnen, die sich in einem ähnlichen Erscheinungsbild ausdrückt, das auffallend häufig oder zumindest oft vorkommt. Deshalb ist die Versuchung so groß, generalisierende Zuschreibungen vorzunehmen. Bestimmte »ADHS-typische« Verhaltensmuster rufen bestimmte stereotyp erfolgende Re-Aktionsmuster der Umgebung hervor, die ich zu beschreiben versuche. Ich tue also genau das, was ich mehrfach anprangere: Ich pauschalisiere. Obwohl ich doch eigentlich jedes individuelle Schicksal würdigen möchte. Ein unlösbares Dilemma.

Einleitung: Warum es noch ein Buch über ADHS braucht

Anzufangen ist das Allerschwerste. Und für eine Person mit ADHS bedeutet es regelrecht Pein und Qual. Zu hoch die Messlatte, zu groß die Selbstzweifel, zu vielfältig die Ablenkungen. Nur unter maximalem Zeitdruck schleppt eine solche Person sich mit Süßigkeiten bewaffnet zum Schreibtisch und beginnt mit der Aufgabe auf der Agenda. Um dann aber alsbald parallel etwas anderes anzufangen, eine dringende Recherche hier, ein weiteres offenes Fenster am Laptop da. Wenn Widerstände oder gar Probleme auftauchen, wird flugs etwas Neues begonnen, statt an Aufgabe Numero eins dranzubleiben. Allzu schnell verfliegt das Interesse und sie wendet sich etwas Spannenderem zu. Leider erledigt sich das ursprünglich begonnene Projekt nicht von allein, der Zuckerkonsum steigt, aber das simultane Arbeiten klappt auch heute nicht und sie verliert sich in Zeit und Raum zwischen angefangenen Sätzen, Zetteln, Ideen, Gedankenfetzen, um nach einigen Stunden frustriert und genervt von der eigenen Unzulänglichkeit aufzugeben. Die selbst gestrickte Struktur hat (wieder) nicht funktioniert.

An einer – ungeliebten – Tätigkeit dranzubleiben, ist für Menschen mit ADHS eine besonders krasse Herausforderung. Eine drohende Deadline möglicherweise zu reißen, kann psychosomatische Reaktionen hervorrufen, von Übelkeit und Schwindel bis hin zu Angstzuständen und Panikattacken; die Angst vor dem Scheitern scheint tief in die DNA eingeschrieben.

Aber die leidige Krux mit extremen Formen von Prokrastination ist nur eine von vielen Hürden des täglichen Lebens. All die von der »Neuro-Norm« abweichenden Besonderheiten im Denken und Fühlen im gesamten Da-Sein kleinzureden oder gar zu negieren, hieße Millionen von kleinen und großen Menschen ihr Recht auf ihre subjektive Empfindung abzusprechen und schlimmer noch, ihren Leidensdruck zu ignorieren.

Sie befinden sich durchaus in illustrer Gesellschaft, einigen historischen Größen der Geschichte wurde posthum eine ADHS zugeschrieben, von da Vinci über Mozart bis hin zu Edison und Einstein. Mögen diese Mutmaßungen Jahrhunderte später auch eher spekulativer Natur sein und setzen diese großen Namen die Maßstäbe auch vielleicht ein kleines bisschen zu hoch, so zeugen sie doch davon, dass ADHS und IQ zwei paar Schuh’ sind.

ADHS also – vier Buchstaben, die lebensbestimmend sind. Für die ganze Familie.

Vier verflixte Buchstaben, die trauriges Schicksal oder kreatives Potenzial, Chaos oder Chance bedeuten können. Auf jeden Fall stehen diese vier Buchstaben für viele Missverständnisse, Mythen, alte Klischees, alternative Fakten – und leider auch für sehr viel Leid.

Wenn man sich die Mühen ansieht, die jemand mit ADHS aufbringen muss, um die gleiche Leistung abzurufen wie ein Mensch »ohne«, und das bei guter Intelligenz, spürt man, unter welch erhöhtem Stress diese Menschen permanent stehen, wie sie sich abstrampeln müssen und dabei verausgaben, und das verdient vor allem eins: Respekt!

Aber ist nicht all das inzwischen hinlänglich bekannt, ist nicht in letzter Zeit dieses chamäleonartige Phänomenen detailbeschrieben worden, in Interviews mit prominenten Betroffenen, mit jungen Erwachsenen, die über ihr Anders-Sein in Podcasts, Reportagen und autobiografischen Büchern berichten?

Wird’s nicht langsam redundant, schon wieder ein Buch über ADHS? Noch dazu eines von einer Mutter zweier betroffener Kinder geschrieben? Muss das sein, Mutti kommt zu Wort?

Nun ja, es ist doch seltsam: Obwohl so viel gesagt und geschrieben wird über ADHS, obwohl jeder dazu eine Meinung hat, ob fundiert oder nicht, fehlt in der Diskussion bisher gänzlich die Sichtweise von uns mit-betroffenen Müttern, die diese neurodiversen (ein durchaus ambivalenter Begriff) Kinder und Jugendlichen über 25 Jahre hinweg (ADHS-Gehirne reifen verzögert heran) begleitet haben oder es noch tun. Das ist nicht verwunderlich, denn wir leiden leise, für Öffentlichkeit fehlt uns schlicht die Kraft. Nach einem wieder mal erschöpfenden, aber ganz normalen Tag mit dem täglichen Kampf um die Hausaufgaben, einem neuen Eintrag ins Klassenbuch, einem weiteren Therapiegespräch, einem eskalierenden Zoff mit den Brüdern, bei dem die Wohnung vibriert, und einem späten Feierabend, der seinen Namen nicht verdient, fallen wir kaputt ins Bett, wo das Gedankenkarussell der Sorgen müde weiterkreist.

Wir sind neben unseren Kindern Hauptbetroffene vom Dauerbetrieb ihres nimmermüden Synapsenfeuerwerks, dem Neuronengewitter in den Kinderhirnen. Auch unser Leben wird durch die Diagnose maximal beeinflusst, unser Tagesablauf wird sich radikal ändern, genauso wie die Größe des Freundeskreises und die Anzahl der Stunden, die wir berufstätig sein können. Denn so ein kleines Pulverfässchen auf zwei Beinen ist kein Kandidat für einen Ganztagesplatz im Hort, wegen totaler Reizüberflutung hält er es dort nicht aus. Wir werden uns streiten mit unserem Partner (sofern wir einen haben) über den richtigen Weg, den es ohnetrial-and-errornicht gibt, wir werden permanent ein schlechtes Gewissen haben gegenüber den nicht betroffenen Geschwistern, wir werden tagtäglich Szenen erleben wie in einem absurden Theaterstück und unser einsamer Kampf wird nicht gesehen.

Vielleicht sind wir ja doch einfach nicht belastbar genug und irgendwie auch ein kleines bisschen selbst schuld an unserer Überforderung, weil wir es erziehungstechnisch nicht so draufhaben, von Anfang an nicht konsequent genug waren, einfach zu lasch. Also doch eine durch elterliches Unvermögen induzierte Verhaltensauffälligkeit? Die uns, schadenfroh formuliert, auf die Füße fällt?

Irgendwann geben wir unseren Kindern dann jene berüchtigte »Monsterdroge«, »weil wir es nicht mit ihnen aushalten und uns lieber einen lauen Lenz machen wollen.« Sodann werden wir erneut abgewatscht von einem breiten Kollektiv der öffentlichen Meinung, dass hinter dieser »Scheindiagnose« eine Verschwörung der bösen Pharmaindustrie und deren höriger Ärzteschaft vermutet. Manche der Klischees halten sich so zäh wie klebriger Kaugummi. Es gibt da eine sehr merkwürdige Diskrepanz zwischen akademisch-wissenschaftlichemstate-of-the-artund medial gepushtenparawissenschaftlichen Heilsversprechungen oder Verurteilungen. Vor allem im Netz werden weiter massive Ängste vor einer Medikation geschürt, die uns Eltern zu schaffen machen. In Folge wird den betroffenen KinderndasMedikament vorenthalten, das für sie zu einemgame changerwerden und ihrem gesamten zukünftigen Leben eine andere Wendung geben könnte. Weg vom dauerkiffenden Schulabbrecher hin zu einem kreativen Kopf, der sein Potenzial voll ausschöpfen kann, weil er die entscheidende Unterstützung bekommt im Kampf gegen seinen größten Hemmschuh: der mangelnden Fähigkeit, sich selbst Struktur zu geben, seine Impulse zu kontrollieren und seine exekutiven Funktionen einigermaßen im Griff zu haben. All das zu entwickeln, was unserer zarten Schneeflöckchen-Generation Z – glaubt man den Untersuchungen – generell schwerfällt: Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen, diese scheinbar spießigen Eigenschaften, ohne die aber dauerhaft nix geht. Ein ADHS-ler trudelt ohne entsprechende Behandlung durchs Leben wie ein besonders leicht geratener Schneekristall.

Die größte Herausforderung besteht jedoch in einer geradezu tragischen Fallhöhe: vom Weinen des Erstklässlers, der sich jeden Morgen unter dem Sofa versteckt, weil er schon ganz früh spürt, dass Schule für ihn ein Ort der permanenten Frusterfahrung sein wird, bis hin zum Betäubungsverhalten eines verzweifelten Jugendlichen, der sich in Depression und Drogen flüchtet, weil er sein Gehirn hasst, das ihm ein »systemkonformes« erfolgreiches Leben unmöglich zu machen scheint. In diese Zeit fällt auch die wachsende Erkenntnis, dass sein Handicap bleiben und ihn lebenslänglich »behindern« wird, was zu noch mehr Selbstabwertung und Autoaggression führt. Als Mutter zu sehen, dass das eigene große Kind, das man genährt, gehegt, gepflegt und für das man schon die gesamte Kindheit hindurch wie eine Löwin gekämpft hat, nicht mehr leben will, sich Wunden zufügt und sich aus dieser Realität wegbeamen möchte, löst den tiefsten je gefühlten seelischen Schmerz aus, für dessen Beschreibung auch retrospektiv jedes Wort lächerlich leer erscheint. Jede interpersonelle Distanz löst sich auf, es istmeinSchmerz, er schneidet mitten hinein inmeinFleisch … noch nie in meinem Leben habe ich mich so ohnmächtig gefühlt.

Aber warum dann der Versuch, darüber zu schreiben? Über Leid, Ohnmacht und Verzweiflung? Warum davon erzählen wollen? Weil unser Familienschicksal kein Einzelfall ist und das Leid in den Familien zu wenig gesehen wird. Weil Depression und Sucht die häufigsten Komorbiditäten bei ADHS auf dem Weg in das Erwachsenwerden sind.

Und weil es ein »Dennoch« gibt! Weil wir etwas sehr wohl in der Hand haben: Wir können unsere Perspektive wechseln, weg vom trance-artigen Kreisen um die Probleme hin zu Lösungen und Handlungsmöglichkeiten. Wir haben die Chance, den Blickwinkel zu ändern, weg von den Defiziten hin zu den Kompetenzen unserer Kinder. So simpel und schlicht es sich anhören mag: Es gehtimmerweiter! Und: Es gibtimmerHilfe!

Wir sind nicht allein, es gibt effektive Hilfestellungen – auch wenn diese manchmal mühsam aufzuspüren sind und wirdas Helfernetz selbst knüpfen müssen – undkostenfreie Interventionen, zu denen alle Familien Zugang haben. Wenn wir uns endlich eingestehen, dass auch wir Eltern dringend Hilfe brauchen. Wir dürfen immer wieder neue Hoffnung schöpfen, wir dürfen uns selbst respektieren für unsere unglaublichen Anpassungsleistungen an immer neue Herausforderungen. Wir lassen uns nicht zu Gegnern unserer Kinder machen, die sofort spüren, wenn auch wir Eltern die defizitäre Brille aufsetzen. Wir glauben an ihre Begabungen, ihre Ressourcen, wir glauben daran, dass sie gestärkt aus ihrer Krise des Erwachsenwerdens hervorgehen werden. Und wir bleiben an ihrer Seite, solange sie es brauchen, das istunseregrößte Leistung. Unser Einsatz ist nicht umsonst.Davonmöchte ich gerne erzählen. Deshalb entstand dieses Buch …

Kapitel 1: Geburt

Alles ist austragen – und dann gebären …

Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen, und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden könnten, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben.

Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter

Ach, in der ersten Schwangerschaft hat man noch so viel Zeit, sich Gedanken zu machen und Informationen einzuholen, was auch gut ist, denn es geht ja um ganz viel. Die einschneidendste Veränderung im Leben, die Denken und Dasein für den Restverbleib auf diesem Planeten dauerhaft verändert, kommt auf einen zu. Trotzdem ist es wie Trockenschwimmen, denn wie es wirklich werden wird, das Leben mit einem Kind, kann man ja nicht üben.

Nach drei Entbindungen, von denen die erste weit mehr als 15 Stunden dauerte, finde ich den Begriff, den man fürdieseArt der Geburt in Unterscheidung zum Kaiserschnitt gewählt hat, regelrecht lustig: Spontangeburt. Vielleicht ist das heute etwas anders, aber vor etwa 25 Jahren sorgte dieser Begriff für eine gigantische Verzerrung des Bildes vom realen Geburtsvorgang. Damals gab es in jedem Ratgeber, noch ausschließlich analog in den jeweiligen Abteilungen der Bibliotheken und Buchläden, überall das völlig irreführende Schlagwort von der »sanften Geburt«. Das sorgt für eine unpassende Verharmlosung, finde ich, und es weckt falsche Vorstellungen, von sanfter Musik, hellgrauen Wollsocken, gedämpftem Licht und warmem Wasser, in das das kleine Bündel Leben sanft aus dem Uterus durch den Geburtskanal herausgleitet. Aber vielleicht hatte ich das Konzept auch nur komplett missverstanden. Und war deshalb nach der ersten Geburt total ent-täuscht, sodass es Jahre dauerte, bis ich mir dieses Ausmaß von Schmerz erneut zutraute, diesmal deutlich nüchterner und vorgewarnt. Was sicherlich gemeint war: eine natürliche Geburt ohne operatives Eingreifen, was ja wunderbar wäre. Nur dass es bei der ersten Geburt bei uns ganz anders lief. Die Geburt war nicht sanft, sie war brachial und verlief so ganz anders als erwartet.

Die Schwangerschaftsanamnese: unauffällig. Eine große Überraschung war es, ungeplant zu dieser Zeit, aber nach kurzer Verwirrung: große Freude. Nachdem die 2 Teststreifen rosa waren, wurden die für eine Gelegenheitsraucherin typischen Marlboro Lights an die Kollegin verschenkt und fortan für die nächsten eineinhalb Jahre kein Tropfen Alkohol angerührt. Die übliche 3-Monats-Übelkeit, »dann wird’s ein Junge!«, danach eigentlich fit. Räumliche jobbedingte Trennung vom Vater, kurze Hochzeit vor der Entbindung. Wir waren zwar schon zehn Jahre fest zusammen und er war definitiv der Richtige, aber Heiraten war bis dato kein Thema gewesen. Als Schwangere war mir eine Hochzeit dann aber schon wichtig, im Zuge von Nestbau und Sicherheitsbedürfnis.

Richtung Geburtstermin nahm die Nervosität etwas zu: Das Kind drehte sich ganz spät, machte aber auch danach keine Anstalten, sich nach unten Richtung Geburtskanal zu positionieren, es übte keinen Druck aus, saß zu weit oben. Die Mutmaßung, mein innerer Beckendurchmesser sei zu klein, wurde per Ultraschallberechnung revidiert, also abwarten. Ich war noch zuversichtlich und hatte deshalb vom Kaiserschnitt abgesehen. 13 Tage nach dem errechneten Termin beschloss der Oberarzt in der Uniklinik, die Geburt einzuleiten. Klingt harmlos, war aber, wie sich zeigte, für mich ein Horrortrip. Das in die Vagina eingelegte Prostaglandin-Gel entfaltete seine Wirkung in Hochpotenz und ich, völlig unvorbereitet ohne die natürliche Steigerungskurve der Wehen, fühlte im Nu reißende Schmerzen im Unterleib. Wuchtige krampfartige Wehen, die nicht abebbten und mir keine Pause gönnten, es war einfach nur furchtbar und ich fühlte mich dem Geschehen ausgeliefert. Keine einzige der geübten Atemtechniken konnte ich anwenden, weil ich durch die künstlich induzierten Wehen völlig überm Limit war. Ich halte es an dieser Stelle kurz, da so eine Beschreibung eines Geburtsvorgangs nicht jedermanns Sache ist: Wehen viel zu stark, also eine wehenhemmende Infusion; dann aber Wehen zu schwach, Geburtsstillstand, also wieder angehängt an den Wehentropf. Schmerzen zu stark, also eine PDA. Diese falsch gesetzt vom Anästhesisten, ein Bein taub, aber die Schmerzen im unteren Bauch und Rücken unverändert. Zweiter Versuch der PDA erfolgreich. Inzwischen etliche Stunden vergangen, die Herztöne schlechter, also Entscheidung: Kaiserschnitt oder Saugglocke? Schneller Schnitt, Sog aufgebaut mit der Saugglocke. Das Kind, das da rausschoss, war blau und erst mal weg. In den Händen der Pädiater. In all dem Schlamassel war ich froh, in einer großen Uniklinik zu sein mit maximaler Versorgung, die mein Kind auch brauchte.

Ich hatte das Vertrauen verloren, dass diese Geburt noch gut gehen kann.

Auf den ersten Bildern sehen wir beide total erschöpft aus. Mein Baby bekam Fieber und musste in die Kinderklinik. Das Auffälligste: Sein allgemeiner Muskeltonus war, obwohl es ein großes Kind und deutlich übertragen war, total schlapp, ein sogenanntesfloppy infant. Es war zu schwach zum Trinken und ich wanderte Tag und Nacht durch einen Verbindungstunnel von der Frauen- in die Kinderklinik, um ihm abgepumpte Muttermilch mit einer kleinen Spritze einzuflößen, da es zu matt zum Saugen war. Für mich damals das Schlimmste: Irgendwann im Geburtsverlauf hatte ich das Vertrauen verloren, dass diese Geburt noch irgendwie gut gehen kann. Ich bekam große Angst um mein Baby, aber die blieb tief in mir verborgen, weil ich natürlich kooperativ sein wollte und das klinische Procedere scheinbar seinen geschäftsmäßigen Gang ging. Ich ließ alles über mich ergehen, war aber emotional wie abgekoppelt. Dazu bekam ich noch eine Wochenbettinfektion mit Fieber. Niemand hatte einen Fehler gemacht, niemand konnte ahnen, dass das Baby einen Nabelschnurknoten hatte, aber nicht den klassischen um den Hals gewickelten. Sondern es hatte irgendwann in einem frühen Stadium einen richtigen Looping geschwommen wie beim Wasserballett, sich selbst einen Knoten in die Schnur gemacht, der sich natürlich während der Austreibungsphase immer wieder zuzog. Also eine Häufung von Komplikationen, die bei mir für die nächsten Jahre keinen Gedanken an eine weitere Schwangerschaft aufkommen ließen, ich hatte genug vom Gebären. Später sagte ein Arzt: »Na, bei Ihnen hätte wahrscheinlich auch die halbe Dosis Prostaglandin gereicht …« Ein anderer: »Wissen Sie, mit den Kindern werden die Sorgen geboren.« Und, um das noch zu toppen, der Kracher: »Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen.« Ganz prima, solche Sprüche hatten mir gerade noch gefehlt. Wie aufmunternd und einfühlsam!

Über zwanzig Jahre nach der ersten Geburt fiel bei mir erst der Groschen. Ich habe jahrelang nicht kapiert, wie aus meinem zarten und schwachen Baby ein so hyperaktives Kind werden konnte, bis ich den Zusammenhang verstand: Die Hyperaktivität könnte eine Konsequenz sein aus der Hypotonie, der auffällig herabgesetzten Muskelspannung meines Babys nach seiner Geburt, ein »legitimer« Versuch seines Gehirns, das zu niedrige Aktivierungsniveau durch überschießende Motorik zu kompensieren, ganz wie beim guten alten Zappelphilipp.

Dazu ein kurzer Blick in die Neurowissenschaft:

Bei einer ADHS besteht unter anderem eine neurobiologische Fehlregulation des wichtigen Neurotransmitters Dopamin, auch Neuromodulator genannt. Das ist die Ausgangsbasis, auch wenn es noch Fachmeinungen gibt, die das physiologische Defizit nicht als Ursache, sondern als Folge der Störung sehen. Frau Dr. Johanna Krause,diePionierin im Kampf um die Anerkennung und Zulassung medikamentöser Behandlung von adulter ADHS, hat schon vor über 20 Jahren in ihrem StandardwerkADHS im Erwachsenenaltervon einem »Zusammenspiel multipler Gene« als wahrscheinliche Ursache für die komplexe Störung gesprochen.2Inzwischen ist man bei der eindrucksvollen Zahl von circa 5600 genetischen Varianten angekommen (von denen mehrere in einem Gen liegen können).3Zudem eröffnen sich neue Perspektiven von genetischen Überschneidungen bei psychischen Erkrankungen, sich überlappende klinische Symptome spiegeln sich gleichsam wider in einer gemeinsamen polygenetischen Architektur.

Da der wichtige Botenstoff Dopamin primär unseren Antrieb und unsere Motivation zum Handeln befeuert, ist es bei einem fehlregulierten Spiegel unmöglich, von außen gestellten Anforderungen und Aufgaben adäquat zu erfüllen. Das Gehirn ist, grob gesagt, unterstimuliert, die reizauslösenden Schwellen zur Weiterleitung werden nicht erreicht, besonders nicht bei monotonen Pflichten und langweiligen Tätigkeiten. Blitzschnell werden im Gehirn Kompensationsmechanismen gestartet, um den kleinen oder großen Menschen doch noch auf ein höheres Aktivitätsniveau zu bugsieren. Um sich also eine Autostimulation zu verpassen, fängt das Kind (und nicht nur das Kind) an zu zappeln und zu wackeln, wird unruhig und fahrig. Diese nun äußerlich gewordene Hyperaktivität ist aber besonders im schulischen Kontext kein erwünschtes oder günstiges Verhalten, sondern wird Folgeprobleme nach sich ziehen. Sämtliche Sanktionen werden erfolglos bleiben, denn Wissen und Wollen reichen nicht aus. Zur Unaufmerksamkeit ist also die Unruhe als Versuch des Ausgleichs dazugekommen. Die typische Hyperaktivität steht nicht im Widerspruch zu einem ursprünglich unterstimulierten und dadurch antriebsarmen Ausgangszustand in Anteilen des Gehirns. Deshalb ist es auch nur eine scheinbare Paradoxie, dass die antriebssteigernden Medikamente oder auch Cola unsere Kinder ruhiger werden lassen. Seit dieser Erleuchtung ist bei uns eine Cola am Abend in Ausnahmesituationen nicht mehr ganz so verpönt, auch wenn es hier eine natürliche Grenze gibt. Zu viel ist dann eben wieder aufputschend wie bei allen anderen Kindern auch. Ein wegen seiner Wirkung als Stimulanz bezeichnetes ADHS-Medikament macht die Kinder aber weniger abhängig von externer Stimulation.

Dopamin spielt eine zentrale Rolle bei ADHS.

Dopamin ist also als Belohnungs- und Glückshormon bekannt, auch im Zusammenhang mit den Effekten von Sport und bei Drogenkonsum, wobei es eher dieVor-Freude auf eine in Aussicht stehende Belohnung zu erhöhen scheint. Eine Fehlregulation von Dopamin spielt also eine zentrale Rolle im komplexen ADHS-Bild. Aber, was oft nicht explizit erwähnt wird, Dopamin hat auch eine riesengroße Bedeutung für die gesamte Funktion unserer Muskulatur. Es spielt eine zentrale Rolle im Ablauf der komplexen neuronalen Schaltkreise, die unsere Skelettmuskulatur steuern und die Feinabstimmung von Muskelbewegungen modulieren. Ohne genug Dopamin ist die gesamte Regulierung von An- und Entspannung gestört. Das kann erklären, warum Grob- und Feinmotorik bei ADHS-Kindern beeinträchtigt sein kann und warum sich unter Medikation das Schriftbild schlagartig verbessert. Dass Dopamin eine Schlüsselrolle in der Motorik spielt, sieht man bei Parkinson-Patienten, bei denen Zellen in einer bestimmten Hirnregion, der sogenannten Substantia nigra, absterben. Diese Nigra-Zellen stimulieren beim Gesunden durch ihre Nervenfortsätze in einer anderen Hirnregion, dem Corpus striatum, die Freisetzung von Dopamin. Die Parkinsonpatienten erleiden einen tragischen Verlust muskulärer Kontrolle. Bei ihnen käme übrigens niemand auf die Idee, ihre Symptome mit verminderter Intelligenz in Verbindung zu bringen und ebenso wenig, die notwendige Substitution durch Medikamente infrage zu stellen.

Was das jetzt alles mit den Kleinkindjahren meiner Kinder zu tun hat? Nun, ich wäre froh gewesen, ich hätte einiges früher gewusst, das hätte uns vielleicht so manch einen therapeutischen Umweg erspart. Voraus gingen erste Lebensjahre mit Ängsten und Sorgen als ständige Begleiter, unser erstes Kind war ein »Therapiekind« von Anfang an. Was ich mich fragte: War die komplizierte Geburt vielleicht ein Ko-Faktor für die spätere Ausprägung einer ADHS? Gab es vielleicht doch eine minimale Sauerstoffunterversorgung? Interessanterweise war der gemessene ph-Wert des arteriellen Nabelschnurblutes beim Großen der beste von allen drei Jungs.

Natürlich ist nicht jedes Kind mit einem komplizierteren Geburtsverlauf sofort ein ADHS-Kandidat. Und es schien so, dass unser Baby, dem wir den Namen Lukas gaben, diese ganzen Komplikationen besser kompensiert hat als ich. Ich habe diese erste Geburt als nahezu traumatisch erlebt, auch wenn das ein mächtiges Wort ist. Völlig passiv, dem Geschehen einer sehr operativen Geburt ausgeliefert. Ich konnte darüber nicht sprechen, natürlich ein Fehler im Nachhinein. Keiner wusste, wie panisch ich innerlich war. Später las ich in meiner Akte die Bemerkung des Pflegepersonals, die Patientin (ich) sei »weinerlich«. Ich blieb still, weil ich mich mit meinen Fragen nicht lächerlich machen wollte. Richtig ernst nahm meine Ängste nur meine Hebamme, sie avancierte für mich zur wichtigsten Person auf der Welt in den ersten Wochen der Unsicherheit. Gott sei Dank haben wir diese Nachsorgemöglichkeit, ihre Worte waren für mich Gesetz. Die auffällige Hypotonie von Lukas blieb und es fielen heftige Verdachtsdiagnosen wie Muskeldystrophie. Wir entschieden uns aber gegen eine Biopsie des Muskelgewebes, weil wir allmählich wieder Zutrauen gefasst hatten und sahen, dass der kleine Kerl seine Fortschritte machte, bloß eben im Schneckentempo. Laufen lernte er mit 22 Monaten. Im Alter von 12 Monaten stand im gelben Untersuchungsheft: »Hypotonie/motorischer Entwicklungsrückstand«, später dann auch: »Störung der Körperkoordination/Feinmotorikstörung«. Auch die Sprache kam später, dann aber direkt in ganzen kurzen Sätzen. Blitzgescheite Äuglein, die alles aufnahmen, aber schwache kleine Muskeln, die erst mühsam genug Tonus aufbauen mussten, um sich gegen die Schwerkraft zu behaupten. Auf die Gefahr hin, den Stempel »Esoterikerin« aufgedrückt zu bekommen: Es gab für mich auch noch eine andere Ebene, im Bereich von Glaubensfragen angesiedelt. Manchmal kam es einfach hoch, so eine Art geistiges Bild, als bräuchte diese Seele Zeit, um in dieses Körperchen zu schlüpfen.

Als dann Ende der ersten Klasse bei Lukas die Diagnose ADHS feststand, konstruierten wir natürlich einen Zusammenhang zu seiner schwierigen Geburt. Das blieb lange unsere Hypothese, bis 10 Jahre später der Kleinste, unser drittes Kind, innerhalb von 3 Stunden auf die Welt kam ohne irgendeine pathologische Komplikation. Trotzdem entwickelte dieser kleine Mann schon im Kindergarten eindeutige und verdammt ähnliche Symptome wie sein großer Bruder, sodass wir bezüglich der Erklärung von der schweren Geburt als Auslöser ganz schön ins Grübeln kamen. Es zeigt einfach nur, wie komplex wohl die Ursachen sind und dass hier offenbar vorgeburtliche Faktoren, seien sie nun genetisch und/oder im Uterus erworben, einen nicht unbeträchtlichen Einfluss haben müssen, denn sowohl sechs als auch zehn Jahre später waren die äußeren Bedingungen ganz andere.

Das zweite Kind, unser Leon, war groß und kräftig, es suchte sofort die Brust und es ging uns prima. Ich hatte eigentlich bis zu den Geburten das Bild gehabt, ich könne Schmerzen ganz gut ertragen, aber die Geburtsschmerzen waren mit nichts vergleichbar, was ich davor oder danach je gespürt habe. Es fühlte sich an, als ob reißende Klauen, die in meinem Innersten herumwühlten, den Platz schaffen müssten für das Baby. Wahrscheinlich ließ sich diese gewaltvolle Urkraft in mir nur mit dem mentalen Zusatz »produktiver Schmerz« ertragen. Klar, war ich hinterher jeweils auch ein bisschen stolz, es geschafft zu haben. Ich kann nicht behaupten, dass es von Mal zu Mal leichter wurde, auch die dritte Geburt glaubte ich mittendrin nicht zu überleben vor Schmerzen, die ich diesmal »ohne alles« ertrug, weil gar keine Zeit blieb, eine PDA zu legen. Das dritte Kind, Mario, kam fit zur Welt, knötterte aber leise vor sich hin und während der Zweite ein gemütliches Kerlchen gewesen war, das direkt großen Appetit gehabt hatte, war diesem kleine Rehlein (wie ich es anfangs nannte, weil es ganz braune Härchen im Nacken und ganz dünne Beinchen hatte) nicht nach Trinken zumute, es wollte sich erst mal ein bisschen beschweren über diese Welt. Es wurde besser, nachdem es warme Kleidung bekommen hatte und dann bei mir lag. Dass es sich ganz gerne beschwert, das ist aber bis heute so geblieben. Nun war dieser Geburtsverlauf so ziemlich das komplette Gegenteil vom ersten, das Verhalten nach der Geburt aber dafür umso ähnlicher. Viel zaghaftes Schreien, sehr schreckhaft, sehr zart, wenig trinkfreudig, die Nahrungsaufnahme ein Affentheater. Irgendwie oft unzufrieden. Körperkontakt, ganz nah und dauerhaft, hat immer geholfen. Nahezu identische Schwierigkeiten wie beim Großen trotz gänzlich anderer Umstände. Also ergab unsere minikleine familiäre Studie, dass es wohl eher etwas in der genetischen Festschreibung sein müsste, die sich hier wiederholt manifestierte. Obwohl es zur Wahrheit dazugehört, dass es kurz vor der dritten Geburt einen Schock gab, der sich, rein spekulativ, pränatal ausgewirkt haben könnte. Mein Mann hatte 17 Tage vor der Geburt eine fulminante Lungenembolie erlitten und ich verbrachte viele Stunden an seinem Bett auf der Intensivstation. Dank ausgezeichneter moderner Intensivmedizin konnte der Embolus in seiner Lunge durch eine intravenöse Lysetherapie aufgelöst werden. Die Menge an Stresshormonen in meinem Blut in dieser Alarmsituation war garantiert exorbitant, aber war es das? Nie werde ich es ergründen, es bleibt alles Hypothese, ein großes Vielleicht. Die Ursachenforschung ist ja auch herzlich egal, wenn es um die Frage geht:Wiekann ich jetzt hier überhaupt weitermachen? Die alte Formel »das Leben muss weitergehen« ist so abgegriffen wie zutreffend. Was ist zuerst dran? Was zählt jetzt? Was ist wichtig? Diese Fokussierung auf überlebensnotwendige Prioritäten hat uns Bescheidenheit gelehrt und eine sarkastische Art von Klarheit gebracht: Über Kleinigkeiten regen wir uns erstmal nicht auf, solange es nicht um Leben und Tod geht.

Solange es nicht um Leben und Tod geht, regen wir uns erstmal nicht auf.

Wir haben also um die dritte Geburt herum nicht gerade gewöhnliche Lebensumstände gehabt. Reichtdasals Erklärung? Wieder so eine »hätte, hätte, Fahrradkette«-Frage … Ich wollte so gern Gewissheit und musste lernen: Die wird’s nicht geben. Annehmen, was ist, schon wieder begegnete mir dieser Auftrag. Scheint ’ne größere Lernaufgabe für mich zu sein. Die großen philosophischen Lebensfragen mussten aber warten und das tat ganz gut.

Wie bei allen Paaren, die zum ersten Mal Eltern werden, war auch bei uns damals dieser Prozess von »Geburtswehen« begleitet, aber die Anfangszeit mit unserem Ältesten war zusätzlich beschwert: viele Untersuchungen, intensive Physiotherapie, Kontrolltermine mit bangem Herzen, bis wir gegen Ende des ersten Lebensjahres ein Muster erkannten, das uns wachsendes Vertrauen gab: Unser kleiner Spatz machte alle motorischen Entwicklungsschritte, aber viel langsamer und verzögert, bei gleichzeitig geistig hellwachen Äuglein. So stand es dann auch wörtlich im gelben Heft nach der U 8, der jährlichen Untersuchung beim Kinderarzt, 43.–48. Lebensmonat: »Körperkoordination verbessern«, aber auch »kognitiv sehr fit«. Da war ich längst wieder zuversichtlich, dass die Entwicklung zwar anders als der Norm entsprechend, aber positiv verlaufen würde. Unser Kind machte anscheinend die Entwicklungsschritte in seinem verlangsamten Tempo.

Nach der ersten als so schrecklich erlebten Geburt hatte ich die medizinische Akte angefordert mit dem Geburtsverlauf, da ich nach einer Ursache suchte für die muskuläre Hypotonie. Als könnte mir eine gründliche Beschäftigung damit, wie es war, helfen, eher zu akzeptieren, dass es so war, wie es war. Am Ende kommt dasselbe raus. Akzeptieren, was ist, weitermachen und praktische Lösungen suchen. Das Nachhängen und Zurückschauen hat wenig Sinn, aber es ist wohl Teil meines Grübel-Wesens, das man uns Deutschen so gerne zuschreibt. Ich machte es mir schwer. Ich hatte Schwierigkeiten mit meiner neuen Rolle: allein mit dem Baby, den ganzen Tag zu Hause, das Kind ein Sorgenkind mit Therapieterminen, außerdem war ich weit weg von meinem geliebten Job in einer anderen Stadt, zu dem ich, das war klar, nie wieder zurückkehren würde, und einige Monate später starb mein Vater. Eigentlich verständlich, dass ich eine postpartale Depression entwickelte, sage ich mir heute, damals warf ich mir Schwäche vor. Schließlich hatten Frauen unter ganz anderen Bedingungen Kinder geboren, im Krieg, auf der Flucht. Darin war ich gut: mich zu vergleichen mit anderen, die es schwerer hatten, um daraus einen Selbstvorwurf abzuleiten. Ich habe auch lange gebraucht, um den Satz wirklich zu glauben: »Der Geburtsverlauf wird nicht über seinen Lebenslauf bestimmen.« Denn es gab sie ja wirklich, die auffällige Muskelhypotonie, für die niemand eine Erklärung hatte. Was aber das Wichtigste war: Ich lernte zu trennen zwischen meinem Erleben und dem meines Sohnes, ein gutes Training für die gemeinsame Zukunft. Fürmichwar diese Geburt schrecklich, wie es fürihnwar, kann ich nicht wissen. Zweifellos auch ein Riesenstress, aber den hat die Natur ja offenbar so vorgesehen.

»Aha«, könnte man direkt einwerfen: »Na, dann ist ja alles klar, bei so viel blühenden Neurosen im mütterlichen Gehirn, damussdas Kind ja Symptome entwickeln.« Nee, tut mir leid, so linear ist das Ganze nicht und schematische Modelle nach Lehrbuch taugen eben nicht als einfache Erklärungsmuster hochkomplexer Vorgänge unseres Daseins, das gilt für die hohe Politik gleichermaßen wie für unseren Organismus. Ich klinge jetzt etwas zynisch, weil später in Lukas’ erster Psychotherapie analytischer Ausrichtung die ganze ADHS-Symptomatik aufdiesen einenPunkt reduziert wurde: Ich hätte wahrscheinlich in dieser problematischen frühen Phase keine Bindung aufgebaut. Und da war erstmals der Impuls in mir, mich innerlich aufzurichten, um ganz klar zu sagen: Nein! Das sind Zuschreibungen, die nicht stimmen müssen, ein therapeutisches Konstrukt, das als Erklärung übergestülpt wurde. Ich wusste innerlich genau, dass es anders war. Ich konnte spüren, dassimmereine intensive Bindung bestanden hatte, dass ich nie diese wunderbaren blauen Augen aus dem Blick verloren hatte, dass wir immer innig verbunden waren. Ich war immer da und immer präsent gewesen. Ich hatte mir ganz früh Hilfe geholt, weil ich genau wusste, was auf dem Spiel steht. Und die war effektiv. Medikamentplus Psychotherapie, kein Geheimnis, ist eine wirkungsvolle Kombination, die schnell Fortschritte bringt. Das klingt jetzt nach Rechtfertigung, von mir aus, worauf ich aber hinauswill, ist: In dieser ersten Therapie wurde eine Hypothese aufgestellt, ein Modell entwickelt, aber das beste Modell taugt nichts, wenn es Schuldgefühle verursacht und wenn man selbst spürt, dass es nicht zutrifft. Es ist bis jetzt nicht geklärt, wie genau die ultrafeinen Geschehnisse auf molekularer Ebene der Neurobiologie und der Neuropsychologie ineinandergreifen. Am Ende muss jede Therapie immer den Praxistest bestehen: Hilft sie uns weiter im Leben hier und jetzt? Kommen wir relativ schnell zu einer Veränderung, gibt es etwas Neues, etwas, auf das wir konkret und direkt Einfluss nehmen können, sodass es uns besser geht?

Ein Modell, das Schuldgefühle verursacht, taugt nichts.

Apropos Praxis: Eine wichtige Unterstützung kam von meinen drei Schwestern, die zwar alle woanders leben, aber telefonisch aus der Ferne Zuversicht verbreiteten. Eine von ihnen konnte mir auch mit fachkundigen Tipps aus ihrer professionellen Praxis helfen, da sie als spezialisierte Physiotherapeutin Kinder mit neurologischen Auffälligkeiten behandelt. Dazu kamen vor Ort Freundinnen, die im Mutter-Sein ein Jahr Vorsprung hatten, Nachbarn, die ein warmes Essen brachten. Das berühmte soziale Netz, das in allen Krisen wichtig ist. So bemühe ich mich heute ebenfalls, für andere bei Bedarf da zu sein, ich habe es selbst als stützend und heilend erfahren.

Es bleibt also offen und diffus, ob und wenn ja, wie die prä-, peri- und postnatalen Stressfaktoren die genetischen Prädispositionen bei unseren beiden Jungs getriggert haben. Die Literatur sagt übereinstimmend: »Alles kann, nichts muss.« Man weiß es einfach noch nicht. Die große Frage nach dem »Warum« ist derzeit nach menschlichem Ermessen nicht zu beantworten. Sie zieht sich trotzdem ab und zu durch mein Leben – und durch dieses Buch. Auf der Suche will ich zwar bleiben, aber über die Jahre rückte das »Wie« immer mehr in den Vordergrund. Wie kann der/die Betroffene und auch die ganze Familie »trotzdem« ein gutes Leben haben?

Und der unglückliche Start brachte früh die elementare Erfahrung für den späteren Umgang mit der ADHS: Das Erlebte ist kein unabänderliches Schicksal, das wir zeitlebens mit uns herumschleppen müssen. Es gibt wunderbare professionelle Hilfe, die mich befähigt, mit dem Erlebten klarzukommen und wieder positiv nach vorne zu blicken. So hatte ich früh bei mir selbst dankbar festgestellt: Medikationpluseine empathische TherapeutinplusZeit und Ausdauer verändernmeine subjektive Sichtweiseund damit mein komplettes Lebensgefühl. Ich muss mich nicht abfinden mit einem unguten Zustand. Es geht gut weiter für uns.

Werfen wir heutzutage schon fast inflationär und vorschnell mit der Verdachtsdiagnose ADHS um uns, so waren diese vier Buchstaben vor zwanzig Jahren noch weniger bekannt. Rückblickend waren die drei Kindergartenjahre unseres Ältesten eine goldene, sorglose Zeit, noch ohne Leistungsdruck, mit viel freiem Spiel, Projekten und Exkursionen in der Natur. Außer der bekannten Entwicklungsverzögerung, deretwegen wir zu einer erfahrenen Ergotherapeutin gingen, gab es keine größeren Auffälligkeiten. Über sein manchmal ungestümes und etwas linkisches Wesen und seinen zeitweilig abwesenden verträumten Blick machten wir uns in jener Zeit noch keine Gedanken. Da der Kindergarten ein offenes Konzept hatte und die Kinder viel selbst entscheiden konnten, wo und womit sie spielen wollten, fiel es nicht weiter auf, dass unser Großer wenig Sitzfleisch hatte und gewissen feinmotorischen Anforderungen wie dem Zuschneiden von Papier gerne aus dem Weg ging. Er hatte durchaus Kontakte zu anderen Kindern und dass die berühmte Frustrationstoleranz beim Verlieren zu wünschen übrigließ, das sah ich auch bei anderen Gleichaltrigen. Da wir mittlerweile umgezogen waren, Lukas aber das letzte Kindergartenjahr in seiner alten Einrichtung zu Ende machen durfte, gab es von dort keinen Kontakt zur zukünftigen Grundschule, keine schulvorbereitenden Stunden im Sinne einer klassischen Vorschule. Er rutschte also elegant durch ein Raster, wo sich sonst vielleicht schon ein Hinweis auf die drohende Überforderung hätte zeigen können.

Der Schock kam mit der Schule.

Der Schock kam mit der Schule. Nach kürzester Zeit signalisierte mir die Klassenlehrerin, das mit unserem Kind etwas nicht stimmte. Es erfolgten beinah täglich missbilligende Kommentare über das ständige Fehlverhalten im sogenannten Kontaktheft, eine kleine Kladde, die im Ranzen hin und her wanderte. Ich bekam schon Bauchschmerzen beim Anblick dieses Heftes und wollte am liebsten gar nichts mehr lesen von den immer neuen Schandtaten meines anscheinend missratenen Sohnes. Die